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Buchinfo

Anna und Lise sind grundverschieden und doch teilen sie eine große Leidenschaft - die Musik! Dafür lassen sie die Provinz hinter sich und ziehen nach Berlin, ohne Geld und ohne Plan. Doch der Weg in den Rock-Olymp ist steinig. Als Wohnung muss ein Ladenlokal mit großem Schaufenster herhalten, ihre neuen Mitbewohner sind ziemlich schräg und das Geld fehlt an allen Ecken. Außerdem braucht man offenbar mehr als nur Talent und Ehrgeiz, um in der Berliner Musikszene einen angemessenen Platz zu finden. Aber was tut man nicht alles für seinen großen Traum?

Autorenvita

Rothe-Liermann_Antonia

© Foto Faust

Antonia Rothe-Liermann, geboren 1978 in Halle/Saale, studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in Potsdam-Babelsberg. Danach arbeitete sie als Storyliner und Autorin für verschiedene Produktionen der Grundy UFA und teamworx. Seit 2007 schreibt sie als freie Autorin für Spielfilme und verschiedene Serienproduktionen. Sie verfasste u. a. als Co-Autorin Drehbücher für die RTL-Erfolgsserie „Doctor's Diary“ (Chefautor: Bora Dagtekin).

   Antonia Rothe Liermann– Heart Beat Berlin– WG Mit Aussicht– Planet Girl

Danke an Maximilian Rothe,
ohne den Lise nicht Lise wäre.

1

Oh Mann, Anna, worauf hast du dich da eingelassen?! Du kennst diese Frau überhaupt nicht – und willst von null auf hundert dein ganzes Leben mit ihr teilen? DU SIEHST DOCH, DASS SIE VERRÜCKT IST!

Denk nach: Was kannst du jetzt noch retten? Darf man noch ›Ach, nein danke, ich hab’s mir anders überlegt‹ sagen, obwohl man vor achtundvierzig Stunden einen gemeinsamen Mietvertrag unterschrieben hat? Wegen abrupter Vernunfts-Rückkehr? Wegen spontaner Erkenntnis des fragwürdigen Geisteszustands der neuen Wohnungs-, Lebens-, Alles-Partnerin?

Moment mal, Anna! Erstens stimmt es nicht, dass du sie gar nicht kennst. Ihr seid zusammen aufgewachsen. So könnte man es doch sagen … Lise wuchs immerhin in derselben Stadt auf wie ich. Zur selben Zeit. Okay – während ich an einem Ende von Eberswalde zum Ballettunterricht radelte, hat sie am anderen Rand der Stadt im Feng-Shui-Garten ihrer Mutter Marihuanapflanzen gezogen. Als ich bei meinen Eltern noch um die Ausgeherlaubnis bis Mitternacht gekämpft habe, hat sie in der angesagtesten Bar gekellnert. Während ich ein Schuljahr in Frankreich verbrachte, hat sie in Eberswalde eine Klasse wiederholt. Aber abgesehen vom Alter und der Kleinstadtvergangenheit gibt es noch eine andere Gemeinsamkeit zwischen Lise und mir. Die Wichtigste. Die Allerallerwichtigste!

Weder in Lises noch in meinem Leben gibt es etwas Größeres als die Liebe zur Musik. Ich gebe zu, dass sich auch die höchst unterschiedlich entwickelt hat. Bei mir Gitarrenunterricht und Schulchor, bei Lise Schlagzeug und Kellerband. Wir haben uns an der Musikschule kennengelernt. Als ich zum Jahreskonzert auf der Westerngitarre Let it be vorgetragen habe – und Lise ihren Schlagzeuglehrer gefeuert hat. Angeblich, weil er ihr nichts mehr beibringen konnte. Tatsächlich wohl, weil er sie ebenfalls zu dem Jahreskonzert angemeldet hatte. Zur Begleitung der Achtklässler-Big-Band.

Nebeneinander lehnten wir an der roten Klinkerfassade, ich befriedigte meinen Perfektionismus mit dem zwanzigsten Probelauf, Lise verarbeitete ihren Ärger mit dem Zerkrümeln einer Zigarette. »In diesem Nest kann ich nichts mehr werden«, sagte sie schließlich missmutig. »Alles, was Eberswalde mir zu bieten hatte, hab ich ausgeschöpft. Ich zieh nach Berlin.«

Berlin. Eine Zugstunde von unserer Stadt entfernt und weiter weg als der Mond. Alles ist dort anders, hieß es, freier, bunter, wilder, lauter, grober. Leider liegt es so nah an Eberswalde, dass die Schulausflüge nach Berlin nie mit Übernachtung sind. Ich kenne im Grunde nur die Sehenswürdigkeiten. Und das Lafayette, in das meine Mutter immer vor den Familiengeburtstagen Shoppingausflüge macht.

Lise ist allein nach Berlin gefahren, schon oft, behauptete sie. Ich nicht. Ich kenn doch dort niemanden. Aber in den 10 Minuten mit Lise malte sie mir eine so schillernde Zukunft zwischen die Rauchringe ihrer Zigarette, dass es mir auf einmal schien, als könnte eine Neunzehnjährige mit musikalischen Ambitionen im ganzen Leben keine klügere Entscheidung treffen, als allein mit ihrer Gitarre in die Hauptstadt zu ziehen. Weg von Mama und Papa, Blumenkästen und Sonntagskaffee, von den Nachbarn, die einfach alles über dich wissen – und umgekehrt! –, von »Dreh die Musik leiser« und der Frage, was ich werden soll, die meine Eltern gänzlich anders beantworten als ich.

»Komm doch mit«, sagte Lise. »Dann kennst du schon jemanden dort: Mich. Und ich lern rasend schnell Leute kennen. Wir könnten eine WG sein. Und ein Duo. Tagsüber strolchen wir durch die Stadt und nachts rocken wir die Clubs.«

Lise hatte recht. So recht, wie noch niemals jemand zuvor. Es war Zeit, auszuziehen in die weite Welt.

Ich sehe sie immer noch da stehen, kaputte Jeans und bemalte Turnschuhe, Wuschelhaare und zehn verschiedene Ohrringe, die selbst gedrehte Zigarette, die selbstbewusste Zuversicht, dass diese weite Welt nur auf sie wartet. Eine Schlagzeugerin. Eine Draufgängerin. Eine Frau, gegen deren Kraft und Träume eine Stadt wie Eberswalde einfach nicht standhalten kann. Ich wollte sein wie sie. Mit ihr gehen. Nach Berlin.

Und da sind wir jetzt. Oh Mann!

Ach so, eins noch: Lise ist nicht RICHTIG verrückt. Aber in den drei Tagen, in denen ich sie nun näher kenne, hat sie mich 28-mal zur Weißglut gebracht. Ich weiß das genau, weil ich über solche Dinge Buch führe. Müsste ich nicht, ich kann die Liste aus dem Kopf hersagen. Sie hat den Mietvertrag spontan ohne mich unterschrieben. Sie hat erst mal nichts außer ihrem Schlagzeug aus dem Transporter geladen, es aufgebaut und eine halbe Stunde getrommelt, eh sie sich bequemte, wieder mit anzufassen. Sie hat es geschafft, dass nach zwei Stunden Einräumen – nach denen ich zwanzig Kisten in meinem Zimmer gestapelt hatte – bereits überall ihre Klamotten herumlagen. Obwohl all ihre Kisten noch verpackt sind. Von dem Geld für die Kühlschrank-Erstausstattung hat sie Cola, Eis und Sekt gekauft, sonst nichts. Ich zähle nicht alle 28 Dinge auf. Aber ich KÖNNTE.

In der Planungsphase, als wir gemeinsam in meinem Mädchenzimmer unter dem Dach gehockt und unser neues Leben organisiert haben, wirkte sie noch ganz zurechnungsfähig. Auch wenn es nicht so sehr Lise war, die da Pläne geschmiedet hat. Wäre es nach ihr gegangen, wären wir einfach mit unserem Taschengeld in den Zug gestiegen. Noch vor dem Abi. Über meine Listen hat sie sich bestens amüsiert. Aber erstens wären wir ohne diese Tabellen tatsächlich mittel- und möbellos hier aufgeschlagen – und zweitens hat es mir riesigen Spaß gemacht, sie zu erstellen. Es fühlte sich an, als könnte ich meine Zukunft schon greifen.

Andererseits ist es Lise zu verdanken, dass meine Eltern überhaupt eingewilligt haben. Mit Erwachsenen kann Lise gut. Ihre Zweifel hat sie geduldig zerstreut, ohne zu erwähnen, dass man ihrer Meinung nach genauso gut einfach losdüsen könnte. Es war, als WOLLTE sie mich wirklich gern dabeihaben. Schrecklich gern.

Aber seit wir vor zwei Tagen zu Papa in den Miettransporter gestiegen sind, hat Lise ihre wahre Natur gezeigt. Als wäre mit jedem Kilometer, den wir uns von Eberswalde wegbewegten, auch etwas von ihr abgefallen, das sie im Zaum hielt. Gestern Abend musste ich sie unter Aufbietung all meiner Kräfte davon abhalten, die Wand zur leer stehenden Nachbarwohnung zu durchbrechen – »Wenn das irgendwann jemanden kümmert, sagen wir einfach: Als wir hier angemietet haben, gehörte das Zimmer schon dazu.« Danach habe ich ihr mit Engelszungen ausgeredet, vier wildfremde Jungs in unsere nagelneue Wohnung zu schleppen. Und der Grund, warum ich jetzt ernsthaft überlege, ob ich von diesem Himmelfahrtskommando noch abspringen kann, ist, dass Lise soeben alle WG-Bewerber, die halbwegs vernünftig wirkten, auf einen Schlag nach Hause geschickt hat. Sie hat fröhlich in die Runde gefragt, wer ordentlich ist, wer freiwillig Putzdienste übernehmen würde und nicht zu laut Musik hört. Und dann alle, die sich gemeldet haben, hinauskomplimentiert.

Spring ab, Anna, das hier wird schrecklich! Und laut, unordentlich, schlodderig. Sag einfach: ›Ach, nein danke, ich hab’s mir anders überlegt‹!

Aber ich sage nichts. Weil ich leider meine Sprache noch nicht wiedergefunden habe.

Oder vielleicht … in wirklichster Wirklichkeit, tief im Allerallerinnersten … weil es sein könnte, dass es genau das hier ist, was ich mir die ganze Zeit gewünscht habe? Denn freier, bunter und wilder als mit Lise kann ein Neustart ja wohl nicht sein …

Fest steht ohnehin: Allein kann Lise sich die Wohnung nicht leisten. Und ich auch nicht. Obwohl man das hier nicht Wohnung nennen kann. Lise erklärt gerade mit zufriedener Grinsekatzen-Miene, sie hätte in der Anzeige auch nicht das Wort ›Wohnung‹ benutzt. Das erklärt, warum so viele Mitbewohner-Bewerber hier sind. Der Junge ihr gegenüber ist der Erste, der Kontra gibt. »Und dafür komm ich den weiten Weg aus Spandau!«, wettert er. »Ich zahl doch nicht 300 Euro dafür, dass mir wildfremde Leute beim Schlafen zugucken!«

Ach ja, ich dachte mir, dass das ein Problem wird.

Unser neues Zuhause hat Lise im Internet aufgestöbert und sie ist übersprudelnd stolz darauf. Vollkommen zu Recht, denn eine Fünf-Zimmer-Wohnung mitten im Friedrichshain, die zwei Neunzehnjährige ohne Vorschuss auf die zu erwartende Musikerkarriere bezahlen können, ist wie ein Sechser im Lotto.

Jetzt sage ich auch schon ›Wohnung‹!

Aber es stimmt: Lise selbst hat das Wort in der Mitbewohner-Annonce vermieden. ›Wohnen im Friedrichshain mit bester Aussicht!‹ steht da, ›Zwei Musikerinnen suchen unkomplizierte WG-Mitbewohner für geschichtsträchtiges, großes 5-Zimmer-Domizil.‹

Denn was wir gemietet haben, ist ein leer stehender Laden. Früher war hier eine Apotheke drin, später eine Schneiderei, zuletzt ist in diesen Räumen eine Kneipe gescheitert. Vier kleine Räume, eine winzige Küche, eine Kammer … und das große Zimmer zur Straße. Mit riesigem Schaufenster.

Paul, der hartnäckige Junge, versucht Lise klarzumachen, dass wir den Ladenraum nicht vermieten können, weil niemand in einem Schaufenster leben wolle. Aber da muss ich widersprechen. Dieser Paul hat keine Fantasie. Auf einem einzigen Kiezbummel habe ich 16 gute Ideen notiert, wie man die Scheibe undurchsichtig gestalten kann. Andere Laden-Bewohner haben ihren Wohnraum mit bunten Gardinen, Bildern oder Fenstermalerei uneinsehbar gemacht. Man darf nur keinen Zentimeter frei lassen, denn so was macht extra-neugierig und die Passanten drücken sich dann an diesem Zentimeter die Nase platt.

Lise findet es völlig falsch, das Schaufenster zuzukleben. »Kann man mehr IN Berlin wohnen, als in so direktem Kontakt mit dem Straßenleben?!«, strahlt sie. »Dieses Potenzial darf auf keinen Fall schnöde hinter Klebegardinen verschwinden!« Sie versucht uns davon zu überzeugen, was für irre Performances man in dem Raum veranstalten könnte. »Wir werden Schaufensterpuppen arrangieren, dass man von draußen denkt, die Bewohner würden sich gerade abknutschen! Oder von der Decke hängen lassen! Oder sich gegenseitig ermorden!« Sie ist nicht zu bremsen. »Wir werden den Raum wöchentlich nach einem neuen Motto gestalten! Ein Indoor-Strand! Ein Westernsaloon! Ein Raketenkontrollraum! Wir können Pantomime aufführen! Und natürlich Konzerte! Die Leute werden Umwege machen, um zu sehen, was heute wieder bei uns los ist!«

Paul sieht sie an, als denke er ganz genau dasselbe wie ich vor zwei Minuten: Dass Lise spinnt. Und dass er schleunigst Land gewinnen sollte. Schade. Paul wirkt eigentlich ganz angenehm auf mich. Vernünftig, sachlich, etwas wortkarg – und anders als die restlichen Bewerber, die nicht durch Lises Ordentlichkeits-Raster gefallen sind, scheint er weder obercool noch durchgeknallt. Ich vermute, er hat sich bei Lises Fragerunde nur nicht gemeldet, weil es ihm zu blöd war.

Ich mustere noch einmal die übrigen Interessenten: Zwei Punks, ein volltätowierter Muskelprotz, eine Frau um die Vierzig, die ganz offensichtlich bekifft ist, und eine Portugiesin, die kein einziges Wort Deutsch zu sprechen scheint. Ich hätte Paul wirklich gern als Mitbewohner genommen.

Moment, vielleicht hast du da was falsch gedeutet, Anna: Die Vehemenz, mit der Paul die geplante Zimmeraufteilung diskutiert, ist doch etwas zu engagiert für jemanden, der gleich wieder gehen möchte.

»Ein Zimmer nach hinten raus«, sagt er gerade. »Brauch meinen Schlaf. Und den tagsüber. Wenn ich früh von der Schicht komme, will ich nicht von Nachtschwärmern und Frühaufstehern beim Schnarchen beglotzt werden.«

Lise nickt grinsend und ich schöpfe Hoffnung. Zieh ein, Paul! Bewahre mich vor der Bekifften und dem Muskelmann und ich werde mich niemals beschweren, wenn du knurrig deinen Schlaf einforderst oder unser Ladenzimmer verspottest. Denn du siehst aus, als könntest du ganz schön gnatzig werden. Zieh trotzdem ein! Vielleicht sag ich das jetzt mal. Zumindest den Mittelteil.

Paul lächelt nicht, als ich ihm die Erfüllung all seiner Wohnwünsche verspreche – offenbar ist er kein überfröhlicher Typ –, aber er sagt zu. Hurra! Auch wenn er gleich Bedingungen stellt. »Ich will das ruhigste Zimmer. Und ihr versprecht, dass ihr von 7 bis 14 Uhr NICHT trällert.«

Ich überhöre das Wort ›trällern‹ und beeile mich, ihm bis zur Mittagszeit absolute Stille zu versprechen – denn ich sehe, wie Lise zu einem entrüsteten Widerspruch ansetzt. Ich ahne, dass sie es zu viel verlangt findet, sieben Stunden am Tag keine Musik zu machen. Richtig. »Wie, bitte schön, sollen zwei Vollblutmusikerinnen den ganzen Vormittag still sein?!«, empört sie sich.

»Das schaffen wir schon, keine Sorge«, versichere ich schnell. Denn was Lise über ihrem Protest vergessen haben könnte: Paul hat noch einen unschlagbaren Vorteil. Er verfügt über ein regelmäßiges Einkommen. Ein Vorzug, den Lise und ich leider noch nicht genießen. Das mit dem Nicht-Musizieren schreiben wir einfach nicht in den Vertrag.

Vormittags werden Lise und ich sowieso meistens arbeiten. Für diese ›Wohnung‹ brauchen wir mindestens drei Jobs.

Notiz: Suchanzeige aufgeben und Angebote checken.

Diesmal suche ICH aus. Denn die Jobmöglichkeiten, die Lise mir heute Morgen stolz präsentiert hat, sind etwas befremdlich für meinen Geschmack: Testpersonen gesucht. Aus einem Umschnall-Grill Würstchen verkaufen. Ein Stromanbieter sucht Promotiongirls.

Lise hat behauptet, es gäbe nichts anderes. Aber es könnte sein, dass man durchaus ganz normale Jobangebote finden kann, wenn man nicht durch die Lise-Brille sucht. Das Wichtigste ist allerdings, dass der Job uns genug Zeit zum Proben lässt. Und für Auftritte! Denn HEUTE ABEND, wer hätte das gedacht, spielt das neue Duo zum ersten Mal live und in voller Großartigkeit in Berlin!

Hier muss ich wieder zugeben, dass ich Lise in einer ganz wesentlichen Eigenschaft unterlegen bin. Ich habe zwar alle Open-Stage-Veranstaltungen herausgesucht – und angerufen und um einen Platz auf der Liste gebeten habe ich auch. Aber als ich an jeder Telefonleitung dasselbe erfuhr – zu spontan, die Listen sind voll –, habe ich aufgegeben und mich damit abgefunden, dass wir erst in zwei Wochen irgendwo einen Platz auf den begehrten Kurzauftrittslisten bekommen. Lise dagegen hat entschieden erklärt, dass wir auf keinen Fall zwei Wochen verschwenden – und ist losgegangen. Eine Stunde später kam sie mit der Meldung zurück, dass der Betreiber des WiuWiu quasi ihr neuer bester Freund sei und sie ihm selbstverständlich klarmachen konnte, dass es ein gewaltiger Fehler wäre, sich unser Duo, das in zwei Wochen wohl schon zu groß für seine Bar sein wird, entgehen zu lassen. Selbstverständlich. Und nun haben wir einen Platz auf der heutigen Auftrittsliste.

Ein Blick zur Uhr: In zwanzig Minuten sollten wir laut meiner Tagesplanung zum Proben übergehen. Und mit welchen Songs wir unser erstes Berliner Publikum gewinnen wollen, sollte auch sorgfältig durchdacht werden. Also vielleicht können wir das Mitbewohner-Casting etwas abkürzen? Paul ist akzeptiert und die übrigen Nasen möchte ich absolut nicht mehr näher kennenlernen. Ich plädiere dafür, die erste Runde zu beenden und eine neue Bewerberriege zusammenzustellen. Paul ist dafür; er erklärt, dass er über den vierten Mitbewohner nun ebenfalls mitentscheiden möchte, und sagt knapp, aber in einer Deutlichkeit, die ich mir niemals trauen würde, dass für ihn keiner der verbleibenden Interessenten infrage kommt. Punkt. Lise will widersprechen – ich aber rufe schnell »Zwei zu eins« und beende damit die Diskussion und die Suche für heute. In fünfzehn Minuten will ich mit dem Proben beginnen.

Murrend schlurfen die mehrheitlich abgelehnten Kandidaten aus der Tür. Der letzte, Muskel-Mario, gibt einem grinsenden braun gebrannten Jungen die Klinke in die Hand, der sich in unserem Ladenzimmer aufbaut und umschaut, als würde es ihm gehören. »Ich ziehe ein«, sagt er zufrieden.

Ich bin irritiert, Paul verdattert, Lise dagegen wirkt angetan. »Wie kommst du darauf, dass wir noch nicht alles vermietet haben?«, fragt sie.

Der Junge lächelt. »Ihr seid drei, in der Annonce stand ›fünf Zimmer‹ und wenn ihr einen von denen genommen habt, die da gerade zur Tür rausgeschlichen sind, solltet ihr ihn schleunigst gegen mich eintauschen.«

Lise lacht und erklärt sofort, dass noch ein Schlafzimmer frei ist. Ich mustere den Jungen. Gut aussehend, humorvoll, man könnte es schlechter treffen. Paul wirkt allerdings skeptisch. Ich kenne ihn erst eine halbe Stunde, aber ich bin mir sicher: Fröhliche, spontane, selbstbewusste Jungs sind absolut nicht Pauls Fall.

Lise sieht von Paul zu dem Jungen, der inzwischen seine Vorstellung herunterrattert. Marek, zweiundzwanzig, Sport-Student, keine abnormen oder lauten Hobbies, kein Essen-im-Kühlschrank-mit-Edding-Markierer. Ich finde ihn sympathisch. Meine Stimme hätte er. Nur verhält sich Lise plötzlich seltsam. Ich hätte schwören können, dass Mareks Auftritt ihr ausgezeichnet gefallen hat. Doch jetzt sieht sie Paul und mich zweifelnd an und sagt, dass sie sich eigentlich einen Sänger als vierten Mitbewohner erhofft habe. Und auch noch einen eingeladen hat. Davon wusste ich gar nichts.

Paul mustert Marek … dann mich … und erklärt, dass hier wiederum die Mehrheit entscheide. Er ist für Marek. Und als er mich ansieht, nicke auch ich.

Lise seufzt. »Versprichst du mir, von jetzt an immer für das zu stimmen, was ich will, damit wir diese beiden Bürokraten mit permanentem Unentschieden in den Wahnsinn treiben können?«, fragt sie.

Marek lacht und ist so klug, nicht zu antworten.

»Na meinetwegen«, sagt Lise. »Willkommen im Schaufenster.«

Ich könnte schwören, dass sie innerlich höchst zufrieden ist mit der Entscheidung. Ich glaube, ich habe gerade etwas Wesentliches über Lise gelernt: Bei den Dingen, die sie ausdrücklich ablehnt, sollte man vorsichtig prüfen, ob sie einen nicht gerade mit ihrer Ablehnung dazu provoziert, genau das zu tun, was sie möchte. Ich glaube, das hat sie eben mit Paul gemacht. Denn hätte Lise nicht den erhofften Sänger-Mitbewohner erwähnt, hätte Paul sich nie so schnell für Marek entschieden. Vielleicht überhaupt nicht. Ich vermute, dass Lise einen Sänger auf einen Extra-Termin eingeladen haben will, war eine glatte Lüge. Aha.

Nun sind wir also zu viert. Haben wir das zu schnell entschieden? Auf einmal komme ich mir halsbrecherisch spontan vor. Marek könnte ein Schwerenöter sein, er sieht aus wie einer – und dass er Lise offenbar gefällt, könnte immense Probleme verursachen. Paul könnte ein schrecklicher Miesepeter und Spaßverderber sein. Warum so vorsichtig, Anna, es ist genauso gut möglich, dass einer von beiden ein Massenmörder ist! Wie schnell kann man jemanden wieder rausschmeißen, der sich beim gemeinsamen Wohnen als Miesepeter, Unruhestifter und Killer entpuppt? Hätten wir die Jungs nicht erst einmal kennenlernen sollen?

Lise scheint keinerlei Bedenken zu haben und händigt den beiden bereits unsere Schlüssel aus.

Moment, ich habe doch Untermietverträge vorbereitet, das sollte man doch wenigstens vorher erledigen. Obwohl … solange kein Vertrag existiert, gibt es wahrscheinlich weniger rechtliche Probleme bei der spontanen Ausmietung von potenziellen Massenmördern. Also verschiebe ich die Unterzeichnung auf morgen. Außerdem fängt laut Plan in zwei Minuten unsere Probe an.

In unserer gemeinsamen Neues-Leben-Vorbereitungsphase sind wir bereits zusammen aufgetreten. In Eberswalde. Mit großem Erfolg. Wir passen zusammen, das wurde uns nicht nur jedes Mal vom Publikum bestätigt, das habe ich beim ersten Song gespürt. Vielleicht hat das den letzten Ausschlag für meine Umzugspläne gegeben: Dass ich plötzlich, dort mit Lise, im Projektehaus Eberswalde, gespürt habe, dass wir etwas Außergewöhnliches gefunden hatten. Dass aus dieser unerwarteten Konstellation etwas wirklich Großes werden kann.

Aber geprobt werden muss trotzdem. Hier in Berlin ist das Publikum mit Sicherheit anspruchsvoller. Und unser erster Auftritt darf nicht weniger sein als PERFEKT.

Ich verabschiede die beiden Jungs, die ihre Sachen holen fahren (Marek) und Renovierungsmaterial besorgen (Paul), und gehe meine Gitarre auspacken. Zwei Stunden Proben, Songauswahl, Essen, Verdrängen, dass einer der neuen Mitbewohner ein Killer sein könnte – und dann kann er kommen, der erste Abend unseres neuen Lebens!

2

Anna würde darüber nur verständnislos den Kopf schütteln. Aber für mich ist das die wichtigste Frage. Mit welchem Song werde ich mich bei meinen neuen Hausbewohnern vorstellen? Ich hab sogar Annas Küchenradio versteckt, bis ich mich entschieden habe. Damit sie es nicht versehentlich zum Kaffeekochen einschaltet und dann DJ Ötzi den Opener unseres neuen Lebens singt. Denn dann müsste ich direkt wieder weiterziehen.

Der erste Song ist zu wichtig, um leichtfertig über ihn zu entscheiden. Immerhin habe ich noch Zeit bis morgen früh, wenn ich endlich meine Stereoanlage anschließe. Vorher packe ich nämlich keine Umzugskiste aus. Ich brauche den richtigen Soundtrack zum Einziehen. Und zwar laut. Es gibt nur wenige Lebensregeln, zu deren Einhaltung ich mich öffentlich bekennen würde, aber ich stehe definitiv zu dieser: Je lauter, desto besser. Und weil mein stetiges Anliegen, meinen Mitmenschen einen besseren Musikgeschmack anzuerziehen, mit dem ersten Eindruck steht und fällt, muss der Eröffnungstrack der Wohnhausbeschallung eine todsichere Nummer sein.

Nichts ist wichtiger als der Opener eines Musikalbums. Wenn Around the World von den Peppers losgeht, verrät dir der Song alles über diese Wahnsinnsplatte. Du musst einfach dranbleiben. Und genau so wird der erste Titel meines neuen Berliner Lebens funktionieren. Wenn mein Radio läuft, werden meine Nachbarn ihre Smartphones zücken, die Musik-Erkennungs-App laufen lassen, sich die Scheibe holen und dann wird ihr Leben ein bisschen besser sein.

Marek steht übrigens auch auf die Chili Peppers. Zumindest hat er es nicht verneint. Klar: Aktuelle Lieblingsbands ist die wichtigste Frage im Vorstellungsgespräch. Marek hat bestanden. Er hat offensichtlich Geschmack. Gut, vielleicht bin ich etwas großzügiger bei Leuten, die so klasse aussehen. Dieser Paul dagegen … »Alles, was nicht zu laut ist« war seine Antwort. Würg. Aber besser noch kein Geschmack als ein verkorkster. Ich werde aus seinem »Alles« schon all das aussortieren, was nicht geht. Und das mit der Lautstärke muss er eben lernen. Trotzdem: Warum Anna unbedingt DEN wollte, ist mir schleierhaft. Auf der Liste der 20 langweiligsten Berliner rangiert Paul wahrscheinlich im grauen Mittelfeld. Wissen wollte er eigentlich nur, ob er das ruhige Zimmer haben kann, weil er vormittags schläft. Aber nicht aus Coolnessgründen. Er arbeitet irgendwas mit Autos und das nachts. Doch auch dahinter verbirgt sich nichts von den aufregenden Dingen, die man vermuten könnte; er ist weder Veranstalter nächtlicher Straßenrennen noch Fluchtwagenfahrer. Er schraubt bloß irgendwas. Oder noch blöder: er kontrolliert die Maschinen, die was schrauben. Keine Ahnung, Anna hat sicher zugehört, das reicht. Ach, und Pauls zweite Frage war, ob einer der Parkplätze im Hof zur Wohnung gehört, weil sein BMW nicht an der Straße parken soll. Aua. Aber okay: Wenn er Nachtschichten arbeitet, blockieren seine langweiligen Freunde nicht die Küche – falls er überhaupt welche hat –, und wenn er einen BMW fährt, hat er vermutlich auch Kohle und dann kann wenigstens jemand dafür sorgen, dass die Miete regelmäßig rausgeht. Das war fies, ich weiß. Er ist ja ganz nett. Aber höchstens so interessant wie eine Tasse Wasser. Trotzdem – besser als die anderen Zimmerbewerber war er doch. ›Geigen-Ute‹ zum Beispiel! Als hätte ihr dümmliches Dauergrinsen nicht gereicht, hat sie sich noch mit der Bemerkung disqualifiziert, dass sie ja »schon lange eine liebe und lustige Musikerinnen-WG« suche und »ob wir dann nicht ein gemeinsames Musikzimmer einrichten« wollten. Help! Zum Glück hat meine Fangfrage sie aussortiert. Entschuldigung, aber mal ehrlich: Leute, die im Sitzen nach Noten spielen, sind doch keine Musiker! Das sind Sachbearbeiter. So was wär mir ja zum Einschlafen noch zu öde. Nein, danke. Meine Musik heißt Inspiration, Kreativität, Überraschung. Meine Musik ist Blitz, Donner und all die Münder, die offen bleiben, wenn sich der Rauch gelegt hat. Chris Cornell kann zum Beispiel gar keine Noten lesen. Aber er weiß, wie man amtlich abliefert. Zu Superunknown hält garantiert kein Mensch die Füße still. Und so was will ich auch.

Egal wie lange ich zurückdenke: Ich wollte schon immer, immer Musikerin werden. Nichts anderes. Ich hab nie die Berufswünsche meiner Freundinnen geteilt. Gut so, denn sonst müsste ich heute leider feststellen, dass ich zum Model zu klein, zur Ballerina zu undiszipliniert und zur Prinzessin zu schlecht erzogen bin. Aber für eine Musikerin bin ich genau richtig! Und für meinen Traum, irgendwann damit erfolgreich zu sein, würde ich einfach alles geben. Mit meinem Dickschädel werde ich jede Wand einrennen und falls es tatsächlich nicht klappen sollte, ende ich lieber mittellos, als dass ich sagen müsste, ich hätte nicht alles versucht. Aber eigentlich besteht kein Grund zur Sorge. Es wird klappen. Auf meine Art bin ich unschlagbar. UND ich bin in Berlin. UND Anna ist dabei.

Der etwas fade Hauch, der Anna manchmal umweht, verfliegt zum Glück völlig, sobald man sie auf eine Bühne stellt. Wenn sie mit der Gitarre hinter ihrem Mikrofon steht, scheint sie in jeder Sekunde zu wissen, was sie tut. Diese Sicherheit ist ebenso ansteckend, wie es die Fahrigkeit eines Nervenbündels sein kann. Ich hab schon die schlimmsten Hasenfüße auf der Bühne lautstark übertrommeln müssen, um mich nicht vollständig zu blamieren. Im Projektehaus, in dem ich jeden zweiten Nachmittag meiner Jugend auf Jam-Sessions mit mehr oder weniger talentiertem Musikernachwuchs verbracht habe, trennte sich immer dann die Spreu vom Weizen, wenn Offene Bühne mit Publikum angesagt war. Anna war wirklich die Einzige, die das Wort Lampenfieber nur vom Hörensagen kannte. Logisch also, dass für meine Band nur sie infrage kam. Auch weil wir relativ schnell feststellen durften, dass wir zwei Mädels zusammen mehr Gewitter auf die Ohren brachten als die White Stripes. Hauptgewinn!

Wie man in Berlin Konzerte bucht? Davon haben wir leider überhaupt keine Ahnung. Wir bräuchten dringend eine Agentur, die solche Sachen erledigt: Vorerst die Gigs organisieren und in spätestens zwei Jahren dann bitte auch die Autogrammstunden. Aber wie kommt man nur in diesen Zirkus hinein? Wenn uns kein Manager Auftritte an Land zieht, kommen wir auf keine Bühne – und ohne Konzert wird uns nie ein Agent zu sehen bekommen, der uns unter Vertrag nimmt. Von außen betrachtet ein scheinbar undurchdringlicher Kreis. Aber wenigstens sind wir jetzt in Berlin, am Herz der Szene – und wir haben Talent. Eine Menge Talent. Das wird jeder bestätigen, der uns schon mal live erlebt hat. Und so unterschiedlich können die Geschmäcker in Eberswalde und Berlin ja nun auch nicht sein. Chad Kroeger von Nickelback war auch zuerst ein Lokalheld in seinem kanadischen Örtchen, wo er mit seinen Jungs in abgehalfterten Kneipen Metallica gecovert hat. Und von dort ging es später bis in die ausverkauften Stadien und den Rock-Olymp. Also wenn ER das geschafft hat … trotz dieser Un-Frisur! …

Weil eigene Touren und Konzerte nun aber nicht vom Himmel fallen, müssen Anna und ich mit dem notwendigen Übel eines Umwegs vorliebnehmen. Also starten wir auf dem steinigen Weg zum Publikum: Open-Stage-Veranstaltungen. Von denen gibt es in Berlin zum Glück jede Menge. Für jede Sparte, für jeden Geschmack und in den absurdesten thematischen Aufmachungen. Klampfen für Ruhm und Freibier ist ein beliebtes Motto, aber in der Hauptstadt reicht diese Veranstaltungspalette bis hin zu Welthits auf der Maultrommel und Berlins musikalischste Haustiere. Gut, da ist wie man sieht auch viel Schund dabei – aber umso besser für uns, die wir wirklich was zu bieten haben. Vielleicht ist heute ja schon jemand im Publikum, der unser Talent erkennt, genau nach uns gesucht hat und uns den nächstgrößeren Deal vermittelt?

Und noch einen Vorteil haben diese Veranstaltungen: Sie finden auf fertig eingerichteten Bühnen statt. Mit einer Frage habe ich mich nämlich noch gar nicht weiter beschäftigt: Wie bekomme ich denn in Berlin mein Schlagzeug zu unseren Auftritten transportiert? Ich meine, jetzt, wo Annas Vater unser Equipment nicht mehr mit seinem Auto zu den Gigs kutschiert. Das war wirklich der einzig positive Aspekt an der ständigen Bemutterung ihrer Eltern. »Papa macht dies, Mama sagt jenes.« Wie haben sie das denn während Annas Auslandsjahres durchgezogen? Haben sie abwechselnd ihren Wohnsitz nach Frankreich in ein Gouvernantenzimmer verlegt? Mann! Ich weiß auch nicht, warum mir das so massiv auf die Nerven geht. Eigentlich könnte es mir völlig egal sein. Im gedanklichen Ausblenden von Nervensägen bin ich mindestens Weltmeisterin. Aber wahrscheinlich ärgert es mich einfach stellvertretend für Anna, der es überhaupt nichts auszumachen scheint. Dabei muss sie sich doch irgendwann mal abnabeln! Anna ist neunzehn, wo soll denn das noch hinführen?! Unter diesem oberspießigen Einfluss kann einfach niemand ernsthaft als Rockmusikerin durchstarten! Vielleicht nörgele ich auch nur, weil ich so was eben nicht kenne. Aber ich muss nicht jammern. Ich bin ja nicht die Einzige auf der Welt, die nicht Mama und Papa im Vorgarten herumsitzen hat. Oder sonst wo.

Ach, meine kleine Zettel-Anna, so gut erzogen, so souverän, so diszipliniert. Manchmal fürchte ich, dass ihr meine Sticheleien ganz furchtbar auf die Nerven gehen. Aber ich kann auch offen zugeben, dass es genauso gut möglich ist, dass man speziell diese Eigenschaften braucht, um Erfolg zu haben. Sicher nicht ausschließlich. Aber den Rest bringe ich ja mit. Was nur wieder bestätigt, was für ein perfektes Team wir sind. Ich bin sicher, Anna weiß, dass sie meine allerallerallerbeste Freundin ist. Wenn es passt, ist es doch schnurzegal, wie lange man sich schon kennt.

Der Club, dessen Offene Bühne wir uns für unsere Berlin-Premiere ausgeguckt haben, heißt WiuWiu und ist nur zehn Minuten von unserer neuen WG entfernt – was übrigens auf die meisten der lässigeren Berliner Musikkneipen zutrifft. Yeah! Die wöchentlich stattfindende Veranstaltung im WiuWiu heißt Thirsty Thursday Open Mic. Was auch immer wir uns darunter vorzustellen haben, auf jeden Fall klingt das Programm für uns passender als DonnerSka oder All You Can Jazz, die Open-Stages der Nachbarbars. Also bin ich mal hingeflitzt und habe dem Chef klargemacht, dass wir einfach auf seine Liste MÜSSEN. Anna lässt sich von einem Nein viel zu schnell abschrecken.

Die Live-Musik ist schon in vollem Gange, als wir eintreffen. Der laute Gitarrero auf der Bühne geht eindeutig nicht mehr als Nachwuchs-Musiker durch. Allein sein viel zu weites, viel zu kariertes Hemd hat das Mindesthaltbarkeitsdatum um zwanzig Jahre überschritten. Leidenschaftlich brüllt er halb am Mikrofon vorbei, wackelt ausschweifend mit seiner Gitarre und lässt den Mund auch in den Instrumentalpassagen weit offen. In welcher Sprache er singt, erschließt sich mir beim besten Willen nicht. Irgendwie fetzt er trotzdem, auch wenn Anna schon nach zwei Minuten ihr angestrengtes Gesicht aufsetzt und die Augen abwechselnd zu mir und zur Bühne verdreht.

Ich nehme unterdessen das Publikum im Lokal unter die Lupe. Erstens um herauszufinden, an welchem Tisch andere Musiker sitzen, bei denen wir erst mal Anschluss finden können. Und zweitens schiele ich natürlich schon nach potenziellen Talentscouts oder Agenten im Publikum. Wenn die heute auf Verdacht das WiuWiu gewählt haben, um Berlins nächsten Rohdiamanten und kommenden Szenestar zu entdecken, haben sie ein goldenes Näschen bewiesen, denn hier sind wir! Kawumm! Und wir werden den Vogel heute Abend garantiert abschießen. Umso mehr, wenn man vom bisherigen musikalischen Niveau auf den Rest der Konkurrenz schließen darf. Denn soeben hat der Esperanto-Neil-Young, an dem bei näherem Hinsehen wirklich nichts mehr jung ist, sein Programm beendet, und niemand, wirklich niemand, applaudiert. Zittrig stellt er die Gitarre zurück in den Ständer, steigt bedächtig von der Bühne und schreitet in Schlangenlinien zur Bar, wo der Kneipier gerade an der Stereoanlage die Zwischendurch-Beschallung aufdreht.

Die vier Jungs in den schwarzen T-Shirts am Tisch links von der Bar sind garantiert Musiker, offensichtlich aus der ›Nicht lesbar‹-Fraktion. So haben Anna und ich zusammenfassend die Stilistik all der Metalbands getauft, deren Namen man nicht entziffern kann, weil die Schriftarten zu kryptisch sind.

Als Musikagenten kommen hingegen gleich mehrere der Anwesenden infrage. Vielleicht die zwei Herren in den dunklen Partnerlook-Anzügen, die man auf den ersten Blick nur an der Krawattenfarbe unterscheiden kann und die für diesen Laden eindeutig overdressed sind? Dass sie sich beide, trotz der Dunkelheit im Raum, hinter teuren Sonnenbrillen verstecken, lässt sie tatsächlich irgendwie cool und offiziell aussehen. Aber auch die zwei Kerle mit den Dreitagebärten könnten tendenziell die ›Junior Directors‹ irgendeiner jungen Berliner Musikagentur sein. Optisch gehen sie zwar gar nicht, weil sie offenbar die Röhrenhosen ihrer kleinen Schwestern tragen, in die man sie mit einer speziellen Maschine hineingezwängt haben muss. Aber dafür könnten ihre ernsten Mienen sowie die Tatsache, dass beide Laptops vor sich auf dem Tisch platziert haben, darauf schließen lassen, dass sie in irgendeiner Form im Dienst sind. Und dann ist da noch der geheimnisvolle Einzelgänger ganz hinten im Raum, der fast wie ein alter Geheimagent wirkt, so wie seine Augen stetig durch den Raum schweifen …

Die anderen Gäste sind dann wohl das Publikum. Eine ältere Frau mit zu viel Make-up, die wirkt, als würde sie an ihrem Tisch seit dreißig Jahren auf ein Date warten, ein paar ausgelassene Motorradrocker, eine Gruppe spät-hippieesker Enddreißiger, die wie Waldorflehrer aussehen – kurz gesagt, der Laden ist bunt gemischt und richtig gut gefüllt. Das könnte eine Premiere nach Maß für uns werden.

Auf jeden Fall setzen wir uns zu den Metal-Jungs. So angestrengt, wie die schon herüberschielen, werden die uns nicht nur mit dem Prozedere des Abends vertraut machen, sondern auch unsere Getränke übernehmen, denn wir sind auf jeden Fall die schicksten Mädels im Club. Na gut, auch die einzigen. Egal, trotzdem sind wir der Killer!

Ich schubse Anna in Richtung Metaller-Tisch und die Jungs rücken auf ihrer Bank schon zusammen, um zu unterstreichen, wie viel Platz bei ihnen noch gefüllt werden möchte. »Abend …«, grüßt Anna etwas scheu in die Runde. »Bei euch noch Platz?«

»Aaba selbstvaständlich!«, schallt es uns im breitesten Berlinerisch fröhlich entgegen. Ein bärtiger Schlacks mit langen schwarzen Haaren breitet seinen Arm als Willkommensgeste aus. Okay, eigentlich haben sie alle lange dunkle Haare und unterstreichen damit den merkwürdigen Eindruck, jeder Kneipentisch hätte hier ein spezielles geheimes Faschingsmotto.

»Pflanzt euch irjendwo hin, wo et jemütlich is.« Die Jungs wirken sympathisch und so heiter, als hätten sie, getreu des Thirsty Thursday-Mottos, schon seit einer Weile fleißig Durst gelöscht.

»Blondet?«, fragt der etwas kompaktere Metal-Jünger zu meiner Rechten.

Ich verstehe nicht. »Na, wollta’n Bier, een kühlet Blondet?«, präzisiert er.

Ich muss grinsen. Der Abend läuft wirklich nach Maß.

Die Ur-Berliner Karsten, Andy, Helli und Sylvio sind wie vermutet eine Band. »Jetzt spielen noch die Trommel-Heikos und dann sind wir dran. Wir zimmern euch ein schönes Metal-Brett«, kündigt Helli an.

»Det is aber eher Hobby«, präzisiert Karsten abwinkend. »Drei studieren und Sylvio jeht malochen.«

Die Jungs sind witzig und unterhaltsam, auch wenn sie eindeutig zu viel trinken. Sofort nehmen sie uns unter ihre Fittiche. »Rechts von der Bühne jibts’n Aushang«, erklärt uns Karsten. »In der Reihenfolge wird jespielt, fertig.«

»Und det Bier kostet nur Einszwanzich für Musiker«, freut sich Andy.

»Ja, weil, musikalisch sind wir eigentlich gar nicht so ambitioniert«, pflichtet Sylvio bei, »aber billiger kriegste hier im Viertel nüscht zu trinken!«

»Schön, dass ihr da seid!« Karsten klopft Anna heftig auf die Schulter. »Sonst spielen hier immer nur die gleichen Köppe, det is auf Dauer öde. Also vier Fans habt ihr schon.«

Die Aushangtafel mit den Bands ist komplett voll und klingt ebenso bunt wie vielversprechend. Ganz unten auf der Liste stehen The Analysts – unser vorläufiger Bandname, den wir behalten, bis uns etwas Knalligeres oder wenigstens ein besseres Wortspiel mit unseren Vornamen eingefallen ist. Ich überfliege die Liste: Okay, Fireahmd sind offenbar die Metal-Jungs und von den anderen Acts wie Vollgas, Jutta Janis oder Joe Köpenick werde ich mich einfach überraschen lassen. Ich frage mich nur, wann diese Bands wohl eintrudeln werden? Zumindest die nächste Truppe, angekündigt als African Urbans, müsste ja schon irgendwo in der Nähe sein. Ich sehe mich um … und entdecke zu meinem Erstaunen, dass es sich bei der nächsten Band um die Waldorflehrer handelt, die gerade in aller Seelenruhe ein paar Trommeln nach vorne schleppen, während der Barmann das Radio wieder abdreht und, wie ein Rummelplatz-DJ nach sechs Stunden im Autoscooter-Kassenhäuschen gelangweilt in sein Mikrofon nuschelnd, die Sozial-Eurythmisten auf der Bühne tatsächlich als die African Urbans ankündigt. Deren Congaspiel empfinde ich schon nach den ersten Takten als extrem unafrikanisch. Sie sind unrhythmisch, vom Bier oder vom Gras heftig angezählt – und dass sie über alle ihre Songs »Hava Nagila« singen, macht das Konzept irgendwie auch nicht tragfähiger. Nun gut. Je später der Abend, sage ich mir.

Auch die Lehrer ernten beim Publikum wenig Resonanz. Währenddessen verbrüdern wir uns mit unseren schwarzhaarigen Tischnachbarn und versprechen angesichts ihres Lampenfiebers, das sie mit ungesunden Biermengen fortzuspülen versuchen, unsere volle und lautstarke Unterstützung.

Sylvios Ankündigung, Fireahmd seien musikalisch nicht übermäßig ambitioniert, erweist sich als wahr. Zumindest gilt es für ihn als Drummer. Die Qualität des Gitarristen und des Bassisten ist schwer einzuschätzen, weil sie im Lärmpegel des Schlagzeugs und Hellis kreischender Stimme kaum zu hören sind. Zu sehen sind sie auch nicht, denn wild schütteln sie sich die langen Haare vor die Gesichter und bringen, die Oberkörper tief gebeugt und die Instrumente knapp über dem Boden hängend, ihre Metal-Show über die Bühne, ohne auch nur einmal ins Publikum zu blicken. Es ist ein bisschen unangenehm, dass wir, nachdem der letzte Akkord ausklingt, die Einzigen sind, die jubeln und klatschen. Leute?! Okay, das war vielleicht keine musikalische Meisterleistung, aber langsam nervt mich dieses Publikum. Warum besucht man denn ein Konzert, wenn einem die Musik schnurzegal ist?! Anna und ich schauen uns verwundert an und jubeln dann umso lauter.

Mit frischen Getränken – natürlich auch für uns – kommen die Metaller zurück zum Tisch und bedanken sich ausgiebig für unsere Unterstützung. »Mensch, ick komm mir vor wie’n Rockstar«, freut sich Andy. Wir stoßen an und unterhalten uns weiter prächtig, auch wenn mich der Kneipenabend um uns herum immer mehr irritiert. Denn als die Band Vollgas angekündigt wird, poltern auch die Motorradrocker zur Bühne, um in ohrenbetäubender Lautstärke schnelle, monotone Hardrock-Nummern durch die Anlage zu hämmern. Wer ist denn hier eigentlich das Publikum? Für wen bitte sollen wir nachher spielen?

Nun ja, zumindest die von mir ausgemachten möglichen Musikagenten halten meine Hoffnung aufrecht, dass sich unser Auftritt noch lohnen wird.

Aber auch die Hipster-Zwillinge entpuppen sich später als Duo mit schmalzigen Zwei-Akkord-Songs und pseudo-intellektuellen Texten. Als Instrumente bedienen sie eine Piano- und eine Schlagzeug-App auf ihren Tablet-PCs. Von diesem skurrilen Auftritt bekommt an unserem Tisch außer Anna und mir allerdings schon niemand mehr etwas mit, denn die Metaller, die uns zuvor noch lautstark versichert hatten, dass sie uns heute Nacht noch Berlin zeigen, liegen mittlerweile mit den Köpfen neben ihren Gläsern auf dem Tisch und haben sich offensichtlich vom günstigen Bierpreis überfahren lassen.

Die Elektro-Hipster sind wider Erwarten nicht das Ende des musikalischen Niveau-Fahrstuhls: Als der Barkeeper Jutta Janis ankündigt, erhebt sich die überschminkte alte Frau von ihrem Glas und steuert auf die Bühne zu. Was folgt, ist ein Janis Joplin-Coverprogramm. Und zwar a cappella. Als sich am Tisch vor der Bühne einer der Motorradrocker nach vorn beugt, um sich auf seine Stiefel zu übergeben, fällt es mir schwer, zu sagen, ob sein Trinkverhalten oder nicht doch der verstörende Walgesang der Oma verantwortlich ist. Wow!

Als sich die Liste der verbleibenden Bands ebenso wie die Anzahl der letzten aufrechten Köpfe in der Kneipe schon deutlich gelichtet hat, gehen auch die beiden Anzug-und-Sonnenbrille-Männer auf die Bühne. Selbst Anna, die vor Konzerten eigentlich nie trinkt, ist mittlerweile zum Alkohol übergegangen. Wir prosten uns mit müden Augen zu und unsere Blicke verraten, dass wir im gleichen Maße verbittert über den Verlauf dieses Abends sind. Ich schaue ernüchtert zur Bühne und es wurmt mich, wie gut die zwei Pinguine noch musizieren; eine Blues-Brothers-Nummer, die man für jede gehobene Dinnershow buchen könnte. Aber in der Kneipe juckt es einfach niemanden mehr. Nur der dicke Geheimagent sitzt noch aufrecht in seiner Ecke und überwacht den Raum. Bitte, bitte, James Bond! Du bist meine letzte Hoffnung. Nur noch eine Nummer, dann sind wir dran. Wenn wenigstens du ein Agent und wirklich auf Talentsuche bist und hier bis zum Schluss durchgehalten hast, wird es die beste Entscheidung deines Lebens gewesen sein. Dann darfst du dir von mir aus eine goldene Nase an uns verdienen, wenn du uns nur in die Stadien buchst. Und in zehn Jahren denken wir lachend an diesen Abend zurück. Abgemacht?!

Die Blues Brothers sind fertig und steuern von der Bühne direkt zur Tür hinaus. Laut Liste kämen jetzt nur noch Joe Köpenick, die der Barmann bereits aufruft; aber da in der Kneipe offensichtlich keine spielfähige Band mehr wartet, sind wir wohl jetzt an der Reihe. Mit weit aufgerissenen Augen schielt der Agent von seinem Tisch aus herüber. Ich stupse Anna an, der schon die müden Augen zufallen. »Gleich geht’s los!«

»Joe Köpenick«, ruft der Barmann noch einmal durch sein Mikrofon und ich stehe auf, um ihm Bescheid zu geben, dass wir einspringen werden.

Aber noch jemand erhebt sich. Langsam. Ganz langsam. Es darf nicht wahr sein: James Bond hangelt sich an seiner Tischkante entlang und torkelt mit rudernden Armen in Richtung Bühne. »Have a little faith in me«, grölt er lallend durch den Raum und greift nach dem Mikrofonständer, um daran die Bühne zu erklimmen. Chancenlos. Er reißt Mikrofon, Notenständer und Gitarre mit sich, als er hintenübertaumelt und grummelnd dem schlafenden Motorradrocker vor die verdreckten Stiefel fällt.

OMG. Epic Fail. Danke, Berlin, für diesen rauschenden Empfang. Mir ist schlecht.

3

Na gut, das war wohl nichts. Ich gebe zu: Als wir gestern Nacht müde und enttäuscht nach Hause stolperten, war ich entsetzlich demotiviert. Lise, die ohne Luft zu holen das WiuWiu und alle dort anwesenden Musiker verbal unter das Berliner Pflaster stampfte, forderte lautstark eine eigene Bühne. Zuerst beschloss sie, dass wir – unter verschiedenen Alibinamen – die Auftrittsliste eines ganzen Abends blockieren müssten. Dann schmiedete sie Pläne, wie man das Publikum dieses Exklusivauftritts optimieren könnte. Die Idee, alle Musikproduzenten und -agenten Berlins zu unserem Abend zu locken, indem man ihnen das Gerücht zu Ohren kommen ließ, die Rolling Stones gäben ein geheimes Konzert, um neue Geschäftspartner zu finden, war noch der tauglichste ihrer Pläne. Und als Lise einsah, dass all das – wenigstens heute Nacht – nicht mehr realisierbar wäre, forderte sie, dass wir dann wenigstens Joe Köpenicks Heimadresse ausfindig machen und in seinem Vorgarten alles umreißen sollten, von dem ER sich vielleicht etwas erhofft hat. Ich weiß nicht, wo ich noch die Kraft hernahm, sie davon abzuhalten und nach Hause zu bugsieren …

Positiv:Negativ:… gestrichen!