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VORWORT

Das Buch meines Lebens

VON RÜDIGER SAFRANSKI

Bis heute ist »Der große Meaulnes« für mich das schönste Buch, das ich kenne. Ich entdeckte es im Sommer 1965 in einem Berliner Trödelladen. Ein leicht zerfleddertes Exemplar der Rowohlt-Taschenbuchausgabe von 1956. Vielleicht zog mich ganz einfach der magische erste Satz an: »An einem Novembertag des Jahres 189… kam er zu uns.«

Schauplatz ist die Landschaft im Herzen Frankreichs, kleine Städte, Dörfer, Flußläufe mit Häusern »wie Barken, die mit eingezogenen Segeln im Hafen in der Abenddämmerung liegen«. Ein neuer Schüler wird beim Lehrer in Pension gegeben. Er ist stolz, schweigsam, ein wenig bäurisch, etwas Wildes und Abenteuerliches geht von ihm aus. Er zieht die Mitschüler in seinen Bann.

Eines Tages verschwindet er mit einem Pferdefuhrwerk. Tage später kommt er zurück, allein, verstört, unruhig. Unterm Kittel aber trägt er eine seidene Weste.

Er habe sich verirrt, erzählt er, war in ein wunderliches Maskenfest im Wald geraten, eine Begegnung mit einem Mädchen, eine Bootsfahrt auf einem winterlichen See. Von nun an sucht er das »verlorene Land«, es ist auf keiner Karte verzeichnet, und die Spuren sind verwischt. Alles geschieht langsam, wie im Schatten eines großen Ereignisses, von dem man nicht genau weiß, ob es vorbei ist oder noch aussteht, schwebend zwischen Wehmut und Sehnsucht.

Es ist die Geschichte einer vergeblichen Suche, auch nach jenem Mädchen vom Fest. Das »verlorene Land« ist, wie sich später herausstellt, gar nicht so fern, es ist nahe wie der Horizont, der zurückweicht, wenn wir uns ihm nähern.

»Ein Mensch aber«, sagt Meaulnes, »der einmal einen Fuß ins Paradies gesetzt hat, wie soll der sich nachher mit dem Leben abfinden, das gewöhnliche Sterbliche führen?«

Henri Alain-Fournier war 26 Jahre alt, als 1913 sein erster und einziger Roman erschien. Er wurde für den Goncourt-Preis vorgeschlagen. Dann begann der Krieg. Alain-Fournier fiel in einer der ersten Schlachten.

Erster Teil

KAPITEL 1

An einem Novembertag des Jahres 189… kam er zu uns.

Ich sage immer noch »zu uns«, dabei ist es gar nicht mehr unser Haus. Vor beinahe fünfzehn Jahren sind wir aus der Gegend weggezogen und kehren bestimmt nicht mehr zurück.

Wir wohnten im Gebäude des Cours Supérieur von Sainte-Agathe, in dem die älteren Schüler unterrichtet wurden. Mein Vater, den ich wie die anderen Schüler Monsieur Seurel nannte, leitete den Cours Supérieur, der zum Lehrerexamen führte, und den Cours Moyen. Meine Mutter unterrichtete die Kleinen.

Das lang gestreckte rote Haus hatte fünf Glastüren, war von wildem Wein bewachsen und lag am Ende der kleinen Stadt. Das Tor des riesigen Innenhofs mit dem überdachtem Pausenhof und der Waschküche ging zum Dorf hinaus. Nach Norden hin lag die Landstraße, die man durch ein kleines Gittertor erreichte. Sie führte zum drei Kilometer entfernten Bahnhof. Im Süden, hinter dem Haus, lagen Felder, Gärten und Wiesen, die an die Vorstadt grenzten. So etwa sah der Ort aus, an dem sich die aufregendsten und kostbarsten Tage meines Lebens abspielten – hier begannen unsere Abenteuer, von hier gingen sie aus wie Wellen, die sich bei ihrer Rückkehr an einem einsamen Felsen brechen.

Wir waren durch die zufällige Entscheidung eines Inspektors oder Präfekten, hierher versetzt worden. Vor langer Zeit hatte gegen Ende der Ferien ein Bauernkarren, der unserem Umzugswagen vorausfuhr, meine Mutter und mich hier abgesetzt, vor dem kleinen rostigen Gittertor. Ein paar Jungen, die gerade im Garten Pfirsiche stahlen, flohen lautlos durch Löcher in der Hecke … Meine Mutter Millie, die ordentlichste Hausfrau, die mir je begegnet ist, betrat sogleich die Zimmer, in denen staubiges Stroh herumlag, und stellte wie bei jedem Umzug verzweifelt fest, nie und nimmer würden unsere Möbel in dieses miserabel gebaute Haus passen … Sie kam wieder heraus, um mir ihre Sorgen anzuvertrauen. Und während sie mit mir sprach, wischte sie mir mit dem Taschentuch das Gesicht ab, das auf der Reise ganz schwarz geworden war. Dann ging sie wieder ins Haus, um zu zählen, wie viele Löcher wir zustopfen müssten, um es bewohnbar zu machen. Ich hatte einen großen Strohhut mit einem Band auf dem Kopf und blieb eine Weile abwartend auf dem Kies des fremden Innenhofs stehen. Dann begann ich, mich in der Umgebung des Brunnens und im Schuppen umzusehen.

So ungefähr stelle ich mir heute unsere Ankunft vor. Denn sobald ich versuche, die ferne Erinnerung an den ersten Abend in Sainte-Agathe wachzurufen, an dem ich draußen im Hof wartete, denke ich gleich wieder an andere Male, an denen ich ebenfalls gewartet habe. Ich sehe, wie ich, beide Hände an den Gitterstäben des Eingangstors, angstvoll Ausschau halte, ob jemand die Grand’ Rue entlangkommt. Und wenn ich versuche, mir jene erste Nacht vorzustellen, die ich in meiner Mansarde verbringen musste, zwischen den Dachkammern der ersten Etage, denke ich sogleich an andere Nächte. Da bin ich nicht mehr allein im Zimmer. Der große, unruhige Schatten eines Freundes bewegt sich an den Wänden entlang und geht spazieren. Unsere friedliche Landschaft – die Schule, das Feld von Père Martin mit den drei Nussbäumen, der Garten, in dem sich nach vier Uhr die Besucherinnen aufhielten – ist mir für immer im Gedächtnis geblieben, in Aufregung versetzt, verändert durch die Gegenwart des Jungen, der unsere ganze Jugend beeinflusste und dessen Verschwinden uns nicht zur Ruhe kommen ließ.

Dabei waren wir schon zehn Jahre hier, als Meaulnes zu uns kam.

Ich war fünfzehn. Es war ein kalter Novembersonntag, der erste Tag im Herbst, der den Winter ankündigte. Den ganzen Tag hatte Millie auf einen Wagen vom Bahnhof gewartet, der ihr einen Hut für die kalte Jahreszeit bringen sollte. Morgens hatte sie die Messe versäumt. Ich saß mit den anderen Kindern im Chor, und bis zur Predigt blickte ich unruhig zum Eingang auf der Seite der Glocken, ob sie mit ihrem neuen Hut hereinkäme.

Nachmittags musste ich allein zur Vesper gehen.

»Weißt du«, sagte sie zum Trost, während sie meinen Kinderanzug mit der Hand abbürstete, »selbst wenn dieser Hut gekommen wäre, hätte ich sicher den ganzen Sonntag gebraucht, um ihn schön herzurichten.«

So waren unsere Sonntage im Winter oft.

Morgens ging mein Vater fort und fuhr, um Hechte zu fangen, mit seinem Boot auf einen Teich, über dem Nebel lag; meine Mutter saß bis in die Nacht in ihrem düsteren Schlafzimmer und besserte ein Kleidungsstück aus. Sie tat dies im Verborgenen, denn sie fürchtete, eine mit ihr befreundete Dame, ebenso arm wie sie, aber genau so stolz, könne sie dabei überraschen. Nach der Vesper wartete ich im kalten Esszimmer und las, dann öffnete sie die Tür und zeigte mir, wie ihr das Kleid stand.

An diesem Sonntag blieb ich nach der Vesper draußen, weil vor der Kirche reges Treiben herrschte. Eine Taufe in der Eingangshalle hatte die Kinder angelockt. Draußen auf dem Platz standen mehrere Männer aus dem Ort in Reih und Glied in ihrer Feuerwehrkluft. Sie froren, traten von einem Fuß auf den anderen und hörten Boujardon, dem Brigadier zu, der sich in allgemeinen Erörterungen erging 

Die Taufglocken verstummten plötzlich wie ein am falschen Tag und am falschen Ort erklungenes Festgeläut; Boujardon und seine Leute, ihr Werkzeug am Gürtel, trabten mit der Spritze los und ich sah, wie sie hinter der nächsten Kurve verschwanden, dicht gefolgt von vier schweigenden Jungen. Mit ihren dicken Sohlen zertraten sie kleine Zweige auf der raureifbedeckten Straße, und ich traute mich nicht, ihnen zu folgen.

Im Dorf war nur noch im Café Daniel Leben, ich hörte von drinnen die Gespräche der Gäste, manchmal lauter, dann wieder leiser. Ich ging dicht an der niedrigen Mauer des großen Hofs entlang, die unser Haus vom Dorf trennte, und erreichte, wegen meiner Verspätung ein wenig besorgt, das kleine Gittertor.

Es stand offen, und ich sah sofort, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging.

An der Esszimmertür – sie war den vier Glastüren, die auf den Hof hinausgingen, am nächsten – stand gebeugt eine Frau mit grauem Haar, die versuchte, durch die Gardinen zu schauen. Sie war klein und trug ein altmodisches schwarzes Samthütchen. Ihr Gesicht war hager und zart, ihre Miene sorgenvoll. Mich überkam bei ihrem Anblick eine seltsame Angst, und ich blieb auf der ersten Stufe vor dem Gittertor stehen.

»Wo ist er nur? Mein Gott!«, sagte sie leise. »Er war doch gerade noch hier. Er hat sich schon das Haus angesehen. Vielleicht ist er weggelaufen …«

Bei jedem Satz trat sie kaum merklich mit dem Fuß auf.

Niemand kam, um der unbekannten Besucherin die Tür zu öffnen. Wahrscheinlich war Millies Hut vom Bahnhof gebracht worden, und sie hörte nichts. Sie saß wohl in dem roten Zimmer, neben dem Bett, auf dem lauter alte Bänder und Federn lagen, und machte ihre bescheidene Kopfbedeckung zurecht. Als ich ins Esszimmer trat, die Besucherin dicht auf den Fersen, erschien meine Mutter und hielt mit beiden Händen den Hut auf ihrem Kopf, mit lauter Goldfäden, Bändern und Federn, die noch nicht ganz den richtigen Platz gefunden hatten. Sie lächelte mich an, die blauen Augen müde von der Arbeit im Dämmerlicht, und rief:

»Sieh mal, ich habe auf dich gewartet, um dir zu zeigen …«

Da sah sie die Frau hinten im Raum in dem großen Sessel sitzen und hielt verwirrt inne. Schnell nahm sie den Hut ab und hielt ihn während der folgenden Szene dicht an ihre Brust, in ihrem gebeugten rechten Arm, wie ein umgedrehtes Nest.

Die Frau mit dem Samthütchen, zwischen den Knien einen Regenschirm und eine Ledertasche, hatte zu reden begonnen. Dabei wiegte sie leicht den Kopf und schnalzte mit der Zunge. Sie hatte sich wieder gefangen. Sobald die Rede auf ihren Sohn kam, hatte sie etwas Herablassendes und Geheimnisvolles, das uns verwirrte.

Sie waren beide mit einem Wagen aus La Ferté d’Angillon gekommen, vierzehn Kilometer von Sainte-Agathe entfernt. Sie war Witwe und hatte viel Geld, wie sie uns zu verstehen gab. Ihren jüngeren Sohn Antoine hatte sie verloren, als er eines Abends auf dem Rückweg von der Schule mit seinem Bruder in einem verseuchten Teich gebadet hatte. Sie hatte beschlossen, Augustin, den Älteren, zu uns in Pension zu geben, weil er den Cours Supérieur besuchen sollte.

Dann begann sie ein Loblied auf den neuen Schüler zu singen, den sie zu uns brachte. Ich erkannte die Frau mit dem grauen Haar nicht wieder, die ich vor einer Minute noch gebeugt vor der Tür hatte stehen sehen, in bittender Haltung und wie ein aufgescheuchtes Huhn, das das wildeste Küken seiner Brut verloren hat.

Was sie voller Bewunderung über ihren Sohn erzählte, war überraschend: wie gern er ihr eine Freude machte, dass er manchmal mit nackten Beinen Kilometer den Fluss entlangliefe, um ihr Eier von Wasserhühnern und wilden Enten zu bringen, tief aus dem Schilf … Er habe auch Fischreusen. Und neulich Abend habe er im Wald einen Fasan in einer Falle gefangen 

Ich, der ich mich nicht nach Hause traute, wenn ich einen Riss in meinem Hemd hatte, sah Millie erstaunt an.

Aber meine Mutter hörte gar nicht mehr hin. Sie bedeutete der Frau zu schweigen, stellte vorsichtig ihr Nest auf den Tisch und stand leise auf, als wolle sie jemanden überraschen 

Über uns, in der Kammer, in der noch die abgebrannten Feuerwerkskörper vom letzten 14. Juli aufbewahrt wurden, hörten wir jetzt einen unbekannten, sicheren Schritt, der auf und ab ging und die Zimmerdecke erschütterte, dann den riesigen düsteren Dachboden über der ersten Etage durchquerte und sich schließlich in den angrenzenden leer stehenden Räumen verlor, in denen wir Lindenblüten trocknen und Äpfel reifen ließen.

»Ich habe schon vorhin Geräusche hinten in den Zimmern gehört«, sagte Millie leise, »ich dachte, das wärst du, François, und du wärst schon zurück.«

Niemand antwortete. Wir standen alle drei mit klopfendem Herzen da, als die Dachbodentür aufging, die auf die Treppe zur Küche führte. Jemand kam die Treppe herunter, durchquerte die Küche und stand dann im düsteren Eingang des Esszimmers.

»Bist du es, Augustin?«, fragte die Dame.

Er war ein großer Junge von ungefähr siebzehn. In der Dämmerung sah ich von ihm zuerst nur den Bauernfilzhut, den er auf dem Hinterkopf trug, und seinen schwarzen Schülerkittel mit dem Gürtel. Ich konnte auch erkennen, dass er lächelte 

Er sah mich, und bevor ihn jemand um eine Erklärung bitten konnte, sagte er:

»Kommst du mit auf den Hof?«

Ich zögerte eine Sekunde. Aber da Millie mich nicht zurückhielt, nahm ich meine Mütze und ging zu ihm. Wir liefen durch die Küchentür nach draußen und auf den Hof, der schon im Dunkeln lag. Im letzten Tageslicht sah ich im Gehen sein kantiges Gesicht mit der geraden Nase und seine flaumbedeckte Oberlippe.

»Sieh mal«, sagte er, »das habe ich auf deinem Dachboden gefunden. War dir das nicht aufgefallen?«

Er hielt ein kleines geschwärztes Holzrad in der Hand, ringsherum eine ganze Reihe ausgebrannter Feuerwerkskörper. Es war sicher die Sonne oder der Mond vom 14. Juli.

»Zwei sind nicht abgebrannt; wir können sie noch anzünden«, sagte er ruhig wie jemand, der hofft, bald etwas Besseres zu finden.

Er warf seinen Hut zu Boden und ich sah, dass er die Haare kurz geschnitten trug wie ein Bauer. Er zeigte mir die beiden Raketen mit ihren Zündschnüren, die das Feuer angefressen, geschwärzt, aber dann verschont hatte. Er steckte die Achse des Rades in den Sand und zog – zu meiner großen Überraschung, weil es uns streng verboten war – aus seiner Tasche eine Schachtel Streichhölzer. Er bückte sich vorsichtig und steckte die Zündschnur an. Dann nahm er mich an der Hand und riss mich nach hinten.

Gleich darauf erschien meine Mutter mit der von Meaulnes in der Tür, sie hatten wohl inzwischen verhandelt und den Preis für die Unterbringung festgelegt, und sah auf dem Hof zwei rote und weiße Sternbündel mit dem Geräusch eines Blasebalgs in die Höhe schießen, und eine Sekunde konnte sie auch mich erkennen, wie ich reglos im magischen Licht stand, an der Hand des großen Jungen, der gerade erst angekommen war 

Auch jetzt wagte sie nichts zu sagen.

Abends beim Essen am Familientisch saß er still da, aß mit gesenktem Kopf und achtete nicht auf die Blicke, die wir drei auf ihn richteten.

KAPITEL 2

Nach vier Uhr

Bis dahin hatte ich kaum mit den Jungen aus dem Dorf auf der Straße gespielt. Ich war ängstlich und unglücklich wegen Schmerzen in der Hüfte, unter denen ich bis zu jenem Jahr 189… litt. Ich sehe mich noch, wie ich versuche, den flinken Schülern in den Gassen um das Haus herum zu folgen, und dabei elend auf einem Bein hüpfe 

Deshalb ließen sie mich kaum nach draußen, und ich erinnere mich, wie Millie, die sehr stolz auf mich war, mich mehrmals mit Ohrfeigen nach Hause trieb, weil sie mich auf einem Bein humpelnd bei den Bengeln aus dem Dorf antraf.

Die Ankunft von Augustin Meaulnes, die mit meiner Heilung zusammenfiel, war der Beginn eines neuen Lebens.

Bevor er gekommen war, hatte für mich um vier Uhr nach dem Ende des Unterrichts immer ein langer, einsamer Abend begonnen. Mein Vater brachte das Feuer aus dem Ofen im Klassenraum in den Kamin unseres Esszimmers; und nach und nach verließen die letzten Jungen die inzwischen abgekühlte, raucherfüllte Schule. Manche spielten noch draußen, rannten auf dem Hof herum, dann wurde es dunkel. Die beiden Schüler, die die Klasse gefegt hatten, suchten unter dem Wetterdach ihre Mützen und Pelerinen und liefen nach Hause, ihren Korb am Arm, und ließen das große Eingangstor offen.

Während das Tageslicht noch hereinfiel, hielt ich mich in der »Mairie« auf, einem Archiv voller toter Fliegen und mit Plakaten an den Wänden, die im Wind flatterten, und las dort auf einem alten Schaukelstuhl an dem Fenster zum Garten.

Wenn es dunkel war, die Hunde des benachbarten Bauernhofs zu heulen begannen und das Fenster in unserer kleinen Küche hell wurde, ging ich nach Hause. Meine Mutter hatte schon angefangen zu kochen. Ich stieg drei Stufen der Treppe zum Dachboden hinauf, setzte mich schweigend hin, lehnte den Kopf an das kalte Treppengeländer und sah zu, wie sie in der engen Küche im flackernden Schein einer Kerze das Herdfeuer anzündete.

Aber dann kam einer und entriss mich diesen friedlichen kindlichen Vergnügungen. Er löschte die Kerze, die das sanfte, über das Abendessen gebeugte Gesicht meiner Mutter erleuchtete. Er löschte die Lampe, um die wir als glückliche Familie zusammen saßen, abends, wenn mein Vater die Holzläden vor den Glastüren geschlossen hatte. Es war niemand anderer als Augustin Meaulnes, den die anderen Schüler bald den großen Meaulnes nannten.

Seit er bei uns wohnte, also seit Anfang Dezember, war die Schule abends nach vier Uhr nicht mehr leer. Trotz der Kälte, die durch die offene Tür hereindrang, trotz der Schreie der Fegenden und ihrer Wassereimer blieben nach dem Unterricht immer zwanzig große Schüler, die entweder vom Land oder aus der Stadt kamen, im Klassenraum, dicht um Meaulnes gedrängt. Hier diskutierten sie lange Zeit, stritten sich endlos, und ich war mittendrin, aufgeregt und vergnügt.

Meaulnes sagte nichts, aber seinetwegen kamen die Geschwätzigsten nach vorn in die Mitte der Gruppe und erzählten lange Räuberpistolen, riefen ihre Freunde nacheinander zu Zeugen auf, und die pflichteten ihnen lärmend bei, während die anderen mit offenem Mund zuhörten und lautlos lachten.

Meaulnes saß nachdenklich auf einer Schulbank und baumelte mit den Beinen. In guten Momenten lachte er sogar, aber nur leise, als hebe er sich lautes Lachen für bessere Geschichten auf, die allein er kannte.

Wenn es dunkel wurde und kein Licht mehr durch die Fenster auf die Gruppe der Jungen fiel, stand Meaulnes plötzlich auf, ging durch den engen Kreis hindurch und rief:

»Los geht’s!«

Dann folgten ihm alle und man hörte ihre Schreie noch bis in die dunkle Nacht, mitten im Ort 

Manchmal begleitete ich sie. Mit Meaulnes ging ich zu den Türen der am Ortsrand gelegenen Ställe, wenn die Kühe gemolken wurden … Wir gingen in Werkstätten hinein, und im Dunkel sagte der Weber zwischen dem Klappern seines Webstuhls:

»Da kommen die Schüler!«

Zur Zeit des Mittagessens hielten wir uns meistens in der Nähe der Schule bei Desnoues, dem Stellmacher auf, der auch Hufschmied war. Seine Werkstatt lag in einer früheren Herberge und hatte große, offen stehende zweiflügelige Türen. Von der Straße aus hörte man den Blasebalg der Schmiede und sah manchmal im Licht der Glut an diesem finsteren, lärmenden Ort Leute vom Lande, die hier ihre Wagen angehalten hatten, um einen Moment zu plaudern, manchmal lehnte auch ein anderer Schüler wie wir an einer Tür und sah wortlos zu.

Und hier hat alles begonnen, ungefähr acht Tage vor Weihnachten.

KAPITEL 3

»Ich besuchte oft die Werkstatt eines Korbmachers«

Es hatte den ganzen Tag geregnet und hörte erst abends auf. Der Tag war von tödlicher Langeweile. In den Pausen ging niemand nach draußen. Und immer wieder rief Monsieur Seurel, mein Vater, im Unterricht:

»Macht nicht solchen Lärm, Jungens!«

Nach der letzten Pause an diesem Tag, wir nannten sie die »letzte Viertelstunde«, blieb Monsieur Seurel, der seit einem Moment nachdenklich auf und ab ging, stehen, schlug heftig mit dem Lineal auf den Tisch, damit das am Ende des Unterrichts übliche Gemurmel aufhörte, und sagte in die eingetretene Stille: »Wer fährt morgen mit François zum Bahnhof, um Monsieur und Madame Charpentier abzuholen?«

Das waren meine Großeltern: Großvater Charpentier, der Mann mit dem grauen Wollmantel, er war Förster im Ruhestand, trug eine Mütze aus Hasenhaar, die er sein Käppi nannte … Die kleinen Jungen kannten ihn gut. Morgens holte er einen Eimer Wasser aus dem Brunnen, um sich zu waschen, dann plätscherte er ein bisschen darin herum wie ein alter Militär und rieb sich ein wenig den Bart ab. Er war umringt von Kindern, die ihm, respektvoll und neugierig zusahen, die Hände auf dem Rücken … Sie kannten auch Großmutter Charpentier, die kleine Bäuerin mit dem Strickmantel, denn Millie nahm sie mindestens einmal mit in den Unterricht der Kleinen.

Jedes Jahr holten wir sie ein paar Tage vor Weihnachten am Bahnhof ab, sie kamen mit dem Zug um vier Uhr zwei. Um uns zu besuchen, fuhren sie quer durch das Departement und brachten Bündel mit Esskastanien und in Handtüchern verpackte Nahrungsmittel für Weihnachten mit. Sobald sie beide eingemummelt, lächelnd und etwas schüchtern das Haus betreten hatten, schlossen wir alle Türen, und nun begann für uns eine Woche großer Freude.

Der mit mir im Wagen fuhr, um sie abzuholen, musste groß und vernünftig sein, um uns nicht in den Graben zu lenken, außerdem gutmütig, denn Großvater Charpentier fluchte schnell und die Großmutter schwatzte gern.

Auf die Frage von Monsieur Seurel antworteten zehn Stimmen, sie riefen alle:

»Der große Meaulnes, der große Meaulnes!«

Aber Monsieur Seurel tat, als höre er nichts.

Da riefen sie:

»Fromentin!«

Und wieder andere:

»Jasmin Delouche!«

Der jüngste der Roy-Jungen, der oft auf einer Sau über die Felder galoppierte, schrie mit durchdringender Stimme:

»Ich! Ich!«

Dutrembly und Mouchebœuf hoben nur schüchtern die Hand.

Ich hätte mir Meaulnes gewünscht. Dadurch hätte die kleine Fahrt im Eselskarren an Bedeutung gewonnen. Er wollte es auch gern, aber er schwieg herablassend. Alle großen Schüler saßen wie er auf dem Tisch, die Füße auf der Bank, wie wir es immer machten, wenn wir ausgelassen und fröhlich waren. Coffin hatte seinen Kittel hochgeschoben, um seinen Gürtel gewickelt und die Arme um die eiserne Säule unter dem Stützbalken des Klassenraums gelegt und begann, ausgelassen daran hochzuklettern. Aber Monsieur Seurel brachte alle zur Ruhe und sagte:

»Mouchebœuf soll fahren.«

Da setzten sich alle schweigend wieder auf ihre Plätze.

Um vier Uhr stand ich allein mit Meaulnes in dem großen, vom Regen ausgewaschenen vereisten Hof. Schweigend blickten wir auf die kleine Stadt, die glänzte und vom starken Wind getrocknet wurde. Bald kam der kleine Coffin mit einer Kapuze auf dem Kopf und einem Stück Brot in der Hand aus seinem Haus, ging dicht an den Hauswänden entlang und näherte sich pfeifend dem Tor der Schmiede. Meaulnes öffnete es, rief ihn herbei und gleich darauf waren wir alle drei in der roten, warmen Werkstatt, durch die plötzlich eiskalte Windstöße drangen. Coffin und ich saßen nahe beim Amboss, unsere schlammbedeckten Füße in weißen Hobelspänen, während Meaulnes, die Hände in den Taschen, schweigend an einem Flügel des Eingangstors lehnte. Von Zeit zu Zeit kam auf der Straße eine Frau aus dem Dorf vorbei, die beim Metzger gewesen war, mit gesenktem Kopf wegen des Windes, und wir blickten auf, um zu sehen, wer sie war.

Niemand sagte etwas. Der Schmied und sein Geselle, der eine am Blasebalg, der andere auf das Eisen schlagend, warfen große, schroffe Schatten an die Wand … In meiner Erinnerung ist dieser Abend einer der wichtigsten meiner Jugend. Es war eine Mischung aus Vergnügen und Furcht: Ich hatte Angst, mein Freund könnte mir die kleine Freude nehmen, im Wagen zum Bahnhof zu fahren; und zugleich erwartete ich von ihm, ohne es mir einzugestehen, irgendein Erlebnis, so ungewöhnlich, dass sich dadurch alles verändern würde.

Ab und zu wurde die friedliche und regelmäßige Arbeit in der Werkstatt einen Moment unterbrochen. Der Schmied ließ seinen Hammer mit kurzen, schweren, klingenden Schlägen auf den Amboss fallen. Dann sah er sich das Stück Eisen an, das er bearbeitet hatte, wobei er es dicht an seine Lederschürze hielt. Darauf hob er den Kopf und sagte zu uns, um ein wenig zu verschnaufen: »Na, wie geht’ s, Jungens?«

Der Geselle hielt seine Hand oben an der Kette des Blasebalgs, stützte die linke Faust in die Hüfte und sah uns lachend an.

Dann ging die schwere, lärmende Arbeit weiter.

In einer der Pausen sahen wir durch die schlagende Tür im Wind Millie vorbeigehen, in ein Tuch gehüllt und mit Päckchen beladen.

Der Schmied fragte:

»Kommt jetzt nicht bald Monsieur Charpentier?«

»Morgen«, antwortete ich, »mit meiner Großmutter. Ich hole sie vom Zug um vier Uhr zwei mit dem Wagen ab.«

»Im Wagen von Fromentin?«

Ich sagte schnell:

»Nein, dem von Père Martin.«

»Oh, dann seid ihr aber nicht so schnell wieder zurück.«

Und beide, sein Geselle und er, fingen an zu lachen.

Der Geselle, der auch etwas sagen wollte, meinte langsam:

»Mit der Stute von Fromentin könnte man sie in Vierzon abholen, da hat er eine Stunde Aufenthalt, fünfzehn Kilometer von hier. Da wärt ihr schon zurück, ehe der Esel von Martin angespannt ist.«

»Es ist eine Stute, die gut läuft«, sagte der andere.

»Und ich glaube, Fromentin würde sie euch bestimmt leihen.«

Damit war das Gespräch zu Ende. Danach lärmte es wieder in der Werkstatt, die Funken sprühten, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Als es Zeit war zu gehen und ich aufstand, um dem großen Meaulnes ein Zeichen zu geben, bemerkte er mich zuerst nicht. Er lehnte an der Tür, den Kopf gebeugt, und schien über das Gesagte nachzudenken. Als ich ihn so gedankenverloren wie durch meilenweiten Nebel auf die friedlich arbeitenden Leute blicken sah, dachte ich plötzlich an das Bild aus Robinson Crusoe, das den englischen Jungen zeigt, vor seiner Abreise, »wie er die Werkstatt eines Korbmachers besucht«.

Daran habe ich seitdem oft wieder gedacht.

KAPITEL 4

Die Flucht

Um ein Uhr nachmittags am nächsten Tag liegt die Klasse des Cours Supérieur in hellem Licht, wie ein Schiff auf dem Ozean inmitten der eisigen Landschaft. Es riecht weder nach Salzlake noch nach Öl wie auf einem Fischerboot, dafür aber nach den auf dem Ofen gebratenen Heringen und den angesengten Wollsachen der Jungen, die sich beim Hereinkommen, um warm zu werden, zu dicht an den Ofen gedrängt haben.

Weil das Ende des Schuljahres naht, sind die Aufsatzhefte verteilt worden. Und während Monsieur Seurel die Themen an die Tafel schreibt, ist eine gewisse Stille eingekehrt, immer wieder von leisen Gesprächen und kleinen erstickten Schreien und von Sätzen unterbrochen, die die Nachbarn erschrecken und so beginnen: »Monsieur, der da hat mir …«

Monsieur Seurel schreibt die Themen an die Tafel und denkt an andere Dinge. Von Zeit zu Zeit dreht er sich um und sieht alle zugleich streng und abwesend an. Dann hört das heimliche Getuschel für eine Sekunde auf und beginnt gleich danach wieder, zuerst ganz leise, wie das Schnurren einer Katze.

Ich bin der Einzige, der in dieser Erregung nichts sagt.

Ich sitze am Ende eines Tisches bei den Jüngeren in der Nähe der großen Fenster und wenn ich mich ein wenig aufrichte, kann ich unten den Garten, den Bach und die Felder sehen.

Ab und zu stelle ich mich auf die Zehenspitzen und sehe ängstlich zum Bauernhof La Belle-Etoile hinüber. Seit Beginn des Unterrichts ist mir aufgefallen, dass Meaulnes nach der Mittagspause nicht wiedergekommen ist. Sein Banknachbar muss es auch bemerkt haben. Er hat noch nichts gesagt, weil er mit seinem Aufsatz beschäftigt ist. Aber sobald er den Kopf hebt, wird die Neuigkeit in der Klasse die Runde machen und irgendwer wird, wie üblich, laut die ersten Worte des Satzes rufen:

»Monsieur! Meaulnes …«

Ich weiß, dass Meaulnes weg ist. Genauer gesagt, ich vermute, er ist ausgerissen. Bestimmt ist er nach dem Mittagessen über die kleine Mauer gesprungen, ist durch die Felder gerannt, hat auf dem alten Holzbrett den Bach überquert und ist bis Belle-Étoile gelaufen. Bestimmt hat er dort gefragt, ob er die Stute haben kann, um Monsieur und Madame Charpentier abzuholen, und lässt gerade anspannen.

Belle-Étoile liegt drüben am anderen Bachufer, zum Hügel hin, ein großer Gutshof, der im Sommer durch die Ulmen und Eichen auf dem Hof und hinter Hecken verborgen ist. Er liegt an einem kleinen Weg, der auf der einen Seite zur Bahnhofstraße und auf der anderen in einen Vorort führt. Das Schloss ist von einer hohen, durch Stützpfeiler verstärkten Mauer umgeben, deren Fuß mit Mist bedeckt ist, und im Juni verschwindet es hinter den Blättern. Von der Schule aus hört man erst gegen Abend das Rollen der Karren und die Rufe der Kuhhirten. Aber heute sehe ich durch das Fenster zwischen den kahlen Bäumen die hohe graue Mauer, die den Hof umgibt, das Eingangstor und zwischen den Stämmen der Hecke das vom Raureif weiße Band eines Weges, parallel zum Bach, der zur Bahnhofstraße führt.

Noch regt sich nichts in der hellen Winterlandschaft. Noch hat sich nichts verändert.

Jetzt wird Monsieur Seurel gerade mit dem zweiten Aufsatzthema fertig. Er gibt normalerweise immer drei. Wenn es heute zufällig nur zwei wären, dann … Dann würde er gleich auf den Katheder steigen und merken, dass Meaulnes nicht da ist. Er würde zwei Jungen ins Dorf schicken, um ihn zu suchen, und die würden ihn sicher finden, bevor die Stute angespannt ist 

Nachdem er das zweite Thema an die Tafel geschrieben hat, lässt Monsieur Seurel einen Moment müde den Arm sinken … Dann beginnt er zu meiner großen Erleichterung eine neue Zeile, schreibt und sagt:

»Und das hier ist ein Kinderspiel!«

Zwei kleine schwarze Striche oberhalb der Mauer von Belle-Étoile, es müssen die beiden Deichselstangen einer Kutsche sein, sind jetzt verschwunden. Ich bin sicher, dass sie dort alles für die Abfahrt von Meaulnes fertig machen. Kopf und Brust der Stute tauchen zwischen den beiden Säulen am Eingang auf. Dann bleibt sie stehen, wahrscheinlich weil hinten am Wagen ein zweiter Sitz für die Reisenden befestigt wird, die Meaulnes abholen will. Dann fährt der Wagen langsam aus dem Hof hinaus, verschwindet einen Moment hinter der Hecke und erscheint dann mit derselben Langsamkeit auf dem weißen Stück Weg, das durch zwei Lücken im Zaun zu sehen ist. Da erkenne ich die kleine schwarze Figur, die die Zügel hält, einen Ellbogen lässig an die Wagenseite gelegt, wie ein Bauer. Es ist mein Freund Augustin Meaulnes.

Einen Augenblick verschwindet alles noch einmal hinter der Hecke. Zwei Männer stehen am Tor von Belle-Étoile, sehen dem Wagen nach und unterhalten sich, wobei sie immer lebhafter werden. Einer von ihnen legt trichterförmig die Hand an den Mund und ruft Meaulnes, dann läuft er auf dem Weg ein paar Schritte in seine Richtung. Aber Meaulnes, dessen Wagen die Straße zum Bahnhof erreicht hat und von dem kleinen Weg aus wohl kaum noch zu sehen ist, ändert plötzlich seine Haltung. Einen Fuß vorn, aufrecht wie ein römischer Wagenlenker, bewegt er mit beiden Händen heftig die Zügel, treibt sein Pferd zu größter Eile an und verschwindet im Nu auf der anderen Seite der Anhöhe. Der Mann, der ihn gerufen hat, rennt nicht weiter, der andere rast im Galopp durch die Felder, scheinbar direkt auf uns zu.

Ein paar Minuten später, gerade als sich Monsieur Seurel, der die Tafel verlassen hat, die Kreide von den Händen reibt und drei Stimmen auf einmal durch den Klassenraum rufen: »Monsieur, der große Meaulnes ist weg!«, ist der Mann in dem blauen Kittel an der Tür, öffnet sie weit, lüftet den Hut und fragt an der Schwelle: »Entschuldigen Sie, Monsieur, haben Sie diesem Schüler erlaubt, den Wagen auszuleihen, um in Vierzon Ihre Eltern abzuholen? Uns sind plötzlich Zweifel gekommen …«

»Aber keinesfalls«, antwortet Monsieur Seurel.

In der Klasse erhebt sich großer Tumult. Die drei Ersten, nahe am Ausgang, die sonst immer Schafe und Schweine mit Steinen verjagen, wenn sie im Hof Blumen fressen, sind zur Tür gestürzt. Zuerst hört man das laute Klappern ihrer eisenbeschlagenen Holzschuhe auf den Fliesen der Schule, dann ihre gedämpften, schnellen Schritte auf dem Sand im Hof, und nachdem sie durchs kleine Gittertor auf die Straße gelaufen sind, entfernen sich die Schritte. Der Rest der Klasse drängt sich an die Fenster zum Garten. Manche sind auf die Tische gestiegen, um besser zu sehen 

Aber es ist zu spät. Der große Meaulnes ist entkommen.

»Du fährst trotzdem mit Mouchebœuf zum Bahnhof«, sagt Monsieur Seurel zu mir. »Meaulnes kennt den Weg nach Vierzon nicht. Er wird sich an den Kreuzungen verirren und nicht pünktlich am Drei-Uhr-Zug sein.«

Millie steckt den Kopf durch die Tür des Klassenraums der Kleinen.

»Was ist denn los?«

Die Leute im Ort versammeln sich auf der Straße. Der Bauer steht immer noch da, reglos, stur, den Hut in der Hand, wie jemand, der Gerechtigkeit fordert.

KAPITEL 5

Der Wagen kehrt zurück.

Als ich die Großeltern vom Bahnhof abgeholt hatte und wir nach dem Abendessen vor dem Kamin saßen, begannen sie, in allen Einzelheiten zu erzählen, was sie seit den letzten Ferien erlebt hatten, doch bald merkte ich, dass ich ihnen gar nicht zuhörte.

Das kleine Hoftor lag nahe an der Esszimmertür. Beim Öffnen quietschte es. Wenn es Abend wurde und wir zusammensaßen und arbeiteten, wartete ich insgeheim immer darauf, dass das Gitter quietschte. Es folgte stets das Geräusch klappernder Holzschuhe, die an der Schwelle abgestreift wurden, manchmal hörte man auch Flüstern von Leuten, die sich vor dem Hereinkommen miteinander besprachen.

Dann klopfte es. Es war ein Nachbar oder die Lehrerinnen, irgendjemand, der uns den langen Abend verkürzte.

An diesem Abend hatte ich nichts von draußen zu erwarten, denn alle, die ich liebte, waren ja im Haus versammelt. Dennoch konnte ich nicht umhin, auf alle Geräusche der Nacht zu lauschen und zu warten, dass jemand unsere Tür öffnete.

Mein alter Großvater war da, struppig wie ein Hirte aus der Gascogne, die schweren Füße vor sich aufgestellt, den Stock zwischen den Beinen und die Schulter vorgebeugt, um seine Pfeife gegen seinen Schuh zu klopfen. Mit seinen großen feuchten und guten Augen bestätigte er, was Großmutter von ihrer Reise, ihren Hühnern, ihren Nachbarn und den Bauern erzählte, die ihre Pacht noch nicht gezahlt hatten. Aber ich war nicht mehr bei ihnen.

Ich stellte mir vor, wie der Wagen fuhr und vor der Tür anhielt. Meaulnes würde vom Kutschbock springen und hereinkommen, als sei nichts geschehen … Vielleicht würde er die Stute auch nach Belle-Étoile zurückbringen; und bald würde ich seinen Schritt auf der Straße hören und dann das Öffnen des Gitters 

Doch nichts geschah. Großvater blickte starr vor sich hin, und wenn er seine Lider bewegte, hielt er sie lange geschlossen, als sei er sehr müde. Verlegen wiederholte Großmutter ihren letzten Satz, aber keiner hörte zu.

»Macht ihr euch wegen des Jungen Sorgen?«, fragte sie schließlich.

Am Bahnhof hatte ich sie vergeblich ausgefragt. Sie hatte niemanden am Bahnhof von Vierzon gesehen, der dem großen Meaulnes ähnlich war. Offenbar hatte mein Freund sich verspätet. Sein Versuch war fehlgeschlagen. Auf der Rückfahrt kämpfte ich mit meiner Enttäuschung, während Großmutter mit Mouchebœuf plauderte. Auf der von Raureif weißen Straße wirbelten kleine Vögel um die Hufe des trottenden Esels. Von Zeit zu Zeit hörte man in der eisigen Stille des Nachmittags den entfernten Ruf einer Schäferin oder eines Jungen, der von einem Tannenwäldchen zum nächsten nach seinem Freund rief. Und jedes Mal ließ mich der lange Schrei auf den einsamen Hügeln erschauern, als sei es die Stimme von Meaulnes, der mich rief, um ihm in die Ferne zu folgen 

Während ich daran zurückdachte, wurde es Zeit, schlafen zu gehen. Großvater war schon in das rote Zimmer gegangen, einen feuchten und eiskalten Salon, in dem seit dem letzten Winter niemand mehr gewesen war. Damit er sich darin ausbreiten konnte, hatten wir die Spitzendeckchen von den Sesseln genommen, die Teppiche beiseitegerollt und die zerbrechlichen Gegenstände weggeräumt. Er hatte seinen Stock auf einen Stuhl gelegt, die groben Schuhe unter einen Sessel gestellt. Er hatte seine Kerze ausgeblasen und wir standen alle da, um uns gute Nacht zu wünschen, bevor jeder in sein Zimmer ging, als uns das Geräusch eines Wagens unterbrach.

Es klang, als folgten zwei Gefährte in langsamem Trab aufeinander. Dann fielen sie in Schritttempo und hielten unter dem Fenster des Esszimmers, das auf die Straße hinausging, aber zugenagelt war.

Mein Vater hatte die Lampe genommen und öffnete ohne Zögern die Tür, die bereits abgeschlossen war. Er stieß das Gittertor auf, ging bis zu den Stufen und hob das Licht über seinen Kopf, um zu sehen, was geschah.

Tatsächlich hatten zwei Wagen gehalten, das Pferd des einen war hinter dem ersten Wagen angebunden. Ein Mann war abgesprungen und zögerte 

»Ist hier das Rathaus?«, fragte er und trat näher. »Können Sie mir sagen, wo Monsieur Fromentin wohnt, der Pächter von Belle-Étoile? Ich habe seinen Wagen und seine Stute gefunden, ohne Fahrer, auf einem Weg bei der Straße nach Saint-Loup-des-Bois. Mit meiner Laterne konnte ich seinen Namen und seine Adresse auf dem Schild lesen. Und da es auf meinem Weg lag, habe ich sein Gespann hierhergebracht, damit es keine Unfälle gibt, aber es ist doch sehr spät geworden.«

Wir standen da und waren verblüfft. Mein Vater trat näher und beleuchtete den Wagen mit seiner Lampe.

»Von einem Kutscher keine Spur«, fuhr der Mann fort. »Nicht mal eine Decke. Das Tier ist erschöpft; es hinkt ein wenig.«