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Fridolin Schley

Wildes schönes Tier

Erzählungen

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ISBN 978-3-945944-03-5

© 2015 Makrobooks

Umschlaggestaltung: Caspar Fischer

Die Originalausgabe erschien 2007 beim Berlin Verlag

Für Aoibheann










»Wenn ich das jetzt überdenke, kann ich mich wundern, daß ich aus der Welt dieser Fieber doch immer wieder ganz zurückkam und mich hineinfand in das überaus gemeinsame Leben, wo jeder im Gefühl unterstützt sein wollte, bei Bekanntem zu sein, und wo man sich so vorsichtig im Verständlichen vertrug.«

Rainer Maria Rilke

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge



»Ulrich hatte den bestimmten Eindruck, daß sie auserwählt seien, einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe zu bereiten.« 

Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften

DIE ACHTE WELT

Zum Ende meines Zivildienstes hin bereitete ich meine Bewerbung für die Dokumentarfilmklasse der Münchner Filmhochschule vor. Ich wollte meinen Unterlagen, obwohl nicht ausdrücklich gefordert, auch einen ersten eigenen Kurzfilm beifügen. Neben einer zunächst äußerst vagen Idee hatte ich schon seit einiger Zeit einen Titel im Kopf: Die Achte Welt.

Jedes Jahr zu Silvester versammelten sich meine Eltern, meine Schwester und ich zu einem kultischen Ritual in unserem Keller und projizierten alte Super-8-Filme, auf denen unser Vater das Familienleben seit der Geburt von uns Kindern festgehalten hatte. Wie groß war immer die Aufregung gewesen, wenn in kleinen gelben Versandpäckchen die frisch entwickelten Filmspulen in der Post lagen und unser Vater noch am selben Abend für Stunden im Hobbykeller verschwand. Wie ein Alchemist saß er über Schnittpresse und Fläschchen mit Filmklebstoff, bis wir bald darauf, im Halbkreis vor der Wand hockend, das Rattern des Projektors vernahmen und uns selbst durchs Bild laufen sahen, ohne Ton, in blassen Farben und kaum wahrnehmbarer Zeitlupe, unter den Niagarafällen in grünen Regenmänteln oder am Strand in Dänemark. Wir winkten unter dem Weihnachtsbaum, hielten selig Geschenke in die Kamera. Selten fühlten wir einander verbundener, als wenn das Filmband während der Projektion plötzlich erstarrte und augenblicklich durchschmorte, was eine unheimliche, kreisrund anschwellende Brandblase an die Wand warf, und sich unsere vier Köpfe ratlos über den uralten Projektor beugten, wenn wir, einer hilfloser als der andere, minutenlang mit dem Bandsalat kämpften. Die Welt der Familie in Super 8, das waren Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Urlaub – für die Filmkamera bestand das Leben der Familie immer nur aus Höhepunkten, nie aus Alltag. Ich hatte schon vor längerer Zeit angefangen, auf Flohmärkten fremdes Super-8-Material zusammenzusammeln, auch Freunde hatten mir, meist heimlich, Zugang zu den sorgsam geordneten und gepflegten Archiven ihrer Väter verschafft. War der Großteil dessen, was ich mir in vielen nächtelangen Sitzungen im Keller vorführte, auch mitunter abgründig (Privatpornos von fernöstlichen Urlaubsreisen) oder erschlagend langweilig (Kaffeefahrten auf dem Starnberger See), so faszinierte mich doch die Vorstellung, dass es vor dem Siegeszug des Videoformats und der plötzlichen Möglichkeit, einfach alles, noch das Unwichtigste auf Kassetten zu bannen und damit bedeutungslos zu machen, offenbar eine Art von unausgesprochenem gesellschaftlichen Grundkonsens über den Wert Familie gegeben hatte und dass Millionen von Familienvätern diesen, ohne es selbst zu wissen, auf unzähligen acht Millimeter breiten Filmbildern festgemacht hatten. Denn so unterschiedlich die Familien auch sein mochten, die sie dokumentierenden Filmaufnahmen, die Anlässe, zu denen die Väter die Kamera hervorholten, ähnelten sich bis in einzelne Einstellungen hinein auf frappierende Weise. Erste torkelnde Gehversuche von Kleinkindern, Ostereiersuche im Garten, Picknick mit Lagerfeuer, Geburtstagskuchen mit wachsender Kerzenzahl. Oktoberfest, Skiausflüge, lachend abwehrende Großmütter, Bescherung am Heiligen Abend. Mir schwebte ein experimenteller Essayfilm vor, in dem ich das Material all dieser Familien so zusammenschnitt und durch einen OFF-Kommentar miteinander verband, dass am Ende ein fiktionaler Handlungsbogen entstand. Eine erfundene Familiengeschichte gebaut aus dem Stückwerk authentischer Bilder. Wahrhaftiges Material in einem neuen, imaginierten Zusammenhang. Nichts gestellt und doch alles erfunden. Das war ungeheuer gut – zumindest glaubte ich das.

Unter den Filmrollen meiner eigenen Familie fanden sich auch einige, die noch vor der Geburt von uns Kindern entstanden waren. Immer wieder aufs Neue empfand ich ungläubiges Erstaunen, wenn ich die Aufnahmen meiner jungen Eltern sah – beide damals noch keine dreißig Jahre alt –, wie sie vor der Kamera keck für den anderen posierten, und einen seltsam diffusen Schmerz bei dem Gedanken, dass es tatsächlich eine Zeit gegeben hatte, in der sie einander vollkommen genug und nicht in erster Linie Eltern gewesen waren, dass sie zu dem Zeitpunkt der Aufnahme nicht nur deutlich jünger waren, kaum älter als ich nun, sondern vielleicht auch glücklicher. Denn aus den wie nebenbei gemachten, oft verwackelten oder unscharfen Bildern sprach die blanke Verliebtheit. An einer von den anderen Spulen etwas abgesetzten Stelle seines Kellerschranks entdeckte ich eine von meinem Vater in der mir so vertrauten Handschrift nur mit Sommer ’67 beschriftete, ungeschnittene Rolle von etwa vier Minuten Länge, auf der meine Eltern abwechselnd unter der riesigen Krone eines wilden Apfelbaums zu sehen sind, meine Mutter, noch mit hüftlangem Haar, wie sie vergeblich hüpfend die untersten Äste zu erreichen versucht, dann trotzig ein Stück Fallobst vom Boden aufnimmt, um es nach dem Mann hinter der Kamera zu schleudern, nach meinem Vater, der gleich darauf mit nacktem Oberkörper den Baum erklimmt und in der nächsten Aufnahme schon wieder unten steht, stolz seine frisch gepflückte Beute präsentiert, hineinbeißt in den unreifen Apfel und das Gesicht verzieht. In der letzten Einstellung,bevor der Film abbricht, ist wieder sie im Bild, wahrscheinlich Stunden später, denn die Sonne steht deutlich tiefer, das Gesicht meiner Mutter liegt nun im Schatten des mächtigen Baumes, und sie hält erneut einen Apfel in der Hand, streckt ihn der Kamera entgegen, sagt lachend etwas, das ich auch beim wiederholten Ansehen nicht entschlüsseln konnte, und als die freie Hand meines Vaters sich überdimensional groß von der Seite ins Bild schiebt, um nach dem Apfel zu greifen, zieht sie ihn schnell zurück, nur um ihn in neckischem Spiel unmittelbar darauf erneut anzubieten. Ich legte die kleine Filmspule wieder und wieder ein, etwas irritierte mich an dieser in ihrer Nettigkeit doch belanglosen Szene, und es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was es war: Ich kannte diese Geste und diesen Gesichtsausdruck meiner Mutter nicht. Alles sonst an ihr und auch an den wenigen Aufnahmen, die meinen Vater zeigten,war mir tief vertraut, die Art, wie sie, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, konzentriert die Lippen verzog, die in die Seiten gestützten Hände, die hervortretenden Wangenknochen, wenn sie sprach und gleichzeitig lächelte, auch der jugendliche Eifer im Gesicht meines Vaters, seine im Verhältnis zur Körpergröße auffällig kurzen Schritte, seine joviale Handbewegung, all das kannte ich mit der Eingeweihtheit des Nachkommen, in jeder einzelnen Regung verrieten sich bereits die Menschen, die Jahre später meine Eltern werden würden – nur in diesem einen Ausdruck nicht. Nicht in jener lockenden Geste meiner Mutter, die ihr Gegenüber, das nun, da ich mich fast dreißig Jahre später diesen Aufnahmen gegenüberfand, ich selbst war, mit einem Apfel ködert und diesen nach einer Sekunde des Zögerns, in der sie sich scheinbar verschämt auf die Unterlippe beißt und zu Boden blickt, zurückzieht und augenblicklich loslacht, als sei sie selbst überrascht worden.

Als ich vierzehn war und meine Schwester Linn sechzehn, machten wir mit unserer Mutter zum letzten Mal Familienurlaub, an der französischen Atlantikküste, ohne unseren Vater, der in jenem Sommer wegen eines längeren berufsbedingten Auslandsaufenthaltes nicht mit uns verreisen konnte. Im Vorfeld war meine Mutter nicht müde geworden zu betonen, wie sehr sie diese »Hausfrauen-Clubs« verachte, diese einfallslose, ja virtuelle Art des Reisens, eingepfercht wie in einem Reservat auf einem von dem Reiseland abgetrennten Territorium, ohne Kontakt zu Einheimischen und gewachsener Kultur. Geradezu übel, sagte sie bereits Wochen vorher, werde ihr bei dem Gedanken an die deutschen Touristen, die tagsüber am Pool die Bild-Zeitung über ihre käsigen Bierbäuche halten und abends mit gepanschten Cocktails in der Hand deutsche Schlager intonieren. Dass ausgerechnet sie, die die europäischen Sprachen und die romanische Kultur zu ihrem Beruf gemacht habe, im hohen Alter noch mit Maxi Krause und Uschi Meier am Frühstücksbuffet für bayerische Weißwürste würde anstehen müssen, sei an trauriger Komik kaum zu überbieten. Überhaupt habe sie sich zu dieser grotesken Veranstaltung nur unseretwegen überreden lassen, schließlich könnten wir Kinder dem Kennenlernen von Gleichaltrigen und dem großen Sportangebot altersbedingt vermutlich mehr abgewinnen, als mit Mutti auf den Spuren von Louis Quinze zu wandeln, auch wenn wir davon später zweifellos mehr profitieren würden als von Trinkgelagen am Strand. Aber sie rede ja gegen Wände. Sie wolle jetzt gute Miene zum bösen Spiel machen, sich drei Wochen hinter einer Reihe interessanter Bücher verschanzen und den Kontakt mit jener beschränkten Seite der Menschheit einfach als Feldforschung betrachten. Erst als mein Vater ihr die Rechnung mit den Reisekosten vorlegte, beruhigte sie sich ein wenig und sagte, na, da kann man ja nur hoffen, dass sich das nicht jeder leisten kann. Ihren Freundinnen erzählte sie trotzdem, wir machten eine Studienreise zu den Schlössern entlang der Loire. Am Flughafen, wo wir uns noch mit Stephen-King-Romanen eindecken wollten, bestand sie darauf, uns Bücher von Stendhal und Flaubert auszusuchen. Und als bei der Handgepäckkontrolle ein übermütiger Urlauber vor uns Vamos a la playa anstimmte, rollte unsere Mutter mit den Augen und zischte, also, Kinder, bon voyage, auch diese Reise wird vorübergehen, honni soit qui mal y pense.

Die Befürchtungen meiner Mutter wurden sogar noch übertroffen. Und es wurde der beste Sommer meiner Jugend. Bei unserer Rückkehr drei Wochen später war ich ein anderer, ein neuer, ein besserer Mensch. Ich hatte zum ersten Mal ein Mädchen geküsst, hatte aus Strohhalmen flaschenweise Pastis getrunken, dreimal Übergeben und zwei Filmrisse gezählt und bei dem Tennisclubturnier erst im Finale gegen einen deutlich älteren Gegner nach hartem Kampf verloren.

Linn schaffte es mühelos, sich ein halbes Dutzend Mal unsterblich zu verlieben, vorzugsweise in deutlich ältere Franzosen mit Rastalocken, die sie morgens am Pool mit »Bonjour, ma belle« begrüßten und sich darum rissen, sie einzucremen. Als ihr kleiner Bruder genoss ich einen komfortablen Sonderstatus. Die coolsten Typen des ganzen Clubs (inklusive Animateure) boten sich mir reihenweise als Tischtennis- oder Bocciapartner an, und auf die unvermeidbare Frage, ob sie Chancen bei meiner Schwester hätten, antwortete ich, so wie es Linn mir eingebläut hatte: Auf jeden Fall, sie sei eben nur sehr unsicher und scheu und könne es nicht so zeigen. Natürlich war das Gegenteil der Fall. Am Strand war Linn die Einzige weit und breit, die sich oben ohne sonnte.

Die Tage verbrachten wir unablässig pendelnd zwischen Aktivitäten am Pool, Surf- und Golfkursen, grotesk üppigen Speisebuffets und dem Strand, wo die Jugendlichen in riesigen Handtuch-Camps zusammenlagen, Musik hörten, Pläne für den Abend schmiedeten, flirteten.

Beim Abschied vom Club Da Balaia vollführten Linn und ich unter Tränen am Fenster des Busses klebend und den Animateuren draußen winkend noch einmal die Verrenkungen des Clubtanzes, des »Jingle«, hörten über Walkman traurige Songs von Phil Collins und Roxette und überredeten unsere Mutter, am Flughafen bei einem sündhaft teuren Ein-Stunden-Service unsere Fotofilme entwickeln zu lassen. Linn weinte im Flugzeug und auch noch Wochen später in das Halstuch, das der Surflehrer Jean-Luc ihr geschenkt hatte, und schrieb seinen Namen nach Beginn des neuen Schuljahres hundertfach auf den Innendeckel ihres Ordners.

Doch inmitten unseres rücksichtslosen pubertären Vorwärtsdranges hatten wir nicht bemerkt, dass das eigentliche Drama sich ganz woanders abspielte, direkt vor unseren Augen.

Linn und ich schliefen im Club in einem eigenen Zimmer, das ich in mehreren Nächten für Stunden zu räumen hatte, weil Linn sich mit Marc oder Gael oder Ron aussprechen musste, und so nahmen wir meist nur noch das Frühstück zusammen mit unserer Mutter ein, bevor wir zu unseren Sportkursen gingen oder uns den anderen Jugendlichen anschlossen. Sonst sahen wir sie tagsüber kaum. Sie blieb in ihrer Abwehrhaltung gegenüber dieser Form des »Instant-Urlaubs«, wie sie es nannte, ziemlich lange konsequent. Die ganze erste Woche über wussten wir sie am Strand ein gutes Stück abgesetzt von den anderen Urlaubern im Schatten der Felsen mit ihren Büchern, manchmal sahen wir sie betont aufrecht und langsam zum Wasser schreiten und sich abkühlen, immer allein, und wenn Linn und ich es nicht mehr mit ansehen konnten und sie besuchten, winkte sie schon von weitem ab, ne, lasst mal gut sein, Kinder, eure alte Mutter kommt schon zurecht, hat man denn nicht mal im Urlaub seine Ruhe?

Einige Male übertrieb sie. Anstatt sich Abend für Abend auf der Showbühne die Darbietungen der Animateure anzusehen und zum Abschluss mit allen anderen das Clublied anzustimmen, fuhr sie zu horrenden Preisen mit dem Taxi in die umliegenden Ortschaften zu Chansonabenden, Stierkämpfen oder einfach nur, »um endlich mal eine echte französische Vinaigrette zu schmecken«. Beim Abendessen im Großen Saal, zu dem sie stets in sorgfältig ausgesuchter Abendgarderobe, geschminkt und nicht ohne ihren Schmuck erschien, konnte es vorkommen, dass sie, gelangweilt von ihren Tischnachbarn und deren Gesprächen, Le Monde oder eine andere französische Zeitung aus ihrer Tasche nahm, zu lesen begann und bis zum Dessert kein einziges Wort mehr sprach. Die anderen, das war nicht zu übersehen, verständigten sich mit vielsagenden Blicken, man war sich einig gegenüber so offen zur Schau getragener Arroganz. Und genau das genoss sie.

Dann, gegen Ende der zweiten Woche, musste etwas geschehen sein. Sie habe sich zum Wasserballett angemeldet, sagte sie uns eines Morgens beim Frühstück, und als wir sie ungläubig ansahen und auf eine Auflösung warteten, fügte sie an, na, nun tut mal nicht so, ihr Klosterschüler, gehört schließlich alles zur Feldstudie. Und ein paar Pfunde weniger könnten ihr schließlich auch nicht schaden.

Was in den nächsten Tagen folgte, war jedoch nichts weniger als eine vollkommene Verwandlung. Wie sich herausstellte, hatte sie sich nicht nur in die Liste für Wassergymnastik eingetragen, sondern auch für Aerobic, Bogenschießen, Tauchen sowie für eine Gruppenstunde Tennis und einen Golf-Anfängerkurs. Zum Frühstück kam sie nun in einem luftig um Oberkörper und Taille gewundenen Strandtuch, mit ins Haar gesteckter Sonnenbrille und setzte sich, da sie jetzt wegen ihrer Kurse deutlich früher aufstand als Linn und ich, regelmäßig an einen Tisch mit zwei irischen Lehrern und einer alleinstehenden Buchhändlerin aus Kassel namens Ingeborg – oder Inge, wie unsere Mutter sie bald nannte. Die beiden waren in der dritten Woche fast nur noch gemeinsam anzutreffen. Am Pool hielten sie sich gegenseitig Liegen frei (ihr straffer Terminplan erlaubte nur noch selten Ausflüge an den Strand), spielten stundenlang an der Hawaii-Bar Backgammon und tranken schon am späten Nachmittag ihren ersten Caipirinha.

All das beobachteten wir mit wachsender Verwunderung, konnten es uns nicht erklären, waren aber letztlich zu sehr mit uns selbst beschäftigt, als dass wir uns ernsthaft Gedanken darüber gemacht hätten. Spätnachts, wenn Linn und ich vom Strand oder aus der Clubdisco kamen und auf unser Zimmer gingen, sahen wir unsere Mutter nun bisweilen noch als eine der Letzten in der Bar sitzen, mit Inge und ein paar von den älteren Animateuren, laut und ausgiebig lachend, ganz gegen ihre Natur, und als sie einmal durch Zufall zu uns in den Fahrstuhl balancierte, nicht mehr wusste, welches Stockwerk sie drücken musste, und Linn sie anfuhr, Mami, was geht denn eigentlich ab mit dir, da brach sie in Tränen aus, nur kurz, nur zwei laute Atemzüge lang, schüttelte den Kopf und sagte, ach Kinder, ich weiß ja auch nicht,was hier passiert. Sie stank nach süßen Cocktails und Rauch. Wir brachten sie ins Bett, Linn blieb noch bei ihr sitzen, bis sie eingeschlafen war.

So überzogen uns auch die Radikalität ihrer früheren Ablehnung des Clublebens erschienen war, so wenig gefiel uns jetzt ihre plötzliche, unerklärliche Wandlung, ihre widerstandslose Anpassung. Wir begannen nun tagsüber öfter nach ihr zu sehen und uns gegenseitig Bericht zu erstatten. Wie Eltern, die ihr Kind nicht aus den Augen lassen wollen, verliefen wir uns regelmäßig wie von ungefähr an den Pool, wo sie im Nichtschwimmerbereich mit einem Dutzend anderer Damen zu einem aggressiv wummernden Song von Dr. Alban gymnastische Übungen machte oder mit einer Sauerstoffflasche auf dem Rücken das richtige Atmen unter Wasser übte. Trafen sich unsere Blicke bei einem dieser Kontrollgänge, verdrehte sie die Augen, als wollte sie sich entschuldigen, dass wir sie so sehen mussten. Und tatsächlich, wenn ich sie abends nach den Showdarbietungen im Publikum erspähte, wie sie hilflos versuchte, inmitten der hemmungslos singenden, im Rhythmus sich wiegenden Urlaubermassen, ihrem Körper den richtigen Bewegungsablauf des Clubtanzes abzuringen, wobei sie nervös auf die Verrenkungen ihres Vorder- oder Nebenmanns schaute, aus dem Takt geriet und angespannt den Mund verzog anstatt den Text mitzusingen, oder nachmittags, wenn ich sie auf dem Golfplatz fand, in Bikini und Badeschlappen immer wieder an dem kleinen weißen Ball vorbeischlagend und mit einem schnell und leise gezischten »Scheiße« sich selbst bestrafend, dann empfand ich manchmal ein unangenehmes Gefühl zwischen Verachtung und Mitleid und wusste nicht, ob ich sie in den Arm nehmen und wegführen oder mich abwenden und sie für immer sich selbst überlassen sollte. Ich stellte mir vor, dass sich so ein Vater fühlte, dessen Kind sich bei einer Schulaufführung blamierte oder im Fußballverein immer nur auf der Bank saß.

Außer den Fotos blieb von diesem Sommerurlaub ein halbes Dutzend von mir mit der alten Super-8-Kamera meines Vaters gedrehter Filmrollen, im Ganzen etwa 25 Minuten Material, das ich nie zusammenschnitt und mir bis zu meinen Recherchen für Die Achte Welt kaum öfter als zwei- oder dreimal angesehen hatte. Erst als ich nun Jahre später kistenweise Super-8-Filme sichtete, fielen mir die kleinen schwarzen Spulen wieder in die Hände. Mit dem Rattern des Projektors kam alles zurück. Die endlosen Dünen, die Handtuchlager, die schüchtern mit neu angekommenen Mädchen geteilten Walkmanohrstöpsel, Linns Verehrerschar. Obwohl die Farben und die Tonlosigkeit und die leicht verlangsamten Bewegungen die heraufbeschworenen Erinnerungen mit einem Maß an nostalgischer Patina belegten, die keine Fotografie und erst recht keine Videoaufnahme jemals erreichen können, empfand ich eine merkwürdig heftige Enttäuschung; nicht nur wegen technisch-ästhetischer Mängel, sondern auch wegen der offensichtlichen Banalität dieser Aufnahmen. Die Szenen lösten einander hektisch ab, kaum ein Bild stand einmal länger als zwei, drei Sekunden, immer drängte ein unnötiger Zoom in die Unschärfe oder ein Schwenk in die Leere. Unmöglich konnten diese Frühpubertären dort und ihre Versuche, sich mit den unbeholfenen Bewegungen junger Tiere für die Kamera in Pose zu bringen, konnte diese lächerliche Harmlosigkeit glücklicher Kindheiten in Einklang gebracht werden mit der leidenschaftlichen, alles bis dahin Erlebte auf den Kopf stellenden Bedeutung, die jene drei Wochen in meinem Gedächtnis hatten. Obwohl ganz offensichtlich unbrauchbar für meinen geplanten Essayfilm, sah ich mir alle sechs Filme noch einmal an, vermutlich auf der Suche nach irgendetwas, das die verstörende Verschiebung von Erinnerung und den vor mir ablaufenden Filmbildern wieder geraderücken, ja, diese vergessen machen konnte. Das bedingungslose, ungebrochene Fühlen dieser Zeit, es musste sich doch irgendwo in den Bildern wiederfinden. Stattdessen sah man schmächtige verpickelte Jungs gelangweilt 4 gewinnt spielen.

Irgendwann fand ich Ruhe bei dem Gedanken, dass Verklärung nicht nur zum Wesen der Erinnerung gehört, sondern auch zur Jugend selbst, so dass jene Inkongruenz, die mich dort im abgedunkelten Keller so schockierte, in Wirklichkeit die größtmögliche Deckung zwischen Empfinden und Erinnern bedeutete. Doch noch wollte ich Eindeutigkeit und Wahrheit. Hätte ich nicht so gestaunt über die Täuschungen, denen uns Erinnerung und vorgeblich objektive Film- oder Fotobilder gleichermaßen aussetzen, und hätte ich deshalb die Filme nicht noch ein drittes Mal eingefädelt und projiziert, ich hätte den Grund für das eigenartige Benehmen meiner Mutter in jenem Sommer vermutlich nie erfahren.