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Anatomie der menschlichen Destruktivität

(The Anatomy of Human Destructiveness)

Erich Fromm
(1973a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung unter dem Titel The Anatomy of Human Destructiveness, New York (Holt, Rinehart and Winston) 1973; deutsch erstmals erschienen unter dem Titel Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1974. – Wieder abgedruckt in: Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1980, Band VII.
Da der in der englischen Originalausgabe und in der deutschen Erstausgabe von 1974 veröffentlichte „Anhang: Freuds Aggressions- und Destruktionstheorie“ von Erich Fromm 1979 unter der Überschrift „Die Freudsche Triebtheorie und ihre Kritik“ als Kapitel 4 Eingang in das Buch Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen (1979a) gefunden hat, ist dieser Anhang nicht in Band VII der Gesamtausgabe und die entsprechende E-Book-Ausgabe aufgenommen worden, sondern ist in Band VIII, S. 337-362 der Gesamtausgabe zugänglich.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VII.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1973 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Erster Teil
Instinkt- und Trieblehren, Behaviorismus, Psychoanalyse

1. Vertreter der Instinkt- und Trieblehren

Ältere Instinkt- und Triebforscher

Ich verzichte darauf, dem Leser eine Geschichte der Instinkt- und Triebtheorien zu geben[19], da er sie in zahlreichen Lehrbüchern nachlesen kann.[20] Die Anfänge dieser Geschichte liegen weit zurück im philosophischen Denken, doch geht unser modernes Denken auf das Werk von Charles Darwin zurück. Die gesamte Instinkt- und Triebforschung nach Darwin gründet auf dessen Evolutionstheorie.

William James (1896), William McDougall (1913; 1932) und andere stellten lange Listen auf, auf denen von jedem einzelnen Instinkt und Trieb angenommen wurde, dass er entsprechende Verhaltensweisen motiviere. So unterscheidet James einen Nachahmungstrieb, einen Kampf-, einen Mitgefühls-, Jagd-, Angst-, Erwerbs-, Kleptomanietrieb, einen Trieb der Schöpferkraft, einen Spiel-, Neugier-, Geselligkeits-, Verheimlichungs-, einen Sauberkeits-, Bescheidenheits-, Liebes- und Eifersuchtstrieb – eine merkwürdige Mischung von allgemein menschlichen Eigenschaften und spezifisch sozial konditionierten Charakterzügen (J. J. McDermott, Hg., 1967). Obwohl uns derartige Trieblisten heute etwas naiv vorkommen, sind die Arbeiten dieser Instinkt- und Triebforscher doch höchst differenziert und reich an theoretischen Konstruktionen, und sie beeindrucken uns noch immer durch das hohe Niveau ihres theoretischen Denkens; sie sind keineswegs einfach überholt. So war sich zum Beispiel James durchaus darüber im klaren, dass sogar schon bei der ersten Instinkthandlung ein Lernelement beteiligt sein könnte, und McDougall übersah nicht den formenden Einfluss unterschiedlicher Erfahrungen und kultureller Hintergründe. Seine Trieblehre bildet eine Brücke zu Freuds Theorie. Wie Fletcher betont hat, setzte McDougall Trieb nicht gleich mit einer „mechanischen Motorik“ und einer starr fixierten motorischen Reaktion. Für ihn war ein Trieb im Grunde eine „Neigung“ zu etwas, ein „Verlangen“ nach etwas, und dieser affektiv-konnative Kern eines jeden Triebes „scheint [VII-014] relativ unabhängig vom kognitiven und vom motorischen Teil der gesamten Trieb-Disposition funktionieren zu können“ (W. McDougall, 1932).

Bevor wir uns den beiden bekanntesten modernen Vertretern der Instinkt- und Triebforschung, Sigmund Freud und Konrad Lorenz, zuwenden, wollen wir den Blick auf ein Charakteristikum richten, das sie beide mit den älteren Instinkt- und Triebforschern gemeinsam haben: die mechanistisch-hydraulische Konzeption des Triebmodells. McDougall stellte sich vor, dass die Energie von „Schleusentoren“ zurückgehalten würde und unter bestimmten Bedingungen „überwallt“ (W. McDougall, 1913). Später bediente er sich einer Analogie, in der er jeden Trieb mit einer „Kammer“ verglich, „ in welcher ständig Gas frei wird“ (W. McDougall, 1923). Auch Freud folgte in seiner Libidotheorie einem hydraulischen Schema. Die Libido nimmt zu → die Spannung steigt → die Unlust nimmt zu; der Sexualakt vermindert die Spannung und die Unlust, bis die Spannung wieder zu steigen beginnt. Ähnlich dachte auch Lorenz bei reaktionsspezifischer Energie an „ein Gas“, das „dauernd in einen Behälter gepumpt“ wird, oder an eine Flüssigkeit in einem Behälter, die durch ein am Boden sitzendes, federbelastetes Ventil abgelassen werden kann (K. Lorenz, 1937, S. 270). R. A. Hinde wies darauf hin, dass diese und andere Instinkt- und Triebmodelle trotz einiger Unterschiede „die Idee einer Substanz gemeinsam haben, die die Fähigkeit besitzt, Verhaltensweisen, die in einem Gefäß zurückgehalten werden und später in die Aktion eingehen, mit Energie zu laden“ (R. A. Hinde, 1960, S. 473).

Neuere Instinkt- und Triebforscher: Sigmund Freud und Konrad Lorenz

Freuds Aggressionsbegriff

Der große Fortschritt Freuds gegenüber den älteren Triebforschern und besonders McDougall gegenüber bestand darin, dass er alle „Triebe“ in zwei Kategorien zusammenfasste – den Sexualtrieb und den Selbsterhaltungstrieb.[21] Daher kann man Freuds Theorie als die letzte Stufe in der Geschichte der Entwicklung der Triebtheorie ansehen. Ich werde darauf zurückkommen, dass gerade diese vereinheitlichende Zusammenfassung der Triebe in einen einzigen (mit Ausnahme des Ich-Triebs) gleichzeitig der erste Schritt zur Überwindung der älteren Trieblehren war, wenngleich Freud selbst sich dessen nicht bewusst war. Im Folgenden möchte ich mich nur mit Freuds Auffassung von der Aggression befassen, da seine Libidotheorie vielen Lesern bekannt sein dürfte und sie sich in anderen Werken über sie informieren können, am besten in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (S. Freud, 1916-17; 1933a).

Freud hatte dem Phänomen der Aggression relativ wenig Beachtung geschenkt, solange er die Sexualität (Libido) und den Selbsterhaltungstrieb für die beiden Kräfte gehalten hatte, die den Menschen beherrschten. Seit den zwanziger Jahren änderte sich dieses Bild jedoch völlig. In Das Ich und das Es (1923b) und in seinen späteren Schriften stellte er eine neue [VII-015] Dichotomie auf: die des Lebenstriebs beziehungsweise der Lebenstriebe (Eros) und des Todestriebs beziehungsweise der Todestriebe. Freud beschrieb die neue theoretische Phase folgendermaßen: „Ausgehend von Spekulationen über den Anfang des Lebens und von biologischen Parallelen zog ich den Schluss, es müsse außer dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, einen anderen, ihm gegensätzlichen, geben, der diese Einheiten aufzulösen und in den uranfänglichen anorganischen Zustand zurückzuführen strebe. Also außer dem Eros einen Todestrieb“ (S. Freud, 1930a, S. 477 f.).

Der Todestrieb richtet sich gegen den Organismus selbst und ist daher ein selbstzerstörerischer Trieb, oder er ist nach außen gerichtet und tendiert in diesem Fall eher dazu, andere zu zerstören als sich selbst. Verbindet sich Sexualität mit dem Todestrieb, so verwandelt er sich in harmlosere Impulse, wie sie im Sadismus oder im Masochismus zum Ausdruck kommen. Obwohl Freud wiederholt darauf hinwies, dass die Macht des Todestriebes reduziert werden könne (S. Freud, 1927c), blieb seine grundsätzliche Auffassung doch: Der Mensch wird beherrscht von einem Impuls, entweder sich selbst oder andere zu zerstören, und er kann dieser tragischen Alternative kaum entrinnen. Aus dieser Annahme des Todestriebes folgt, dass die Aggression ihrem Wesen nach keine Reaktion auf Reize ist, sondern ein ständig fließender Impuls, der in der Konstitution des menschlichen Organismus wurzelt.

Während sich die Psychoanalytiker in allen anderen Punkten an Freud halten, haben sich die meisten von ihnen geweigert, die Theorie des Todestriebes zu übernehmen; vielleicht deshalb, weil diese Theorie über den alten mechanistischen Bezugsrahmen hinausgeht und ein biologisches Denken verlangt, wie es den meisten unannehmbar war, da für sie „ biologisch“ mit der Physiologie der Triebe identisch war. Trotzdem haben sie Freuds neue Auffassung nicht ganz verworfen. Sie schlossen einen Kompromiss, indem sie die Existenz eines „Zerstörungstriebes“ als Gegenpol zum Sexualtrieb anerkannten. Dies machte es ihnen möglich, Freuds neuerliche Betonung der Aggression zu akzeptieren, ohne sich einer völlig neuen Art des Denkens zu unterwerfen.

Freud hatte einen wichtigen Schritt vorwärts getan, indem er von einer rein physiologisch-mechanistischen Auffassung zu einer biologischen überging, die den Organismus als Ganzes nimmt und die biologischen Ursprünge von Liebe und Hass analysiert. Seine Theorie weist jedoch schwere Mängel auf. Sie gründet sich auf recht abstrakte Spekulationen und hat kaum einen überzeugenden empirischen Beweis aufzuweisen. Hinzu kommt, dass Freud zwar einen brillanten Versuch unternahm, menschliche Impulse mit seiner neuen Theorie zu erklären, dass seine Hypothese jedoch auf tierische Verhaltensweisen nicht anwendbar ist. Für ihn ist der Todestrieb eine biologische Kraft, die in allen lebenden Organismen wirkt: Dies würde bedeuten, dass auch die Tiere ihren Todestrieb entweder gegen sich selbst oder gegen andere Tiere zum Ausdruck bringen müssten. Folglich müsste man mehr Krankheiten oder einen häufigeren frühen Tod bei nach außen hin weniger aggressiven Tieren finden und umgekehrt; aber natürlich gibt es keine Tatsachen, die diese Annahme unterstützen.

Dass Aggression und Destruktivität keine biologischen Gegebenheiten und keine spontan strömenden Impulse sind, werde ich im nächsten Kapitel darlegen. Hier sei nur gesagt, dass Freud die Analyse des Phänomens Aggression undurchsichtig gemacht hat, da er, wie [VII-016] es üblich war, diesen Ausdruck auf die verschiedensten Arten von Aggression anwandte, um auf diese Weise alle leichter aus einem Instinkt heraus erklären zu können. Da er ganz sicher nicht zum Behaviorismus neigte, dürfen wir annehmen, dass der Grund hierfür seine Neigung war, zu einer dualistischen Auffassung zu gelangen, in der zwei Grundkräfte einander gegenüberstehen. Bei dieser Dichotomie handelte es sich zunächst um die zwischen Selbsterhaltungstrieb und Libido und später um die zwischen Lebens- und Todestrieb. Freud bezahlte die Eleganz dieser Auffassung damit, dass er jede Leidenschaft einem der beiden Pole zuordnen musste und dass er auf diese Weise zusammenbrachte, was in Wirklichkeit nichts miteinander zu tun hatte.

Die Aggressionstheorie von Konrad Lorenz

Während Freuds Aggressionstheorie einflussreich war und es auch heute noch ist, war sie andererseits vielschichtig und schwierig und wurde nie in dem Sinn populär, dass sie von einem breiten Publikum gelesen und von diesem mit besonderem Interesse aufgenommen worden wäre. Im Gegensatz dazu wurde das Buch von Konrad Lorenz Das sogenannte Böse (K. Lorenz, 1963) schon kurz nach seiner Veröffentlichung zu einem der meistgelesenen Bücher auf dem Gebiet der Sozialpsychologie.

Die Gründe für diese Popularität liegen auf der Hand. Vor allem liest sich Das sogenannte Böse ähnlich wie Lorenz’ frühere reizende Geschichtensammlung Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen (1949) ungeheuer leicht, ganz im Gegensatz zu Freuds schwerfälligen Abhandlungen über den Todestrieb, übrigens auch im Gegensatz zu Lorenz’ eigenen Abhandlungen und Büchern, die er für die Fachwelt schrieb. Außerdem spricht er damit, wie bereits in der Einleitung erwähnt, heute viele Menschen an, die lieber glauben, dass unser Hang zur Gewalt und zur atomaren Auseinandersetzung auf biologische Faktoren zurückzuführen ist, die sich unserer Kontrolle entziehen, als dass sie die Augen aufmachen und erkennen, dass die von uns selbst verursachten sozialen, politischen und ökonomischen Umstände daran schuld sind.

Für Lorenz[22] ist die menschliche Aggressivität genau wie für Freud ein Trieb, der von einer ständig fließenden Energiequelle gespeist wird und nicht notwendigerweise das Resultat einer Reaktion auf äußere Reize ist. Lorenz vertritt den Standpunkt, dass die für einen triebhaften Akt spezifische Energie sich ständig in den Nervenzentren ansammelt, die auf dieses Verhaltensmuster bezogen sind, und dass mit einer Explosion zu rechnen ist, sobald sich genug Energie gestaut hat, dies auch dann, wenn kein Reiz vorhanden ist. Allerdings finden Tier und Mensch im allgemeinen Reize, welche die aufgestaute Trieb-Energie freisetzen; sie brauchen nicht passiv abzuwarten, bis der geeignete Reiz auftaucht. Sie suchen nach Reizen und erzeugen sie sogar selbst. Im Anschluss an W. Craig [VII-017] bezeichnet Lorenz dies als „Appetenz-Verhalten“. Der Mensch, so sagt er, gründet politische Parteien, um sich Stimuli zur Ableitung angestauter Energie zu verschaffen, aber die politischen Parteien sind nicht die Ursache der Aggression. In Fällen jedoch, in denen kein äußerer Reiz gefunden oder hervorgebracht werden kann, ist die Energie des gestauten Aggressionstriebes so groß, dass es gleichsam zu einer Explosion kommt und dass der Trieb sich in vacuo auswirkt. „Der Grenzfall der aus Mangel an äußeren Bedingungen sinnlosen Instinkthandlung, die objektlos ablaufende Leerlaufreaktion, beweist durch die wahrhaft photographische Gleichheit der ausgeführten Bewegungen mit denen des normalen, den biologischen Sinn der Handlung erfüllenden Ablaufes, dass die Bewegungskoordinationen der Instinkthandlung bis in kleinste Einzelheiten ererbtermaßen festgelegt sind“ (K. Lorenz, 1937, S. 274).[23]

Demnach ist Aggression für Lorenz primär keine Reaktion auf äußere Reize, sondern eine „eingebaute“ innere Erregung, die nach Abfuhr verlangt und sich äußert ohne Rücksicht darauf, ob der äußere Reiz geeignet ist oder nicht. „Die Spontaneität des Instinktes ist es, die ihn so gefährlich macht“ (K. Lorenz, 1963, S. 73 f.; Hervorhebungen E. F.). Man hat das Aggressionsmodell von Lorenz ebenso wie das Libidomodell von Freud zu Recht ein hydraulisches Modell genannt in Analogie zu dem Druck, der von gestautem Wasser oder Dampf in einem geschlossenen Behälter ausgeübt wird. (Vgl. K. Lorenz, 1937, S. 270.)

Dieser hydraulische Aggressionsbegriff ist sozusagen der eine Pfeiler, auf dem Lorenz’ Theorie ruht; er bezieht sich auf den Mechanismus, durch den Aggression entsteht. Der andere Pfeiler ist der Gedanke, dass Aggression im Dienste des Lebens steht, dass sie dem Überleben des Individuums und der Art dient. Allgemein gesagt, nimmt Lorenz an, dass die intraspezifische Aggression (Aggression gegen Angehörige der gleichen Art) die Funktion hat, dem Überleben der Art zu dienen. Lorenz stellt die Theorie auf, dass die Aggression diese Funktion erfüllt, indem sie die einzelnen Vertreter einer Spezies über den zur Verfügung stehenden Lebensraum verteilt, indem sie die Selektion des „besseren Männchens“ bewirkt, was hinsichtlich der Verteidigung des Weibchens von Bedeutung ist, und indem sie eine soziale Rangordnung errichtet (K. Lorenz, 1964). Die Aggression kann diese arterhaltende Funktion umso besser erfüllen, als im Evolutionsprozess sich die tödliche Aggression in eine Verhaltensform verwandelte, die aus symbolischen und rituellen Drohungen besteht, welche die gleiche Funktion erfüllen, ohne der Art zu schaden.

Aber Lorenz argumentiert weiter, dass der bei den Tieren der Arterhaltung dienende Trieb beim Menschen „ins Groteske und Unzweckmäßige übersteigert“ und „aus dem Gleise geraten“ ist. Die Aggression verwandelte sich aus einem hilfreichen, dem Überleben dienenden Trieb in eine Bedrohung.

Es hat den Anschein, dass Lorenz selbst mit diesen Erklärungen der menschlichen Aggressionen nicht ganz zufrieden war und dass er das Bedürfnis hatte, noch eine weitere hinzuzufügen, die jedoch aus dem Bereich der Ethologie hinausführt. Er schreibt:

Vor allem aber ist es mehr als wahrscheinlich, dass das verderbliche Maß an Aggressionstrieb, das uns Menschen heute noch als böses Erbe in den Knochen sitzt, durch [VII-018] einen Vorgang der intraspezifischen Selektion verursacht wurde, der durch mehrere Jahrzehntausende, nämlich durch die ganze Frühsteinzeit[24], auf unsere Ahnen eingewirkt hat. Als die Menschen eben gerade so weit waren, dass sie kraft ihrer Bewaffnung, Bekleidung und ihrer sozialen Organisation die von außen drohenden Gefahren des Verhungerns, Erfrierens und Gefressenwerdens von Großraubtieren einigermaßen gebannt hatten, so dass diese nicht mehr die wesentlichen selektierenden Faktoren darstellten, muss eine böse intraspezifische Selektion eingesetzt haben. Der nunmehr Auslese treibende Faktor war der Krieg, den die feindlichen benachbarten Menschenhorden gegeneinander führten. Er muss eine extreme Herauszüchtung aller sogenannten „kriegerischen Tugenden“ bewirkt haben, die leider noch heute vielen Menschen als wirklich erstrebenswerte Ideale erscheinen (K. Lorenz, 1963, S. 67).

Diese Vorstellung von ständigem Krieg zwischen den „wilden“ Jägern und Sammlern seit dem vollen Auftauchen des „modernen Menschen“ um 40 000 oder 50 000 v. Chr. ist ein weitverbreitetes Klischee, das Lorenz übernimmt, ohne auf die Forschung Bezug zu nehmen, die zeigt, dass es keine Grundlagen hat.[25] Lorenz’ Annahme von 40 000 Jahren organisierter Kriegführung ist nichts weiter als das alte Klischee Hobbes’ vom Krieg als dem natürlichen Zustand des Menschen, das hier als Argument dient, mit dem die angeborene menschliche Aggressivität bewiesen werden soll. Die logische Folgerung aus Lorenz’ Annahme ist, dass der Mensch aggressiv ist, weil er aggressiv war, und dass er aggressiv war, weil er aggressiv ist.

Selbst wenn Lorenz mit seiner These von der ständigen Kriegführung in der Jungsteinzeit recht hätte, bleiben seine genetischen Schlussfolgerungen fragwürdig. Wenn ein bestimmter Wesenszug einen selektiven Vorteil besitzen soll, muss dieser sich auf die vermehrte Erzeugung fruchtbarer Nachkommen des Trägers dieses Wesenszuges gründen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass aggressive Individuen in Kriegen eher umkommen, ist es zweifelhaft, ob man ein häufiges Vorkommen dieses Wesenszuges tatsächlich auf Selektion zurückführen kann. In Wirklichkeit sollte die Häufigkeit dieses Erbfaktors eher abnehmen, wenn man die höheren Verluste als negative Selektion auffasst.[26] Tatsächlich war die Bevölkerungsdichte in jener Zeit äußerst gering, und viele der Stämme nach dem vollen Auftauchen des Homo sapiens hatten es kaum nötig, zu konkurrieren und um Nahrung und Lebensraum miteinander zu kämpfen.

Lorenz verband in seiner Theorie zwei Elemente miteinander. Das erste lautet, dass Tiere wie Menschen eine angeborene Aggression besitzen, welche dem Überleben des Individuums und der Art dient. Wie ich noch zeigen werde, geht aus neurophysiologischen Erkenntnissen hervor, dass diese defensive Aggression eine Reaktion auf eine Bedrohung der vitalen Interessen des betreffenden Lebewesens ist und dass sie nicht spontan und ständig strömt. Das andere Element, der hydraulische Charakter der gestauten Aggression, dient Lorenz zur Erklärung der mörderischen und grausamen Impulse des Menschen; doch bringt er nur wenige Beweise, die diese Annahme stützen. Sowohl die dem Leben dienende als auch die destruktive Aggression werden unter einer Kategorie subsumiert, und das einzige, was beide verbindet, ist das Wort „Aggression“. Im Gegensatz zu [VII-019] Lorenz hat Tinbergen das Problem in voller Klarheit dargelegt: „Einerseits ist der Mensch mit vielen Tierarten darin verwandt, dass er gegen seine eigenen Artgenossen kämpft. Andererseits ist er unter Tausenden von Arten, die kämpfen, die einzige, bei der das Kämpfen destruktiv ist. (...) Der Mensch ist als einzige Spezies eine Spezies von Massenmördern, die einzige, die der eigenen Gesellschaft nicht angepasst ist. Warum ist das so?“ (N. Tinbergen, 1968, S. 1412).

Freud und Lorenz: Ähnlichkeiten und Unterschiede

Die Beziehung zwischen den Theorien von Lorenz und Freud ist recht kompliziert. Gemeinsam ist ihnen die hydraulische Konzeption der Aggression, auch wenn sie den Ursprung dieses Triebes unterschiedlich erklären. In anderer Hinsicht jedoch scheinen ihre Auffassungen diametral entgegengesetzt. Freud stellte die Hypothese des Destruktionstriebes auf, eine Annahme, die Lorenz aus biologischen Gründen für unhaltbar erklärt. Sein Aggressionstrieb dient dem Leben, Freuds Todestrieb ist der Diener des Todes.

Freilich verliert dieser Unterschied seine Bedeutung größtenteils dadurch, dass Lorenz von den Veränderungen der ursprünglich defensiven und lebenserhaltenden Aggression spricht. Mit Hilfe komplizierter und oft fragwürdiger Konstruktionen soll die Annahme gestützt werden, dass sich die defensive Aggression beim Menschen in einen ständig strömenden und sich selbst verstärkenden Trieb umwandelt, der Umstände herbeizuführen sucht, welche die Entladung der Aggression erleichtern, oder dass es sogar zu einer Explosion kommt, wenn keine Reize gefunden oder geschaffen werden können. Hieraus folgt, dass selbst in einer Gesellschaft, die vom sozioökonomischen Standpunkt aus so organisiert wäre, dass keine geeigneten Reize für eine heftigere Aggression vorkämen, der Druck des Instinkts selbst so stark würde, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft gezwungen wären, diese zu verändern, oder dass es – wenn sie sich hierzu nicht bereit fänden – auch ohne jeden Anreiz zu einer Aggressionsexplosion kommen würde. Daher ist auch die Schlussfolgerung, zu der Lorenz kommt, dass der Mensch von einem angeborenen Zerstörungsdrang getrieben ist, in ihren praktischen Konsequenzen die gleiche wie die Freuds. Freud stellt jedoch den Zerstörungstrieb dem ebenso starken Trieb des Eros (Lebens-, Sexualtrieb) gegenüber, während für Lorenz die Liebe ein Produkt aggressiver Instinkte ist.

Freud und Lorenz stimmen darin überein, dass es ungesund ist, wenn die Aggression sich nicht in Aktion umsetzen kann. Freud hatte in der früheren Periode seines Schaffens das Postulat aufgestellt, dass Verdrängung der Sexualität zu seelischer Erkrankung führen kann; später wandte er denselben Grundsatz auf den Todestrieb an und lehrte, dass die Verdrängung nach außen gerichteter Aggression ungesund sei. Lorenz stellt fest, dass „der heutige Zivilisierte überhaupt unter ungenügendem Abreagieren aggressiver Triebhandlungen leidet“ (K. Lorenz, 1963, S. 363). Beide gelangen auf verschiedenen Wegen zu einem Bild des Menschen, bei dem aggressiv-destruktive Energie ständig entsteht und auf die Dauer nur sehr schwer, wenn überhaupt, unter Kontrolle zu halten ist. Das sogenannte Böse in den Tieren wird zu einem wirklich Bösen im Menschen, obgleich nach Lorenz seine Wurzeln nicht böse sind. [VII-020]

„Beweis“ durch Analogie

Diese Ähnlichkeiten zwischen den entsprechenden Aggressionstheorien von Freud und Lorenz sollten jedoch nicht über ihren Hauptunterschied hinwegtäuschen. Freud studierte die Menschen. Er war ein scharfsinniger Beobachter ihres faktischen Verhaltens und der unterschiedlichen Manifestationen ihres Unbewussten. Seine Theorie vom Todestrieb mag falsch oder unvollständig oder auch nicht genügend bewiesen sein, aber Freud erarbeitete sie sich im Prozess ständiger Beobachtung des Menschen. Lorenz dagegen ist ein Beobachter von Tieren, besonders von niederen Tieren, und auf diesem Gebiet zweifellos kompetent. Aber sein Wissen über den Menschen geht nicht über das eines Durchschnittsbürgers hinaus. Er hat es weder durch systematische Beobachtungen noch durch eine zureichende Kenntnis der einschlägigen Literatur ausgebaut.[27] Er nimmt naiverweise an, dass Beobachtungen an sich selbst oder an Bekannten auf alle Menschen anwendbar seien. Seine hauptsächliche Methode ist jedoch nicht einmal die Selbstbeobachtung, sondern Analogieschlüsse vom Verhalten gewisser Tiere auf das Verhalten von Menschen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus beweisen solche Analogien nichts; sie sind suggestiv und gefallen den Leuten, die Tiere gern haben. Hand in Hand damit geht eine hochgradige Anthropomorphisierung, in der Lorenz schwelgt. Gerade weil diese Analogien die angenehme Illusion wecken, dass man „versteht“, was das Tier „fühlt“, werden sie sehr populär. Wer möchte nicht gern mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen reden?

Lorenz gründet seine Theorien über die hydraulische Natur der Aggression auf Experimente mit Tieren – hauptsächlich Fischen und Vögeln in der Gefangenschaft. Die Frage, um die es hier geht, lautet: Wirkt derselbe aggressive Trieb – den Lorenz bei bestimmten Fischen und Vögeln beobachtete – und der, falls ihm nicht eine andere Richtung gegeben wird, zum Töten führt – auch im Menschen?

Da Lorenz diese Hypothese in Bezug auf den Menschen und die nicht-menschlichen Primaten nicht direkt beweisen kann, bringt er eine Anzahl von Argumenten vor, die seine Behauptung untermauern sollen. Er tut dies hauptsächlich auf dem Wege der Analogie; er entdeckt Ähnlichkeiten zwischen menschlichem Verhalten und dem Verhalten der von ihm studierten Tiere und schließt daraus, dass beide Verhaltensweisen die gleiche Ursache haben. Diese Methode ist von vielen Psychologen kritisiert worden. N. Tinbergen, Lorenz’ namhafter Kollege, hat die Gefahren erkannt, „welche in dem Verfahren liegen, physiologische Erscheinungen auf einer niedrigeren Evolutionsebene, auf einem niedrigeren Niveau der neuronalen Organisation und bei einfacheren Verhaltensformen als Analogien zu benutzen, um damit physiologische Theorien über Verhaltensmechanismen auf höheren und komplexeren Ebenen zu stützen“.

Ich möchte mit ein paar Beispielen den „Analogiebeweis“ von Lorenz illustrieren.[28] Lorenz berichtet über seine Beobachtung bei Buntbarschen (Cichliden) und Brasilianischen [VII-021] Perlmutterfischen, dass ein Fisch sein Weibchen dann nicht angreift, wenn er seinen gesunden Zorn an einem gleichgeschlechtlichen Nachbarn abreagieren kann („umorientierte Aggression“)[29]. Sein Kommentar dazu lautet:

Analoges kann man am Menschen beobachten. In der guten alten Zeit, da die Donaumonarchie noch bestand und es noch Dienstmädchen gab, habe ich an meiner verwitweten Tante folgendes beobachtet. Sie hatte ein Dienstmädchen nie länger als etwa acht bis zehn Monate. Von der neu eingestellten Hausgehilfin war sie regelmäßig aufs Höchste entzückt, lobte sie in allen Tönen als eine sogenannte Perle und schwor, jetzt endlich die Richtige gefunden zu haben. Im Laufe der nächsten Monate kühlte ihr Urteil ab, sie fand erst kleine Mängel, dann Tadelnswertes und gegen das Ende der erwähnten Periode ausgesprochen hassenswerte Eigenschaften an dem armen Mädchen, das dann schließlich, regelmäßig unter ganz großem Krach, fristlos entlassen wurde. Nach dieser Entladung war die alte Dame bereit, in dem nächsten Dienstmädchen wieder einen wahren Engel zu erblicken.

Ich bin weit davon entfernt, mich über meine längst verstorbene und im übrigen sehr liebe Tante überheblich lustig zu machen. Ich habe an ernsten und aller nur denkbaren Selbstbeherrschung fähigen Männern, und selbstverständlich auch an mir selbst, genau die gleichen Vorgänge beobachten können oder – besser gesagt – müssen, und zwar in Kriegsgefangenschaft. Die sogenannte Polarkrankheit, auch Expeditionskoller genannt, befällt bevorzugt kleine Gruppen von Männern, wenn diese in den durch obige Namen angedeuteten Situationen ganz aufeinander angewiesen und damit verhindert sind, sich mit fremden, nicht zum Freundeskreis gehörigen Personen auseinanderzusetzen. Aus dem Gesagten wird bereits verständlich sein, dass der Stau der Aggression umso gefährlicher wird, je besser die Mitglieder der betreffenden Gruppe einander kennen, verstehen und lieben. In solcher Lage unterliegen, wie ich aus eigener Erfahrung versichern kann, alle Reize, die Aggression und innerartliches Kampfverhalten auslösen, einer extremen Erniedrigung ihrer Schwellenwerte. Subjektiv drückt sich dies darin aus, dass man auf kleine Ausdrucksbewegungen seiner besten Freunde, darauf, wie sich einer räuspert oder sich schneuzt, mit Reaktionen anspricht, die adäquat wären, wenn einem ein besoffener Rohling eine Ohrfeige hingehauen hätte (K. Lorenz, 1963, S. 87-89).

Lorenz scheint nicht auf den Gedanken zu kommen, dass die persönlichen Erfahrungen seiner Tante, seiner Kriegsgefangenen-Kameraden und seine eigenen Erlebnisse nicht notwendigerweise etwas über die Allgemeingültigkeit derartiger Reaktionen aussagen. Auch scheint er bei der Erklärung des Verhaltens seiner Tante nicht zu bedenken, dass man anstelle der hydraulischen Interpretationsmöglichkeit, die besagt, ihr aggressives Potenzial steige alle acht bis zehn Monate so hoch, dass es zu einer Entladung kommt, eine komplexere psychologische Deutung benötigen könnte.

Vom psychoanalytischen Standpunkt aus würde man annehmen, dass die Tante eine sehr narzisstische Person war, die dazu neigte, andere Menschen auszunutzen. Sie verlangte von ihrem Dienstmädchen, dass es ihr ganz und gar „ergeben“ war, keine eigenen Interessen hatte und freudig die Rolle einer Kreatur annahm, die ihr Glück darin sah, ihr dienen [VII-022] zu dürfen. Bei jedem neuen Dienstmädchen bildete sie sich ein, dieses werde nun ganz bestimmt ihre Erwartungen erfüllen. Nach kurzen „Flitterwochen“, während denen ihre Phantasie noch stark genug war, um sie blind dafür zu machen, dass dieses Dienstmädchen doch wieder nicht „die Richtige“ war – und vielleicht auch mit deswegen, weil das Mädchen zu Anfang sich besonders anstrengte, es ihrer Dienstherrin recht zu machen –, wachte die Tante auf und erkannte, dass das Dienstmädchen nicht bereit war, die ihm zugedachte Rolle zu spielen. Ein derartiger Prozess des Aufwachens dauert natürlich einige Zeit, bis er abgeschlossen ist. Dann aber empfindet die Tante eine intensive Enttäuschung und Wut, wie es bei jedem narzisstisch-ausbeuterischen Menschen im Falle einer Frustration zu beobachten ist. Da sie sich nicht klarmacht, dass die Ursache für ihren Zorn ihre unmöglichen Ansprüche sind, rationalisiert sie ihre Enttäuschung, indem sie ihrem Dienstmädchen die Schuld gibt. Da sie auf die Erfüllung ihrer Wünsche nicht verzichten kann, wirft sie das Mädchen hinaus und hofft, dass die Neue „die Richtige“ sein wird. Der gleiche Mechanismus wiederholt sich, bis sie stirbt oder kein Dienstmädchen mehr finden kann. Eine derartige Entwicklung findet man keineswegs nur im Verhältnis von Arbeitgebern zu Dienstboten. Oft verlaufen Ehekonflikte genauso. Da es jedoch einfacher ist, ein Dienstmädchen hinauszuwerfen als sich scheiden zu lassen, kommt es in der Ehe oft zu einem lebenslänglichen Kampf, bei dem jeder Partner den anderen für Kränkungen zu strafen versucht, die sich immer mehr anhäufen. Es geht hier um das Problem eines spezifisch menschlichen Charakters, nämlich des narzisstisch-ausbeuterischen Charakters, und nicht um das einer gestauten Triebenergie.

In seinem Kapitel über „Der Moral analoge Verhaltensweisen“ stellt Lorenz die folgende Behauptung auf: „Dennoch kann auch derjenige, der diese Zusammenhänge wirklich durchschaut, sich einer immer wiederkehrenden neuen Bewunderung nicht entschlagen, wenn er physiologische Mechanismen am Werke sieht, die Tieren ein selbstloses, auf das Wohl der Gemeinschaft abzielendes Verhalten aufzwingen, wie es uns Menschen durch das moralische Gesetz in uns befohlen wird“ (K. Lorenz, 1963, S. 164 f.).

Wie erkennt man aber „selbstloses“ Verhalten bei Tieren? Was Lorenz beschreibt, ist ein instinktiv determiniertes Verhaltensmuster. Der Ausdruck „selbstlos“ ist der Humanpsychologie entnommen, und er bezieht sich auf die Tatsache, dass ein menschliches Wesen sich selbst (korrekter würde man sagen: sein Ich) bei seinem Wunsch, anderen zu helfen, vergessen kann. Aber hat eine Graugans oder ein Fisch oder ein Hund ein Selbst (oder ein Ich), das sie vergessen können? Hängt Selbstbewusstsein nicht von der Tatsache menschlichen Selbstbewusstseins und der neurophysiologischen Struktur ab, auf der dieses beruht? Diese Frage stellt man sich auch noch bei vielen anderen Ausdrücken, deren Lorenz sich bedient, um tierische Verhaltensweisen zu beschreiben, wie zum Beispiel „Grausamkeit“, „Trauer“, „Verlegenheit“.

Zu den wichtigsten und interessantesten ethologischen Daten von Lorenz gehört das „Band“, das sich zwischen Tieren (sein Hauptbeispiel sind Graugänse) als Reaktion auf Drohungen bildet, die sich von außen gegen die Gruppe richten. Aber die Analogien, die er zur Erklärung menschlicher Verhaltensweisen anwendet, sind gelegentlich verblüffend: „Die diskriminative Aggression gegen Fremde und das Band zwischen den Mitgliedern einer Gruppe steigern sich gegenseitig. Der Gegensatz von ‘wir’ und ‘sie’ kann stark kontrastierende Einheiten aneinander binden. Angesichts des heutigen China scheinen [VII-023] sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gelegentlich als ‘wir’ zu empfinden. Das gleiche Phänomen, das übrigens auch gewisse Kennzeichen des Kampfes aufweist, kann man bei der Zeremonie des Triumph-Geschnatters der Graugänse beobachten“ (K. Lorenz, 1966, S. 189[30]). Ist die amerikanisch-sowjetische Haltung durch Instinktmuster determiniert, die wir von der Graugans ererbt haben? Geht es dem Verfasser um eine amüsante Formulierung, oder möchte er uns tatsächlich glauben machen, dass zwischen dem Verhalten der Gans und dem der amerikanischen und sowjetischen politischen Führer eine Beziehung besteht?

Lorenz geht mit seinen Analogien zwischen tierischem Verhalten (oder seiner Interpretation dieses Verhaltens) und seinen naiven Vorstellungen vom menschlichen Verhalten sogar noch weiter, wie aus seinen Äußerungen über menschliche Liebe und menschlichen Hass hervorgeht: „Ein persönliches Band, eine individuelle Freundschaft finden wir nur bei Tieren mit hoch entwickelter intraspezifischer Aggression, ja, dieses Band ist umso fester, je aggressiver die betreffende Tierart ist“ (K. Lorenz, 1963, S. 326). So weit, so gut; nehmen wir einmal an, dass Lorenz das richtig beobachtet hat. Aber an diesem Punkt springt er über in den Bereich der Humanpsychologie. Nachdem er festgestellt hat, dass die intraspezifische Aggression Millionen Jahre älter sei als die persönliche Freundschaft und Liebe, schließt er daraus: „Es gibt (...) keine Liebe ohne Aggression“ (K. Lorenz, 1963, S. 327; Hervorhebung E. F.). Diese verallgemeinernde Feststellung für die – soweit es sich um die menschliche Liebe handelt – keinerlei Tatsachen sprechen und der ganz im Gegenteil höchst augenfällige Tatsachen widersprechen, wird durch eine weitere Behauptung ergänzt, die sich nicht auf die intraspezifische Aggression, sondern auf den „hässlichen kleinen Bruder der großen Liebe“, den „Hass“, beziehen: „Anders als gewöhnliche Aggression, richtet er sich gegen ein Individuum, ganz wie die Liebe es tut, und wahrscheinlich hat er deren Vorhandensein zur Voraussetzung: Man kann wohl nur dort richtig hassen, wo man geliebt hat und es, wenn man das auch ableugnen möchte, immer noch tut“ (K. Lorenz, 1963, S. 328, Hervorhebung E. F.). Dass die Liebe sich gelegentlich in Hass verwandelt, ist schon oft gesagt worden, wenn es auch korrekter wäre, zu sagen, dass nicht die Liebe diese Wandlung erfährt, sondern der verletzte Narzissmus des Liebenden, das heißt, dass die Nicht-Liebe den Hass verursacht. Zu behaupten, man hasse nur, wo man geliebt habe, verwandelt dagegen das Element von Wahrheit, das in der Behauptung enthalten ist, in eine reine Absurdität. Hasst der Unterdrückte den Unterdrücker, hasst die Mutter des ermordeten Kindes dessen Mörder, hasst der Gefolterte seinen Folterer, weil sie ihn einmal geliebt haben oder ihn noch immer lieben? Ein weiterer Analogieschluss bezieht sich auf das Phänomen der „kämpferischen Begeisterung“. Es handelt sich dabei um „eine spezialisierte Form der gemeinschaftlichen Aggression, die sich deutlich von den primitiven Formen der weniger bedeutenden individuellen Aggression unterscheidet, mit ihr jedoch funktionell verwandt ist“ (K. Lorenz, 1966, S. 268). Es ist ein „heiliger Brauch“, der seine Motivationskraft phylogenetisch entwickelten Verhaltensmustern verdankt. Lorenz versichert, dass „nicht der geringste Zweifel bestehen kann, dass die kämpferische Begeisterung des Menschen sich aus einer gemeinschaftlichen Verteidigungsreaktion unserer vormenschlichen Ahnen entwickelt hat“ (K. Lorenz, 1966, S. 270). Es handelt sich um die von allen geteilte Begeisterung der Gruppe, die sich gegen einen gemeinsamen Feind verteidigt. [VII-024]

Jeder einigermaßen gefühlsstarke Mann kennt das subjektive Erleben, das mit der in Rede stehenden Reaktion einhergeht. Es besteht in erster Linie in der als Begeisterung bekannten Gefühlsqualität, dabei läuft einem ein „heiliger“ Schauer über den Rücken und, wie man bei genauer Beobachtung feststellt, auch über die Außenseite der Arme. Man fühlt sich aus allen Bindungen der alltäglichen Welt heraus- und emporgehoben, man ist bereit, alles liegen und stehen zu lassen, um dem Rufe der heiligen Pflicht zu gehorchen. Alle Hindernisse, die ihrer Erfüllung im Wege stehen, verlieren an Bedeutung und Wichtigkeit, die instinktiven Hemmungen, Artgenossen zu schädigen und zu töten, verlieren leider viel von ihrer Macht. Vernunftmäßige Erwägungen, alle Kritik sowohl wie die Gegengründe, die gegen das von der mitreißenden Begeisterung diktierte Verhalten sprechen, werden dadurch zum Schweigen gebracht, dass eine merkwürdige Umwertung aller Werte sie nicht nur haltlos, sondern geradezu niedrig und entehrend erscheinen lässt. Kurz, wie ein ukrainisches Sprichwort so wunderschön sagt: „Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete!“ (K. Lorenz, 1963, S. 385 f.)

Lorenz drückt „die begründete Hoffnung“ aus, „dass unser moralisches Verantwortungsgefühl den ursprünglichen Trieb unter Kontrolle bekommen kann, doch beruht unsere einzige Hoffnung, dass dies jemals geschehen wird, auf der demütigen Erkenntnis der Tatsache, dass die kämpferische Begeisterung eine instinktive Reaktion mit einem phylogenetisch determinierten Auslösemechanismus ist und dass der einzige Punkt, an dem eine intelligente und verantwortungsbewusste Erkenntnis sich diese Kontrolle verschaffen kann, in der Konditionierung der Reaktion auf ein Objekt liegt, das sich, wenn man es einer gründlichen kategorischen Prüfung unterzieht, als echter Wert erweist“ (K. Lorenz, 1966, S. 271).