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Eberhard Weber

Résumé

Eine deutsche Jazz-Geschichte

sagas.edition

Inhalt

      Vorspiel

1    Mich trifft der Schlag

2    Wenn ich’s nur wüsste

3    Unter dem Flügel

4    »A Fässle«

5    »Du, hast du Lust?«

6    Free!?

7    Telefonbassist

8    »Den hol ick mir!«

9    Neue Farben

10  Viel Harmonie

11  Gut angekommen

12  »Jetzt hast du es geschafft!«

13  Down under

14  Länger als die meisten Ehen

15  United mit und ohne Kingdom

16  Grenzüberschreitungen

17  Mal so, mal so

18  Nach Poona, bitte!

19  Heimspiele

20  Perfekter Klang

      Nachspiel

      Diskografie

Vorspiel

Mein Name ist Eberhard Weber, aber das wissen Sie schon. Es steht schließlich vorn auf dem Einband. Womöglich haben Sie das Buch deshalb sogar erworben. Ich war gut 40 Jahre im Jazzgeschäft – ab 1973 als Profi, vorher ab etwa 1962 als Amateur. Das wissen Sie wahrscheinlich auch. Ich musste meine aktive Bass-Laufbahn zwangsweise aufgeben, da ich seit 2007 physisch nicht mehr in der Lage bin, meinem Instrument ordentliche Töne zu entlocken. Auch das wissen Sie? Sehen Sie: Hier beginnt das Problem. Ich möchte nämlich nicht unbedingt das wiederkäuen, was in so vielen Veröffentlichungen bereits bis zum Umfallen aufgelistet worden ist.

Als ich begonnen habe, über ein Buch nachzudenken, habe ich mich deshalb gefragt: was zulassen und was unterdrücken? Nach 50 Jahren Zugehörigkeit zur Szene und im Alter von 75 Jahren mache ich mir heute oft seltsame Gedanken: Warum das alles? Hat es sich gelohnt? Ist die Musik vorangekommen? Muss sie das? Wer oder was hat gebremst oder beschleunigt? Sind das überhaupt Kriterien? Vor 50 Jahren wären mir solche Fragen kaum in den Sinn gekommen. Und dann – ich als Berichterstatter? Darf ich mich so wichtig nehmen? Und wenn ich schreibe – dann immer unter dem Aspekt des Jazz im Allgemeinen? Oder besser als Fachidiot des Basses? Dabei stellte ich fest, dass vieles wieder in meinem Gedächtnis auftauchte, was gar nichts mit dem Jazz und meiner Karriere zu tun hat. Oder hängt es doch damit zusammen? Diese persönlichen Geschichten nochmals zu sortieren, zu reflektieren, war eine interessante, oft erfreuliche, manchmal schmerzvolle Erfahrung. Ich musste und ich wollte kein Lexikon schreiben. Nicht nur einmal bin ich darüber erschrocken, was ich im Internet alles über mich gefunden habe. Platten mit Musikern, an die ich mich nicht mal erinnere, hätte ich eingespielt. Ich will gestehen, dass mir viele Details auch egal sind.

Ich liebe Jazz, nicht jede Richtung und nicht aus jeder Schublade. Aber es gibt Bereiche, die unter Umständen an Besessenheit grenzen. Deshalb erlaube ich mir, meine Gedanken und meine Geschichte, teils emotional, teils nüchtern, teils wütend, aufzuschreiben. Zwar nach bestem Wissen und Gewissen, aber ohne Garantie. Im Grunde: Aufzeichnungen eines Menschen mit Musikbewusstsein, möglichst ohne Standesdünkel. Wenn es das gibt 

1. Mich trifft der Schlag

Am Dienstag, den 23. April 2007, gegen 19 : 30 Uhr, fuhr ich im Taxi in Richtung der festlich beleuchteten Berliner Philharmonie. Der Fahrer hielt nicht am Künstlereingang, um mich dort abzuliefern, was an diesem Abend normal gewesen wäre – ich sollte nämlich in wenigen Minuten dort auf der Bühne stehen. Er folgte stattdessen meiner Bitte, mich zur Notaufnahme der Berliner Charité zu bringen. Die wartenden Konzertbesucher, an denen wir vorbeifuhren, hatten noch keine Ahnung, dass ich heute nicht würde spielen können, und sie ahnten auch nicht, dass in diesem Augenblick backstage darüber diskutiert wurde, ob das Konzert überhaupt stattfinden konnte, ob meine Kollegen der »Jan Garbarek Group« ohne mich spielen würden. Und mir selbst war noch nicht klar, dass in diesem Moment meine rund 25-jährige Mitgliedschaft in der Band zu Ende ging. Und damit meine Karriere als Jazzbassist.

Am Nachmittag, während eines für mich unerfreulichen Soundchecks, hatte ich festgestellt, dass die Feinmotorik meiner linken Hand abhanden gekommen war und damit meine Intonationssicherheit. Der Grund, weshalb ich bei der Charité vorstellig wurde, war die naive Frage: »Was ist da los?«

Das Jahr 2007 war von langer Hand von Bremme & Hohensee, unserem Management, als großes Tourneejahr für die »Jan Garbarek Group« vorbereitet worden. Um die 100 Konzerte in ganz Europa waren gebucht. Am 22. April spielten wir im hohen Norden Deutschlands, in Gronau. Wir beschlossen, gleich nach dem Konzert an unseren nächsten Auftrittsort, nach Berlin, weiterzufahren, damit wir wieder mal zwei Nächte im selben Hotel verbringen konnten – manches Mal gut, um nicht jeden Tag Koffer packen zu müssen, mal wieder Wäsche waschen lassen zu können. Ein Tag nicht auf Flughäfen oder auf der Autobahn. Als absolut pünktliche Band konnte man die Uhr nach uns stellen. Also waren wir Schlag 22 : 10 Uhr fertig. Ein Set, wie immer ohne Pause, zwei Zugaben inbegriffen. Unsere drei Techniker haben zügig abgebaut, nachts fuhren wir über die Autobahn nach Berlin. Gegen zwei, drei Uhr fielen wir ins Bett.

Am nächsten Morgen, an jenem Dienstag, dem 23. April, wollte ich zwei lang gehegten kulinarischen Gelüsten nachgeben: wieder mal eine Berliner Bratwurst verspeisen. Gleichzeitig hatte ich Lust, ein Chinarestaurant aufzusuchen. Ich befürchte, das klingt widersprüchlich und merkwürdig. Ich wollte einfach mal wieder eine Abwechslung zu den täglichen Hotel-Frühstücksbüfetts, die sich überall gleichen.

Wir waren im nagelneuen Swissôtel in der Augsburger Straße abgestiegen. In der Nähe gab es einen »Chinesen« und in dessen Umgebung jede Menge Bratwurstbuden. Mein Plan stand fest: zuerst die Bratwurst und danach der »Chinese«.

Zuerst aber bat mich ein Fotograf für ein Fotoshooting auf die Terrasse unseres Hotels. Die Aufnahmen sollten einen Bericht im Magazin Jazzthetik illustrieren, denn in diesen Tagen war gerade meine damals letzte CD bei ECM veröffentlicht worden, eine Live-Aufnahme mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Gary Burton, Jan Garbarek, Rainer Brüninghaus, Wolfgang Dauner, Marilyn Mazur, Reto Weber und Nino G.: Stages Of A Long Journey.

Nach dem Shooting machte ich mich auf, um meine »kulinarische Idee« wahr zu machen. Als ich den Aufzug des Hotels verließ, hatte ich das Gefühl, als würde ein Kaugummi unter meinem linken Schuh kleben.

»Ein brandneues, nobles Fünf-Sterne-Hotel, und schon liegen Kaugummis herum?«

Ich schaute auf meine Schuhsohle, aber da war nichts! Seltsam.

»Sei’s drum.«

Vor dem Hotel die nächste Irritation: Als ich das Trottoir auf der gegenüberliegenden Straßenseite betreten wollte, stolperte ich. Dennoch: weiter Richtung Bratwurstbude, wo ich mit großer Freude die Wurst verspeiste. Nach diesem »Gruß aus der Küche« schlenderte ich zum »Chinesen«, im ersten Stock nahm ich Platz, blätterte in der Karte und bestellte. Etwas Undefinierbares ging in mir vor. Ich bin unfähig zu beschreiben, was ich gefühlt habe, auch heute noch. Es waren keine Schmerzen, ich hatte keine Lähmung, keine Kopfschmerzen, im Grunde keinerlei Einschränkungen. Ich kann es nur so beschreiben, wie es jedermann kennt, zum Beispiel mit dem Gefühl:

»Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung.«

Trotzdem stimmte etwas nicht. Ich habe mein Essen durchaus genossen, sofern es erlaubt ist, einen deutschen »Chinesen« genießbar zu finden. Nach Begleichung der Rechnung ging ich – diesmal ohne die geringste Störung – zurück zum Hotel. Es war mittlerweile gegen halb drei Uhr nachmittags. Ich fuhr nach oben in mein Zimmer und legte mich wie üblich aufs, nicht ins, Bett, um zu vermeiden, zu tief einzuschlafen.

Alles schien völlig normal, nur dieses seltsame Gefühl kam immer wieder. Ich habe kurz überlegt, meine Frau anzurufen. Vielleicht wäre es nicht schlecht gewesen, weil sie möglicherweise gleich Verdacht geschöpft hätte: Ich hatte schon einmal eine Störung, ein halbes Jahr vorher zu Hause in Südfrankreich, wo wir seit 13 Jahren in einem kleinen Dorf in der Nähe der wunderschönen Kleinstadt Uzès lebten. Damals verbrachte ich zur Sicherheit eine Nacht im Krankenhaus von Nîmes. Aber das hatte ich verdrängt, weil es mir nicht wichtig erschien, nichts gefunden wurde und ich nach Hause gehen durfte.

Ich rief unseren mitreisenden Manager Peter Hohensee in seinem Zimmer an und bat ihn, zu mir zu kommen. Seine Mutter hatte vor Kurzem einen leichten Schlaganfall erlitten. Als er bei mir im Zimmer stand, glaubte er, bei mir ähnliche Symptome zu entdecken und begann, mir Fragen und Aufgaben zu stellen.

»Wo sind wir, wie viel Uhr ist es, was machen wir hier?«

Hielt er mich für bescheuert? Dann forderte er mich auf, einer Linie auf dem Teppichboden zu folgen. War korrekt möglich. Auch einen Schnürsenkel auf- und wieder zuzubinden – hat geklappt. Und dennoch schlug er vor:

»Wir sollten lieber den Notarzt rufen.«

Es kamen zwei Sanitäter, rot gekleidet, von der Feuerwehr. Die beiden machten die gleichen Tests, prüften außerdem den Blutdruck und nahmen ein bisschen Blut ab, um zu kontrollieren, ob die Blutzuckerwerte in Ordnung waren. Summa summarum: Sie konnten nichts feststellen und fügten hinzu:

»Wir sind keine Mediziner, können Sie aber in eine Klinik fahren.« Mittlerweile war es schon 16 : 30 Uhr.

Ich entschied mich mangels deutlicher negativer Erkenntnisse, lieber in die Philharmonie zum Soundcheck zu fahren, um zu prüfen, wie es sich mit der Spielerei verhielte. Ich zog meinen schwarzen Bühnenanzug an, damit ich nach der Probe nicht wieder zurück ins Hotel musste. Gegen 17 Uhr betrat ich die Bühne. Die Kollegen hatten schon gehört, dass ich irgendwelche Probleme hatte, und waren erleichtert, als sie mich sahen.

Soundchecks hatten bei uns zwei wichtige Aufgaben: einmal die Balance der Instrumente für den Saal abzustimmen. Und zum anderen, uns auf den voraussichtlichen Klang auf der Bühne vorzubereiten. Hierfür hatten wir zwei Nummern, die im laufenden Programm nicht unbedingt enthalten waren. Sie eigneten sich aber hervorragend für diesen Zweck: ein kräftigeres und ein zarteres Stück.

Unser Programm war relativ neu. Wir hatten es erst wenige Male aufgeführt. Gleich zu Anfang musste ich eine sehr heikle Melodie spielen. Mit höchster Konzentration ist das machbar. Jetzt bat ich meine Kollegen, dieses Stück anzuspielen, obwohl es normalerweise nicht für den Soundcheck vorgesehen war.

Sofort bemerkte ich unübliche Intonationsprobleme. Dabei konnte ich weiterhin meine für die Tonbildung wichtige linke Hand völlig normal bewegen. Nur: die Feinmotorik war weg, die filigranen Details bekam ich nicht mehr in den Griff. Ich habe es wieder und wieder versucht, ohne Erfolg. Jan meinte beruhigend:

»Lass die Melodie heute weg. Dann spiele ich sie und du morgen wieder.«

Intuition oder Einsicht? Auf jeden Fall bat ich Peter Hohensee, mich »schnell mal« rüber zur Charité, dem berühmten Berliner Krankenhaus, zu fahren. Gleich um die Ecke. Sicher ist sicher. Nach Verlassen der Bühne, auf dem Gang zu unserem Auto, gab es plötzlich wieder Irritationen: deutliche Gehprobleme.

Dann aber der Vorführeffekt: In der Notaufnahme der Charité angekommen, war ich wieder ohne die geringsten Beschwerden. Nach der üblichen Wartezeit kam ein jüngerer Arzt, dem ich meinen Zustand schilderte. Während der Untersuchungen gab es plötzlich Stromausfall. Allgemeine Aufregung, das sollte nicht passieren – bestimmt nicht in einem solchen Krankenhaus! Der Strom kam zwar schnell wieder. Kurz danach aber wieder Dunkelheit, diesmal länger. Größere Irritation.

Die Untersuchungen ergaben offensichtlich keinen unmittelbaren Verdacht. Trotzdem sagte der Arzt:

»Es ist wohl besser, Sie bleiben hier – zur Beobachtung.«

»Ich habe aber heute Abend ein Konzert. Ich muss spielen!«, protestierte ich.

Mein Widerstand aber war schnell gebrochen. Es war schon seltsam: Ich war tatsächlich bereit, zu bleiben und das Konzert sausen zu lassen. Offenbar gab es einen inneren Hinweis, dass es doch nicht schlecht wäre, dem Rat des Arztes zu folgen.

Peter Hohensee war mittlerweile zum Soundcheck zurückgefahren. Ich musste ihm also per Handy berichten:

»Ich wurde gebeten, zur Sicherheit im Krankenhaus zu bleiben.«

Lange Schrecksekunde.

»Mal schauen, ob die Kollegen ohne dich spielen oder lieber absagen.«

Ich sagte dem Arzt, dass ich unbedingt nochmals ins Hotel müsste, da sich mein Gepäck dort befände: »Und morgen früh fahren wir weiter, ich muss packen.« Er war dagegen.

»Das kann niemand außer mir machen. Ich muss hinfahren.«

»Gut, ich weiß von nichts«, lenkte er ein.

Diesen Satz deutete ich so, dass meine Symptome als nicht allzu gravierend einzuschätzen waren.

Mir wurde ein Taxi bestellt und ich fuhr zum Hotel zurück – ohne die geringste Störung. Zuerst zog ich mich um: Ein Bühnenanzug macht im Krankenhaus weder Eindruck noch Sinn. Dann alles in meinen großen Reisekoffer gepackt und das schwere Möbel wieder zum Taxistand gegenüber geschleppt.

Dann fuhr das Taxi an der hell beleuchteten Philharmonie vorbei, mit den bereits wartenden Konzertbesuchern. Traurig passierte ich den Konzertpalast und dachte nur: »Scheiße!« Was sonst.

Wieder in der Charité, diesmal mit meinem schweren Utensil. Der diensthabende junge Arzt tauchte auf und erklärte ironisch-verschmitzt:

»Ich habe gute Nachrichten: Wir machen heute keine MRT-Untersuchung mehr.« Das ist dieses Verfahren, bei dem man in eine Röhre geschoben wird. Zu gefährlich – wegen der ständigen Stromausfälle. Ich dachte: Wenn ein Arzt, auch noch in der »Top«-Charité, sagt »Dann machen wir es halt morgen«, wird das schon in Ordnung gehen, kein Zweifel.

Da lag ich nun auf einer Liege und konnte Seltsamkeiten beobachten: Ein Patient neben mir hatte offenbar etwas auf dem Kerbholz, er wurde von zwei Polizisten bewacht. Eine andere Patientin jammerte unentwegt, dass sie schon zwölf Stunden auf ihre Diabetes-Medikamente warten würde. Die ab und zu auftauchenden Krankenschwestern verdrehten nur die Augen und machten sich kaum die Mühe, ihre Ungeduld und Genervtheit zu verbergen. Beurteilen konnte ich diese seltsame Szenerie sowieso nicht.

Irgendwann, es war um die Zeit herum, als das Konzert zu Ende gegangen sein musste, falls es überhaupt stattgefunden hatte, wurde ich in ein dunkles Mehrbettzimmer geschoben. Alles schlafend, röchelnd und schnarchend, nicht gerade erbaulich. Ich schien immer noch völlig in Ordnung zu sein, konnte mich ohne Hilfe bettfertig machen: Bad, WC, Schlafanzug. Ohne erkennbare körperliche Probleme legte ich mich ins Bett.

Dann weiß ich nichts mehr. Blackout oder normales Einschlafen? Keine Ahnung.

Am nächsten Morgen gegen sechs, halb sieben, als der Krankenhausbetrieb in die Gänge kam, erschien eine Schwester. Während sie von Patient zu Patient ging, bemerkte ich, dass ich meinen linken Arm und das linke Bein nicht mehr anheben konnte. Gefühle waren da, keine Schmerzen, aber ich hatte keine Muskelkraft mehr. Ich war irritiert, aber nicht sehr beunruhigt, ich war völlig naiv, ich dachte: »Das Krankenhaus wird’s schon richten …«

Der diensthabende Oberarzt kam relativ spät – gegen neun, halb zehn. Ich sollte versuchen, die Finger der linken Hand zu bewegen. Und sie bewegten sich, wenngleich minimal, kaum sichtbar:

»Oh, das ist ein gutes Zeichen.«

Diese Aussage habe ich fehlinterpretiert, nach dem Motto: Das haben wir gleich, alles wird gut. Und naiv, wie ich noch war, fragte ich:

»Und was passiert jetzt? Gibt es Tabletten dagegen?«

Ich erinnere mich an sein Schmunzeln: »Nein, jetzt gibt es nur noch Gymnastik. Sie müssen in eine spezielle Reha-Klinik.«

Er war sich wohl schnell darüber im Klaren, was mein Zustand bedeutete. Ich aber nahm seine Aussage dankbar zur Kenntnis, denn ich wusste, dass die »Jan Garbarek Group« in diesem Tourblock nur noch ein Konzert zu spielen hatte, dann folgte eine Pause. Der große Rest der Tournee war erst für Sommer und Herbst geplant – und dann bin ich wieder fit, dank Reha, dachte ich.

Später, nach meiner Entlassung, blickte ich besser durch.

Im Lauf des Vormittags rief mich Peter Hohensee an. Die Kollegen hatten sich dazu durchgerungen, das Konzert zu dritt durchzuziehen. Trilok Gurtu am Schlagzeug, Rainer Brüninghaus an den Keyboards und Jan Garbarek mit Sopran- und Tenorsaxofon. Das erfordert Mut und außergewöhnliche Konzentration. Über Jahrzehnte gewonnene Erfahrung und Routine erlaubten uns, für das Publikum immer wieder kaum nachvollziehbare Notlösungen zu finden: Man muss einfach Partien des ausgefallenen Kollegen bestmöglich vergessen machen, irgendwie ersetzen. Die Kollegen können das.

Am Morgen begannen zur Klärung der Ursachen endlich die überfälligen Untersuchungen. Zunächst wurde ich in die Röhre geschoben; dabei stellte man fest, dass rechts im Gehirn eine Verstopfung, eine dunkle Stelle, eine Blockade, zu sehen war, »rechts-ischämischer Hirninfarkt« genannt. Möglicherweise ausgelöst durch jahrelang unentdeckten zu hohen Blutdruck. In den folgenden drei Tagen wurde ich ständig durch das Labyrinth der Charité-Gänge geschoben, von einer Untersuchung zur anderen. Dabei musste ich eine bemerkenswerte Entdeckung machen: Wann immer im deutschen Fernsehen eine medizinische Frage geklärt wird, ist ein Charité-Arzt zur Stelle. Es wird der Eindruck erweckt, dass dieses Krankenhaus das bestmögliche sein muss und hier die besten Behandlungen zu erwarten sind.

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Pressefoto von Eberhard Weber, das etwa 30 Minuten vor seinem Schlaganfall aufgenommen wurde. Berlin, 23. April 2007

Aber der Alltagsbetrieb ist unter aller Kanone! Zu wenig Personal. Man liegt auf seiner Liege in den Gängen herum, wartet, wartet, wartet. Und wenn es zieht, dann zieht es eben. Einmal lag ich 40 Minuten abgestellt in einem Korridor, hilflos auf einen Transporteur wartend.

Es ist in der Neurologie bekannt, dass bei Schlaganfällen unverzüglich mit Reha-Übungen begonnen werden muss, da hauptsächlich in den ersten drei Monaten beträchtliche Verbesserungen möglich sind. Aber auch hier verwunderte die Charité: In der Woche, die ich dort verbrachte, gab es nur eine einzige Stunde mit einem Therapeuten. Personalmangel.

Ein Berliner Freund, Norbert Mauer, bestellte für mich eine freiberufliche Therapeutin, die täglich auf meine Kosten zu mir kam, um die wichtigsten Anfangstherapien durchzuführen. Er war es auch, der mir schnell einen Reha-Platz verschaffte. Solche Spezialkliniken sind über lange Zeiträume ausgebucht. Und so wurde ich nach einer Woche von einer Ambulanz abgeholt und nach Grünheide, irgendwo im Osten von Berlin, in eine Median Klinik gebracht. Dort hatte mir mein Rechtsanwaltfreund kraft »Vitamin B« einen Platz verschaffen können, obwohl die Klinik voll belegt war. Ich bekam ein schönes Zimmer, den Umständen gemäß. Ein Einzelzimmer. Endlich!

Es war nicht allein die körperliche Problematik, die mir Sorge bereitete. Vieles war ungeklärt: Mein Auto stand in der Tiefgarage des Flughafens von Marseille, von dort war ich nach Deutschland abgereist und dorthin wäre ich demnächst wieder zurückgeflogen. Die Schlüssel, die Fahrzeugpapiere und den Parkschein hatte ich bei mir. Wer kümmert sich um so etwas? Wer hat die Zeit und die Möglichkeit dazu? Und was ist mit krankenhaustauglicher Kleidung? Mein Koffer war fast nur mit Bühnenkleidung gefüllt.

Dann begannen die Behandlungen, jeden Tag mal diese, mal jene Übung. Ich musste lernen, mit einem Rollstuhl umzugehen. Ich konnte ja nur einseitig versuchen, mit dem rechten Bein und der rechten Hand zu steuern. Links war ich total blockiert. Weiterhin uninformiert – die Therapeuten und Ärzte waren sehr vorsichtig – glaubte ich immer noch: Das wird wieder, in absehbarer Zeit.

Das nächste Konzert der Band fand in Lübeck statt. Die Kollegen spielten dort ebenfalls zu dritt. »Leider fehlte der angekündigte Eberhard Weber am Bass«, stand am nächsten Tag in der Zeitung. »Weber wurde am Vorabend in Berlin plötzlich ins Krankenhaus eingeliefert. So musste die Jan »Garbarek Group« nur zu dritt antreten. Natürlich machte sich das Fehlen des Bassisten bemerkbar, denn nun mussten die tiefen Töne von der Percussion übernommen werden, das war dann doch kein vollwertiger Ersatz. Trotzdem fanden die drei immer wieder zu einem gemeinsamen und ausgewogenen Spiel zusammen und begeisterten das Publikum, das schon vor dem Zugabenteil mit Standing Ovations applaudierte.« Offenbar lief es überraschend gut, war trotz alledem ein sehr schönes, erfolgreiches Konzert. Man könnte eifersüchtig werden: Es ging auch ohne mich 

Andererseits hörte ich vom Management, dass einige Besucher nach der Ansage mit der Verkündung meiner Abwesenheit ihre Karten zurückgegeben und nach der Erstattung die Halle wieder verlassen hatten. Sollte ich stolz darauf sein?

Danach war dieser erste Block der Tournee vorbei, es folgte die Tour-Pause, bevor es »richtig« losgehen würde. Trotz meines für mich noch ungeklärten Zustands war ich fest davon überzeugt: Dann bin ich wieder dabei! Ob es nur Naivität war oder ob ich mir das tatsächliche Ausmaß meiner Situation nicht eingestehen wollte, kann ich nicht sagen. Fest steht: Für mich war klar, dass ich im Herbst wieder auf der Bühne stehen würde.

Am 7. Dezember fand dann das letzte Konzert dieser Tournee statt. Ohne mich. Die Presse schrieb: »Nach der Erkrankung von Eberhard Weber, seit drei Jahrzehnten unverwechselbarer Klangbaustein des Garbarek-Ensembles, wurde im Frühjahr 2007 der Bassist Yuri Daniel an Bord geholt.« Ich war draußen.

2. Wenn ich’s nur wüsste

Das Schwierigste zu Beginn: Was ist Jazz überhaupt? Was sich Google und Wikipedia zusammengesucht haben, sagt über die Musik nichts aus. Das ist Lexikonwissen. Ist Musik überhaupt beschreibbar? Es gibt durchaus Verrückte oder gar Besessene, die versuchen, wissenschaftlich an das Unbekannte heranzugehen. So finden sich in einschlägigen Magazinen Untersuchungen zum Thema »Liebe« – wohlgemerkt: nicht zum physischen Akt. Da werden Hormonausstöße registriert und beeindruckende Analysen erstellt. Und trotzdem bleiben Mysterien, bleibt Unerklärbares. Am besten man flüchtet in die Poesie und verwendet Redewendungen, wie man sie von Weinverkostungen kennt. Oder man taucht in den Mustopf der Chansonschreiber, die zu ähnlich Schwülstigem in der Lage sein können. Der Leiter meiner ersten professionellen Formation, der Vibrafonist Dave Pike, sagte einmal im Beisein der Mitglieder seines »Dave Pike Sets« zu einem Journalisten: »Music is an island of beauty.« Dave kam nicht umhin, in das Gelächter einzustimmen, in das wir ausbrachen. Es scheint unmöglich zu sein, definitive Bezeichnungen für Emotionen zu finden. Der ECM-Slogan »The most beautiful sound next to silence« führt zwar auch zu keiner Erkenntnis, hat aber was und ist als Spruch zumindest ein Klassiker.

Es ist schon merkwürdig: Mehr als 50 Jahre lang habe ich Jazz gespielt und trotzdem ist es mir unmöglich zu beschreiben, was an dieser Musik faszinierend ist und warum manche Leute Zugang finden und andere nicht. Hinzu kommt, dass sich auch noch zwischen den internen Stilrichtungen die Geister scheiden: Dixieland, Swing, Bebop, Free, Latin, Modern, Cool. Was gibt es nicht alles! Und wie unversöhnlich sind oft die Lager.

Wenn es denn Jazz ist, warum liebt der eine dies und der andere besteht auf dem Gegenteil? Ich nehme mich dabei nicht aus: Es gibt Jazzformen, die ich nie mochte, immer schon erzlangweilig fand. Zum Beispiel Dixieland. In meiner Jugendzeit machten wir einen Unterschied beim Oldtime-Jazz zwischen New Orleans und eben Dixieland. Als Erklärung war zu hören: New Orleans wird von Schwarzen gespielt, Dixieland von Weißen. Klang verständlich, aber war es auch richtig? Musikalisch jedenfalls konnte ich nie einen Unterschied ausmachen, weil für mich alles zu simpel klang. Damals wurde ich noch gefragt: »Oldtime oder Modern?«, wenn ich mich als Jazzmusiker outete. Und die Frage war berechtigt und nervig zugleich, weil ich ernst genommen werden wollte. Und dafür eignet sich Oldtime auf keinen Fall: Die wenigen kümmerlichen Töne, die dazu auf dem Bass runtergezupft werden müssen, sind den Aufwand nicht wert, machen folglich keinerlei Spaß. »Schlagbass«, diskriminierend genug, sagte man noch zum Kontrabass, hässlich schwarz lackiert mit weißen Zargenrändern. Wenigstens war meiner in Original-Naturlackierung.

Diese groovige Schwarzlackierung passte damals in die Unmenge von Spaßmacher-Ensembles, meist englische Formationen, die im Fernsehen mit möglichst komisch karierten Kostümen auftraten. Es scheint brüllend witzig gewesen zu sein, wenn der Bassist an den Hosenträgern des Trompeters zerrte oder sich jedes Mal der Hut des Posaunisten hob, wenn der Schlagzeuger laut das Crashbecken traf. Da kam gute Laune auf. Wenigstens wurden damals noch keine Stadien gefüllt, in denen sich Zigtausende in die Hose machen, wenn einer ständig von rechts nach links über die Bühne rennt, plötzlich stehen bleibt, glotzt, um zu signalisieren, dass jetzt gelacht werden muss.

Ich habe nie Kontakt zur Oldtime-Szene gehabt, somit auch ihre mögliche Weiterentwicklung nicht verfolgt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Dixieland heute nur noch in Biergärten, zum Hotel-Brunch und auf Münchner Isarflößen zu hören ist, wenn überhaupt zugehört wird und der gewaltige Bierfluss die Ohren nicht längst verstopft hat. Auch Woody Allens Liebhaberei ist nicht als musikalische Offenbarung einzuordnen. Was gibt’s denn zu hören, außer vieltausendfach wiederholten Phrasen?

Zwischen Dixie und Free liegen Welten und beides nennt sich Jazz.

Ich erlaube mir eine seltsame Definition: Jazz ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich »Neuen Musik«. Nur im Jazz gibt es Synkopen ohne Ende, nur im Jazz werden unzählige Harmonien eingesetzt, auch oftmals ungerade Rhythmen. Womöglich eine Kombination von allem. Kleine Korrektur: Die brasilianische Musik räubert auch ganz schön in den Synkopen und Harmonien. Im Jazz spielen die Solisten dazu im Überfluss kompliziertes Zeug, eingebettet in vertrackte Harmonien. Manches Mal extrem schnell, manches Mal seltsam langsam. Als würden sie es darauf anlegen, möglichst nicht verstanden zu werden. So bleibt es für mich ein Rätsel, warum unverständliche Musik so begeistert aufgenommen wird.

Meine Definition gilt auch für den Gesang. Nehmen wir die Oper: Natürlich verlangen Wagner-Partituren eine hervorragende Technik und auch der Koloraturgesang will gelernt sein. Und dass auch so mancher Rock- und Popinterpret stimmlich Herausragendes leistet, wird dem Fan spätestens dann bewusst, wenn er versucht, seinem Idol nachzueifern. Unsere Stimmbänder und die dazugehörigen Muskeln bringen es, wenn sie entsprechend trainiert werden, zu einer unglaublichen Ausdruckskraft. Dennoch kann der Fan von Oper und Rock – auf seinem handwerklichen Niveau – locker mitsingen. Nicht in der Qualität, aber in der Melodie. Nur im Jazz wird etwas verlangt, was vielen unnatürlich erscheint – Harmoniesprünge, Rhythmuswechsel, komplexe Melodielinien. Da müssen dann die Fachleute ran, also Ella Fitzgerald oder Bobby McFerrin und Kollegen, die über mehr verfügen als über handwerkliches Können. Es ist das Fantastische im Jazz, dass er seinen Ursprung in der Improvisation hat, und das macht ihn so einzigartig. Oft liebt der Jazzfan einen Song, ohne in der Lage zu sein, die Melodie auch nur annähernd nachsingen zu können. In der Klassik geht das. Mein Musiklehrer im Gymnasium vertextete als Beethoven-Liebhaber den Anfang der berühmten 5. Symphonie des Meisters. Wer kennt nicht den Beginn des ersten Satzes: Bababa duuuu – - – bababa doooo. Dann die rasche, bewegte Fortführung. Ich erinnere mich an nur wenige Zeilen des »Meisterwerks«: Das Schicksal kloooopft – - – an deine Tüüüür – dann rasch: Was willst du, sprich, ich öffne dir, so komm zu mir … So etwas vergisst man nicht. Leider Ende meiner Erinnerung.

Es gibt Musik, die mich anspricht und andere, die mich abstößt. Zu erklären, warum das so ist, fällt mir schwer – außer mit der Plattitüde, dass Musik – oder Kunst generell – Privatsache bleibt. Und wenn schon Erklärungen durch Fachpersonal gefragt sind, dann helfen nur emotionslose weiter. Entrückte mögen tranceartige Zustände willkommen heißen. Ich bleibe lieber nüchtern, weil Trance automatisch alles verklärt. Mit einem Joint zu spielen macht anfänglich Spaß, aber die Qualität ist nur vermeintlich besser: Man bildet sich ein, im siebten Himmel zu sein, auch, weil Fehler leichter weggesteckt werden.

Das größte Problem sind die nicht existierenden Kriterien im Jazz. Bei uns kann jeder behaupten, was er will. »Das war ganz toll«, sagt der eine. »Verschone mich!«, sagt der andere. Was nun? Wer entscheidet? Muss überhaupt jemand entscheiden? Es ist durchaus von Vorteil, dass Jazz auch ein Synonym für Freiheit ist, weshalb im Einzelfall auch eine deutlich schwächere Technik Gefallen finden kann. Der Nachteil, mein Nachteil: Mit viel Erfahrung schwinden Unbekümmertheit und Begeisterung, meinethalben Naivität. Ich glaube heute sofort sagen zu können, wohin der Hase läuft. Wiederholungen langweilen mich schnell. Ich stoße auf große Probleme, wenn mir von hoffnungsfrohen jungen Kollegen CDs zugeschickt werden, mit der Bitte, Stellung zu nehmen, meine ehrliche Meinung zu äußern. Meist muss ich mit der Frage beginnen: »Warum habt ihr die CD überhaupt gemacht? Gibt’s nicht schon genug in dieser Richtung?«

Weiter stößt mir unliebsam auf, dass es viele musikalische Gewohnheiten gibt, die sich seit Jahrzehnten eingebürgert haben und nie infrage gestellt werden. Warum zum Beispiel scheint es enorm schwierig zu sein, einen Jazz-Song zu beenden? Warum muss immer irgendein Mitspieler, meist von der schlagenden Zunft, nach dem letzten Akkord weiter Geräusche fabrizieren? Die in der Klassik verwendeten Schlüsse, effektiv und zügig, haben im Jazz dem kindlichen Spieltrieb – oder der Eitelkeit – Platz gemacht. Nochmals »ping« und »peng« und »pläsch« und »bumm«: zu erleben auf unendlich vielen Konzerten und sogar Studioeinspielungen. Keith Jarrett hat mit seinem Trio tatsächlich abrupte Schlüsse eingeführt, eine löbliche Ausnahme, die bezeichnenderweise vom Publikum honoriert wird, denn offensichtlich hat an diese Lösung kein Jazzliebhaber je gedacht. Dieses ständige Auströdeln ist systemimmanent geworden. Ich gebe zu: Die Rockmusiker toppen uns Jazzer wahrscheinlich noch. Kaum ein Rockkonzert, bei dem die einzelnen Nummern nicht mit endlosen Gitarren- oder Drumsoli enden. Es wäre interessant, Blindfold-Tests zu machen: Wer erkennt bei diesen Orgien, um welchen Song es sich handelt? Früher hat man diese Konzertpassagen wenigstens noch genutzt, um sein altes Instrumentarium öffentlich zu entsorgen.

Aufmerksames Zuhören bringt so manches an den Tag: Wer fängt wann eine freie Einleitung an? Wer wagt es mit welchem Klang? Im Regelfall können Schlagzeuger nicht allzu gut warten, mit anderen Worten: Sie fangen früh an, besser sofort. Dafür hören sie auch gern spät auf, im Idealfall als Letzter. Das »Haschataplusch« des Schlagzeugs nach dem letzten Akkord der Formation ist Legende. Vielleicht noch ein zartes »Pling« auf dem Becken nachgeschoben, mit dem Stock nach schnelleren Stücken und mit dem Besen nach Balladen. Dazu gehört auch, dass es der schlagenden Zunft in der Regel an Einsicht fehlt, wenn das Tempo »abhaut« oder schleppt. Sie sind nie schuld – so zumindest kenne ich das seit über 40 Jahren.

Ähnlich verhält es sich mit Chorussen der Solisten: Waren wirklich sechs Durchgänge nötig oder hätten auch drei, noch besser, nur zwei, gereicht? Es passiert durchaus, dass bei uns Spielern bedauerliche Leere, also Ideenarmut, zu beklagen ist – kommt vor, je nach Abendform. Und dann ist es Brauchtum, immer weiter zu spielen, in der Hoffnung, dass die Leere einem Einfall Platz macht. Wenn nicht, was öfters vorkommt, hilft künstliche Dynamik weiter, das heißt, einfach weiterknüppeln, auf Felle, Saiten oder Tasten. Im Idealfall wird es als Temperament verstanden, das kommt immer gut an! Und es gehört zur Selbstdarstellung, der wir alle unterliegen, Künstler allemal, sich auf der Bühne immer im bestmöglichen Licht zu präsentieren. Ich kenne Kollegen, die immer in der ersten Reihe stehen müssen. Vor allem, wenn Kameras aufgebaut sind, bei TV-Mitschnitten zum Beispiel: Es wird mit Akribie verfolgt, wo jetzt das Rotlicht aufleuchtet, in welche Richtung das Objektiv deutet. Dann schnell langsam-tändelnd sich in den Ausschnitt bewegen, der verspricht, selbst auf dem Bildschirm zu erscheinen. Wenn man nicht gerade selbst soliert, dann wenigstens hinter dem Solisten schnipsend Begeisterung mimen.

Auch hier nehme ich mich nicht aus: So versuchte ich mehrfach, den Kameramann, der es aufregend fand, meine rechte zupfende Hand auf dem Griffbrett zu verfolgen, in Richtung meines Gesichts zu bringen. Ganz einfach: die Hand langsam zupfend auf dem Griffbrett nach oben führen, dabei meinen Kopf abwärts Richtung Hand bewegen, und siehe da, aus den Augenwinkeln auf einem Monitor erspähend: Kopf und Hand sind vereint! Voilà. Und der Kameramann hat ein »irres« Bild, ein Lieblingsausdruck der Fernsehleute über Jahre hinweg: »irre« Bilder machen. Wer sie kennt, weiß, wie man sie verführt: Als ich während einer Südamerika-Tournee, die für eine WDR-TV-Dokumentation mitgefilmt wurde, auf einem Amazonasboot an Seilen zupfte, die über die Überdachung gespannt waren, wusste ich: Das wird zu sehen sein. »Irre! Der Bassist zupft an Seilen auf dem Amazonasboot.« Und kam die Sequenz im Film vor? Muss ich es noch bestätigen?

Damit wegen meiner »pläsch-und-bumm«-Häme kein Missverständnis aufkommt: Ich schätze viele Drummer und Percussionisten sehr, ich hatte das Glück, mit großen Musikern zusammenspielen zu dürfen! Und manche sind sogar Freunde geworden, wie Michael DiPasqua, den ich in den 70er-Jahren im New Yorker Jazzclub »Bottom Line« kennenlernte, als er mit dem Vibrafonistenquartett »Double Image« auftrat. Sie gastierten als Vorgruppe von Ralph Towner. Mit Mike habe ich mich auch außermusikalisch bestens verstanden. Noch heute nimmt er lange Flugreisen von Florida über den Atlantik auf sich und besucht mich im Süden Europas.

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Michael DiPasqua und Eberhard Weber vor Webers Haus in Südfrankreich, 2008

Das Mysterium Jazz. Anders als in der Klassik ist es auch nicht ganz einfach, einem Jazzmusiker nachzuweisen, dass er falsch gespielt hat. Und das gibt es durchaus, und nicht selten! Es mag das Dargebotene dem Kritiker nicht gefallen haben. Aber falsch? Zu komplex die Kompositionen, zu individuell die Interpretation, zu schnell und verwirrend das Spiel. Häufig müssen auf der Bühne Notbremsen gezogen werden, möglichst in einer Form, die das Publikum »ahnungslos« zurücklässt. Eine auseinanderfallende Band wieder einzurenken muss gelernt sein.

Seit meinem Schlaganfall höre ich wieder viel Radio. Allerdings bewusst, via Computer oder TV-Gerät. Ein Dauerdudelradio hat in meinem Hause weiterhin keine Chance.

Seit mehr als 20 Jahren lebe ich in Frankreich, in der Nähe eines altrömischen Weltkulturerbes, dem mehrstöckigen Aquädukt Pont du Gard. In Frankreich gibt es eine Unmenge Sender, die sich dem Jazz widmen. Nun profitiere ich davon und kann genüsslich studieren, was mir gefällt und was nicht. Es ist geradezu unfassbar, wie viele der gesendeten Kompositionen jeder Couleur und jeden Alters noch heute auf den bekannten, teils abgedroschenen zwölftaktigen Bluesharmonien basieren. Dabei sollte ich kurz erwähnen, dass der Blues aus der »Baumwollzeit« nichts mit der zwölftaktigen Form zu tun hat. Damals entstand unter der schwarzen Bevölkerung eine Gesangsform, die Spaß und Protest gleichzeitig erlaubte. Wer wann die bis heute gültigen zwölf Takte kreierte, müsste irgendwo anders nachgelesen werden. Jedenfalls kann auf diesen zwölf Takten stundenlang, wenn’s sein soll: wochenlang gespielt werden, bestens geeignet für das Guinness-Buch der Rekorde. Gerade bei Jam-Sessions geht es nicht ohne diese Bluesform; und es löst immer wieder Erstaunen aus, dass zum Beispiel ein amerikanischer Pianist, ein belgischer Trompeter, ein russischer Posaunist, ein japanischer Gitarrist, ein deutscher Bassist und ein australischer Schlagzeuger, die sich alle zum ersten Mal treffen, sofort und ohne Probe einen »Blues in Bb« spielen können. Dem Kundigen erschließt sich sofort, in welcher Position sich die Darbietung befindet. Man kann also jederzeit einsteigen und mitmischen. Es klingt auch noch perfekt, quasi fehlerlos, und die Improvisation kennt keine Grenzen, unter Einhaltung von Gegebenheiten wie Harmonien. Dagegen stehen dann natürlich Unmengen von Wiederholungen. Und dennoch: Nach der Wahrscheinlichkeit gibt es keine zwei kongruenten Blues-Soli, obwohl es Millionen davon gibt.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch ich liebe diese Bluesform, habe während meiner 50 Jahre auf den Bühnen der Welt selbst kräftig zur Vermehrung beigetragen. Und gleichzeitig wollte ich neue Wege gehen – und die Jungen machen es heute nicht anders: Es gibt viele junge Musiker, die die ausgetrampelten Pfade verlassen, neue Konzepte wagen, vertrackte Strukturen entwickeln.

So schwer es ist, den Jazz zu erklären, so schwer tue ich mich mit einer Antwort auf die Frage: Warum wird man Musiker, dazu auch noch Jazzmusiker? Talent, Glück, Beziehung – oder ganz einfach Lust und Träumerei? Wahrscheinlich, wie üblich, von jedem etwas. Hat man dann ein gewisses Alter erreicht, geht die Fragerei los. Dann müssen die Überlegungen Überprüfungen standhalten. Worin liegen die Vorteile des Jazzspielens? Gibt es einen Unterschied zum klassischen Repertoire, von dem auch behauptet wird, kein Konzert wäre wie das vorige, obwohl Note für Note identisch aufgeschrieben ist? Im Jazz können wir uns dagegen durch die Improvisation auf Individualität und relative Freiheit berufen.

Es ist wunderbar, dass sich Musiker mit durchaus unterschiedlichen technischen Kenntnissen im Jazz durchsetzen können, mit weniger weiter kommen können als der Brillierende. Jazz ist also nicht Handwerk in Perfektion, sondern ein andauernd kreativer Prozess. Ich wage es, mich als den am wenigsten versierten Techniker von allen Bassisten zu bezeichnen, die es zu einer gewissen Achtung gebracht haben. Ich war perfekt – im Kaschieren meiner Hang-ups. Selbst mein Markenzeichen, dieses seltsame körperlose Gebilde, der Elektrokontrabass, war nicht perfekt. Und keiner hat etwas gemerkt. Dabei musste ich Abend für Abend Nachteile im klanglichen Bereich beachten, bestimmte Regionen vermeiden, höhere Lagen oder bestimmte Saiten ausschließen. Oder bewusst außergewöhnliche Regionen nutzen, um sie als verblüffenden Effekt einzusetzen. Und Routine ist: all diese Unzulänglichkeiten unhörbar zu machen. Ich schaffte es trotzdem oder gerade deshalb, als individuell und sogar außergewöhnlich bezeichnet zu werden.

Als ich begann, diesen ungewöhnlichen Bass zu spielen, gab es meines Wissens nichts Vergleichbares auf dem Markt. Auch mein Gerät wurde erst langsam und mühsam auf Vordermann gebracht – von mir, von Gitarren- und Bassbauern, von Pickup-Herstellern. Wie kann es anders sein, wenn keine Erfahrung vorhanden ist? Viel, viel später füllte sich der Markt mit Instrumenten der neueren Art. Man wird verstehen, dass solche Entwicklungen zeitaufwendig und teuer sind. Dazu gehört die Überzeugung, dass es genügend Interessenten gibt, die diesen selteneren Weg gehen wollen. Und der Elektrogitarrenmarkt boomte im Rock- und Popbusiness wie verrückt. Hinter ihm stand das wirklich große Geld. Und wo bleibt dann der kleine Geigenbauer?

Perfekte Instrumente gibt es nicht. Das liegt nicht an der Fertigung, das liegt am ständigen Herummeckern des Spielers. Mir ist niemals jemand begegnet, der restlos zufrieden war.

Was die klassischen Stradivari-Millionäre dazu sagen, weiß ich nicht. Ob es eine noch bessere »Strad« gibt, der man hinterherhecheln kann? Oder doch lieber auf eine Guarneri wechseln?

Welch ein Lichtblick, dass in unserem Geschäft Anschaffungen mit »nur ein paar Tausend« zu bewältigen sind. Auch viel Geld, aber ohne krank-teure Gagen oder Sponsoren abrufen und befriedigen zu müssen. Ich mag falsch liegen, aber ein Jazzbassist mit einer Stradivari ist mir bislang nicht begegnet.

Perfekt war ich, was die Intonation anbelangt. Trotz unzulänglicher verquerer Grifftechnik gelangen mir ziemlich einwandfreie saubere Töne. Zum besseren Verständnis: Der große klassische Komponist Richard Strauss soll folgenden Spruch geäußert haben: »Ein reiner Ton auf dem Kontrabass ist ein reiner Zufall!« Der Mann hat meine volle Sympathie.

Vor vielen Jahren lernte ich mal einen meiner Bassheroen kennen: den Amerikaner Red Mitchell. Red hatte sich eine völlig unorthodoxe Technik angeeignet, die Quintenstimmung. Dazu muss gesagt werden, dass der Kontrabass in Quarten gestimmt ist. Quinten sind eigentlich nicht praktikabel, weil dafür die Spannweite der linken Hand schlicht nicht ausreicht. Für das wesentlich kleinere Violoncello dagegen sind Quinten ideal. Der amerikanische Bassist Oscar Pettiford wurde seltsamerweise auch als Cellist gerühmt. Allerdings wussten nur wenige, dass er sein Cello in Quarten, wie seinen Bass, stimmte. Kein Wunder, dass er nahtlos zwischen den Instrumenten wechseln konnte. Außerdem »spielte« er im Grunde nicht Cello: Er »zupfte« es nur. Und das gilt nicht! Er wurde folglich von den damaligen Radio-Jazzmoderatoren nur hochgepuscht. Wie so oft: wider besseres Wissen.