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Das Buch

Was tun, wenn man mit Ende vierzig plötzlich gekündigt wird? Und feststellen muss, dass es in der Eifel nicht besonders viele freie Stellen für Sekretärinnen gibt? Statt zu jammern, orientiert sich Hildegard Bendermacher um – sie zieht nach Köln und arbeitet als Putzfrau, sehr zum Entsetzen ihres erwachsenen Sohnes. Der neue Job ist anstrengender als gedacht, dafür lernt Hildegard eine Menge neuer Leute kennen. Unter anderem durch einen Zufall die einige Jahre jüngere Antonia von Lengsdorf. Diese lebt mit ihrer Haushälterin alleine in einer prunkvollen Villa, seit sie von ihrem Mann verlassen wurde. Die beiden Frauen freunden sich miteinander an, und Hildegard erfährt, warum Antonia nie ausgeht: Sie hat Multiple Sklerose und fühlt sich draußen unsicher auf den Beinen. Aber als Hildegard zum ersten Mal von der begnadeten Köchin Antonia zum Essen eingeladen wird, hat sie eine Idee: Ein Supperclub soll Antonias Einsamkeit beenden und die Villa wieder mit Leben füllen …

Die Autorin

Maria Linke ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Übersetzerin und Redakteurin. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

Maria Linke

Mitten rein ins Leben

Roman

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage April 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Sylvia Cook Photography/getty images


ISBN 978-3-8437-0635-3


Alle Rechte vorbehalten.

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Prolog

Die Organistin hielt den letzten Ton besonders lange. Nur widerwillig verhallte er, und mir kam es so vor, als wolle sie das Lied nicht loslassen. Das wäre auch mir am liebsten gewesen, denn es ist eines meiner bevorzugten Kirchenlieder. Ich muss gestehen, ich habe mit der Kirche nicht viel am Hut. Kaum religionsmündig, bin ich auch schon ausgetreten. Damals musste man das in unserem Amtsgericht erle­digen, und als ich mit einem Freund aus dem alten Gebäude auf den Marktplatz hinaustrat, stolperte er über die letzte Stufe und wäre fast hingefallen. Daraufhin verdrehte er die Augen, blickte zum Himmel und seufzte: »Geht das jetzt schon los?«

Manche Rituale jedoch liebe ich nach wie vor, und dazu gehört auch das Singen, vor allem, wenn die Lieder so gefühlvoll und getragen sind wie »So nimm denn meine Hände«. Ob bei einer Hochzeit oder bei einer Beerdigung, mir treten unweigerlich die Tränen in die Augen, spätestens bei der Zeile »Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt«. Möglicherweise könnte ein Psychologe ganze Bücher über diese Vorliebe schreiben, man hat ja als Laie schon eine Ahnung, worauf es hinausläuft, aber das ist mir egal. Es ist einfach ein wunderbares Lied, und ich bin zutiefst dankbar, wenn es gesungen wird, vor allem mit diesem ein wenig schleppenden Chorgesang der Gemeinde. Ich singe dann immer voller Inbrunst mit.

Der heutige Anlass war allerdings kein freudiger. Eine Hochzeit wäre mir entschieden lieber gewesen, aber wir befanden uns auf einer Beerdigung. Die kleine Kapelle des Kölner Südfriedhofs war bis auf den letzten Platz besetzt, und wir brauchten eigentlich keine traurigen Lieder, um Tränen zu vergießen beim Anblick des mit weißen Rosen und tiefblauem Rittersporn geschmückten Sargs und der Fotografie, die auf einer Staffelei davorstand.

Gertrud Schmitz war gut getroffen auf dem Foto. Sie saß am Küchentisch – was man nicht sehen konnte, ich jedoch wusste, weil ich sie dort beim Kartoffelschälen fotografiert hatte – und blickte unternehmungslustig in die Kamera. Erst zwei Tage zuvor war sie beim Friseur gewesen, und ihre weißen Löckchen wippten förmlich. Wenn man sie so sah, hätte man nicht vermutet, dass sie schon weit über neunzig war.

Ich konnte mich noch gut an den Tag erinnern. Schon beim Frühstück war sie ganz aufgeregt gewesen, weil wir so viel vorhatten, wie sie in all den Jahren alleine in ihrer kleinen Wohnung nicht erlebt hatte. Alles war neu und aufregend, jeder fragte sie um Rat, und sie genoss jede einzelne Minute.

Ich blickte die vorderste Reihe der Trauergäste entlang. Links neben mir saß Günther und drückte mir die Hand, als er bemerkte, dass ich schlucken musste und mir die Tränen in die Augen traten. Rechts von mir saß Antonia, zart und aufrecht, die kurzen braunen Haare lagen glänzend wie ein Helm um ihren Kopf. Ihre Hände, in dunklen Handschuhen, ruhten im Schoß. Dass sie ganz leicht zitterten, merkte man nur, wenn man scharf hinsah. Sie wirkte gelassen und entspannt. Als sie meinen Blick bemerkte, lächelte sie unmerklich und nickte mir beruhigend zu. Marianne Schumacher, zurückhaltend wie immer, saß ganz hinten in der Ecke, damit niemand mitbekam, dass sie weinte. Auch Tante Rös­chen war gekommen. Sie hatte sich in der Zeit in Köln mit Gertrud Schmitz angefreundet, und Doro hatte sie heute zur Beerdigung gefahren. Sie saß in der Reihe hinter mir zwischen Doro und Regina und putzte sich alle zwei Minuten die Nase. Madeleine Lohmann, die ihrem Stiefsohn sozusagen im letzten Moment entkommen war, war blass und schmal. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie tupfte sich ständig mit dem Taschentuch die Augen ab. Wir hatten versucht, ihr die Schuldgefühle wegen Gertrud Schmitz’ Tod auszureden, aber bisher war es uns nicht gelungen. Willibert Poensgen saß ernst im dunklen Anzug in der hintersten Reihe neben ihr. Schützend hatte er ihr den Arm um die Schultern gelegt. Alle, die Oma Schmitz gekannt und in ihren letzten beiden Lebensjahren erlebt hatten, waren gekommen, sogar Antonias Schwester Babette, die neben Antonia saß und ihr hin und wieder einen besorgten Blick zuwarf.

Der Pastor kündigte an, dass wir jetzt alle gemeinsam den Sarg der letzten Ruhestätte übergeben würden. Als ich mich erhob und Antonia den Arm reichte, damit sie sich bei mir einhängen konnte, warf ich noch einen letzten Blick auf das Foto und dachte an den Tag zurück, an dem ich es aufgenommen hatte.

An jenem Tag hatte das erste Abendessen stattgefunden.

1

Für mich wäre ja das Leben in der Stadt überhaupt nichts. Viel zu laut und viel zu hektisch!« Tante Röschen schüttelte energisch den Kopf. »Aber ich habe kürzlich mit der Mutter von Regina geredet, und Regina muss es ja in Köln wirklich gut getroffen haben. Sie hat eine schöne, große Wohnung, und wenn man Frau Steinwachs so hört, verdient sie angeblich ziemlich viel Geld bei ihrer Werbeagentur. Vielleicht solltest du dir auch einmal überlegen, Kind, ob du nicht von hier weggehen willst. In der Stadt hättest du viel mehr Möglichkeiten. Heutzutage ist doch ständig die Rede von Mo­bilität.« Sie sprach das Wort sehr deutlich aus und betonte die einzelnen Silben. Bei jedem T zischte ihr neues Gebiss ein bisschen.

»Willst du mich loswerden?«, fragte ich entgeistert. »Und wie kommst du jetzt auf Regina? Die ist doch nur deshalb gleich nach der Schule in die Stadt gezogen, weil sie an Weiberfastnacht da diesen Typen kennengelernt hat. Ob sie den heute auch noch hat, weiß ich gar nicht. Aber vielleicht hat er ja Geld.«

»Ja, wirklich, was redest du denn da?« Onkel Alfons ließ irritiert die Zeitung sinken. »Hildegard hat hier ihre Arbeit und ihre Freunde, warum soll sie denn weggehen?« Aber Tante Röschen hatte ihn gar nicht gehört. Sie hatte den Handmixer wieder eingeschaltet und rührte aus Leibeskräften in ihrem Rodonteig.

Freitags backte Tante Röschen Rodon. Jeden Freitag. Sie hatte immer Kuchen im Haus, aber ihren speziellen Rodon, der ganz besonders lecker schmeckte, backte sie nur am Freitag. Und jeden Freitag nach der Arbeit, zwischen drei und vier Uhr nachmittags, besuchte ich sie und Onkel Alfons in ihrem urigen Holzhaus mit der fast schwedisch anmutenden Veranda, das abseits vom Dorf auf einer kleinen Anhöhe direkt am Waldrand lag. Bei gutem Wetter blickte man weit ins Land, und wenn die Sicht besonders klar war, konnte man sogar den Kölner Dom sehen.

In der warmen Jahreszeit saßen wir in der verglasten Veranda am großen Esstisch und genossen die Aussicht auf das Rheintal und das Siebengebirge, dessen Hügel sich am westlichen Horizont erhoben. Der weiße Bau des Hotels Petersberg, in dem sich früher das Gästehaus der Bundes­regierung befunden hatte, war in der Ferne deutlich zu erkennen. Wenn ab und zu noch einmal ein Staatsgast dort abstieg, sah man in der Dunkelheit die Helikopter wie riesige Glühwürmchen um das beleuchtete Gebäude auf dem Berg tanzen.

In der Veranda durfte mein Onkel Pfeife rauchen. Ich liebte das umständliche Ritual des Stopfens genauso wie den warmen, würzigen Duft seines Tabaks. Meine Tante schimpfte allerdings immer, obwohl sie es ihm erlaubt hatte, und erklärte, der Geruch würde in allen Speisen hängen, selbst im Kuchen.

Im Winter, so wie jetzt, war es zu kalt in der Veranda, die nur an hohen Festtagen geheizt wurde. Dann saßen wir in der gemütlichen kleinen Küche mit dem altertüm­lichen Herd, der unermüdlich Holz fraß, wenn Tante Röschen backte oder kochte, und schauten den Vögeln zu. Sie kamen bis auf die Fensterbank geflogen, um sich ihr Futter abzuholen.

»Letzte Woche war der Sperber ein paarmal da«, sagte Onkel Alfons. »Dann kommt kein anderer Vogel. Sie haben alle Angst vor ihm.«

»Hm«, sagte ich. »Ich finde sowieso, dass es hier mittlerweile viele Raubvögel gibt. Aber ich glaube, einen Sperber habe ich noch nicht gesehen. Ich weiß gar nicht, wie die aussehen.«

»Du erkennst ihn sofort«, erklärte mein in allen Naturfragen bewanderter Onkel. »An der gesperberten Brust. Weiß mit schwarzen Strichen drauf. Ein wunderschöner Vogel.«

»Mir wäre es lieber, er ließe die kleinen Vögel in Ruhe«, warf meine Tante ein. »Wenn er zu häufig kommt, bleiben sie nachher noch ganz weg. Ich habe übrigens für das Eichhörnchen einen Beutel Nüsse ausgelegt.« Sie lächelte. »Das hättest du mal sehen sollen, wie es die für den Wintervorrat eingesammelt hat. Sooo dicke Backen, wie ein Hamster!« Sie blickte mich prüfend an. »Ich meine, du hättest auch zugelegt, Hilde. Du bist doch nicht etwa in Hoffnung?«

»Tante Röschen«, protestierte ich erschüttert. »Ich werde in zwei Monaten achtundvierzig. Was denkst du denn? Und von wem sollte ich denn bitte schön schwanger sein? Gregor und ich sind doch schon seit einer Ewigkeit geschieden.«

»Ja, aber du arbeitest ja schließlich immer noch in Ludwigs Firma«, wandte meine Tante nicht ganz logisch ein. »Und außerdem ist siebenundvierzig heutzutage gar kein Alter mehr. Ich habe erst vor Kurzem beim Friseur gelesen, dass diese italienische Sängerin, diese … wie heißt sie noch mal? Der Name fällt mir jetzt nicht ein …«

»Alzheimer«, brummte mein Onkel.

»Nein, die heißt doch nicht … Ach, du!« Tante Röschen versetzte ihrem Mann einen Rippenstoß. »Na, auf jeden Fall ist sie schon vierundfünfzig und hat jetzt ein Kind gekriegt. Und die hat auch keinen Mann!«, setzte sie triumphierend hinzu.

Ich seufzte. »Ich erwarte aber kein Kind, Tante Röschen, auch wenn du es noch so gerne hättest! Und ich bin ehrlich gesagt auch ganz froh darüber! Aber du hast recht, ich habe tatsächlich ein bisschen zugenommen.« Bekümmert schaute ich an mir herunter. Ich war noch nie eine Elfe gewesen, aber es gab einen gewissen Punkt, den ich bei meinem Gewicht nur ungern überschreiten wollte – und mittlerweile war er bedrohlich nahe gerückt. »Weihnachten hat es einfach zu viel zu essen gegeben. Unter anderem bei euch!« Vorwurfsvoll schaute ich sie an. »Außerdem fürchte ich, dass ich jetzt so langsam in das Alter komme.« Ich stieß einen weiteren wehmütigen Seufzer aus und packte ein Röllchen an meinem Bauch mit Daumen und Zeigefinger. »Ab nächste Woche muss ich mal wieder regelmäßig ins Fitness-Studio. Und heute Abend gehe ich mit Doro zur Ü-Vierzig-Party nach Kommern.«

»Wohin gehst du?« Tante Röschen zog missbilligend die Augenbrauen hoch.

»Zur Ü-Vierzig-Party. Zum Tanzen. In die normale Disco gehen wir schon lange nicht mehr. Als wir zuletzt da waren, hat so ein junger Typ Doro von oben bis unten gemustert und zu seinem Kumpel gesagt: ›Jetzt kommen die schon zum Sterben her.‹ Das müsst ihr euch mal vorstellen! Zu Doro! Also, dazu habe ich keine Lust.«

Mein Onkel lachte verblüfft. »Das hat er tatsächlich gesagt? Auf was für Ideen die Leute kommen! Und dann ausgerechnet zu Doro! Das ist ja unglaublich! Sie hat ihm doch hoffentlich die passende Antwort gegeben.«

»Nein, wir waren beide so platt, dass uns nichts eingefallen ist«, musste ich zugeben.

Kopfschüttelnd verteilte Tante Röschen den Teig, in den sie – ihre Spezialität – neben klein gehackten getrockneten Aprikosen, Zitronat, Rosinen, Walnüssen und Mandeln auch noch Schokoladestückchen gerührt hatte, in der Rodon-Form. Sorgfältig schabte sie die Teigschüssel aus, strich den Teig in der Kuchenform glatt und schob das Prachtstück in den Ofen. Sie wischte die Hände an ihrer Schürze ab und strich mir über die Haare. »Mach dir nichts draus, Kind«, sagte sie liebevoll. »Du siehst gut aus für dein Alter. Du hast eine ganz gute Figur …«

»Genau. Mit den Rundungen an den richtigen Stellen«, warf mein Onkel ein.

Seine Frau bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Was verstehst du denn schon davon?«, wies sie ihn zurecht. An mich gewandt fuhr sie fort: »Aber dein Onkel hat recht. Du hast durchaus noch Chancen bei den Männern. Nur, ob du den Richtigen ausgerechnet beim Tanzen in Kommern kennenlernst …« Zweifelnd verzog sie das Gesicht. »Also, ich sage ja nur, in Köln hättest du wahrscheinlich wesentlich bessere Chancen.«

»Vielleicht will ich ja gar keinen kennenlernen«, erwiderte ich trotzig. »Mir geht es doch gut. Ich habe einen guten Job, eine schöne Wohnung, Freunde, auf die ich mich verlassen kann, und ich kann es mir sogar leisten, den Jungen in London studieren zu lassen. Und keiner schreibt mir vor, was ich zu tun und zu lassen habe.«

»Tja.« Tante Röschen wiegte bedenklich den Kopf. »Aber schöner wäre es schon, wenn du wieder jemanden an deiner Seite hättest. Ich will ja bloß nicht, dass du hier versauerst.«

Ich verdrehte die Augen. Tante Röschen war eben aus einer anderen Generation. Sie konnte sich ein Leben ohne ­ihren Alfons wahrscheinlich gar nicht vorstellen – wobei ich zugeben musste, dass mein Onkel auch ein besonderes Prachtexemplar war. Mein Bedarf an Männern war jedoch gedeckt, seitdem Gregor mich nach Strich und Faden betrogen und sich dann einfach mit diesem jungen Möchtegern-Model aus dem Staub gemacht hatte, das kaum älter war als unser gemeinsamer Sohn. Das war zwar schon eine Ewigkeit her, aber so etwas nagt am Selbstbewusstsein, und ich möchte die betrogene und verlassene Ehefrau sehen, die hinterher nicht lange Zeit ihre Wunden leckt.

»Jetzt lass sie doch in Ruhe, Röschen«, sagte Onkel Alfons. »Sie hat es mit Gregor weiß Gott schwer genug gehabt. Soll ich dir noch einen schönen Espresso machen, Hilde?«, wandte er sich an mich. »Aus dem Gerät, das du uns geschenkt hast, schmeckt der Kaffee wirklich ganz anders. Viel besser!«

Tante Röschen warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. Auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecken. »Soll das heißen, dass dir mein Filterkaffee nicht mehr schmeckt? Wozu mache ich mir denn die Mühe, jedes Mal die Bohnen frisch zu mahlen …«

»Nein, danke, lieb von dir, aber ich muss jetzt wirklich fahren«, unterbrach ich die Tirade meiner Tante. Auf keinen Fall sollten sie sich wegen mir in die Haare kriegen.

»Schade«, meinte mein Onkel betrübt. »Du bleibst immer so kurz. Willst du nicht mal wieder hier übernachten? So wie früher?« Hoffnungsvoll schaute er mich an. Auch meine Tante sah traurig drein.

»Ach, ihr macht mir ein ganz schlechtes Gewissen«, murmelte ich. »Ich habe einfach nicht mehr so viel Zeit.«

Früher, das hieß vor über fünfunddreißig Jahren, als ich noch zur Schule ging. Damals war meine Mutter schon ziemlich krank, und ich war immer froh gewesen, der bedrückenden Atmosphäre zu Hause entrinnen zu können, indem ich bei Tante Röschen und Onkel Alfons übernachtete. Wenn ich nach der Schule dorthin kam, gab es natürlich zuerst einmal Rodon, dazu im Sommer selbstgemachten »Kindersekt« aus Holunderblüten und im Winter heißen Kakao mit Sahne. Dann ging ich mit Onkel Alfons im Wald spazieren, wo er mir alles Wissenswerte über Fauna und Flora der Eifel erklärte, oder verschwand mit ihm in seiner Werkstatt, wo ich mit dem Schnitzmesser Holzstücke bearbeitete oder mich an seiner Drechselbank versuchte. Manchmal tobte ich auch einfach nur mit Barko, dem weiß-braun gefleckten Münsterländer von Onkel Alfons, auf der Wiese herum. In der Zwischenzeit dachte sich Tante Röschen immer etwas besonders Leckeres zum Essen aus, und nach dem Abendessen spielten wir Mensch ärgere dich nicht oder Karten. Sie brachten mir Rommé, Skat und Siebzehnundvier bei, und mir fiel nie auf, dass sie keinen Fernseher besaßen.

Die Abende bei ihnen gehörten zu den Highlights meines jungen Lebens, aber je älter ich wurde, desto seltener wurden auch meine Besuche. Und irgendwann hatte ich den ersten Freund, und der Kontakt zu Röschen und Alfons beschränkte sich auf gelegentliche Besuche an Feiertagen oder Geburtstagen.

»Ich mache das mal wieder – bestimmt!«, versprach ich ihnen. Im Stillen nahm ich es mir ganz fest vor. Schließlich waren sie meine einzigen Verwandten, und da sie keine Kinder hatten, war ich so eine Art Ersatzkind für sie. »Aber jetzt muss ich wirklich dringend los. Doro wartet sicher schon.«

Ich drückte Onkel Alfons einen Kuss auf die Wange und umarmte Tante Röschen. »Passt gut auf euch auf«, mahnte ich sie. »Ich melde mich.«

»Viel Vergnügen heute Abend, Kind. Ich komme nicht mehr mit nach draußen«, sagte meine Tante. »Alfons bringt dich zum Tor. Mir ist es zu kalt.«

Mein Onkel war bereits in seine alten ledernen Bergschuhe geschlüpft, die zum Trocknen am Herd gestanden hatten. Er hatte einen Fuß auf den Stuhl gestellt, um sich die Schnürsenkel zuzubinden.

»Alfons!«, sagte meine Tante vorwurfsvoll. »Nicht mit den Schuhen auf das Kissen! Das wird doch alles schmutzig!«

»Ich komme ja sonst nicht mehr an meine Füße«, murrte mein Onkel. »So jung bin ich nun auch nicht mehr.« Aber er hob gehorsam das Stuhlkissen an, damit es nicht mit seiner Schuhsohle in Berührung kam.

Die Luft stand weiß vor unseren Gesichtern, als wir zu mei­nem Auto gingen, das vor dem Tor auf der kleinen Schneise im Wäldchen stand, die Besuchern des ehema­ligen Jagd­hauses als Parkplatz diente. »Kalt geworden«, meinte mein Onkel. »Es würde mich gar nicht wundern, wenn es heute Nacht noch Schnee gäbe. Die Luft riecht danach.«

»Na, hoffentlich schneit es nicht, bevor Doro und ich wieder zu Hause sind«, sagte ich mit einem besorgten Blick zum Himmel.

»Nein, das klappt schon noch. Viel Vergnügen und bestell Doro liebe Grüße«, verabschiedete sich mein Onkel von mir.

Im Rückspiegel sah ich, wie er noch so lange winkend da stand, bis ich mich auf dem Weg befand, der in den Ort führte. Dann drehte er sich um und ging ins Haus.

»Und dann beschuldigt diese alte Kuh mich tatsächlich, ich hätte ihre Briefe geöffnet und gelesen! Ich! Ist es denn zu fassen?« Doro riss empört die großen, hellblauen ­Augen auf. Sie hatte ein Puppengesicht, das von wilden blonden Locken umrahmt war, die sie mit viel Mühe, Bierspülungen und Glätteisen so einigermaßen in Schach hielt. »Über Dampf hätte ich sie aufgemacht, hat sie behauptet. Du liebe Güte! Das sind doch Steinzeitmethoden!« Erregt trank sie von ­ihrem Mojito ohne Alkohol. Ich musste lachen, weil sie sich so aufregte, aber als ich etwas erwidern wollte, unterbrach sie mich. »Nein, nein, warte, ich bin noch nicht fertig. Das musst du hören: Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass ich allen im Dorf erzählt hätte, was drin gestanden hat. Ich! Kannst du dir das vorstellen?«

Ich grinste. »Und? Hast du?«

Doro rollte mit den Augen. »Jetzt fängst du auch schon an. Nein, im Ernst, Hilde, als ob ich nichts Besseres zu tun hätte. Wenn ich eure Post auch noch lesen würde, würde ich ja nie fertig. Und was jemand der dämlichen alten Pütz schreibt, interessiert mich einen feuchten Kehricht. Noch habe ich selber ein Leben! Und nicht zu knapp«, setzte sie empört hinzu.

»Weiß ich doch!«, beruhigte ich meine beste und älteste Freundin. Langweilig war ihr Leben bestimmt nicht, auch wenn sie schon einige Jahre glücklich verheiratet war. Wo Doro war, da spielte die Musik. Sie konnte einfach nicht still sitzen, und sie war ein Naturtalent, wenn es darum ging, ihre gute Laune auf ihre Umgebung zu übertragen. »Natürlich hast du die Briefe nicht gelesen. Frau Pütz muss sich gar nicht wundern, dass es Aufsehen erregt, wenn sie auf einmal pastellfarbene Briefe bekommt. Und hast du nicht auch gesagt, dass sie so aufdringlich duften?«

»Stinken«, erwiderte Doro trocken. »Als Duft kannst du das wahrhaftig nicht bezeichnen. Na, wenn die nicht mal ­einem Heiratsschwindler aufgesessen ist. Wahrscheinlich sollte ich doch mal einen Brief lesen, nur so, um sie zu warnen.« Nachdenklich drehte sie ihre Spaghetti auf die Gabel.

Wir saßen in einem gemütlichen kleinen Lokal in der Altstadt von Kommern, einem kleinen Städtchen in der Eifel, das vor allem für sein Freilichtmuseum bekannt war.

Das war an den meisten Freitagen unser Ritual. Zuerst gingen wir essen, zum Italiener, zum Griechen oder neuerdings auch schon mal in das japanische Sushi-Restaurant, das in Mechernich aufgemacht hatte – die Gäste ­saßen an einer großen, runden Theke, auf der eine Spielzeugeisenbahn mit den unterschiedlichen Sushi-Sorten herumfuhr. Sensationell! Rouven hatte zwar gelangweilt gemeint, so etwas gäbe es in London schon seit Jahrzehnten, aber wir waren hier nun mal nicht in London, und in der Eifel war es der letzte Schrei. Die Leute spekulierten schaudernd, ob es vielleicht auch diesen hochgiftigen Fisch gab, bei dem ein einziger Bissen schon genügte, und man fiel tot um. Den Gästen an der Theke konnte man das wohlige Gruseln förmlich am Gesicht ablesen, schließlich aß man ja nicht jeden Tag rohen Fisch. Nach den kulinarischen Genüssen ging es entweder ins Kino oder zum Tanzen in ein nahe gelegenes Lokal, die alte Mühle, wo es regelmäßig Tanzveranstaltungen für unsere Altersgruppe gab. Ich liebte diese Abende. Doro und ich hatten uns immer etwas zu erzählen. Wir kannten uns seit frühester Kindheit und wussten genau, wo der Schuh drückte.

»Wie war es denn bei dir heute?«, fragte sie jetzt. »Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«

»Nein.« Ich spießte Salatblätter auf meine Gabel. »Alles wie immer. Nur Ludwig macht mir in der letzten Zeit ein bisschen Sorgen. Er sieht nicht gut aus. Tante Röschen hat das auch schon bemerkt.«

»Na ja«, erwiderte Doro. »Er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Und dann raucht er immer diese dicken Zigarren! Das kann ja nicht gesund sein! Was wird eigentlich aus der Firma, wenn er sich zurückziehen will? Glaubst du, dass Gregor sie übernimmt?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. »Er hat ja nie mitgearbeitet. Ich glaube, er hat gar kein Interesse am Unternehmen. Und seine Tussi würde im Leben nicht nach Mechernich ziehen.«

»Hm.« Doro überlegte. »Ja, aber mal gesetzt den Fall, er würde doch von seinem Vater übernehmen. Ich glaube nicht, dass er dich dann weiter als Sekretärin behalten würde.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, gab ich zu. Plötzlich schmeckte mir das Essen nicht mehr so richtig. Lustlos stocherte ich auf meinem Teller herum. »Komm, darüber will ich mir heute Abend keine Gedanken machen. Lass uns bezahlen und in die Disco fahren.«

Ich hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als Doro auf einmal erstarrte. Sie ließ die Gabel, die sie gerade zum Mund führen wollte, sinken und zischte: »Guck dich nicht um. Eben ist Gregor zur Tür reingekommen.«

»Wenn man vom Teufel spricht. Ist er allein?«

»Nein, euer Prokurist ist bei ihm.« Doro reckte den Hals. »Er hat uns nicht gesehen. Sie gehen um die Ecke in den anderen Raum.«

Erleichtert stieß ich die Luft aus, die ich unwillkürlich angehalten hatte. Gregor und ich waren zwar schon lange geschieden, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut heraus. Der Mann war für mich ein rotes Tuch. Ich nahm es ihm immer noch übel, dass er mich damals so kaltschnäuzig abserviert hatte. Am meisten wurmte mich jedoch, dass er versucht hatte, sich um die Zahlungen für Rouven zu drücken. Und nicht nur das. Er war auch so mit seiner neuen jungen Frau beschäftigt, dass er überhaupt keine Zeit mehr für das Kind gehabt hatte. Unser gemeinsamer Sohn war bei der Scheidung erst zwölf gewesen, und er hätte seinen Vater dringend gebraucht.

Notgedrungen hatte ich die Situation alleine gemeistert. Zum Glück war Gregors Vater nicht so ein Armleuchter wie sein Sohn. Er hatte mir eine Stelle als Sekretärin in seiner Firma angeboten und sich in seiner Freizeit um Rouven gekümmert, so gut er konnte. Dass Rouven jetzt in London studierte, verdankte er vor allem seinem Großvater, der sich wohl vorstellte, dass sein Enkel einmal die Firma übernehmen könnte, und deshalb seinem Sohn energisch nahegelegt hatte, Rouven die bestmögliche Ausbildung zu finanzieren.

»Warum er wohl hier ist?«, fragte ich leise, fuhr aber gleich fort: »Na, egal, lass uns zahlen, Doro. Mir ist der Appetit vergangen, und ich habe keine Lust, ihm zu begegnen.«

Doro nickte. »Heute bist du mein Gast. Ich habe von der alten Schlüter ein dickes Trinkgeld bekommen. Anscheinend war genau der Brief in der Post, auf den sie gewartet hat.«

Der Besuch der Disco machte mir nicht so viel Freude wie sonst, weil ich die ganze Zeit darüber nachgrübelte, was Gregor abends in Kommern machte. So viel ich wusste, wohnte er in Bonn. Relativ früh schon verabschiedete ich mich von Doro, die ihre blonden Locken schüttelte und selig zu »The Winner Takes It All« über die Tanzfläche wirbelte, wobei sie laut mitsang.

»Ich fahre jetzt nach Hause. Ist das in Ordnung für dich?«, fragte ich. Sie nickte und wies mit dem Kinn auf einen Mann in unserem Alter mit Bürstenhaarschnitt, der ebenfalls ab und zu bei uns im Ort die Post austrug. »Harry bringt mich nach Hause. Fahr du nur. Das mit Gregor lässt dir keine Ruhe, was?«

»Es ist aber auch merkwürdig, oder? Ich würde zu gerne wissen, was da los ist. Er kommt doch sonst nicht einfach so hierher. Hoffentlich ist nichts mit Ludwig.«

Meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Das erfuhr ich am nächsten Montag, als ich in die Firma kam. Ludwig hatte einen schweren Herzinfarkt gehabt, lag im Krankenhaus und rang mit dem Tod. Die Belegschaft steckte die Köpfe zusammen und tuschelte aufgeregt. Was würde aus uns werden, wenn unser Chef das Zeitliche segnete?

Der Prokurist, Herr Mehring, der mit Gregor beim Ita­liener gewesen war, hatte sich in seinem Büro verschanzt und war für niemanden zu sprechen. Ein schlechtes Zeichen. Und dann klingelte mein Telefon.

»Hildegard?«, sagte eine mir nur zu bekannte, verhasste Stimme. Der Mann war der Einzige, der mich immer mit meinem vollen, unmodernen Namen anredete, den ich Hildegard von Bingen verdankte, der Lieblingsheiligen meiner Mutter. Alle sagten Hilde, nur er bestand auf Hildegard. Es war ihm nicht abzugewöhnen. »Du kannst die Belegschaft informieren, dass um vierzehn Uhr Mitarbeiterversammlung in der Werkshalle ist. Ludwig ist vor einer halben Stunde gestorben.« Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte Gregor aufgelegt.

Ich saß da wie eine Salzsäule und hielt den Hörer in der Hand. Erst als die Tür zu meinem Büro aufging und unser Disponent, Herr Weiss, aufgeregt fragte: »Frau Bender­macher, was ist mit Ihnen? Geht’s Ihnen gut, Frau Bendermacher?«, erwachte ich aus meiner Erstarrung. Ich räusperte mich.

»Herr Weiss«, sagte ich mit einer blechernen Stimme, die gar nicht mir zu gehören schien, »der Chef ist tot. Wir sollen alle um vierzehn Uhr in die Werkshalle kommen.«

Herr Weiss blickte mich bestürzt an. »Ach, du liebe Scheiße«, sagte er mit Nachdruck. »Soll ich allen Bescheid sagen?«

»Nein, nein, lassen Sie nur«, wehrte ich ab. »Ich schicke eine Hausmitteilung herum.«

Unsere Firma ist nicht groß, wir haben gerade mal fünfundzwanzig Mitarbeiter, und so standen wir ein wenig verloren in der großen Werkshalle herum, in der Präzisionsrohre aus Metall hergestellt werden. Punkt vierzehn Uhr ging die Seitentür auf, und mein Ex kam herein. Wieder war er in Begleitung des Prokuristen.

Er baute sich vor den Leuten auf, die ihn sorgenvoll musterten, und sagte: »Einige von Ihnen kennen mich ja noch. Ich bin Gregor Bendermacher. Sie haben sicher bereits erfahren, dass mein Vater heute früh verstorben ist. Ich werde bis auf Weiteres die Leitung der Firma übernehmen, und in den nächsten Tagen werden wir Gelegenheit haben, uns gegenseitig kennenzulernen. Und jetzt gehen Sie bitte wieder an die Arbeit. Es läuft alles ganz normal weiter. Stillstand können wir uns nicht leisten.«

Das war typisch Gregor, dachte ich. Immer auf Zack. Und nicht ein einziges persönliches Wort, schon gar nicht zum Tod seines Vaters. Kopfschüttelnd wandte ich mich zum Gehen, aber da stand er auch schon neben mir und blickte mich aus seinen wasserblauen Augen an. Früher einmal hatte ich mich genau in diese Augen verliebt, aber jetzt fröstelte es mich beinahe, als ich hineinblickte.

»Hildegard, komm bitte in …« Er blickte auf seine Armbanduhr. »… in zehn Minuten in mein Büro.«

Er fackelte nicht lange und kündigte mir, was ich nicht anders erwartet hatte. Ich würde sogar noch drei Monatsgehälter ausgezahlt bekommen – eine großzügige Geste, wie er mehrfach betonte.

»Hildegard …« Er dehnte meinen Vornamen auf eine Weise, die fast beleidigend war. »Dir ist ja wohl klar, dass ich das alles nicht tun müsste, du hast schließlich noch nicht einmal einen gültigen Arbeitsvertrag. Solche Dinge hat Vater ja nicht so genau genommen.«

Dafür waren ihm andere Dinge wichtig gewesen, dachte ich. Verantwortungsbewusstsein und Loyalität zum Beispiel. Bei ihm hatte ich mich auch ohne Arbeitsvertrag immer gut aufgehoben gefühlt. Ich öffnete den Mund, um Gregor zu widersprechen, aber dann klappte ich ihn wieder zu. Es hatte ja doch keinen Zweck. Gregor war gesprächsresistent, jedenfalls bei mir.

Gewichtig fuhr er fort: »Aber ich will mal nicht so sein. Ich werde dir ein Zeugnis ausstellen, und dann kannst du dir etwas Neues suchen. Dass ich dir eine regelrechte Abfindung zugestehe, erwartest du ja wohl nicht im Ernst, schließlich bezahle ich immer noch einen Zuschuss zu Rouvens Studium. Das ist Abfindung genug«, erklärte er kalt.

Benommen blickte ich ihn an. »Der Zuschuss zu Rouvens Studium kommt ja wohl nicht mir, sondern unserem Sohn zugute«, erwiderte ich. »Aber ist schon in Ordnung, Gregor. Übernimm dich bloß nicht. Mit dir zusammen würde ich sowieso nicht in der Firma bleiben wollen. Ich gehe davon aus, dass du mir das Zeugnis zuschickst.« Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und verließ sein Büro. Wahrscheinlich wollte er seine junge Frau auf meinen Posten setzen. Oder er würde sich eine neue Sekretärin suchen. Vielleicht was Hübsches, Junges? Aber eigentlich war es mir egal. Ich hätte sowieso nicht für ihn arbeiten mögen, und ich war optimistisch, dass ich schon bald etwas Neues finden würde.

»Was hat er gesagt?« Tante Röschen war fassungslos. »Der Sausack! Ich hätte ja nicht übel Lust, zu ihm zu gehen und ihm meine Meinung zu sagen!«

»Das wirst du schön bleiben lassen!«, meldete sich Onkel Alfons zu Wort, wie immer besonnen. »Besonders hier vor dem Friedhof. Wir haben gerade Ludwig zu Grabe getragen. Da hat alles andere nichts zu suchen. Kinder«, er wandte sich an Rouven und mich, »ihr kommt mit zu uns, dann können wir alles in Ruhe besprechen.«

Wir standen auf dem Parkplatz vor dem alten Friedhof. Über Nacht war es bitterkalt geworden, und ich fror in meinem alten Trenchcoat, dem einzigen schwarzen Mantel, den ich besaß. Wenigstens war vor einer halben Stunde eine blasse Wintersonne hinter den Bäumen hervorgekommen, gerade als sie Ludwigs Sarg in die Grube hinuntergelassen hatten. Als wenn er sich verabschieden wollte, hatte ich gedacht. Leider jedoch wärmte die Sonne nicht, und ich trat fröstelnd in meinen dünnen schwarzen Stiefeln von einem Fuß auf den anderen.

»Ich will lieber mit Papa und den anderen ins Eck gehen«, maulte Rouven, der zur Beerdigung seines Groß­vaters aus London angereist war. Er sah in seinem dunkelgrauen Anzug mit der schwarzen Kaban-Jacke darüber sehr erwachsen aus, dachte ich mit einem Anflug von mütterlichem Stolz.

»Ja, geh du nur«, sagte ich. »Du siehst deinen Vater ja selten genug.«

Tante Röschen zog zwar die Augenbrauen hoch, schwieg aber. Erst als wir bei einer Tasse Kaffee und Rodon in ihrer gemütlichen Küche saßen und langsam auftauten, sagte sie missbilligend: »Du siehst deinen Sohn auch nicht gerade häufig. Was will er denn bei all den fremden Leuten im Eck? Er hätte genauso gut hierher mitkommen können.«

»Ach, Tante Röschen.« Ich seufzte. »Lass ihn doch. Gregor hat ja immer nur durch Abwesenheit geglänzt. Und an Rouvens Studium hat er bisher auch kaum Anteil genommen, wenn man mal von der monatlichen Überweisung ­absieht. Vielleicht können sie sich ein bisschen unterhalten.«

»Das glaube ich eher weniger.« Tante Röschen presste die Lippen zusammen. »Er wird daneben sitzen und sich fehl am Platz fühlen. Die sind doch alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«

»Lass gut sein, Röschen«, warf mein Onkel besänftigend ein. »Der Junge ist alt genug, um im Ausland zu studieren. Der weiß schon, was er tut.« Er wandte sich an mich. »Was willst du denn jetzt machen?«

Tante Röschen ließ sich sofort ablenken. »Ja«, echote sie und legte mir ein Stück Rodon auf den Teller. »Was willst du denn jetzt machen?«

Ich zuckte die Schultern. »Ich suche mir eine neue Stelle. So schwierig wird das ja wohl nicht sein.«

»Ich weiß nicht.« Alfons wiegte bedenklich den Kopf. »Willst du nicht wenigstens eine Abfindung einklagen? Du arbeitest doch schon Gott weiß wie lange in der Firma. Er kann dich nicht einfach so von heute auf morgen entlassen.«

»Nein«, wehrte ich ab. »Dann müsste ich mir zuerst einmal einen Anwalt suchen, und die Sache ginge vors Arbeitsgericht. Nein, dazu habe ich keine Lust. Außerdem habe ich nichts in der Hand. Ich hatte ja keinen Arbeitsvertrag. Gregor hat mir ein gutes Zeugnis geschrieben und wird mir immerhin noch drei Monatsgehälter zahlen.«

»Na, wie großzügig von ihm! Das ist ja wohl auch das Mindeste, was man von ihm erwarten kann!«, warf Tante Röschen empört ein.

»Außerdem will ich nicht für ihn arbeiten«, fuhr ich fort. »Stellt euch das doch mal vor.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nicht aushalten. Und ich mache mir keine Sorgen. Ich finde bestimmt schnell was anderes.«

»Ja, wenn du meinst.« Ratlos blickten mich die beiden an. »Na, jetzt iss erst mal was.« Tante Röschen schob mir den Kuchenteller hin. »Du kannst auch immer noch nach Euskirchen aufs Arbeitsamt fahren. Die haben bestimmt was für dich. Vielleicht willst du ja mal was Neues ausprobieren. Du kannst doch zum Beispiel richtig gut kochen. So als Köchin irgendwo oder so?« Sie schaute mich hoffnungsvoll an.

Ich warf ihr einen gespielt empörten Blick zu. »Was soll das denn heißen? Ich habe all die Jahre bei Ludwig als Sekretärin gearbeitet, da wird sich doch wohl noch ein Job für mich finden.«

»Na ja, ich meine ja nur.« Tante Röschen zuckte ver­legen mit den Schultern. »Eine richtige abgeschlossene Ausbildung hast du nicht. Steuerfachgehilfin war ja nichts für dich. Und heutzutage ist das mit den neuen Jobs nicht immer einfach, jedenfalls hier bei uns auf dem Land.«

Das war mein wunder Punkt. Doro und ich hatten nach dem Abitur einen Ferienjob bei der Post angenommen, weil wir schnell Geld verdienen wollten, um ausgiebig Urlaub zu machen. Ich war damals gerade erst achtzehn geworden und fand, dass eine Ausbildung noch warten konnte. Ich wollte das Leben genießen. Studieren wollte ich sowieso nicht. Ich war froh, dass ich die Schule hinter mir hatte, und ich bin eher der praktische Typ. Als ich dann schließlich eine Lehrstelle bei einem Steuerberater in Mechernich bekam, brach ich die Ausbildung wieder ab, als ich Gregor kennenlernte, und jobbte lieber noch ein bisschen, zumal Doro beschlossen hatte, bei der Post zu bleiben. Lernen fand ich langweilig, und den ganzen Steuerkram sowieso. Gregor würde mir diese lästigen Dinge alle abnehmen. Dachte ich.

»Ich hab kürzlich beim Arzt im Wartezimmer so einen Artikel gelesen, dass man sich bei der heutigen Wirtschaftslage auf seine Stärken besinnen sollte, wenn man arbeitslos ist«, fuhr Tante Röschen fort. »Aber warten wir es erst einmal ab. Ich bin ja nur eine alte Frau und rede viel dummes Zeug, wenn der Tag lang ist!«

»So sehe ich das auch«, griff Onkel Alfons ein. »Jetzt wollen wir Kaffee trinken. Kommt Zeit, kommt Rat.«