(1)  Max Tegmark verwendet die Kürzel ERH (für »External Reality Hypothesis«) und MUH (für »Mathematical Universe Hypothesis«).

(2)  Max Tegmark verwendet das Kürzel SAS (für »Self-Aware Substructure«).

(3)  Max Tegmark verwendet das Kürzel SSSA (für »Strong Self-Sampling Assumption«).

(4)  Anm. des Übersetzers: Im Märchen »Goldlöckchen und die drei Bären« ist Goldlöckchens Milchbrei nicht zu kalt, nicht zu heiß, sondern »genau richtig«. In diesem Sinn muss auch der Abstand eines Planeten zur Sonne genau richtig sein, um Leben zu ermöglichen.

(5)  Max Tegmark verwendet das Kürzel CUH (für »Computable Universe Hypothesis).

(6)  Max Tegmark verwendet das Kürzel FUH (für »Finite Universe Hypothesis«).

Für Meia,
die mich dazu inspirierte, dieses Buch zu schreiben.

Max Tegmark

Unser mathematisches Universum

Auf der Suche nach dem Wesen der Wirklichkeit

Aus dem Amerikanischen von Hubert Mania

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

Vorwort

Ich bin allen Menschen aufrichtig dankbar, die mich ermutigt und mir geholfen haben, dieses Buch zu schreiben:

Meiner Familie, meinen Freunden, Lehrern, Kollegen und Mitarbeitern für die jahrelange Unterstützung und Anregung, meiner Mutter, weil sie Neugier und Leidenschaft für die großen Fragen des Lebens mit mir teilt, meinem Vater für seine Klugheit, und weil er seine Begeisterung für die Mathematik und ihre Bedeutung mit mir teilt, meinen Söhnen Philip und Alexander, weil sie mir so großartige Fragen über die Welt stellen und dabei unabsichtlich Anekdoten für das Buch liefern, allen Wissenschaftsenthusiasten der Welt, die im Lauf der Jahre Kontakt zu mir aufnahmen, mir Fragen stellten, Kommentare abgaben und mich ermutigten, meine Ideen weiterzuverfolgen, meinen Agenten John und Max Brockman, die mich überredeten, dieses Buch zu schreiben, und die alles in Bewegung setzten, jenen, die Teile des Manuskripts lasen und darauf reagierten, insbesondere meine Mutter, mein Bruder Per, Josh Dillon, Marty Asher, David Deutsch, Louis Helm, Andrei Linde, Jonathan Lindström, Roy Link, David Raub, Shevaun Mizrahi, Mary New, Sandra Simpson, Carl Shulman und Jaan Tallinn, den Superhelden, die den Entwurf des gesamten Buchs lasen und kommentierten, und zwar Meia, Vater, Paul Almond, Julian Barbour, Adrian Liu, Howard Messing, Dan Roberts, Edward Witten und mein Lektor Dan Frank.

Ein großer Dank geht an Phillip Helbig, der auch das Manuskript der deutschen Übersetzung hilfreich kommentierte.

Mein besonderer Dank gilt meiner geliebten Frau Meia, meiner Muse und Mitreisenden. Sie hat mich stärker ermutigt, unterstützt und inspiriert, als ich es mir jemals träumen ließ.

Kapitel 1

Was ist Wirklichkeit?

… Bäume bestehen hauptsächlich aus Luft. Verbrennt man sie, werden sie wieder zu Luft, und in der lodernden Glut wird die lodernde Glut der Sonne freigesetzt, die mitwirkte, um die Luft in den Baum zu verwandeln. Und in der Asche finden wir den kleinen Überrest des Anteils, der nicht aus der Luft, sondern aus der festen Erde kam.

Richard Feynman

Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, Horatio, als eure Schulweisheit sich träumt.

William Shakespeare,
Hamlet, 1. Aufzug, 5. Szene

Nicht das, was es zu sein scheint

Eine Sekunde später starb ich. Ich hörte auf, in die Pedale zu treten, und zog die Bremse, aber es war zu spät. Scheinwerfer. Kühlergrill. Vierzig Tonnen Stahl. Wildes Hupen. Wie ein neuzeitlicher Drache. Ich sah die in Panik aufgerissenen Augen des LKW-Fahrers, fühlte, wie die Zeit sich verlangsamte und mein Leben an mir vorüberglitt. Der allerletzte Satz meines Lebens lautete: »Hoffentlich ist das alles nur ein böser Traum.« Aber leider sagte mir mein Bauch, dass das hier wirklich geschah.

Aber wie konnte ich mir völlig sicher sein, nicht doch zu träumen? Was wäre denn, wenn ich kurz vor dem Zusammenprall etwas wahrgenommen hätte, was ausschließlich im Traumland geschieht? Sagen wir, meine tote Lehrerin Ingrid hätte, gesund und munter, hinter mir auf dem Gepäckträger gesessen. Oder was wäre gewesen, wenn fünf Sekunden zuvor im oberen linken Bereich meines Gesichtsfelds ein Pop-up-Fenster mit der Warnung aufgetaucht wäre »Sind Sie sicher, dass es eine gute Idee ist, aus dieser Unterführung herauszuschießen, ohne nach rechts zu schauen?« und darüber die anklickbaren Schaltflächen »Weiter« und »Abbrechen«? Hätte ich genügend Filme wie Matrix und The 13th Floor – Bist du, was du denkst? gesehen, wäre ich wahrscheinlich ins Grübeln darüber geraten, ob mein ganzes Leben vielleicht nur eine Computersimulation gewesen sein könnte, womit ich einige meiner grundlegendsten Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit in Frage gestellt hätte. Aber was kann letztlich stabiler und wirklicher sein als ein Vierzigtonner?

Allerdings ist nicht alles auch so, wie es zunächst erscheint. Und das gilt sowohl für Lastkraftwagen als auch für die Wirklichkeit selbst. Solche Vorschläge stammen nicht nur von Philosophen und Science-Fiction-Autoren, sondern sind auch Rückschlüsse aus physikalischen Experimenten. Seit hundert Jahren wissen Physiker, dass massiver Stahl in Wirklichkeit hauptsächlich leerer Raum ist, weil die Atomkerne, die 99,5 % der Masse ausmachen, winzige Kugeln sind, die lediglich 0,0000000000001 % des Volumens darstellen. Und dieses annähernde Vakuum fühlt sich nur deshalb fest an, weil die elektrischen Kräfte, die die Kerne an Ort und Stelle halten, sehr stark sind. Darüber hinaus haben sorgfältige Messungen subatomarer Teilchen ergeben, dass es ihnen offenbar gelingt, gleichzeitig an unterschiedlichen Orten zu sein, ein wohlbekanntes Rätsel im Zentrum der Quantenphysik (was wir in ▶ Kapitel 7 ergründen werden). Aber ich selbst bestehe doch auch aus solchen Teilchen. Wenn diese also an zwei Orten gleichzeitig sein können, kann ich selbst es dann auch sein? Tatsächlich entschied ich ungefähr drei Sekunden vor dem Unfall unbewusst, ob ich einfach nach links schauen sollte, wo ich auf meinem Weg zum Blackebergs-Gymnasium in meiner schwedischen Heimat stets abgebogen bin, da auf dieser Querstraße nie Verkehr herrschte, oder ob ich vorsichtshalber auch nach rechts schauen sollte. Mit meinem schicksalhaften, spontanen Entschluss entging ich an jenem Morgen im Jahr 1985 nur um Haaresbreite einem Unfall. Alles lief letztlich darauf hinaus, ob ein einzelnes Kalziumatom in einen bestimmten synaptischen Spalt meines präfrontalen Kortex eindringen und dabei ein bestimmtes Neuron dazu anregen würde, ein elektrisches Signal zu feuern. Das wiederum würde bei weiteren Neuronen in meinem Gehirn eine wahre Sturzflut von Aktivitäten auslösen, so dass sie gemeinsam die Botschaft »Mach dir keine Sorgen« verschlüsselten. Wäre daher dieses Kalziumatom von zwei geringfügig unterschiedlichen Positionen aus gleichzeitig gestartet, hätten meine Pupillen eine halbe Sekunde später in zwei entgegengesetzte Richtungen zugleich gezeigt, weitere zwei Sekunden später wäre mein Fahrrad an zwei unterschiedlichen Orten gleichzeitig gewesen, und kurze Zeit später wäre ich gleichzeitig tot und lebendig gewesen. Die führenden Quantenphysiker streiten sich leidenschaftlich darüber, ob so etwas tatsächlich geschieht, ob sich unsere Welt praktisch in Paralleluniversen mit unterschiedlichen Geschichten aufspaltet, oder ob die sogenannte Schrödingergleichung als oberstes Gesetz der Quantenbewegung in irgendeiner Weise revidiert werden muss. Bin ich also tatsächlich gestorben? In diesem Universum bin ich gerade noch einmal davongekommen, aber bin ich vielleicht in einem anderen, gleichermaßen realen Universum, in dem dieses Buch nie geschrieben wurde, gestorben? Falls ich sowohl tot als auch lebendig bin, könnten wir dann unsere Vorstellung von der Beschaffenheit der Wirklichkeit irgendwie so ergänzen, dass all dies einen Sinn ergibt?

Vielleicht haben Sie das Gefühl, dass meine gerade geäußerten Überlegungen absurd klingen und vom Standpunkt der Physik aus betrachtet die Sache noch komplizierter wird. Wenn wir uns jetzt aber anschauen, wie ich es wahrgenommen habe, könnte alles sogar noch schlimmer werden. Falls ich an diesen beiden unterschiedlichen Orten in zwei Paralleluniversen sein sollte, wird eine Version von mir überleben. Wendet man jetzt das gleiche Argument auf alle anderen Möglichkeiten an, in Zukunft zu Tode zu kommen, scheint es immer mindestens ein Paralleluniversum zu geben, in dem ich niemals sterbe. Da mein Bewusstsein nur dort existiert, wo ich lebe, heißt das, dass ich mich subjektiv unsterblich fühle? Und sollte dies der Fall sein, werden auch Sie sich subjektiv unsterblich fühlen und schließlich die älteste Person auf der Erde sein? Diese Fragen werden wir in ▶ Kapitel 8 beantworten.

Mit Hilfe der Physik hat sich herausgestellt, dass unsere Wirklichkeit viel seltsamer ist, als wir uns das jemals vorgestellt hatten. Überrascht Sie das? Eigentlich ist es ganz und gar kein Wunder, wenn wir die Darwin’sche Evolution ernst nehmen! Die Evolution stattete unsere entfernten Vorfahren lediglich mit einer Intuition für solche Aspekte der Physik aus, die einen Überlebensvorteil boten, wie etwa die parabelförmige Bahn fliegender Steine (was unsere Vorliebe für Baseball erklärt). Eine Höhlenfrau, die allzu hartnäckig über die kleinsten Bausteine der Materie nachdachte, hätte womöglich den sich anschleichenden Tiger nicht bemerkt und wäre gnadenlos aus dem Genpool gefegt worden. Darwins Theorie macht daher die überprüfbare Vorhersage, dass bei jeder Anwendung von Technik zur Erkennung von Wirklichkeit jenseits des menschlichen Maßstabs unsere von der Evolution geprägte Intuition versagt. Wir haben diese Vorhersage wiederholt auf die Probe gestellt, und die Ergebnisse fallen mit überwältigender Mehrheit zugunsten Darwins aus. Bei hohen Geschwindigkeiten, stellte Einstein fest, verlangsamt sich die Zeit. Das fanden die Miesepeter im schwedischen Nobelpreiskomitee so bestürzend, dass sie es ablehnten, ihm den Nobelpreis für seine Relativitätstheorie zuzuerkennen. Bei niedrigen Temperaturen kann flüssiges Helium aufwärts strömen. Bei hohen Temperaturen wechseln geladene Teilchen ihre Identität. Für meine Begriffe sind der Zusammenstoß eines Elektrons mit einem Positron und deren anschließende Verwandlung in ein Z-Boson ebenso wenig intuitiv nachvollziehbar wie die Umwandlung zweier zusammenstoßender Autos in ein Kreuzfahrtschiff. Auf mikroskopischer Ebene tauchen Teilchen schizophrenerweise an zwei Orten gleichzeitig auf, was zu den bereits erwähnten Quantenrätseln führt. Geht es um astronomisch riesige räumliche Strukturen, kommt – Überraschung! – ebenfalls Merkwürdiges zum Vorschein: Sollten Sie tatsächlich intuitiv alle Aspekte Schwarzer Löcher verstehen, dann sind Sie, so glaube ich, der einzige Mensch auf der Welt, dem das so geht. Dann sollten Sie dieses Buch sofort beiseite legen und Ihre Ergebnisse veröffentlichen, bevor Ihnen jemand den Nobelpreis für Quantengravitation vor der Nase wegschnappt. Bei noch gewaltigeren Raumstrukturen wird es zunehmend verrückter. Eine Realität wird erkennbar, die erheblich grandioser ist als alles, was wir mit unseren besten Teleskopen auflösen können. Wie wir in ▶ Kapitel 5 untersuchen werden, wird die führende Theorie für die Ereignisse im frühen Universum kosmologische Inflation genannt. Sie geht davon aus, dass der Weltraum nicht nur sehr, sehr groß, sondern in Wirklichkeit unendlich ist und es darin unendlich viele exakte Kopien von Ihnen selbst gibt. Hinzu kommen noch viel mehr nahezu genaue Kopien, die jede vorstellbare Variante Ihres Lebens in zwei unterschiedlichen Arten von Paralleluniversen ausleben. Sollte sich diese Theorie bewahrheiten, dann heißt das Folgendes: Selbst wenn das quantentheoretische Argument nicht ganz stimmen sollte, das ich vorhin für die Kopie von mir, die es nicht bis zur Schule schaffte, ins Feld führte, wird es definitiv viele andere Max-Exemplare in Sonnensystemen weit draußen im Weltraum geben, deren Leben bis zu jenem schicksalhaften Augenblick identisch waren, und die sich dann entschieden, nicht nach rechts zu schauen.

Mit anderen Worten, die Entdeckungen von Physikern stellen einige unserer grundlegendsten Vorstellungen über die Wirklichkeit in Frage. Sowohl beim Eintauchen in den Mikrokosmos als auch beim Studium des Makrokosmos. Wie wir noch in ▶ Kapitel 11 erkunden werden, geraten selbst auf der Zwischenstufe des menschlichen Maßstabs viele Vorstellungen von der Wirklichkeit in Zweifel, wenn wir neurowissenschaftliche Erkenntnisse nutzen, um die Funktionsweise unseres Gehirns zu ergründen.

Zu guter Letzt wissen wir, dass mathematische Gleichungen uns einen Einblick in die Funktionsweise der Natur verschaffen, so wie es metaphorisch in ▶ Abbildung 1.1 dargestellt ist. Aber warum offenbart unsere materielle Welt eine derart extreme mathematische Regelmäßigkeit, dass Galileo Galilei, der Superheld der Astronomie, die Natur als »ein Buch, geschrieben in der Sprache der Mathematik« gepriesen hat, während Nobelpreisträger Eugene Wigner in der »rätselhaften Effektivität der Mathematik in den Naturwissenschaften« ein Geheimnis sah, das eine Erklärung verlangt? Die Beantwortung dieser Frage ist das Hauptziel dieses Buches, wie schon der Titel nahelegt. In den ▶ Kapiteln 10 bis ▶ 12 werden wir die faszinierenden Beziehungen zwischen Berechnung, Mathematik, Physik und menschlichem Geist erkunden sowie meine verrückt klingende Überzeugung kennenlernen, dass unsere materielle Welt von der Mathematik nicht nur beschrieben wird, sondern dass sie Mathematik ist, was uns zu bewusstseinsfähigen Elementen eines gigantischen mathematischen Objekts macht. Wir werden sehen, dass dies zu einer neuen und endgültigen Ansammlung von Paralleluniversen führt, die so umfassend und exotisch sind, dass alle bereits erwähnten Verrücktheiten im Vergleich dazu erblassen und wir gezwungen sein werden, viele unserer tiefverwurzelten Auffassungen über die Wirklichkeit aufzugeben.

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Abbildung 1.1: Wenn wir die Wirklichkeit anhand der physikalischen Gleichungen betrachten, stellen wir fest, dass sie Muster und Regelmäßigkeiten beschreiben. Aber für mich ist Mathematik mehr als nur ein Fenster zur Außenwelt: In diesem Buch werde ich behaupten, dass unsere materielle Welt nicht nur von der Mathematik beschrieben wird, sondern dass sie Mathematik ist – genau genommen, eine mathematische Struktur.

Wie lautet die wichtigste Frage?

Seit unsere menschlichen Vorfahren die Erde besiedelt haben, fragten sie sich auch zweifellos, was Wirklichkeit eigentlich sei. Sie dachten über die existentiellen Fragen Woher kam alles? Wie wird es enden? Wie groß ist das alles? nach. Diese Fragen sind so fesselnd, dass praktisch alle menschlichen Kulturen auf dem Globus sich damit auseinandergesetzt haben und ihre Antworten von einer Generation zur nächsten in Form ausgeschmückter Schöpfungsmythen, Legenden und religiöser Doktrinen weitergegeben haben. Wie in ▶ Abbildung 1.2 dargestellt, sind diese Fragen so schwierig, dass die Antworten weltweit zu keiner Übereinstimmung geführt haben. Statt einer Annäherung der Kulturen an ein eindeutiges Weltbild, das potentiell die letzte Wahrheit sein könnte, wichen ihre Antworten zu stark voneinander ab, und mindestens einige dieser Kontraste scheinen auch ihre unterschiedlichen Lebensweisen widerzuspiegeln. So stieg beispielsweise in Schöpfungsmythen aus dem alten Ägypten, wo der Nil für die Fruchtbarkeit des Landes sorgte, unsere Welt aus dem Wasser auf. Andererseits behauptet die nordische Mythologie in meiner schwedischen Heimat, wo Feuer und Eis das Überleben stark beeinflussten, das Leben sei – Überraschung! – aus Feuer und Eis hervorgegangen.

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Abbildung 1.2: Viele kosmologische Fragen, die wir in diesem Buch angehen werden, haben zu allen Zeiten die Denker fasziniert. Dabei ist jedoch kein globaler Konsens herausgekommen. Die oben gezeigte Aufgliederung basiert auf einem Vortrag des MIT-Doktoranden David Hernandez für meinen Kosmologiekurs. Da solche vereinfachenden Klassifizierungen, streng genommen, nicht möglich sind, sollte man sie mit Vorsicht genießen: Viele Religionen sind weit verzweigt und lassen sich unterschiedlich auslegen. Manche spalten sich in mehrere Gruppierungen auf. So enthält beispielsweise der Hinduismus Aspekte aller drei aufgeführten Schöpfungsvarianten: Einer Legende zufolge entstanden sowohl der Schöpfergott Brahma als auch unser Universum aus einem Ei, das seinerseits wiederum aus dem Wasser hervorgegangen sein könnte.

Andere, von alten Kulturen in Angriff genommene existentielle Fragen sind mindestens genauso radikal. Was ist wirklich? Gehört zur Wirklichkeit mehr, als das Auge zu sehen vermag? Platons Antwort lautete vor mehr als zweitausend Jahren: Ja! In seinem berühmten Höhlengleichnis vergleicht er uns mit Menschen, die ihr ganzes Leben in einer Höhle gefangen sind, auf eine leere Wand starren und die Schatten beobachten, die von den Dingen hinter ihnen geworfen werden. Schließlich kommen sie zu der falschen Schlussfolgerung, diese Schatten seien die ganze Wirklichkeit. Platon behauptete, was wir Menschen unsere Alltagswirklichkeit nennen, sei lediglich eine begrenzte und verfälschte Darstellung der wahren Wirklichkeit. Daher müssten wir uns von unseren geistigen Fesseln lösen und anfangen, dies zu begreifen.

Wenn ich irgendetwas in meinem Leben als Physiker gelernt haben sollte, dann ist es die Erkenntnis, dass Platon recht hatte. Die moderne Physik hat häufig genug klargestellt, dass die endgültige Beschaffenheit der Wirklichkeit nicht das ist, was sie zu sein scheint. Wenn aber die Wirklichkeit nicht unserem Denken entspricht, was ist sie dann? Wie verhält sich die innere Realität unseres Intellekts zur äußeren Realität? Woraus besteht letzten Endes alle Materie? Wie funktioniert das alles? Und warum? Hat das alles irgendetwas zu bedeuten, und falls ja, was? Douglas Adams bringt es in seiner Scifi-Parodie Per Anhalter durch die Galaxis auf den Punkt: »Wie lautet die endgültige Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest?«

Durch die Jahrhunderte haben Denker ein faszinierendes Spektrum von Antworten auf die Frage »Was ist Wirklichkeit?« gegeben, von sinnvollen Erklärungen bis hin zu dem Beweis, dass sie nicht existiert bzw. nicht von uns erkannt werden kann. Hier sind ein paar Beispiele (diese Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und nicht alle Alternativen schließen sich gegenseitig aus).

Antworten auf die Frage »Was ist Wirklichkeit?«

Es gibt eine sinnvolle Antwort auf die Frage.

Elementarteilchen in Bewegung

Erde, Wind, Feuer, Luft und Quintessenz

Atome in Bewegung

Strings in Bewegung

Quantenfelder in gekrümmter Raumzeit

M-Theorie (setzen Sie Ihren bevorzugten großen Anfangsbuchstaben ein ...)

Eine göttliche Schöpfung

Ein gesellschaftliches Konstrukt

Ein Traum

Information

Eine Simulation (à la Matrix)

Eine mathematische Struktur

Das Ebene-IV-Multiversum

Es gibt keine sinnvolle Antwort auf die Frage.

Es gibt zwar eine Wirklichkeit, aber wir Menschen können sie nicht vollständig erkennen: Wir haben keinen Zugang zum »Ding an sich«, wie Immanuel Kant es nannte.

Die Wirklichkeit ist grundsätzlich unerkennbar.

Wir wissen es nicht nur nicht, sondern wir könnten es auch nicht zum Ausdruck bringen, wenn wir es wüssten.

Die Wissenschaft ist nichts weiter als eine Geschichte (postmoderne Antwort von Jacques Derrida und anderen).

Die Wirklichkeit ist in unseren Köpfen (konstruktivistische Antwort).

Die Wirklichkeit existiert nicht (Solipsismus).

Dieses Buch (und in der Tat auch meine wissenschaftliche Karriere) ist mein ganz persönlicher Versuch, diese Frage in Angriff zu nehmen. Einer der Gründe, weshalb Denker ein derart breites Antwortspektrum angeboten haben, liegt an ihrem Vorrecht, die Frage auf unterschiedliche Weise zu interpretieren. Deshalb schulde ich Ihnen eine Erklärung, wie ich sie interpretiere und wie ich an das Problem herangehe. Das Wort Wirklichkeit kann viele verschiedene Bedeutungen haben. Ich benutze es, wenn es um die endgültige Beschaffenheit der äußeren materiellen Welt geht, der wir angehören, und ich bin fasziniert von der Suche nach einem besseren Verständnis unserer Wirklichkeit. Was ist also mein Ansatz?

Als Gymnasiast begann ich eines Abends Agatha Christies Kriminalroman Der Tod auf dem Nil zu lesen. Obwohl mir schmerzhaft bewusst war, dass mein Wecker um sieben Uhr morgens klingeln würde, konnte ich um nichts auf der Welt mit dem Lesen aufhören, bis das Rätsel – so gegen vier Uhr morgens – gelöst war. Seit meiner Kindheit habe ich mich unwiderstehlich zu Krimis hingezogen gefühlt. Als ich zwölf Jahre alt war, gründete ich mit meinen Klassenkameraden Andreas Bette, Matthias Bothner und Ola Hansson einen Detektivclub. Wir haben zwar nie einen Verbrecher gefangen, aber die Vorstellung, Rätsel zu lösen, regte meine Phantasie an. Für mich ist die Frage »Was ist Wirklichkeit?« die ultimative Detektivgeschichte, und ich betrachte es als einen unglaublichen Glücksfall, dass ich in der Lage bin, mich ausgiebig mit Antworten auf diese Frage beschäftigen zu können. In den folgenden Kapiteln werde ich von anderen Gelegenheiten erzählen, bei denen mich meine Neugier in den frühen Morgenstunden wach hielt und ich nicht mit dem Lesen aufhören konnte, bis das Rätsel gelöst war. Mit dem Unterschied, dass es nicht mehr um ein Buch ging, sondern um mein eigenes Schreiben. Und da war ich auf der Spur einer mathematischen Gleichung, die mich schließlich, das war mir klar, zu einer Antwort führen sollte.

Ich bin Physiker, und mein Ansatz, das Rätsel der Wirklichkeit zu lösen, wird von der Physik bestimmt. Daher beginnt für mich alles mit großen Fragen wie zum Beispiel »Wie groß ist unser Universum?« oder »Woraus besteht die Welt?«. Diese Fragen behandele ich dann wie Kriminalrätsel: Ich kombiniere kluge Beobachtungen mit Schlussfolgerungen und verfolge jeden Hinweis beharrlich, ganz gleich, wohin es führen mag.

Die Reise beginnt

Ein physikalischer Ansatz? Ist das nicht die sicherste Methode, um etwas Aufregendes in etwas Langweiliges zu verwandeln? Wenn mein Sitznachbar im Flugzeug mich nach meinem Beruf fragt, bieten sich mir zwei Möglichkeiten. Wenn ich Lust auf ein Gespräch habe, sage ich »Astronomie«, was hundertprozentig zu einer interessanten Unterhaltung führt. ▶ 1 Wenn ich nicht reden möchte, sage ich »Physik«, worauf er mit Sicherheit so etwas sagt wie »Oh, das war mein schlechtestes Fach in der Schule« und mich dann für den Rest des Flugs in Ruhe lässt.

Tatsächlich war auf dem Gymnasium Physik auch für mich das Fach, das ich am wenigsten mochte. Ich erinnere mich noch an meine erste Physikstunde. Mit monotoner, einschläfernder Stimme kündigte unser Lehrer an, uns etwas über Dichte beizubringen. Dichte sei Masse geteilt durch Volumen. Wenn also die Masse so und so und das Volumen so und so groß war, würden wir ausrechnen können, dass die Dichte so und so groß war. Ich kann mich nur noch an einen Nebelschleier erinnern. Immer wenn seine Experimente scheiterten, machte er die Feuchtigkeit dafür verantwortlich und sagte: »Heute Morgen hat es noch funktioniert.« Auch einige meiner Freunde kapierten nicht, warum ihr Experiment nicht funktionierte, bis sie entdeckten, dass ich boshafterweise einen Magneten unter ihrem Oszilloskop befestigt hatte ...

Als es an der Zeit war, sich an der Hochschule anzumelden, entschied ich mich gegen die Physik und andere technische Fächer und landete auf der Stockholmer Wirtschaftsschule, wo ich mich auf Umweltthemen konzentrierte. Ich wollte meinen bescheidenen Beitrag leisten, um aus dem Planeten einen besseren Ort zu machen, und hatte das Gefühl, dass es uns dafür nicht an technischen Lösungen mangelte, sondern wir die uns zur Verfügung stehenden Technologien einfach nicht gut genug nutzten. Ich stellte fest, dass man das Verhalten der Menschen am besten beeinflussen konnte, wenn man ihnen an die Brieftasche ging. Und so begeisterte ich mich für die Idee, ökonomische Anreize zu schaffen, um den Egoismus des Individuums mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen. Leider war ich ziemlich schnell desillusioniert und kam zu dem Schluss, dass die Wirtschaftswissenschaft zum größten Teil eine Art intellektueller Prostitution war. Man wurde dafür belohnt, das zu sagen, was die politischen Kräfte hören wollten. Wenn ein Politiker irgendetwas vorhatte, fand er auch einen Wirtschaftswissenschaftler als Berater, der sich genau dafür eingesetzt hatte. Franklin D. Roosevelt wollte die Staatsausgaben erhöhen, deshalb hörte er auf John Maynard Keynes, während Ronald Reagan sich auf Milton Friedman berief, um die Staatsausgaben zu kürzen.

Da gab mir mein Klassenkamerad Johan Oldhoff ein Buch, mit dem sich alles veränderte: Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman! Ich bin Richard Feynman nie begegnet, aber seinetwegen habe ich zur Physik gewechselt. Obwohl es in dem Buch nicht wirklich um Physik ging, sondern vielmehr darum, wie man Tresorschlösser knackt und Frauen abschleppt, konnte ich zwischen den Zeilen lesen, dass dieser Kerl die Physik liebte. Was ich wirklich faszinierend fand. Wenn man sieht, wie ein mittelmäßig aussehender Typ Arm in Arm mit einer hinreißenden Frau spazieren geht, fragt man sich wahrscheinlich, ob man irgendetwas verpasst hat. Wahrscheinlich hat sie eine verborgene Qualität in ihm entdeckt. Plötzlich ging es mir genauso mit der Physik: Was hat Feynman gesehen, das ich auf dem Gymnasium nicht mitgekriegt habe?

Ich musste dieses Rätsel lösen, und so setzte ich mich hin und begann den ersten Band der Feynman-Vorlesungen über Physik, den ich in Vaters Bücherregal gefunden hatte, zu lesen: »Wenn in einer Sintflut alle wissenschaftlichen Kenntnisse zerstört würden und nur ein Satz an die nächste Generation von Lebewesen weitergereicht werden könnte, welche Aussage würde die größte Information in den wenigsten Worten enthalten?«

Wow – dieser Typ war überhaupt nicht mit meinem Physiklehrer auf dem Gymnasium zu vergleichen! Feynman fuhr fort: »Ich bin davon überzeugt, dass [...] alle Dinge aus Atomen aufgebaut sind – aus kleinen Teilchen, die in permanenter Bewegung sind, einander anziehen, wenn sie ein klein wenig voneinander entfernt sind, sich aber gegenseitig abstoßen, wenn sie aneinandergepresst werden.«

Mir ging ein Licht auf. Ich las immer weiter und war hingerissen. Ich glaubte, eine religiöse Erfahrung zu machen. Schließlich begriff ich es! Ich hatte eine Offenbarung, die erklärte, was ich die ganze Zeit vermisst hatte und was Feynman erkannt hatte: Die Physik ist das größte intellektuelle Abenteuer, die Suche nach dem Verständnis der tiefsten Geheimnisse, die unser Universum bereithält. Es ist nicht so, dass die Physik etwas Faszinierendes untersucht und etwas Langweiliges dabei herauskommt. Vielmehr öffnet sie unsere Augen für das Schöne und Wunderbare in der Welt, die uns umgibt. Wenn ich im Herbst zur Arbeit radle, sehe ich die Schönheit in den rot, orange und golden gesprenkelten Bäumen. Schaut man sich die Bäume durch die Linse der Physik an, erkennt man noch mehr Schönheit, eingefangen in dem Feynman-Zitat, mit dem dieses Kapitel beginnt. Und je tiefer ich schaue, umso mehr Eleganz nehme ich wahr: In ▶ Kapitel 3 werden wir sehen, dass die Bäume letztlich von den Sternen stammen, während mit dem Studium ihrer Bausteine in ▶ Kapitel 8 ihre Existenz in Paralleluniversen nahegelegt wird.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine Freundin, die an der Königlichen technischen Hochschule Physik studierte, und ihre Lehrbücher schienen mir so viel interessanter als meine zu sein. Unsere Beziehung war nicht von Dauer, aber meine Liebe zur Physik schon. Da das Universitätsstudium in Schweden kostenlos ist, schrieb ich mich an ihrer Universität ein, ohne die Verwaltung der Wirtschaftshochschule Stockholm über mein heimliches Doppelleben in Kenntnis zu setzen. Meine detektivischen Untersuchungen hatten offiziell begonnen, und hier ist, ein Vierteljahrhundert später, mein Bericht in Form dieses Buches.

Was also ist die Wirklichkeit? Mit dieser kühnen Kapitelüberschrift verfolge ich nicht das Ziel, Ihnen auf überhebliche Weise eine letztgültige Antwort zu verkaufen (wenngleich wir im letzten Teil des Buches faszinierende Möglichkeiten erkunden werden). Vielmehr möchte ich Sie einladen, mich auf meiner persönlichen Forschungsreise zu begleiten. Ich möchte meine Begeisterung mit Ihnen teilen und Sie an meinen Betrachtungen über diese bewusstseinserweiternden Rätsel teilhaben lassen. Ich glaube, Sie werden, wie ich, zu dem Schluss kommen, dass sich die Wirklichkeit, was immer sie sein mag, enorm von unseren früheren Annahmen unterscheidet und obendrein ein faszinierendes Rätsel mitten im Alltag darstellt. Ich hoffe, Sie werden wie ich die Erfahrung machen, dass die Beschäftigung mit diesen Themen Alltagsprobleme wie Strafzettel für falsches Parken oder Liebeskummer in eine angemessene Perspektive rückt. So fällt es einem leichter, damit fertig zu werden und das Leben mit seinen Geheimnissen zu genießen.

Als ich zum ersten Mal meine Ideen zu dem Buch mit John Brockman diskutierte, der inzwischen mein Agent ist, gab er mir eine eindeutige Marschrichtung vor: »Ich will kein Lehrbuch von Ihnen – ich will Ihr Buch.« Und so ist dieses Buch so etwas wie eine wissenschaftliche Autobiographie geworden. Obwohl es darin mehr um die Physik als um mich geht, ist es mit Sicherheit nicht das übliche, populär geschriebene Wissenschaftsbuch, das versucht, die Physik auf objektive Weise zu erkunden, den Konsens der Physikergemeinde widerzuspiegeln und allen gegensätzlichen Standpunkten die gleiche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Eher reflektiert es meine persönliche Suche nach der endgültigen Beschaffenheit der Wirklichkeit, und ich hoffe, Sie werden Ihre Freude daran haben, sie durch meine Augen zu sehen. Gemeinsam werden wir die Spuren untersuchen, die mich persönlich am meisten faszinieren, und uns bemühen herauszufinden, was das alles bedeutet.

Wir beginnen unsere Reise mit der Überprüfung, wie das gesamte Umfeld der Frage »Was ist Wirklichkeit?« durch jüngste wissenschaftliche Durchbrüche verändert worden ist. Wobei die Physik von den größten (▶ Kapitel 2.1-▶ 6.1) bis zu den kleinsten (▶ Kapitel 7.1-▶ 8.1) Maßstäben ein neues Licht auf unsere äußere Wirklichkeit wirft. In Teil I dieses Buches gehen wir der Frage »Wie groß ist unser Universum?« nach und suchen die endgültige Schlussfolgerung, indem wir uns in immer größeren kosmischen Größenordnungen fortbewegen. Dabei erforschen wir sowohl unsere kosmischen Ursprünge als auch zwei Arten von Paralleluniversen, wobei wir Hinweise darauf finden, dass der Raum in gewisser Weise mathematisch ist. Teil II ist der Frage »Woraus besteht alles?« gewidmet. Dabei reisen wir in den subatomaren Mikrokosmos, untersuchen eine dritte Form von Paralleluniversum und erkunden Phänomene, die darauf hindeuten, dass die endgültigen Bausteine der Materie ebenfalls in gewisser Weise mathematisch sind. In Teil III treten wir einen Schritt zurück und denken darüber nach, was all dies für die wahre Beschaffenheit der Wirklichkeit bedeutet. Am Anfang steht die Behauptung, unser Scheitern bei dem Versuch, das Bewusstsein zu verstehen, stehe dem vollständigen Verständnis der äußeren physikalischen Realität nicht im Weg. Dann versenken wir uns in die radikalste und umstrittenste Vorstellung: Die ultimative Wirklichkeit ist rein mathematisch, was vertraute Auffassungen wie Zufälligkeit, Komplexität und sogar Veränderung auf den Stellenwert von Illusionen zurückstuft. Das bedeutet, es gibt eine vierte und endgültige Ebene von Paralleluniversen. In ▶ Kapitel 13.1 beenden wir unsere Reise und erkunden die Bedeutung all dieser Erkenntnisse für die Zukunft des Lebens in unserem Universum, für die Menschheit und für Sie persönlich. In ▶ Abbildung 1.3 finden Sie unseren Reiseführer mit meinen Lesetipps. Uns erwartet eine faszinierende Reise. Auf geht’s!

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Abbildung 1.3: Lesehinweis: Falls Sie schon sehr viele moderne, populärwissenschaftliche Bücher gelesen haben und glauben, dass Sie mit dem gekrümmten Raum, dem Urknall, der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung, der dunklen Energie, der Quantenmechanik etc. vertraut sind, könnten Sie in Erwägung ziehen, die ▶ Kapitel 2, ▶ 3, ▶ 4 und 7 auszulassen, nachdem Sie die Kästen mit der Überschrift »Fazit« am Ende dieser Kapitel konsultiert haben. Sollten Sie Physiker sein, können Sie eventuell auch ▶ Kapitel 5 auslassen. Allerdings sind viele vertraut klingende Konzepte erstaunlich subtil, und falls Sie nicht alle der unter 1–16 aufgelisteten Fragen in ▶ Kapitel 2 beantworten können, können Sie sich das noch aus den frühen Kapiteln aneignen. Dann erkennen Sie, wie die späteren Kapitel logisch auf ihnen aufbauen.

FAZIT

Erster Teil
Hinausgezoomt

Kapitel 2

Unsere Stellung im Raum

Der Weltraum ... ist groß. Verdammt groß. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß, gigantisch, wahnsinnig riesenhaft der Weltraum ist.

Douglas Adams in
Per Anhalter durch die Galaxis

Kosmische Fragen

Er hebt seine Hand, und ich gebe ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er seine Frage jetzt stellen kann. »Wird der Weltraum ewig da sein?«, fragt er.

Meine Kinnlade klappt herunter. Wow. Gerade habe ich eine kleine Astronomiepräsentation im Kids’ Corner beendet, dem Nachmittagshort für meine Kinder in Winchester. Da sitzen nun diese ausgesprochen niedlichen Vorschulkinder auf dem Fußboden, schauen mich mit großen Augen an und warten auf eine Antwort. Dabei hat dieser fünfjährige Junge mir gerade eine Frage gestellt, die ich nicht beantworten kann! Ehrlich gesagt, kann sie niemand auf der Welt beantworten. Dennoch ist es keine hoffnungslos metaphysische, sondern eine ernsthafte wissenschaftliche Frage, für die Theorien, von denen ich Ihnen gleich erzählen werde, eindeutige Vorhersagen machen. Zur Zeit werden Experimente durchgeführt, die weiteren Aufschluss geben sollen. Im Grunde ist es eine wirklich großartige Frage über die grundlegende Beschaffenheit unserer physikalischen Wirklichkeit. Wie wir im fünften Kapitel noch sehen werden, führt uns diese Frage zu zwei unterschiedlichen Arten von Paralleluniversen.

Im Lauf der Jahre bin ich beim Verfolgen der Nachrichten über die Weltlage zunehmend menschenfeindlicher geworden, aber innerhalb weniger Sekunden gab dieser kleine Junge meinem Glauben an das Potential der Menschheit neuen Auftrieb. Wenn ein Fünfjähriger derart tiefgründige Dinge sagen kann, lässt sich erahnen, welches Potential wir Erwachsenen haben, unter günstigen Umständen etwas zu erreichen! Er erinnerte mich auch an die Bedeutung guten Unterrichts. Wir werden alle mit der Gabe der Neugier geboren, doch an einem bestimmten Punkt gelingt es der Schule, sie uns zu vermiesen. Ich glaube, meine Hauptverantwortlichkeit als Lehrer besteht nicht darin, Tatsachen zu vermitteln, sondern diesen verlorengegangenen Enthusiasmus für das Fragestellen neu zu entfachen.

Ich liebe Fragen. Vor allem bedeutende Fragen. Ich schätze mich überaus glücklich, einen großen Teil meiner Zeit der Lösung interessanter Fragen widmen zu können. Dass ich diese Aktivität Arbeit nennen darf und damit meinen Lebensunterhalt verdiene, übertrifft meine verrücktesten Vorstellungen vom Glück. Hier ist eine Liste der sechzehn Fragen, die mir am häufigsten gestellt werden:

  1. Wie könnte der Weltraum nicht unendlich sein?

  2. Wie konnte ein unendlicher Weltraum in einer endlichen Zeit erschaffen werden?

  3. Wohin expandiert unser Universum?

  4. Wo im Weltraum geschah unsere Urknallexplosion?

  5. Geschah der Urknall an einem einzigen Punkt?

  6. Wenn das Universum nur 14 Milliarden Jahre alt ist, wie können wir dann Objekte sehen, die 30 Milliarden Lichtjahre entfernt sind?

  7. Verstoßen Galaxien, die sich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit entfernen, nicht gegen die Relativitätstheorie?

  8. Entfernen sich Galaxien tatsächlich von uns, oder expandiert lediglich der Weltraum?

  9. Dehnt sich die Milchstraße aus?

  10. Gibt es Beweise für eine Urknallsingularität?

  11. Verstößt die durch Inflation erzeugte Materie in unserer Umgebung aus nahezu nichts nicht gegen das Gesetz der Energieerhaltung?

  12. Was verursachte unseren Urknall?

  13. Was war vor unserem Urknall?

  14. Was ist das endgültige Schicksal unseres Universums?

  15. Was sind dunkle Materie und dunkle Energie?

  16. Sind wir unbedeutend?

Wir wollen diese Fragen gemeinsam angehen. In den nächsten vier Kapiteln werden wir elf von ihnen beantworten und interessante Wendungen finden, die mit den restlichen fünf Fragen zu tun haben. Doch kehren wir zunächst zurück zu der Frage des Vorschuljungen, die im gesamten ersten Teil dieses Buches eine zentrale Stellung einnehmen wird: Wird der Weltraum ewig da sein?

Wie groß ist der Weltraum?

Mein Vater gab mir einmal folgenden Rat: »Wenn du eine schwierige Frage hast, die du nicht beantworten kannst, fang mit einer einfacheren Frage an, die du beantworten kannst.« Beginnen wir also in diesem Sinn und fragen uns, wie groß der Weltraum mindestens sein muss, ohne unseren Beobachtungen zu widersprechen. ▶ Abbildung 2.1 veranschaulicht, dass die Antwort auf diese Frage sich im Lauf der Jahrhunderte dramatisch verändert hat: Heute wissen wir, dass unser Weltraum mindestens eine Milliarde Billionen (1021) Mal größer sein muss als die weiteste Entfernung, die unseren Jäger-Sammler-Vorfahren bekannt gewesen ist – was im Wesentlichen auf die Strecke hinausläuft, die sie in ihrem Leben zurücklegten. Darüber hinaus zeigt die Abbildung, dass diese Erweiterung unseres Horizonts keineswegs ein einmaliges Ereignis war, sondern wiederholt stattfand. Immer wenn es uns Menschen gelang, uns hinauszuzoomen und unser Universum in größeren Maßstäben zu kartieren, entdeckten wir, dass alles, was wir bereits kannten, ein Teil von etwas Größerem war. Wie in ▶ Abbildung 2.2 dargestellt, ist unsere Heimat Teil eines Planeten, der zu einem Sonnensystem gehört, das wiederum Teil einer Galaxie ist, die zu einem kosmischen Muster galaktischer Zusammenballung (Clustering) gehört, das Teil unseres beobachtbaren Universums ist, das letztlich, so werden wir behaupten, Teil einer Ebene oder mehrerer Ebenen von Paralleluniversen ist.

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Abbildung 2.1: Die untere Grenze der Größe unseres Universums hat sich zunehmend erweitert, was wir in diesem Kapitel beschreiben werden. Beachten Sie, dass der vertikale Maßstab extrem ist und sich mit jedem Skalenstrich verzehnfacht.

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Abbildung 2.2: Jedes Mal, wenn es uns Menschen gelang, großräumige Strukturen zu untersuchen, entdeckten wir, dass alles, was wir kannten, Teil von etwas Größerem war: Unsere Heimat ist Teil eines Planeten (links), der zu einem Sonnensystem gehört, das wiederum Teil einer Galaxie (Mitte links) ist, die Teil eines kosmischen Musters galaktischer Zusammenballung (Mitte rechts) ist, das wiederum Teil unseres beobachtbaren Universums (rechts) ist, das letztlich Teil einer oder mehrerer Ebenen von Paralleluniversen sein könnte.

Wie ein Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, haben wir Menschen wiederholt angenommen, dass alles Sichtbare auch alles war, was existierte. In unserer Hybris wähnten wir uns im Mittelpunkt des Universums. Auf unserer Suche nach einem Verständnis des Kosmos hat Unterschätzung stets eine Rolle gespielt. Allerdings spiegeln die in ▶ Abbildung 2.1 veranschaulichten Einsichten auch ein zweites Motiv wider, das ich inspirierend finde: Wir haben nicht nur wiederholt die Größe unseres Universums unterschätzt, sondern genauso die Macht unseres Intellekts, dies zu erkennen. Unsere Höhlen bewohnenden Vorfahren hatten genauso große Gehirne wie wir, und da sie ihre Abende nicht vor dem Fernseher verbrachten, bin ich mir sicher, dass sie sich Fragen stellten wie »Was soll das ganze Zeug da am Himmel?« und »Wo kommt das alles her?«. Man hatte ihnen wunderschöne Mythen und Geschichten erzählt, aber sie erkannten nur langsam, dass das Potential zur Beantwortung dieser Fragen in ihnen selbst ruhte. Sie mussten nicht lernen, in den Weltraum zu fliegen, um die himmlischen Objekte zu untersuchen. Des Rätsels Lösung lag darin, ihre Vorstellungskraft fliegen zu lassen.

Es gibt keine bessere Garantie fürs Scheitern, als von der Unmöglichkeit des Erfolgs überzeugt zu sein und es daher nicht einmal zu versuchen. Im Nachhinein hätten viele der großen Durchbrüche in der Physik früher geschehen können, weil es die nötigen Hilfsmittel dafür bereits gab. Ein Beispiel aus der Welt des Eishockeys wäre, ein leeres Tor nicht zu treffen, weil man fälschlicherweise glaubt, der Schläger sei kaputt. In den folgenden Kapiteln werde ich Ihnen ein paar verblüffende Beispiele schildern, um zu zeigen, wie Isaac Newton, Alexander Friedmann, George Gamow und Hugh Everett einen solchen Mangel an Selbstvertrauen überwunden haben. In diesem Zusammenhang findet folgendes Zitat des Nobelpreisträgers Steven Weinberg bei mir Widerhall: »Das passiert häufig in der Physik – wir machen nicht den Fehler, dass wir unsere Theorien zu ernst nehmen, sondern dass wir sie nicht ernst genug nehmen.«

Deshalb wollen wir zunächst erkunden, wie man die Größe der Erde und die Entfernungen zum Mond, zur Sonne, zu den Sternen und Galaxien ausrechnet. Ich persönlich halte dies für eine der verlockendsten Detektivgeschichten aller Zeiten und möglicherweise für den Beginn der modernen Wissenschaft schlechthin, so dass ich mich freue, Ihnen davon erzählen zu dürfen, sozusagen als Vorspeise vor dem Hauptgang, der uns zu den jüngsten Durchbrüchen in der Kosmologie führt. Wie Sie sehen werden, gehört zu den ersten vier Beispielen nichts, was komplizierter wäre als ein paar Winkelmessungen. Sie zeigen auch, wie wichtig es ist, sich über vermeintlich alltägliche Beobachtungen Gedanken zu machen, da diese sich als entscheidende Anhaltspunkte erweisen könnten.

Die Größe der Erde

Sobald sich das Segeln durchsetzte, bemerkten die Leute, dass von einem sich am Horizont entfernenden Schiff zuerst der Rumpf und dann erst die Segel verschwanden. Diese Beobachtung führte zu der Vorstellung, dass die Oberfläche des Ozeans gekrümmt und die Erde eine Kugel sein musste, genau wie Sonne und Mond offenbar Kugeln waren. Die alten Griechen fanden dafür direkte Anzeichen, indem sie feststellten, dass die Erde während einer Mondfinsternis einen gerundeten Schatten auf den Mond warf, wie Sie es in ▶ Abbildung 2.3 sehen können. Obwohl es einfach ist, die Größe der Erde aus dem Segelschiffbetrieb abzuschätzen,▶ 2 gelang Eratosthenes von 2200 Jahren mit Hilfe kluger Winkelmessungen eine viel genauere Berechnung. Er wusste, dass die Sonne zur Mittagszeit am Tag der Sommersonnenwende genau im Zenit über der ägyptischen Stadt Syene (heute: Assuan) stand, aber dass sie im 794 Kilometer weiter nördlich gelegenen Alexandria 7,2 Grad in südlicher Richtung vom Zenit abwich. Daraus schloss er, dass eine Reise von 794 Kilometern 7,2 Grad von 360 Grad des gesamten Erdumfangs entsprach. Also musste der Erdumfang ungefähr 794 km x 360°/7,2° ≈ 39 700 km sein, was dem heutigen Wert von 40 000 km erstaunlich nahekommt.

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Abbildung 2.3: Während einer Mondfinsternis geht der Mond durch den Schatten, den die Erde wirft (wie oben dargestellt). Vor mehr als zweitausend Jahren verglich Aristarchos von Samos die Größe des Mondes mit der Größe des Erdschattens während einer Mondfinsternis, um richtigerweise daraus zu schließen, dass die Erde ungefähr viermal so groß ist wie der Mond (Bildnachweis: Zeitraffer-Fotografie von Anthony Ayiomamitis).

Amüsanterweise vermasselte Christoph Kolumbus dies, weil er sich auf die nachfolgenden, weniger akkuraten Berechnungen verließ und arabische Meilen mit italienischen verwechselte. Daraus schloss er, lediglich 3700 km segeln zu müssen, um den Orient zu erreichen, während der wahre Wert 19 600 km betrug. Hätte er richtig gerechnet, wäre ihm seine Reise sicher nicht finanziert worden. Genauso wenig hätte er überlebt, wenn es Amerika nicht gegeben hätte. Deshalb ist es manchmal wichtiger, Glück zu haben, als recht zu behalten.

Entfernung zum Mond

Finsternisse haben Angst und Ehrfurcht ausgelöst und die Menschen zu Mythen inspiriert. Tatsächlich gelang es dem auf Jamaika gestrandeten Kolumbus, die Einheimischen mit der Vorhersage der Mondfinsternis vom 29. Februar 1504 einzuschüchtern. Allerdings geben Mondfinsternisse auch einen schönen Hinweis auf die Größe unseres Universums. Vor mehr als zweitausend Jahren stellte Aristarchos von Samos fest, was Sie selbst in ▶ Abbildung 2.3 sehen können: Wenn die Erde zwischen Sonne und Mond gelangt und eine Mondfinsternis bewirkt, hat der Schatten, den die Erde auf den Mond wirft, einen gekrümmten Rand – und der runde Erdschatten ist einige Male größer als der Mond. Aristarchos erkannte ebenfalls, dass dieser Schatten geringfügig kleiner als die Erde selbst ist, weil die Erde kleiner ist als die Sonne. Aber er berücksichtigte diese Komplikation und folgerte daraus, dass der Mond ungefähr 3,7-mal kleiner sei als die Erde. Da Erastothenes bereits die Größe der Erde ausgerechnet hatte, teilte Aristarchos sie einfach durch 3,7 und erhielt so die Größe des Mondes! Aus meiner Sicht war dies der Augenblick, als die Vorstellungskraft des Menschen vom Erdboden abhob und mit der Eroberung des Weltraums begann. Zahllose Menschen hatten vor Aristarchos den Mond angeschaut und sich gefragt, wie groß er sei, aber er war der Erste, der es ausrechnete. Und er brauchte dafür keinen Raketenantrieb, sondern es gelang ihm mit der Kraft seines Geistes.

Ein wissenschaftlicher Durchbruch führt häufig zum nächsten, und in diesem Fall offenbarte die Größe des Mondes unmittelbar auch seine Entfernung zur Erde. Halten Sie bitte Ihre Hand auf Armeslänge von Ihnen entfernt hoch und überprüfen Sie, welche Dinge in Ihrer Umgebung Sie mit Ihrem kleinen Finger bedecken können. Ihr kleiner Finger umfasst einen Winkel von etwa einem Grad, was ungefähr das Doppelte dessen ist, was Sie brauchen, um den Mond zu verdecken – überprüfen Sie das bei Ihrer nächsten Mondbeobachtung. Damit ein Objekt einen halben Grad abdeckt, muss seine Entfernung zu Ihnen ungefähr das 115-Fache seiner Größe betragen. Wenn Sie also aus dem Flugzeugfenster schauen und ein 50 Meter langes Schwimmbecken (Olympiagröße) abdecken können, dann wissen Sie, dass Ihre Flughöhe 115 × 50 m = 6 km beträgt. Auf genau dieselbe Weise rechnete Aristarchos aus, dass die Entfernung zum Mond das 115-Fache seiner Größe betrage, was auf den 30-fachen Durchmesser der Erde hinauslief.

Entfernung zur Sonne und zu den Planeten

Was ist mit der Sonne? Versuchen Sie, sie mit Ihrem kleinen Finger zu verdecken, und Sie werden sehen, dass sie ungefähr denselben Winkel umfasst wie der Mond