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Das Buch

Eigentlich ist Heini Hinrichsen ein ganz lieber Kerl. Der Tätowierer aus Hamburg sieht zwar ziemlich wild aus, doch er sehnt sich nach Liebe. Als sein Vater stirbt, kehrt er zurück in die Heimat auf die schöne Norseeinsel Süderum. Das Erbe: ein altes Haus und ein hochverschuldetes Bestattungsunternehmen. Außerdem weckt die Insel Erinnerungen an seine Kindheit. Mit seiner Stiefmutter sollte er sich auch endlich mal versöhnen. Mit Hilfe eines alten Schulfreundes und einer wunderschönen, lispelnden Floristin macht er sich auf und stellt fest: Die Nordseeküste stellt sein Leben gründlich auf den Kopf.

Die Autorin

MARIE MATISEK führt ein chaotischen Haushalt mit Mann, Kindern und Tieren im idyllischen Umland von München. Neben dem Muttersein und der Schreiberei pflegt sie ihre Hobbys: Kochen, ihren Acker umgraben und Kröten über die Straße helfen.

Marie Matisek

Und ewig

singen die Krabben

Ein Küsten-Roman

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ISBN: 978-3-8437-1057-2

© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: ZERO, München
Umschlagabbildung: Michaela Spatz

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Meinem Mann und seinem Vater

1991

Ein Herbstabend auf Süderum

Er lag mit weit aufgerissenen Augen im Bett und starrte an die Decke. Da oben leuchteten die Sterne. Mama hatte sie dorthin geklebt. Damit er keine Angst hatte, damit es nie ganz dunkel war.

Heini klammerte sich Abend für Abend an den schwach gelblichen Schimmer der glimmenden Plastiksterne. Vor wenigen Sachen hatte er so große Angst wie vor dem Einschlafen. Er hatte Angst vor bösen Zauberern oder Hexen, die es nur darauf abgesehen hatten, den kleinen sechsjährigen Heini Hinrichsen in seinem hellblau-weiß gestreiften Frotteepyjama zu entführen. Deshalb mussten Mama oder Papa immer unter dem Bett nachsehen, ob die Luft rein war. Sie mussten den Kleiderschrank durchsuchen und einen Blick hinter die Vorhänge werfen. Außerdem passte Lupo auf ihn auf, der große braune Plüschhund, der mal so groß wie Heini gewesen war. Mittlerweile überragte Heini Lupo um das Doppelte, aber dennoch war es der Plüschhund, der über den kleinen Jungen wachen musste. Lupo war beileibe nicht der einzige Aufpasser in Heinis Bett, aber der wichtigste. Da waren noch Schweini, Pieps und Muckelchen. Natürlich Monchichi, Kängu und Bibo aus der Sesamstraße. Viel kleiner als der echte Bibo, zu Heinis großem Verdruss. Ja, wenn er einen Bibo hätte, der so groß wäre wie der aus dem Fernsehen, dann könnte sich der arme Lupo abends auch mal aufs Ohr legen und mit Bibo beim Wacheschieben abwechseln. Aber so …

Es donnerte auf einmal so krachend, dass es sich anhörte, als wäre eine Bombe im Nebenzimmer eingeschlagen, und Heini verkroch sich noch tiefer unter die Bettdecke. Zu der Angst, die er ohnehin jeden Abend vor dem Einschlafen hatte, kam heute noch ein schreckliches Gewitter hinzu. Es zog bereits seit Stunden über die Insel, das Donnern und die Blitze waren mal weiter weg, mal näher dran.

Heini hatte überhaupt nicht ins Bett gehen wollen, aber nach »Meister Eder und sein Pumuckl«, einer warmen Badewanne und einem Teller Wurstbrote war Mama unerbittlich gewesen. Sie hatte ihn in sein Zimmer begleitet und sich an sein Bettchen gesetzt. Sie hatte mit ihrer leisen, etwas kratzigen Stimme gegen das schreckliche Gewitter angesungen, alle Schlaflieder, die sie kannte. Und sie hatte ihm dabei ganz sanft den Unterarm gestreichelt.

Heinis Mama hatte lange gepflegte Fingernägel, und wenn sie damit ganz zart auf der Innenseite der Unterarme hin und her fuhr, schlief Heini normalerweise binnen Minuten tief ein.

Aber nicht heute. Es krachte so entsetzlich draußen, dass Heini sicher war, sein letztes Stündlein habe geschlagen.

Schließlich aber hatte seine Mama geseufzt, ihm die Bettdecke übers Kinn gezogen, sie außenrum festgesteckt und war aufgestanden.

»Schlaf schön, mein Kleiner.«

»Mama! Du sollst nicht gehen!«

»Ich muss zur Generalprobe, mein Schätzchen. Aber schlaf du schön.«

»Ich kann nicht! Mama, ich hab Angst!« Heini schluchzte ein paarmal theatralisch. Wie gerne hätte er ein paar Tränen verdrückt. Ihm war hundeelend zumute, er fürchtete sich über alle Maßen, aber leider blieben seine Augen trotz der hervorgepressten Schluchzer trocken.

Seine Mama beugte sich noch einmal zu ihm hinunter und küsste ihn zärtlich auf beide Backen.

»Papa ist zu Hause. Der guckt nach dir. Und wenn ich wiederkomme, schau ich auch sofort in dein Zimmer. Du wirst sehen: Dann schläfst du ganz tief. Mach dir keine Sorgen, das ist nur ein Sturm.«

Sie lächelte ihn an und dann verließ sie das Zimmer.

Und jetzt lag der kleine Heini hier in seinem Bettchen und fürchtete sich. Er dachte an den Häwelmann. Das Märchen hatte Mama ihm oft vorgelesen. Aber er mochte es nicht. Er konnte diesen Häwelmann einfach nicht verstehen. Wieso wollte der denn unbedingt hinaus aus seinem Bettchen, aus seinem Zimmer, weg von seiner Mama? Dieser doofe Häwelmann. Jedes Mal wenn Mama die Stimme nachmachte und rief: »Mehr! Mehr!«, wunderte sich Heini über ihre Begeisterung. Von ihm aus hätte der Häwelmann ruhig in dem See ertrinken können. Was fuhr er auch in der Nacht umher, noch dazu ohne sein Hemdchen und dann dem guten alten Mond über die Nase!

Heini wollte nachts um keinen Preis hinaus in die Welt, er wollte schlafen, ohne an Hexen, Zauberer und Gespenster denken zu müssen. Er wollte, dass Mama neben ihm saß und seinen Arm bis zum nächsten Morgen streichelte.

Jetzt zuckte ein Blitz über das schräge Dachfenster von Heinis Zimmerchen, gleichzeitig krachte es erneut. Von Papa hatte Heini gelernt, dass man zwischen Donner und Blitz zählen musste. Je mehr man zählen konnte, desto weiter war das Gewitter entfernt. Heini konnte locker bis hundert zählen, er wusste also Bescheid, aber gerade eben hatte er zum Zählen noch nicht einmal den Mund öffnen können, geschweige denn »Eins« sagen.

Panisch packte Heini seinen Lupo, schlug die Bettdecke zurück und flitzte auf nackten Füßen über die Holzdielen zur Tür.

Er riss die Tür auf und zögerte kurz. War es richtig, jetzt das Zimmer zu verlassen? Draußen im Treppenhaus war es stockfinster. Zum Glück befand sich der Lichtschalter gleich neben seiner Tür und Heini drückte ihn. Mit der anderen Hand presste er Lupo fest an sich.

Endlich wurde es hell, Heini musste blinzeln und seine Augen an das grelle Licht gewöhnen. Dann rief er angstvoll in das Treppenhaus: »Mama! Mama!« Keine Reaktion, natürlich, Mama war ja bei der Generalprobe. Und Heini wusste, wenn Mama beim Chor war, dann kam sie immer erst spät nach Hause. Also rief er nach seinem Vater. Er hoffte, dass dieser nicht vor dem Fernseher saß, denn dann hatte er immer so laut den Ton an, vor allem wenn er Fußball guckte, dass er außerhalb seines Fernsehsessels gar nichts hörte.

Heini beugte sich über das Geländer und schrie laut. Keine Reaktion.

Heini versuchte es noch mal, so laut, dass sich seine Stimme überschlug. »Papa!« Draußen donnerte es wieder, kurz darauf ein Blitz. Heinis kleines Herz schlug bis zum Hals. Er hörte, wie der Sturm ums Haus heulte, und vor seinen Augen sah er die Hexen auf ihren Besen den Schornstein umkreisen. Ob das Haus ihren Attacken standhalten würde? War der Kamin so breit, dass die Hexen hineinschlüpfen konnten? Schon oft hatte der kleine Heini sich gewünscht, dass er nicht das einzige kleine Zimmer unterm Dach bewohnen würde. Wäre es nicht viel besser, er hätte sein Zimmerchen im ersten Stock, direkt neben dem Schlafzimmer von Mama und Papa? Aber seine Eltern hatten es gut gemeint, als sie ihm das kleine Dachzimmerchen eingerichtet hatten. Papa meinte, es sei wie der Ausguck auf einem Piratenschiff, und an guten Tagen war es das auch. Heini konnte, wenn er sich auf einen Stuhl stellte, aus seiner schrägen kleinen Dachgaube über die Fontanestraße hinweg bis zum Meer sehen! Wenn Moritz zu Besuch kam, sein Freund aus dem Kindergarten, dann spielten sie meistens Piratenschiff, und natürlich war dort oben der Ausguck. Von hier konnten sie genau beobachten, ob sich feindliche Schiffe näherten, und aus ihren Pistolen auf die Angreifer feuern.

Aber im Moment war kein guter Tag, sondern vielmehr eine böse Nacht. Heini hatte weder Moritz noch eine Pistole zur Hand. Nur Lupo. Mama war nicht da und Papa hörte ihn nicht, also blieb ihm nichts anderes übrig, als barfuß durch das kalte und zugige Treppenhaus zu laufen, auf der Suche nach Hilfe.

Seine kleinen Füße tapsten flink über die Stufen in den ersten Stock. Badezimmer, Schlafzimmer, kleine Stube – rasch hatten Heini und Lupo alle Türen geöffnet. Dabei rief Heini ohne Unterlass nach seinem Papa. Aber die Räume waren dunkel, kein Papa, nirgends. Nun musste Heini hinunter ins Erdgeschoss. Mittlerweile war er schon ganz durchgefroren, die Füße waren eiskalt und er zitterte unter seinem Frotteepyjama.

Er presste Lupo an sich und lief zur Wohnzimmertür. Es war seltsam still dahinter, man hörte im ganzen Haus nur das Heulen des Sturms, Ächzen im alten Dachstuhl, Blitz und Donner.

Heini griff nach der kalten Messingklinke und drückte diese hinunter. Er musste nur einen kleinen Spalt öffnen, um zu sehen, dass sein Vater nicht vor dem Fernseher saß. Es war kein Licht im Wohnzimmer. Auch sah er nicht das bläuliche Flackern der Röhre. Das Wohnzimmer war menschenleer und Heini zog die Tür sofort wieder zu. Ein letzter verzweifelter Schrei nach seinem Papa entrang sich seiner Kehle, dann kauerte sich der kleine Junge auf der untersten Treppenstufe zusammen. Er wusste, was passiert war. Die bösen Geister und Hexen hatten seine Eltern geholt. Tief in sich drinnen war Heini alt genug, um zu wissen, dass diese Vorstellung irgendwie nicht der Wahrheit entsprechen konnte, und doch gab es keine andere Erklärung für die Abwesenheit seiner Eltern. Niemals hätten Mama und Papa ihn abends alleine gelassen. Niemals. Noch dazu, wo sie beide wussten, wie sehr sich ihr kleiner Sohn vor der Nacht und der Dunkelheit fürchtete.

Heini weinte ein paar bittere und ängstliche Tränen, aber davon bekam er fürchterlichen Durst. Er wischte seine Triefnase an Lupos Fell ab, das von den Tränen schon ganz nass war, und nahm die Küche ins Visier. Hier hatte er seinen Vater noch nicht gesucht, aber die Tür zur Küche stand immer offen, er hatte also gleich gesehen, dass auch dieser Raum dunkel war.

Heini stand auf und dachte sich, dass es sicher nicht schlimm war, wenn er jetzt, da sowieso alles vorbei war und er eine arme Waise, eine von Papas Colas trinken würde. In all seiner tiefen Verzweiflung über das schlimme Schicksal seiner Eltern durchzuckte ihn eine winzige diebische Freude, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Vielleicht hatten die Bösen ihn nur einfach nicht gefunden. Und er würde ab sofort ganz allein in dem großen Haus leben. Und niemand würde ihm sagen, wann er den Fernseher ausmachen sollte und dass er sich die Hände gefälligst waschen sollte, bevor er sich etwas zu essen nahm. Heini öffnete den Kühlschrank und wie erwartet stand neben der Packung Vollmilch die kleine Flasche mit der Cola, die seine Mama stets für seinen Papa dort bereithielt.

In der Regel trank sein Papa nach der Arbeit Bier, aber ab und zu, meistens am Samstag nach dem Autowaschen, seufzte er und sagte: »Ach, jetzt könnte ich mal ’ne Cola vertragen.« Und dann zauberte Mama das kleine Glasfläschchen mit der geschwungenen Aufschrift aus dem Kühlschrank.

In Gedenken an seine Eltern schluchzte Heini pflichtschuldigst, aber bei dem Gedanken, jetzt gleich die absolut und unter Todesstrafe verbotene giftige Limo in sich hineinzuschütten, gerieten sowohl seine Eltern als auch das schreckliche Gewitter und alle bösen Geister sowieso in den Hintergrund. Jetzt galt es, diese Flasche aufzubekommen. Heini hatte wohl hundertmal bei seinem Vater zugesehen, wie dieser mit dem Flaschenöffner sowohl die Cola als auch seine Bierflaschen aufhebelte, aber jetzt, wo er mit seinen kleinen weichen Fingern an dem Verschluss zog, erwies sich die Sache als weniger leicht als gedacht. Irgendwann schließlich gelang es Heini, die Zunge in den Mundwinkel geklemmt, den Metallverschluss aufzuhebeln. Dabei hätte er um ein Haar die ganze Flasche ausgekippt, so unerwartet hob sich der Deckel vom Flaschenrand. Eine braune Pfütze breitete sich auf dem Küchenboden aus, aber Heini tapste nur drum herum, anstatt diese aufzuwischen. Er war ein armes Waisenkind, also wen scherte schon die klebrige Pfütze?

Als der kleine Junge wieder in die Diele zurückkehrte, bemerkte er, dass die Tür zu den Geschäftsräumen einen schmalen Spalt offen stand und dahinter Licht war.

Heinis Herzchen machte einen Sprung! Sein Papa war noch mal an die Arbeit gegangen! Natürlich, warum hatte er nicht gleich daran gedacht! Es kam öfters vor, dass sein Vater sich nach einem abendlichen Telefonanruf stöhnend aus dem Fernsehsessel erhob und etwas von »… noch einen auf den Tisch gekriegt« murmelte. Dann küsste er Heinis Mama auf die Stirn, die diese nur böse runzelte und den Kopf schüttelte, und verschwand nach nebenan.

Die Geschäftsräume waren von ihrem Privathaus aus zugänglich, sie waren von der Diele der Hinrichsens nur durch eine dünne Tür getrennt. Manchmal hörte Heini, wie die Leute dort drüben bei seinem Papa weinten. Aber er ging selten nach drüben, es gefiel ihm dort ganz und gar nicht. Nur wenn Moritz drängelte, dann ließ er sich dazu herab, seinem Freund die Vorhalle zu zeigen. Moritz war so neugierig, er wollte immer alles sehen und alles wissen, was Heinis Vater so arbeitete. Aber Heini hatte selbst nur eine vage Vorstellung von dem, was sein Vater tat, und um sich selbst keine Blöße zu geben, überredete er Moritz immer ganz schnell, wieder in ihre privaten Räume zurückzukehren.

Aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig. Das Gewitter tobte mit unverminderter Kraft um das alte Haus und um nichts in der Welt wäre Heini jetzt alleine wieder ins Bett gegangen.

In der einen Hand die Cola, in der anderen Lupo, zwängte sich der kleine Junge durch die Tür, die zum Geschäft seines Vaters führte. Nun stand Heini in der Vorhalle, dort, wo sein Papa die Leute empfing, die zu ihm kamen. Dicke Auslegware dämpfte jedes Geräusch, der große Strauß mit den weißen Lilien, der immer in der Ecke stand, verströmte einen schweren süßlichen Geruch. Mama bestand darauf, dass die Lilien immer frisch waren, auch wenn Sune, Heinis Papa, fand, dass dies zum Fenster rausgeschmissenes Geld war. Aber Mama ließ keinen Widerspruch zu, lächelte sanft und arrangierte Woche um Woche einen frischen Strauß Lilien.

Die Vorhalle war nur matt erleuchtet, nicht die Deckenbeleuchtung war eingeschaltet, sondern die kleine weiße Tischlampe nahe des Eingangs. Aber Heini konnte dennoch erkennen, dass die Tür zum Keller offen stand, und von dort unten drang nicht nur Licht zu ihm herauf, sondern auch Musik. Heini hatte jetzt die Gewissheit, dass sein Papa im Keller war und arbeitete, aber er war dennoch verunsichert. Es war ihm nämlich streng verboten worden, jemals diese Kellertreppe hinabzusteigen. Sein Vater, der sich viel im untersten Stockwerk aufhielt, hatte Heini eindringlich davor gewarnt. Irgendwann, hatte Sune gesagt und mit seiner großen Hand Heinis Haare durchwuschelt, irgendwann sei Heini groß genug, dass er in den Keller dürfe. Aber niemals – und das musste Heini seinem Vater hoch und heilig versprechen – , niemals durfte er die Kellerräume ohne Erlaubnis betreten.

Heini stand also frierend in der Vorhalle und zögerte. Er hatte schreckliche Angst, das hatte auch die Cola nicht ändern können – die im Übrigen lange nicht so gut wie kalte Milch mit Kaba schmeckte –, und er wollte unbedingt, dass sein Papa kommen und ihn hochheben und ins Mama-Papa-Bett tragen würde.

Aber sein Papa war dort unten, im verbotenen Keller, und er schien die verängstigten Rufe seines Sohnes nicht hören zu können, weil er so laut Musik hörte.

Es donnerte, dass das Haus wackelte, und Heini überlegte nicht mehr weiter. Stattdessen lief er angsterfüllt die Kellertreppe hinunter und rief nach seinem Papa.

»I am sailing«, tönte es zunehmend lauter aus dem Keller, Sune Hinrichsens Lieblingslied, das er gerne aus voller Kehle mitgrölte.

Die Kellertreppe wand sich in zwei Drehungen nach unten, und je schneller Heini lief, desto lauter wurde die Musik und desto heller das Licht. Heini vergaß vor Erleichterung, gleich seinen Papa in die Arme zu schließen, dass er sich auf verbotenem Terrain befand, und rannte die Treppe hinab, so schnell ihn seine kleinen Beinchen trugen.

Unten angekommen, stand er vor einer geöffneten Tür, hinter der sich ein Gewölbekeller mit weißen Wänden und hellem Licht befand. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, dahinter sein Vater mit einem grünen Kittel und Gummihandschuhen. Vor ihm auf dem Tisch lag unter einem Tuch ein Mensch, nur der Kopf guckte aus dem Tuch hervor.

Im gleichen Moment, als Heini die Szene erfasst hatte, krachte ein Blitz ganz in der Nähe. Der Junge zuckte zusammen, ließ die Cola fallen, sein Vater, der sich an dem Menschen auf dem Tisch zu schaffen machte, guckte hoch, starrte Heini an und dieser begriff in der gleichen Sekunde, das der Mensch auf dem Tisch ein Toter war.

Er schrie so laut, wie er noch nie in seinem sechsjährigen Leben geschrien hatte, bevor es um ihn herum schwarz wurde.

1

Hamburg, August

Seit einer gefühlten Stunde kurvte Heini nun schon ums Karree. Er schlug wütend auf sein Lenkrad und fluchte leise. Er war drauf und dran, die Nerven zu verlieren. Ihm stand der wichtigste Termin seines Berufslebens bevor. Wenn Ali Hassan ihn nach der heutigen Sitzung pries, dann würden die Leute ihm die Bude einrennen!

Und dann so was. Kein Parkplatz. Natürlich nicht, man bekam in seinem Viertel nie einen Parkplatz. Schon gar nicht, wenn man einen uralten Volvo 240 fuhr, fast fünf Meter lang. In der Regel ließ Heini den Wagen einfach stehen, wenn er es mit viel Glück und Satans Willen geschafft hatte, irgendwo einen Platz zu ergattern, und vermied es anschließend tunlichst, damit zu fahren. Heute aber hatte er mit dem Auto fahren müssen, er transportierte die Jugger-Rüstungen seiner Mannschaft. Keiner von den Jungs und Mädels hatte eine Karre, in die so viel von dem Zeugs reinpasste wie in seine. Also stapelten sich um ihn Langpompfen und Schilder, Q-Tips und Stangen – alles, was man für ein Jugger-Spiel brauchte. Das Tor hatten sie auch noch hineingequetscht.

Susannenstraße, Blinker links gesetzt, in die Bartelsstraße eingebogen, immer noch nichts. Die Autos standen schon in zweiter Reihe, selbst die Einfahrten waren zugeparkt.

Heini sah schwarz für seine Zukunft. Wenn er zu spät zum Termin kam, dann war die große Chance mit Ali Hassan für immer vorbei. Und nicht nur das: Er würde niemals eine zweite bekommen. Denn das hier war Ali Hassans Hood. Und wenn der verbreitete, dass Heini ein Loser war, der es wohl nicht nötig hatte, den Boss der Bosse zu stechen, dann konnte Heini seinen Laden dichtmachen. Dann wären die Einzigen, die noch zu ihm kämen, die dämlichen kleinen Touristen-Teenies aus Paderborn oder Eisenach, die sich mit zwei Hanse-Pils so viel Mut antranken, dass sie sich von ihm ein Lippenpiercing machen ließen. Für 15 Euro. Dann kicherten sie und kamen sich wer weiß wie wild vor.

Heini stöhnte. Noch zehn Minuten, dann würde Ali Hassan auf seiner Harley angeknattert kommen, mitsamt seinem Tross, und sich in Heinis sensible Künstlerhände begeben. Er brauchte einen Parkplatz!

Und siehe da, es war, als ob seine Flüche erhört würden. Ein paar Meter weiter parkte ein Lieferwagen aus, schräg gegenüber seines Studios! Heini drückte aufs Gas und der schwere Wagen schoss nach vorne. Er wollte verhindern, dass ihm in letzter Sekunde einer den Platz streitig machte. Es war der einzige Behindertenplatz in der Straße, der frei wurde. Der Platz war für den einbeinigen Klaus reserviert, aber das ignorierte Heini. Wie eigentlich alle, die einen Parkplatz suchten und früher oder später auf dem von Klaus landeten. Der kannte das schon und wartete dann stoisch in der zweiten Reihe ab, bis der von ihm gerufene Abschleppdienst kam und den Falschparker einkassierte.

Das war es Heini heute wert. Alles war im Moment wichtiger, als Ali Hassan zu verärgern. Heini parkte hektisch ein und hastete dann quer über die Straße auf seinen kleinen Laden zu.

»The Grave – Tattoo« stand in kunstvoller Schnörkelschrift über dem winzigen Ladenlokal. »The Grave«, das war Heinis Spitzname von Jugend an. Moritz, sein bester Kumpel aus Kindertagen, hatte den Spitznamen irgendwann aufgebracht, als sie im pubertären Apfelschnapsrausch über die Westeruper Strandpromenade getorkelt waren. »The Grave«, das hatte sich Heini gerne gefallen lassen. Dieser Spitzname war alles andere als provinziell, ja er war düster, abgründig und auf alle Fälle international.

Als er vor fünf Jahren sein kleines Tattoo-Studio eröffnete, hatte es keinen Zweifel gegeben, wie es heißen sollte. Die Gestaltung des Schaufensters mit den stilisierten Raubtier- und Schlangenleibern, die Schrift, in der der Name über der Tür gestaltet war (und die nachts neonorange flackerte), und natürlich die Deko des Ladens selbst – all das war Heinis Werk.

Er hatte sich als Tätowierer – und da begriff er sich natürlich als Künstler – auf zwei große Themen spezialisiert: den Tod in all seiner Symbolik und Tiere. Heini »The Grave« Hinrichsen war im Herzen Hindu, er glaubte fest daran, dass alle Tiere eine alte Seele besaßen. Und Heinis Anspruch war es, mit seinen Tattoos diese Seele sichtbar zu machen.

Mit Blumen, nackten Frauen und Comicfiguren hatte Heini so seine Probleme. Diese Motive stach er nicht gerne und deshalb war er nicht besonders gut darin. Das sollten andere machen. Das Problem war, dass es in Heinis Kiez genug andere gab. Sankt Pauli, Altona, die Sternschanze – gepflastert mit Tattoo- und Piercing-Studios. Ein Künstler wie Heini, der sich auch noch spezialisierte und nicht einfach alles anbot, hatte starke Konkurrenz. Heini dümpelte seit Jahren mit seinem kleinen Laden vor sich hin und konnte gerade mal sich und seine Handvoll Tiere über Wasser halten. Immer wieder musste er Stütze beziehen, weil seine Einkünfte nicht reichten.

Und dann war eines Tages dieser Typ sturzbesoffen in Heinis Laden getorkelt. Ein Kosovo-Albaner, dem die schlechten Knasttätowierungen schon aus dem Ausschnitt lugten. Die Skizze der Königskobra aus der Schaufensterdekoration hatte es ihm angetan. Der Typ hatte sich bäuchlings auf Heinis Liege geschmissen, den Oberkörper entblößt und die Hose bis zum Maurerdekolleté heruntergezogen. Dann hatte er etwas gegrunzt und war schließlich laut schnarchend eingeschlafen. Heini hatte gerade so viel verstanden, dass der Typ wollte, dass die Kobra von dort unten emporsteigen sollte.

Heini hatte über dem stinkenden Körper des Typen gestanden und war sich nicht sicher gewesen, wie er mit der Situation umgehen sollte. Es kam öfter mal vor, dass ein Betrunkener in seinen Laden kam und sich irgendetwas stechen lassen wollte, aber Heini schaffte es immer, diese Kunden davon abzuhalten. Er wollte unbedingt vermeiden, dass die Leute im nüchternen Zustand ihre Absicht, sich stechen zu lassen, bereuten und Regressforderungen an ihn stellten. Also bat er Kunden, die einen gewissen Alkoholpegel überschritten hatten, am nächsten Tag nüchtern wiederzukommen – was sie so gut wie nie taten. Entweder weil sie einfach nicht nüchtern wurden oder weil sie es sich anders überlegt hatten.

Bei diesem Typen lag die Sache anders. Er war sternhagelvoll, das schon. Vielleicht wusste er auch nicht, was er tat, konnte schon sein. Aber ein Blick auf die völlig willkürlich angeordneten, sehr miserabel ausgeführten Tattoos sagte Heini, dass dieser Mann im Nachhinein nichts bereuen würde. Ja dass der Kosovo-Albaner froh sein konnte, etwas Heini-Kunst am Körper herumtragen zu dürfen.

So machte Heini sich ans Werk. Sein Kunde verschlief die gesamte Prozedur, als stünde er unter Vollnarkose. Sehr günstig für Heini, der sich in aller Seelenruhe künstlerisch austoben durfte. Eigentlich hätte das Motiv in zwei bis drei Sitzungen gestochen werden müssen, aber da der Mann einfach nicht aufwachte, arbeitete Heini still vor sich hin. Er wollte seine Sache gut machen, auch wenn ihm zwischendurch Zweifel kamen, ob der Betrunkene überhaupt in der Lage war, ihn zu bezahlen. Aber dann hatte er die auf dem Boden liegenden Kleidungsstücke des Mannes aufgehoben und säuberlich aufgehängt. Und dabei war ihm der Patch auf der Weste noch einmal ins Auge gestochen: »Hassan’s Hades Bros«. Und er hatte schlagartig gewusst, dass es ganz egal war, ob der Mann bezahlen konnte oder nicht.

Die Hades-Brüder waren eine gefürchtete Motorradgang, die das Viertel kontrollierte. Prostitution, Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Menschenschmuggel, wenn irgendetwas in diese Richtung hier lief, dann war es das Geschäft von Ali Hassan und seinen Hades Bros.

Normalerweise hatte Heini nichts mit diesen Typen zu tun, sein Laden war zu mickrig, als dass jemand Schutzgeld von ihm erpressen wollte, aber er kannte die Klagen aus seiner Stammkneipe. Die Wirtin des Stresemannstübchens, Hannelore, drückte regelmäßig Geld ab. Heini hatte die Geldübergaben auch schon das ein oder andere Mal beobachten können. Die Hades Bros machten keinen Hehl aus ihrem Geschäft. Sie kamen zu zweit in den Laden, griffen in Hannelores Kasse und holten sich heraus, was sie wollten. Dafür spendierte Hannelore ihnen noch einen Klaren – um gleich darauf in Tränen auszubrechen, wenn die fiesen Geldeintreiber weg waren.

Und so einer lag damals also betrunken vor Heini auf dem Tisch. Der zahlte entweder oder er zahlte nicht, Heini würde sich mit allem zufriedengeben müssen. Das Einzige, was er tun konnte, war, so gut wie möglich zu arbeiten. Nach über zwei Stunden fand Heini, dass er sich selbst übertroffen hatte. Die aus dem Hinterteil züngelnde Kobra schillerte in allen Farben des Regenbogens, nur ihre zwei Giftzähne, die imposant aus dem weit aufgerissenen Maul ragten, strahlten weiß. Oder würden weiß strahlen, sobald alles abgeheilt war.

Heini hatte den Mann vorsichtig geweckt und ihm im Spiegel seine Arbeit gezeigt. Der Typ war begeistert gewesen! Er hatte Heini vor die Brust geboxt, sich angezogen, zwei 500-Euro-Scheine aus einem dicken Geldbündel gezogen und auf die Liege geworfen. Dann war er aus dem Laden gewankt, noch immer hackedicht.

Am nächsten Tag aber war Ali Hassans gesamter Tross vorgefahren. Acht Harleys, die die ganze Straße blockierten. Ali Hassan, der Hades Bro himself, war in Heinis Laden gekommen und hatte sich spöttisch umgesehen.

»Du hast die Kobra gestochen?«, hatte er gefragt. Heini war außerstande gewesen, den Mund aufzumachen, und hatte nur genickt.

Daraufhin hatte sich der Boss der Bosse, ein untersetzter Türke, der Heini nur bis zur Schulter reichte, auf den Behandlungsstuhl gesetzt und mit seinen dicken goldberingten Fingern geschnipst. Heini hatte das als Aufforderung begriffen, dem Hades-Bruder seine Skizzen zu zeigen. Der hatte ein wenig darin geblättert und Heini dann scharfsinnig gefragt, ob Tiere seine Lieblingsmotive seien.

Heini hatte genickt und dann erklärt, dass er eine bessere Beziehung zu Tieren als zu Menschen habe, er sei religiös eher so in Richtung Hindu und glaube an die Seelenwanderung. Damit war das Eis gebrochen.

Ali Hassan hatte ihm mit bebender Stimme verraten, dass er ebenfalls die tiefe Überzeugung hege, dass man keinem Tier etwas zuleide tun dürfe. Er sei der Buddhist unter den Mohammedanern, er esse natürlich kein Fleisch und – dann kam er auf den Grund seines Besuches zu sprechen – er halte sich eine Mopshündin, die er sehr liebe. Fatima, so hieß die Gute, sei sein Ein und Alles. Leider aber war sie an Krebs erkrankt. Da sein ganzes Herz an Fatima hing, als wäre sie seine Frau und Tochter zugleich, wollte Ali Hassan die Mopshündin auf seinem Körper verewigt wissen. Und als er nun die Kobra seines Mitarbeiters gesehen hatte – er sagte tatsächlich Mitarbeiter – , wusste er, dass er mit Heini den Künstler gefunden hatte, der dieser Aufgabe würdig war.

Heini fühlte sich unendlich geschmeichelt und verängstigt zugleich. Er erhielt von Ali Hassan ein Foto der Mopsdame und versprach, einen Entwurf anzufertigen. Man verabredete einen Termin und dann verschwand Ali Hassan, wie er gekommen war: mit ohrenbetäubendem Auspuffknattern seiner Harley.

Heute war dieser Termin also gekommen. Heini sperrte den Laden auf, in dessen hinterem Bereich er seine Wohnung hatte, begrüßte Pat und Patachon, die beiden Papageien, und vergewisserte sich, dass er alles für den großen Moment vorbereitet hatte.

Er hatte, wie von Ali Hassan gewünscht, ein Porträt der Mopshündin Fatima gezeichnet, ungefähr zwanzig auf zwanzig Zentimeter. Dabei hatte er es sich erlaubt, ihre Züge etwas zu idealisieren. Die dunklen Augen blickten den Betrachter nun ein bisschen weniger triefäugig an und die hängenden Backen hatte er auf seinem Porträt leicht »geliftet«. Eine Schönheit war sie trotzdem nicht, aber Ali Hassan schien das anders zu sehen. Heini würde den Teufel tun, ihm zu widersprechen.

Auch die Platzierung des Tattoos war seltsam – am Hals unter dem rechten Ohr. Heini hatte vorsichtig versucht, den Hades-Bros-Boss davon abzubringen, aber ihm war sehr schnell klargeworden, dass niemand Ali Hassan von irgendetwas abbringen konnte, wenn der sich etwas in den massigen Schädel gesetzt hatte.

Heini sah auf die Uhr: noch fünf Minuten zum vereinbarten Termin. Zeit genug, sich einen Kaffee zu kochen. Er füllte seine kleine Alu-Kaffeekanne mit Wasser und Espressopulver und stellte sie auf die Kochplatte, die er nur zu diesem Zweck im Studio hatte. Dann fütterte er Pat und Patachon mit Sonnenblumenkernen und musste sich wie gewöhnlich dafür unflätig von ihnen beschimpfen lassen.

Pat und Patachon waren Gelbbrustaras. Heini hatte sie in der elendigen Zooabteilung eines Baumarktes entdeckt. Der Verkäufer hatte ihm weismachen wollen, dass es sich um junge, frisch importierte Vögel handelte, aber Heini erkannte auf den ersten Blick, dass die beiden traurigen zerzausten Gestalten schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatten – und es waren gewiss nicht die besten. Sie hockten so mutlos und stumpf in einem viel zu kleinen Käfig, dass Heini, der eigentlich nur ein paar Glühlampen hatte kaufen wollen, zusätzlich mit den zwei Vögeln zur Kasse ging.

Schon nach wenigen Tagen waren die Jungs allerdings zu neuem Leben erwacht. Sie hatten angesichts der intensiven und liebevollen Pflege, die Tierfreund Heini ihnen angedeihen ließ, ihre vornehme Zurückhaltung aufgegeben und gezeigt, was in ihnen steckte. Sie brabbelten und krakeelten in einem fort in einer für Heini unverständlichen Sprache. Einer seiner Kunden hatte das Kauderwelsch schließlich als Portugiesisch identifiziert. Das war stimmig, denn diese Art von Papagei kam im Süden von Brasilien vor.

Leider hatte Heini den beiden da schon den Namen des dänischen Komikerduos gegeben, was nun nicht mehr passend erschien, aber da die gelehrigen Vögel die Namen bereits nachsprachen, brachte er es nicht mehr übers Herz, sie umzubenennen. Die portugiesische Quasselei war es auch weniger, die Heini störte, als vielmehr die englischsprachigen und gut verständlichen Schimpfwörter, mit welchen die Vögel ihn belegten, wenn er es wagte, sie zu füttern. Egghead und Fool waren darunter die harmlosesten.

Während Heini den Jungs jeweils ein paar Sonnenblumenkerne unter die imposanten Schnäbel hielt und sich dafür ein liebevolles Asshole einfing, vernahm er das Knattern der Harleys in seiner Straße. Er strich Pat und Patachon zart über die türkis schimmernden Köpfe und wusch sich die Hände.

Schon bimmelte die Ladenglocke und der untersetzte Ali Hassan betrat in voller Rockermontur sein Studio. Er hatte die Arme weit ausgebreitet und begrüßte Heini mit einem strahlenden »Mein Freund!«.

Er drückte den Tätowierer an sich, wobei sein Kopf mit der tiefschwarzen, vor Fett starrenden Haartolle kurz auf Heinis Brust ruhte. Heini erwiderte die herzliche Begrüßung beklommen – er wollte um keinen Preis einen Fehler machen.

Dann fiel Ali Hassans Blick auf die Vorskizze von Fatima.

»Was soll das sein?« Sein fetter Zeigefinger zeigte auf das Bild und Heini schoss durch den Kopf, dass er von dem dicken Goldring darauf mindestens zwei Monate seine Miete würde zahlen können.

»Fatima?«, antwortete er verunsichert.

Ali Hassan trat näher an das Bild heran. Er musterte es einige lange Sekunden und schüttelte dann den Kopf.

»Aber sie ist viel fetter«, kritisierte er.

Heini fiel das Herz in die Hose. »Ah! Okay, kein Problem. Das kommt auf dem Foto nicht so rüber.«

Hassan nickte. »Kann sein. Mach sie fetter.« Er deutete mit seinen Händen eine Form in der Größe einer Bowlingkugel an.

Heini nickte beflissen.

»Sonst ist es gut«, befand der kleine Türke und kletterte auf den Behandlungsstuhl. Heini hatte gehofft, dass das Lob des Bosses etwas enthusiastischer ausfallen würde, er fand schließlich, er hatte nie zuvor so ein gefühliges Tierporträt skizziert. Der seelenvolle Blick der leidenden Fatima sollte den Hades-Boss zum Weinen bringen, so hatte Heini sich das in etwa ausgemalt.

»Fuck you«, krähten die Papageien und Ali Hassan guckte misstrauisch.

»Ich bring die Jungs nach nebenan«, beeilte sich Heini zu versichern und trug das Gestell, auf dem Pat und Patachon saßen, nach hinten in den ans Studio angrenzenden Wohnraum. Er stellte sie neben dem Terrarium von Gordon, dem dreibeinigen Gecko, ab. Der Glaskasten mit Nathalie, der Vogelspinne, stand etwas abseits.

Die Papageien protestierten lautstark wegen ihrer Abschiebung, aber Heini stellte sich taub und eilte zum wichtigsten Kunden, den er jemals gehabt hatte, zurück.

Der fette Ali Hassan hatte es sich in Heinis Behandlungsstuhl bereits bequem gemacht. Er lag völlig entspannt da, die Lider auf halbmast, und murmelte leise vor sich hin. Es dauerte etwas, bis Heini, der mit seinen Utensilien beschäftigt war, begriff, dass der Boss der Bosse unablässig in ein Headset sprach. Heini verstand kein Wort, deshalb nahm er an, dass Ali Hassan sich auf Türkisch unterhielt.

Die Stimmung in Heinis kleinem Studio war entspannt und ruhig. Heini, der am liebsten bei sehr lauter Metal-Musik arbeitete, hatte sich kurzfristig entschieden, Ali Hassan nicht mit seinem Musikgeschmack zu reizen, und die CD mit der Meditationsmusik eingelegt, die eine seiner Exfreundinnen bei ihm vergessen hatte. Im Moment erklang Meeresrauschen – wie von fern, sehr leise und dezent.

Den kugeligen Schwerverbrecher vor ihm auf dem Stuhl schien das zu beruhigen, er atmete tief, die beringten Pranken lagen entspannt auf seinem Bauch, und nun waren die Lider schließlich ganz geschlossen. Auch Heini merkte, wie ihn das gleichmäßige Rauschen der Wellen entspannte, ja er spürte sogar einen kleinen Schauer der Wehmut, weil er urplötzlich an seine Heimat Süderum denken musste.

Nun atmete er tief durch. Jetzt ging es um die Wurst. Mit leiser Stimme bereitete Heini Ali Hassan darauf vor, dass er nun die Nadel ansetzen werde. Der Boss nickte nur tiefenentspannt. Er wirkte wie ein Alligator, der in der Sonne schlief – behäbig und unbeweglich. Nur um dann urplötzlich nach vorne zu schießen und seine Beute zu schnappen und zwischen seinen gewaltigen Fängen zu zermalmen.

Heini war also auf der Hut. Obwohl er gesehen hatte, dass Hassan bereits jede Menge anderer Tattoos am Leibe trug, konnte er nicht sichergehen, dass der Mann auch schmerzunempfindlich war. In dieser Hinsicht hatte Heini schon alles erlebt. Riesige Kerle, denen der kleinste Pieks die Tränen in die Augen trieb. Und umgekehrt hatten sich zarte Frauen als wahrhaft zäh erwiesen.

Außerdem begann er an einer sehr empfindlichen Stelle mit der Vorzeichnung: nahe der Halsschlagader. Erstaunlich viele Menschen wollten Tattoos am Hals haben, aber Heini mochte diese Stelle nicht, zu dünn und empfindlich. Aber seinen Kunden schien das nicht zu stören, er atmete ruhig und gleichmäßig, so dass Heini mit den Umrissen des fetten Mopskopfes von Fatima gut vorankam.

Nur einmal gab es eine Unterbrechung. Das Handy von Ali Hassan klingelte, und nachdem dieser kurz gelauscht hatte, was der Anrufer von ihm wollte, hatte er plötzlich Heinis Hand umklammert und ihm bedeutet, seine Arbeit zu unterbrechen. Unvermittelt und behände war der Hades-Boss dann vom Behandlungsstuhl aufgesprungen und hatte ein paarmal aufgebracht den Stuhl umrundet. Dabei hatte er unablässig in sein Headset gebrüllt. Die Anweisungen, die er gab, dieses Mal auf Deutsch, waren alles andere als beruhigend. Irgendjemand sollte augenblicklich »kaltgestellt« werden, am besten »an den Füßen aufgehängt« oder wahlweise »das Fell abgezogen«. Ali Hassan war wirklich außer sich und Heini musste wieder an den Alligator denken. Ihn schauderte.

Ebenso plötzlich, wie der Ausbruch erfolgte, war er allerdings auch vorbei. Der Hades Bro beendete das Gespräch, atmete tief durch, kletterte erneut auf den Behandlungsstuhl und grinste Heini feist an. »Geschäfte«, meinte er lapidar und hob bedauernd die Schultern.

»Kenn ich«, sagte Heini mit gezwungenem Lächeln und dachte, dass er gar nichts kannte. Jedenfalls nichts von Ali Hassans Welt. Und er wollte sie auch nicht kennenlernen. Im Grunde genommen kannte er außer Süderum, wo er aufgewachsen war, und der Sternschanze, wo er seit zwölf Jahren lebte, gar nichts. Nicht richtig jedenfalls, nach Heinis Dafürhalten. Ein Jahr lang war er als Rucksacktourist und Aussteiger in der Weltgeschichte herumgegondelt, hatte dabei aber festgestellt, dass ihm alle fremden Länder, die er besuchte, auch fremd blieben.

Er war ein Junge von der Waterkant und würde es immer bleiben, da biss die Maus keinen Faden ab.

Heini hatte mit Ali Hassan verabredet, dass sie für das Porträt von Fatima drei Sitzungen brauchen würden. Er wollte es sorgfältig machen und das kam Ali Hassan nur zupass.

Nach einer Stunde war Heini mit den Umrissen und groben Linien fast fertig, der Boss döste auf dem Sitz und die CD mit dem Meeresrauschen leierte zum dritten Mal durch den Rekorder. Auf Bitten des Hades-Bosses hatte Heini starken schwarzen Tee gekocht, von dem er ein bisschen Herzrasen bekam und den sein Kunde stark gesüßt in winzigen Schlucken zu sich nahm.

Ali Hassan stellte sein Glas gerade ab, lehnte sich wieder genüsslich zurück und Heini setzte die Nadel erneut am Hals an, als der Gangsterboss unvermittelt gellend schrie und sich ruckartig aufsetzte. Heini war so erschrocken, dass er augenblicklich zusammenzuckte, dabei den rechten Arm hochriss und dem brüllenden Ali Hassan mit der Nadel quer durchs Gesicht fuhr. Dieser schien das noch nicht gemerkt zu haben, denn er starrte immer noch auf einen Fleck an der Wand und brüllte wie am Spieß. Jetzt erst sah Heini, was den Mann so entsetzt hatte: Nathalie kroch an der Wand entlang. Seine wunderschöne braun behaarte Eupalaestrus campestratus hatte sich wieder einmal aus ihrem Terrarium befreit und war auf Entdeckungsreise.

Aber bevor Heini beschwichtigend eingreifen, die Vogelspinne von der Wand nehmen und in ihre Behausung tragen konnte, fasste sich Ali Hassan an die fette Backe. Erst jetzt schien er zu spüren, welches Malheur dem Tätowierer Heini Hinrichsen widerfahren war. Der Boss hörte auf zu brüllen, stattdessen stieß er ein tiefes, durch und durch beunruhigendes Grollen aus und starrte Heini an.

Heini starrte angsterfüllt zurück. Er blickte in die tiefschwarzen Augen von Ali Hassan, Anführer der Hades Bros, Boss der Bosse, Beherrscher des Viertels, und erkannte, dass er in einen todbringenden Abgrund sah.