1 25 Jahre Achtsamkeit – Was bisher geschah

Als in den siebziger Jahren die Sozialpsychologie die sogenannte „Kognitive Revolution“ erlebte, die sich für das interessierte, was die Menschen so dachten, begann ich mich zu fragen, ob sie überhaupt dächten. Ein paar Jahrzehnte später bin ich zu der Ansicht gekommen, dass die Antwort ein schallendes NEIN ist. Gedankenlosigkeit – Mindlessness – ist allgegenwärtig. Ich glaube sogar, dass praktisch alle unsere Probleme – persönliche, zwischenmenschliche, berufliche und gesellschaftliche – direkt oder indirekt durch Gedankenlosigkeit entstehen. Die gegenwärtige sozialpsychologische Literatur zum Priming* zeigt, dass oft bestimmte Reize in der Umgebung unsere Reaktionen bestimmen, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Gemütsbewegungen, Vorsätze oder Ziele können mit einem minimalen Reiz und praktisch ohne kognitive Verarbeitung hervorgerufen werden. Wir hegen etwa Abneigung gegen jemanden, weil sie oder er den gleichen Vornamen hat wie jemand, den wir einst nicht mochten. Ohne es zu merken ahmen wir andere Menschen nach, so dass unser Verhalten sich ungewollt anpasst, und zwar jenen, mit denen wir bei einer bestimmten Aufgabe zusammenarbeiten. Es gibt eine umfangreiche Literatur zur Stereotypisierung, die zeigt, dass einfache Dinge wie Geschlecht oder „Rasse“ eine ganze Serie von Vermutungen auslösen und anders lautende Informationen verdunkeln können. Diese und unzählige andere Untersuchungen zeigen, dass Menschen oft widerstandslos auf Reize in der Umwelt reagieren statt aktiv Entscheidungen zu treffen.

Heute sind wir uns der Gedankenlosigkeit und der Möglichkeit, ihr zu begegnen, weitgehend bewusst. 25 Jahre nach Erscheinen dieses Buches kann man kaum eine Zeitschrift lesen oder Radio hören, ohne auf das Stichwort Mindfulness oder Achtsamkeit zu 2stoßen. Ich glaube zwar, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben, meine aber doch auch, dass wir uns in einer Revolution des bewussten Denkens befinden.

In den vergangenen vier Jahrzehnten habe ich meinen Teil zur Förderung dieser Revolution beizutragen versucht. Ausgehend von der in der Originalausgabe von Mindfulness beschriebenen Forschung untersuchte ich das Konzept unter neuen Gesichtspunkten wie Lernen, Kreativität, Arbeit und Gesundheit. Eine der Studien aus der Originalausgabe, die mehrfach kopiert wurde, ist die mit der Freizeit für ältere Menschen, die eine vergangene Zeit wieder aufleben ließ (s. S. 98–109). Solche Freizeiten, bei denen physische und mentale Fähigkeiten zunahmen, wurden in England, Südkorea und den Niederlanden durchgeführt. Die sehr positiven Ergebnisse ermutigten mich, den Nutzen solch einer Freizeit – heute bekannt als Counterclockwise Study (Studie „gegen den Uhrzeigersinn“) – mehr Menschen zugänglich zu machen und sie Erwachsenen jeden Alters anzubieten (siehe auch langermindfulnessinstitute.com). Sich in diese ungewöhnliche Welt zu versetzen war so wirkmächtig, dass sogar die Kontrollgruppe, die nur ein paar Tage in Erinnerungen schwelgte, ihre Fähigkeiten steigerte, wenn auch weniger stark als die Mitglieder der Forschungsgruppe. Wir untersuchen nun auch die Wirkung solch einer Freizeit auf Frauen mit Brustkrebs oder auf Veteranen, die mit Posttraumatischem Stress-Syndrom aus Afghanistan oder dem Irak zurückgekehrt sind. Sobald wir wissen, dass unsere Methoden zuverlässig sind, werden sie einem größeren Publikum zugänglich gemacht.

Während das mit Judith Rodin durchgeführte Experiment im Seniorenheim (s. S. 81–83), in dem einigen Menschen achtsame Entscheidungen und die Pflege einer Topfpflanze abverlangt wurden, eine ganze Flut von Geist/Körper-Forschungen auslösten, untersuchte die Counterclockwise Study eine weitergehende Theorie zur Geist-Körper-Einheit. Ich prüfte nicht einfach, ob der Geist großen Einfluss auf den Körper hat. Ich wollte vielmehr wissen, ob die Forschung brauchbarere Resultate erbringen würde, wenn wir Geist und Körper als Einheit betrachteten. Als solche Einheit ist der Ort des Geistes immer auch der des Körpers. Wenn der Geist ganz und gar in einem gesunden Zustand ist, ist auch der Körper gesund. Diese Forschung beleuchtet sowohl den Placebo-Effekt als auch die spontane Remission.

3Bei einem neueren Experiment zur Untersuchung der Einheit von Geist und Körper, der sogenannten Zimmermädchen-Studie, ging es um Frauen, die ganztägig körperliche Arbeit leisten. Als wir sie fragten, ob sie Gymnastik machten oder Sport trieben, verneinten sie. Wir gaben dann der Hälfte der Gruppe zu verstehen, dass wir ihre Arbeit als sportliches Training betrachteten, vergleichbar dem Besuch im Fitness-Studio. Wir sagten ihnen, dass Bettenmachen so etwas Ähnliches sei wie das Training an Geräten im Fitness-Raum. Sonst wurde nichts geändert. Das Ergebnis dieser Veränderung der Einstellung (Mindset): Die Studiengruppe – nicht aber die Kontrollgruppe – verlor Gewicht, reduzierte das Taille-Hüft-Verhältnis, verringerte den Body-Mass-Index und senkte den Blutdruck. Das alles war die Wirkung dessen, dass die Teilnehmer an der Studiengruppe ihre Einstellung geändert hatten und ihre Arbeit als Training ansahen.

Eine andere Untersuchung der Einheit von Geist und Körper betrifft die Sehkraft. Ich beschloss sie zu erforschen, weil sie sich bei den Senioren in der Counterclockwise-Study verbessert hatte. Wir haben alle schon beim Augenarzt den Sehtest nach Snellen gemacht, mit schwarzen Buchstaben auf weißem Grund, die schrittweise kleiner werden, wenn wir die Schautafel von oben nach unten lesen. Wir machen uns im Allgemeinen nicht klar, was wir dabei erwarten: dass wir nämlich die immer kleiner werdenden Buchstaben irgendwann nicht mehr werden lesen können. Um zu prüfen, ob diese Erwartung unsere Sehfähigkeit beeinflusst, verkehrten wir die Schautafel, so dass die Buchstaben klein anfingen und nach und nach größer wurden. Das schuf die Erwartung, dass wir bald imstande sein würden, die größer werdenden Buchstaben zu erkennen. Wir stellten fest, dass durch die veränderte Erwartungshaltung die Versuchspersonen mehr Buchstaben deutlich erkennen konnten als vorher. Wir wussten außerdem, dass die meisten von uns Schwierigkeiten erwarten, wenn sie die Vorlage zu zwei Dritteln gelesen haben. Wir sorgten also für eine Tafel, die erst nach dem ersten Drittel begann. Dann sind nach zwei Dritteln natürlich die Buchstaben viel kleiner als die in dieser Höhe bei den Standardtafeln. Abermals konnten die Versuchspersonen mehr sehen als zuvor.

In wieder einer anderen Studie zur Sehfähigkeit entnahmen wir einem Buch einen Text und änderten überall die Satzgröße 4des Buchstaben „a“ für die eine Gruppe, die des Buchstaben „e“ für eine andere Gruppe. Die dritte Gruppe bekam den Originaltext. Jetzt lesen Sie bitte die folgenden Wörter: Fl.gge; L.sso; S.ck. Sie sehen bald, dass der Punkt für ein „a“ steht. Nachdem sie sich darauf eingestellt hatten, dass der Punkt ein „a“ oder ein „e“ ersetzte, machten die Teilnehmer der beiden Gruppen einen normalen Sehtest. Sie waren nicht nur in der Lage, den bestimmten Buchstaben „a“ oder „e“ zu lesen, wenn er verschwindend klein war, sie lasen auch viele andere Buchstaben auf der Vorlage, wenn sie winzig waren.

Als ich weiter über die Erforschung des Sehens nachdachte wurde mir klar, wie absonderlich einige unserer medizinischen Vorgehensweisen sind. Die Sehfähigkeit unter Belastung zu testen, indem man statische schwarze Buchstaben auf weißem Grund ohne Sinnzusammenhang zu lesen gibt und dann das Ergebnis mit einer Zahl belegt – das scheint mir absurd. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich sehe, wenn ich hungrig bin, den Schriftzug „Restaurant“ eher, als wenn ich satt bin. Ich sehe bewegte Dinge anders als unbewegte. Ich sehe einige Farben besser als andere. Vor allem aber ändert sich mein Sehen wie so vieles andere im Verlauf eines Tages. Zu manchen Zeiten sehe ich besser als zu anderen. Zahlen legen Dinge fest, während die sich doch verändern. Wenn wir unsere Sehfähigkeit auf eine einzelne Zahl festlegen, wird unsere Erwartung einbetoniert. AchtsamkeitMindfulness – legt etwas anderes nahe.

Untersuchungen wie diese zur Sehfähigkeit werfen ein Schlaglicht auf die Gefahr des Grenzensetzens. Zum Beispiel habe ich meine Studenten gefragt: Wie weit kann ein Mensch maximal laufen? Sie alle wissen, dass der Marathonlauf gut 42 km weit ist, gehen von dieser Zahl aus, nehmen dann an, dass das vermutlich noch nicht die Grenze ist, und kommen schließlich auf 52 Kilometer. Die Tarahumara aus dem Copper Canyon (Barranca del Cobre) in Mexiko können aber über 300 Kilometer am Stück laufen. Wenn wir achtsammindful – denken, setzen wir keine Grenzen aus früherer oder gegenwärtiger Erfahrung.

Achtsamkeit umfasst zwei wichtige Strategien zur Verbesserung der Gesundheit: Die Beachtung von Kontext und die von Variabilität. Der Kontext kann den entscheidenden Unterschied machen. Als wir in den Counterclockwise Studies eine Zeit wieder aufleben ließen, zu der wir uns fit und gesund fühlten, sahen 5wir, dass wir wieder vitaler sein können. Die zweite Strategie ist die Berücksichtigung der Variabilität. Wenn wir Veränderungen in Symptomen beobachten, können wir vielleicht mehr Kontrolle über chronische Krankheiten gewinnen, die wir zunächst nicht erwartet haben. Wenn wir bemerken, dass sich die Symptome zum Besseren oder Schlechteren ändern und dann fragen, warum das so ist, geschehen zwei Dinge: Erstens tun wir den Schritt von der Überzeugung, dass wir die Symptome immer hätten, zu der Erkenntnis, dass das nicht der Fall ist. Zweitens können wir, wenn wir uns fragen, unter welchen Umständen die Symptome zu- oder abnehmen, diese Umstände vielleicht steuern. Die Suche nach tieferen Gründen ist an sich schon achtsam (mindful) und trägt dazu bei, dass wir uns besser fühlen, auch wenn sie vielleicht keine Lösung liefert.

Eine achtsame Betrachtungsweise unserer Gesundheit ist besonders wirksam bei chronischen Leiden. Denken Sie etwa an Depressionen. Deprimierte Menschen neigen zu der Annahme, sie seien ständig deprimiert. Eine achtsame Berücksichtigung der Variabilität zeigt, dass das nicht zutrifft, was schon an sich beruhigend ist. Sobald wir bestimmte Momente bemerken, in denen wir uns schlechter oder besser fühlen, können wir Änderungen in unserem Leben vornehmen. Wenn ich mich jedes Mal elend fühle, wenn ich mit Bob telefoniere, liegt die Lösung wohl auf der Hand.

Eine neuere Untersuchung zur Beachtung von Variabilität wurde mit schwangeren Frauen durchgeführt. Sie wurden gebeten, auf Veränderungen in ihren Empfindungen und Gefühlen während der Schwangerschaft zu achten. Durch Fragebögen und Berichte stellten wir fest, dass nach einem Training in achtsamer Aufmerksamkeit das Wohlgefühl signifikant zunahm und Sorgen und Bedrückungen abnahmen. Wir stellten außerdem fest, dass die Babys von Frauen, die (nach der Langer-Mindfulness-Skala) im Allgemeinen achtsam dachten, eine höhere Bewertung nach Apgar (Wohlbefinden des Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt) erreichten.

Die Berücksichtigung von Kontext und Variabilität dürfte sich auch auf Zwischenmenschliches auswirken. Wenn wir jemandem eine bestimmte Veranlagung zuschreiben – ihn etwa „faul“, „rücksichtslos“ oder „ichbezogen“ nennen –, behandeln wir diesen Menschen, als ob sie oder er unheilbar wäre, und 6übersehen jeden Beweis des Gegenteils. Wie ich in diesem Buch dargelegt habe, ist ein bestimmtes Verhalten aus der Sicht des Handelnden sinnvoll, sonst würde sie oder er sich anders verhalten. Wenn wir be- und verurteilen, sind wir gedankenlos (mindless). Sie versuchen etwa zuverlässig zu sein, jemand zu sein, auf den man zählen kann, aber andere sehen Sie als streng und unbeugsam. Oder Sie betrachten sich als ungezwungen, andere halten sie vielleicht für unbeherrscht. Sie zeigen Vertrauen, werden aber als leichtgläubig angesehen. Und so weiter. Wenn wir hinterfragen, ob wir uns vernünftig verhalten haben, oder wenn wir die Gründe für das Verhalten anderer untersuchen, sehen wir die Ursachen dafür und werden uns bewusst, dass sie sich – wie die oben beschriebenen Merkmale – mit der Zeit und mit dem Ort ändern. Durch den respektvolleren Blick auf andere verbessern sich unsere Beziehungen zueinander wahrscheinlich. Wenn wir beklagen, unser Ehepartner hätte sich verändert, war es vielleicht nicht ihr oder sein Verhalten, das sich geändert hat, sondern unsere Interpretation desselben. Wenn wir achtsam mitdenken, wird uns deutlicher bewusst, dass etwas, das in dem einen Kontext unerfreulich wirkt, in einem anderen erfreulich sein kann. Tatsächlich haben wir festgestellt, dass Menschen umso glücklichere Beziehungen haben, je achtsamer sie sind.

Die Bedeutung von Achtsamkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft nicht nur unsere Freunde und Verwandten. Am Arbeitsplatz scheint es manchmal, als ob einige Leute smart oder gewandt oder kompetent wären und andere nicht. Manche „haben es“, andere nicht. Dementsprechend meinen wir, dass wir Letzteren sagen müssten, was zu tun ist, und verzichten auf all das, was wir von ihnen lernen könnten.

Was würde geschehen, wenn wir alle gleich geachtet wären und ermuntert würden, uns achtsam zu verhalten? Wir haben das bei Symphonieorchestern untersucht, bei denen es im Allgemeinen hierarchisch zugeht. In dem einen Orchester forderten wir alle Musiker auf, ihren Part vorsichtig neu und auf eigene Weise zu interpretieren, so dass nur sie oder er selbst es bemerken würde. Das andere Orchester sollte nur die letzte Aufführung eines Stücks wiederholen, das die Mitglieder für besonders gelungen hielten. Die Aufführungen wurden aufgezeichnet und dann Hörern vorgespielt, die von dem Experiment nichts ahnten. 7Außerdem bekamen alle Musiker einen Fragebogen, in dem sie gefragt wurden, wie sehr sie selbst die Aufführung genossen hatten. Die Zuhörer zogen das achtsam (mindfully) gespielte Stück bei weitem vor, und die Musiker hatten mehr Freude an dem Stück, wenn sie es achtsam spielten. Die Bedeutung dieser Untersuchung für gruppendynamische Prozesse wurde mir erst deutlich, als ich den Bericht darüber schrieb. Man könnte meinen, dass es ein Chaos geben würde, wenn jeder „auf seine Weise“ spielte. (Es ging um klassische Musik, nicht um Jazz.) Tatsächlich war jeder der Beteiligten, der auf eigene Art und in unmerklicher Weise neu musizierte, gleichzeitig viel präsenter, und das Ergebnis war eine hervorragende harmonische Leistung.

Unser stereotypisierendes Denken kann die Talente anderer Menschen vor uns verbergen. Das kann dazu führen, dass sie sich unzulänglich fühlen; damit verlieren wir alles, was sie zu einem Gruppenprozess beitragen könnten.

Eine erfolgreiche Führungspersönlichkeit kann derjenige sein, der erkennt, dass wir alle Begabungen haben, und seine Hauptaufgabe darin sieht, die Achtsamkeit bei allen von ihm Geführten zu fördern. Was macht eine Führungsperson erfolgreich? In einer Studie fassten wir Frauen und Führungsrollen ins Auge. Das Problem für Frauen ist, dass sie, wenn sie sich wie Männer verhalten und stark sind, nicht gemocht werden. Wenn sie aber auf traditionell feminine Weise agieren, werden sie für schwach gehalten. Wir ließen Frauen eine überzeugende Rede so oft halten, bis sie sie auswendig konnten, also gedankenlos. Wir filmten sie jedes Mal, wenn sie die Rede vortrugen. Die eine Hälfte wurde angewiesen, dabei stark und männlich aufzutreten, die andere Hälfte fürsorglich fraulich. Wir zeigten die letzte, übereinstudierte, gedankenlose (mindless) Version einigen Menschen, und anderen eine frühere Version, in der Frauen sich die Art ihres Vortrags achtsam überlegten (mindful version). Das Ergebnis war klar. Es kam nur darauf an, ob sie bedachten, was sie sagten, oder nicht. Wenn sie achtsam vorgingen, war es egal, ob sie sich maskulin oder feminin verhielten, sie wurden als charismatisch, vertrauenswürdig und authentisch beurteilt – das sind wichtige Merkmale einer Führungspersönlichkeit. Kurz gesagt: die Menschen finden uns sympathischer, wenn wir achtsam agieren.

8Im Allgemeinen halten wir Kreativität und Innovation, ob bei der Arbeit oder in der Kunst, für die Sache weniger Menschen. Achtsamkeit kann Kreativität fördern, wenn der Vorgang und nicht das Ergebnis im Blickpunkt steht. Als Beispiel dafür, wie Gedankenlosigkeit Innovation verhindern kann, denken Sie sich eine Firma, die einen neuen Klebstoff produzieren will, jedoch ein Material entwickelt, das nicht besonders gut haftet. Man hätte das als Fehlschlag abschreiben können. Nicht so die 3M-Techniker, die die Post-It-Klebezettel schufen, indem sie sich die Eigenschaft des Produkts, weniger stark als Klebstoff zu haften, zunutze machten. Gedankenlosigkeit behindert unsere Bemühungen oft. Einerseits hegen wir vielleicht allzu genau festgelegte Erwartungen bei dem, was wir tun. Andererseits halten wir es für ein Scheitern, wenn etwas anders läuft als geplant. Und drittens nehmen wir dann an, dass das Ergebnis unbrauchbar sei.

Wir machen oft den grundlegenden und gedankenlosen Fehler, die Namen, die wir Dingen geben, für die Dinge selbst zu halten. Bei einem Experiment gaben wir Versuchspersonen Dinge, die sich auf dem Markt nicht durchgesetzt hatten. Einer Gruppe zeigten wir das „misslungene“ Produkt und fragten, was sie damit tun würden. Die meisten sagten, sie würden zu etwas Anderem übergehen. Eine zweite Gruppe wurde gefragt, was sie mit dem Produkt tun könnten (etwa dem Klebstoff, der nicht ordentlich klebte). Jetzt waren einige der Befragten innovativer. Als wir einer dritten Gruppe die Eigenschaften des Artikels vorstellten, ohne dessen ursprüngliche Bestimmung zu nennen, kamen noch mehr Versuchspersonen mit sinnvollen Vorschlägen.

Der Versuch, bei allem, was wir tun, achtsam zu bleiben, mag mühsam scheinen. Bei den vielen Vorträgen, die ich im Laufe der Jahre gehalten habe, schauderten Menschen wenn ich sagte, wir sollten bei eigentlich allem, was wir tun, achtsam sein. Sie hielten das für harte Arbeit. Ich meine, dass sich achtsam zu verhalten nicht schwer ist, sondern nur schwer erscheint wegen der bangen Selbstbewertung, die wir automatisch annehmen: „Was ist, wenn ich es nicht hinkriege?“ Ängstlichkeit schafft Stress, und Stress ist belastend. Das aber ist nicht mindful. Achtsam zu sein erlaubt uns, uns fröhlich in das zu vertiefen, was wir tun. Die Zeit vergeht wie im Flug und wir sind lebendig. Denken Sie ans Reisen. Wir öffnen uns, um Neues zu sehen: 9Das ist vielleicht körperlich anstrengend, macht aber Spaß. Bei einem Experiment stellten wir zwei Gruppen von Menschen die gleiche Aufgabe: Cartoons zu bewerten. Der einen Gruppe wurde die Aufgabe als Arbeit vorgestellt, der anderen als Spiel. Die erste Gruppe stellte fest, dass ihre Gedanken abschweiften, und sie hatte deutlich keinen Spaß daran. Die andere Gruppe tat genau das Gleiche spielerisch und fand Vergnügen daran.

Wenn wir reisen oder eine Arbeit als Spiel betrachten sehen wir, dass Achtsamkeit im Wesentlichen Spaß macht und Kraft gibt, nicht Kraft kostet. Humor hat die gleiche Wirkung. Da nicht jeder meine Späße witzig findet, verkneife ich es mir, diesen Punkt zu verdeutlichen. Ich bitte Sie stattdessen zu überlegen, weshalb Sie gelacht haben, als Sie das letzte Mal einen Witz hörten. Wenn die Pointe Ihnen bewusst machte, dass die Geschichte anders verstanden werden konnte, als Sie zunächst gedacht hatten, haben Sie einen Augenblick der Achtsamkeit erlebt.

Achtsamkeit fühlt sich gut an, das sollte ich wohl betonen. Als ich 1977 über Mindlessness und Mindfulness schrieb, setzten manche Leser die Konzepte gleich mit automatischem versus kontrolliertem Denkvorgang. Darüber war zu der Zeit gerade geschrieben worden; heute heißt diese „Doppelprozess-Theorie“ auch „System 1 versus System 2“. System 1 ist automatisches Verarbeiten und System 2 ein wesentlich kontrolliertes Verarbeiten. Oberflächlich betrachtet ähnelten sie den Konzepten, die ich seit Jahren untersucht hatte. Aber der nicht automatische, kontrollierte oder geregelte Prozess und Achtsamkeit sind etwas ganz Verschiedenes. Sogar der automatische Prozess oder Denkvorgang und Mindlessness sind nicht das Gleiche. Der automatische Prozess verläuft natürlich gedankenlos, aber Gedankenlosigkeit kann auch auf nichtautomatische Weise zustande kommen, sie kann etwa einer älteren Information entspringen. Als ich zum Beispiel bei Freunden zum Essen eingeladen war, lag die Gabel auf der „falschen“ Seite des Tellers. Mir war, als sei ein Naturgesetz übertreten worden. Ich fragte mich, wieso mir etwas so Albernes wichtig war. Mir wurde bewusst, dass meine Mutter, als ich klein war, mir schlicht gesagt hatte: „Die Gabel gehört auf die linke Seite des Tellers.“ Das war alles – und das bestimmte bis zum heutigen Tag meine Gedanken.

Mindfulness ist kein kontrolliertes Verfahren. So ein kontrolliertes Vorgehen, wie etwa das Auswendiglernen von Wissen für 10eine Prüfung kann anstrengend sein. Dreistellige Zahlen mit vierstelligen Zahlen zu multiplizieren kann ebenfalls anstrengend sein. Beides sind normalerweise gedankenlose Tätigkeiten. Sowohl Multiplizieren als auch Auswendiglernen könnte man achtsam betreiben, wenn man dabei neue Methoden versuchte, aber das tun wir selten. Um etwas achtsam zu tun, müssen wir etwas Neues hinzufügen.

Fast jede Tätigkeit kann man achtsam ausführen. Bei einer Studie baten wir Personen, sich einer ungeliebten Tätigkeit zu widmen. Wer einen Widerwillen dagegen hatte, sich Fußballspiele anzusehen, musste Fußball gucken, wer klassische Musik oder Rap nicht mochte, sollte das hören, wer eine Abneigung gegen Kunst hatte, sollte sich Gemälde ansehen. In jedem dieser Fälle bildeten wir vier Gruppen: Eine Gruppe tat einfach, was gefordert war, eine Gruppe sollte auf ein neues Detail achten, eine sollte drei neue Dinge bemerken und die letzte sechs neue Dinge notieren. Je mehr Neues sie entdeckten, desto mehr Spaß hatten sie an der Tätigkeit. Langeweile scheint eine Funktion von Mindlessness zu sein.

Alles kann interessant gestaltet werden. In Leben auf dem Mississippi schaute Mark Twain über den Fluss und schrieb: „Mit der Zeit wurde die Wasserfläche auch für mich zu einem wundervollen Buch – ein Buch, dessen Sprache dem unerfahrenen Passagier nichts sagt, sich mir aber ohne Vorbehalte mitteilte, seine tiefsten Geheimnisse so unumwunden preisgab, als spräche es mit lauter Stimme zu mir.“**

Seit ich mit dieser Arbeit begonnen habe, ist in wissenschaftlichen und populären Zeitschriften eine umfangreiche Literatur zur Mindfulness entstanden. Ein großer Teil der neueren Forschung befasst sich mit verschiedenen Formen der Meditation, und im Mittelpunkt steht die Vermeidung von Stress und negativen Empfindungen. Meditation ist ein Werkzeug zur Erreichung postmeditativer Mindfulness. Wie immer wir dahin gelangen, ob durch Meditation oder indem wir einfach auf Ungewöhnliches Acht geben oder feststehende Annahmen in Frage stellen: Achtsamkeit heißt, in der Gegenwart zu sein und all die Wunder zu bemerken, die vor unserer Nase liegen, ohne 11dass wir uns dessen bewusst gewesen wären. Ein Weg zur Gedankenlosigkeit ist der, dass wir Kategorien schaffen und uns dann darin verfangen. Wir nehmen an, dass sie unabhängig von uns Gültigkeit hätten. Nehmen Sie zum Beispiel die Kategorie Arbeit kontra Leben, wie sie in allen Diskussionen der Work-Life-Balance – des Gleichgewichts von Arbeit und Leben – vorkommt. Die gegenseitige Integration von Arbeit und Leben scheint mir ein besseres Ziel zu sein als das Gleichgewicht. Gleichgewicht geht davon aus, dass unser Leben aus zwei Teilen besteht. Je achtsamer wir sind, desto weniger versuchen wir, unser Leben in Schubladen zu zwingen.

Wer wir zu einer gegebenen Zeit sind, so sagen Sozialpsychologen, hängt vor allem von dem Kontext und dem Milieu ab, in dem wir uns befinden. Aber wer schafft den Kontext? Je achtsamer wir sind, desto eher können wir unseren Kontext bestimmen. Wenn wir unseren Kontext schaffen, sind wir authentischer. Achtsamkeit lässt uns die Dinge in einem neuen Licht sehen und an die Möglichkeit von Veränderungen glauben. Dann können wir, wenn wir uns in strengen Arbeitsabläufen und Regeln eingesperrt fühlen, erkennen, dass diese einst von irgendwelchen Leuten festgelegt worden sind. Diese Menschen lebten zu einer bestimmten Zeit mit bestimmten Neigungen und Bedürfnissen. Wenn wir uns dessen bewusst wären, würden wir häufiger versuchen, unsere Arbeit entsprechend unseren Fähigkeiten und Umständen umzugestalten. Die Strategien einer Firma waren einst das Bestmögliche, das aber nicht in Stein gemeißelt werden muss. Wenn wir den Menschen wieder in den Gesamtkomplex einbringen, wenn wir merken, dass Kategorien von Menschen geschaffen sind, erkennen wir, dass fast alles veränderbar ist. Dann fühlt sich die Arbeit fast wie Spiel an, und Spiel scheint so wertvoll wie Arbeit. Denken Sie an das Schild „Rasen betreten verboten“. Die meisten Menschen halten sich ohne nachzudenken an das Verbot. Jetzt überlegen Sie, dass da stehen könnte: „Ellen hat gesagt: Rasen betreten ist verboten.“ Schon fragen wir: „Wer ist Ellen? Würde es ihr wirklich etwas ausmachen, wenn ich mich heute auf den Rasen setzte? Kann ich mit ihr verhandeln?“ Ich denke, die Antwort wäre immer „ja“. Je häufiger wir uns bewusst werden, dass unsere Einschätzung unserer selbst, der Anderen, sowie der angenommenen Grenzen betreffend unsere Fähigkeiten, unsere 12Gesundheit und unsere Zufriedenheit zu einem früheren Zeitpunkt in unserem Leben gedankenlos akzeptiert wurde, desto eher öffnen wir uns der Erkenntnis, dass auch diese sich ändern kann. Alles, was wir tun müssen, um diesen Prozess in Gang zu setzen, ist achtsam zu sein.

13 Einführung

„Ich mag die Vorstellung von einem einheitlichen Thema nicht,
ich ziehe das Spiel des Kaleidoskops vor: man schüttelt es, und
die kleinen farbigen Glasstückchen bilden ein neues Muster.“

Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme

In einem Altenheim in Connecticut durften sich eines Tages ältere Bewohner Zimmerpflanzen aussuchen, die sie selbst pflegen sollten, außerdem wurden sie aufgefordert, verschiedene kleine Entscheidungen über ihren Tagesablauf selbst zu treffen. Anderthalb Jahre später waren diese Menschen nicht nur fröhlicher, aktiver und munterer als eine Vergleichsgruppe in derselben Einrichtung, die diese Entscheidungsmöglichkeiten und Verantwortungen nicht bekommen hatte, es waren auch mehr von ihnen noch am Leben. Tatsächlich waren weniger als halb so viele von den Entscheidungen treffenden, Pflanzen versorgenden Bewohnern gestorben wie in der anderen Gruppe.1 Mit diesem Experiment und seinen überraschenden Ergebnissen begannen zehn Jahre der Erforschung dessen, was meine Kollegen und ich später als Mindfulness – Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Aufgeschlossenheit oder geistige Offenheit – bezeichneten, und ihres Gegenstücks, des ebenso mächtigen, aber destruktiven Zustands der Mindlessness, der Gedankenlosigkeit.2

Im Gegensatz zu den exotischen „Veränderten Bewusstseinszuständen“, über die wir so viel lesen, sind Mindfulness und Mindlessness – Achtsamkeit und Gedankenlosigkeit – so normal, 14dass die wenigsten Menschen ihre Bedeutung erkennen oder ihren Einfluss nutzen, um ihr Leben zu verändern. Dieses Buch handelt von dem psychischen und dem physischen Preis, den wir für die allgegenwärtige Gedankenlosigkeit zahlen, und, was noch wichtiger ist, von den Vorteilen größerer Kontrolle und erweiterter Entscheidungsmöglichkeiten sowie von der Überwindung von Grenzen, die durch Achtsamkeit – Mindfulness – ermöglicht werden.

Obwohl die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit in einer Vielzahl wissenschaftlicher Artikel veröffentlicht worden sind, habe ich ihre Implikationen immer schon einem größeren Publikum zugänglich machen wollen. Die Vorteile des achtsamen Denkens scheinen mir zu groß, als dass die Forschungsergebnisse in den Archiven der Sozialpsychologie verborgen bleiben dürften. Wenn mich ein Personalleiter oder ein Journalist um die Erlaubnis zum Abdruck eines meiner Zeitschriftenartikel bittet, wünschte ich immer, dass ich den Text durch eine Maschine für Schnellübersetzungen laufen lassen könnte, die den Fachjargon und die Statistiken tilgen und die darunter liegende praktische Bedeutung der Ergebnisse deutlich machen würde. Und wenn das vorliegende Buch auch alles andere als schnell geschrieben wurde, so ist es doch eine solche „Übersetzung“ aus mehr als fünfzig Experimenten und der Versuch, ihre Implikationen über die Grenzen des Labors hinaus in der Literatur wie im täglichen Leben zu demonstrieren.

Was für eine Gefahr die Gedankenlosigkeit darstellt, erlebte ich zum ersten Mal, als ich noch zur Schule ging. Meine Großmutter beklagte sich bei ihren Ärzten, eine Schlange krieche ihr unter der Schädeldecke durch den Kopf und verursache Kopfschmerzen. Ihre Beschreibungen waren lebendig und bildhaft, nicht wörtlich zu nehmen. So drückte sie sich eben aus. Aber die jungen Mediziner, die sie behandelten, achteten kaum auf das, was diese sehr alte Dame aus einer anderen Kultur ihnen da erzählte. Sie diagnostizierten Senilität. Senilität kommt schließlich mit dem Alter und lässt die Leute Unsinn reden. Als sie immer verwirrter und unglücklicher wurde, empfahlen sie eine Elektrokrampfbehandlung („Elektroschocks“) und überzeugten meine Mutter, dass sie ihre Zustimmung geben müsse.

Erst bei der Autopsie wurde der Hirntumor meiner Großmutter entdeckt. Ich teilte die Qualen und das Schuldgefühl meiner 15Mutter. Aber wer waren wir, die Kompetenz der Ärzte anzuzweifeln? Jahrelang musste ich über die Reaktion der Ärzte auf die Klagen meiner Großmutter nachdenken und über unsere Reaktion auf die Ärzte. Sie lieferten ihre Diagnose, waren aber nicht offen für das, was sie hörten. Ihre Einstellungen (Mindsets) zum Thema Senilität blockierten sie. Wir zweifelten ihre Kompetenz nicht an; unsere Einstellungen gegenüber Autorität und Kompetenz blockierten uns. Endlich erkannte ich im Verlauf meiner sozialpsychologischen Studien einige der Gründe für unsere Fehler, und das führte mich weiter zur Erforschung gedankenlosen Verhaltens.

Sozialpsychologen untersuchen im Allgemeinen die Art und Weise, wie Verhalten vom Kontext beeinflusst wird. Bei Gedankenlosigkeit behandeln jedoch die Leute Informationen, als wären sie kontextfrei – wahr, unabhängig von Bedingungen. Nehmen Sie zum Beispiel die Aussage: Heroin ist gefährlich. Wie weit gilt das für einen sterbenden Menschen mit unerträglichen Schmerzen?

Als ich erst einmal auf die Gefahren der Gedankenlosigkeit aufmerksam geworden war und auf die Möglichkeit, eine achtsamere Haltung durch so scheinbar einfache Maßnahmen wie die in dem Altenheim-Experiment einzuführen, begann ich diesen Dualismus in vielen Zusammenhängen zu entdecken. Zum Beispiel bei den Vorfällen, die 1982 zum Absturz einer Maschine der Air Florida geführt haben, bei dem 74 Menschen ums Leben kamen. Es war ein Routineflug von Washington nach Florida mit einem erfahrenen Team an Bord. Pilot und Kopilot waren in erstklassiger körperlicher Verfassung. Keiner von beiden war müde oder überanstrengt oder hatte etwas eingenommen. Was war also schief gegangen? Umfangreiche Untersuchungen engten den Verdacht auf die Funktionskontrollen vor dem Start ein. Während der Kopilot jede der Funktionen nach einer Liste ansagt, versichert sich der Pilot, dass die Schalter jeweils so stehen, wie er sie haben will. Dazu gehört auch ein Vereisungsschutz. An diesem Tag gingen Pilot und Kopilot die Funktionen durch, wie sie es immer getan hatten. Sie gingen ganz gewohnheitsmäßig vor und hakten wie immer „Aus“ ab, als der Enteiser drankam. Aber diesmal war der Flug anders, als sie es gewohnt waren. Diesmal flogen sie nicht wie gewöhnlich in warmem, südlichem Wetter. Draußen war es eiskalt.

16Als er wie gewöhnlich seine Funktionskontrollen eine nach der anderen durchführte, sah es so aus, als wäre der Pilot mit den Gedanken dabei, obwohl das nicht der Fall war.3 Diese Routinekontrollen von Pilot und Kopilot vor dem Start haben viel mit den ermüdenden Sicherheitsvorführungen der Flugbegleiter vor erfahrenen, glasig blickenden Fluggästen gemein. Wenn wir blind nach Routine verfahren oder ohne nachzudenken sinnlose Anweisungen ausführen, handeln wir wie Automaten mit möglicherweise ernsten Konsequenzen für uns und andere. Allerdings gestatten wir uns nicht alle, gedankenlos zu werden. Manche Konzertpianisten memorieren ihre Stücke auch fern von der Tastatur; sie wollen vermeiden, dass ihre Finger die Noten „wissen“, sie selbst aber nicht. Im Grunde erhalten sich diese Kenner die Achtsamkeit für ihre Konzerte. Ohne Klaviatur können sie sich ihrer Leistung nie ganz sicher sein.

In den folgenden Kapiteln möchte ich deutlich machen, wie und warum sich Gedankenlosigkeit entwickelt, möchte zeigen, wie wir auf den verschiedensten Lebensgebieten achtsamer denken lernen und uns besser in der Gegenwart orientieren können. In Kapitel 1 wird das Wesen der Gedankenlosigkeit und ihre Beziehung zu verwandten Begriffen wie Gewohnheit und Unbewusstes erforscht. Kapitel 2 untersucht die Gründe für die Gedankenlosigkeit einschließlich der entscheidenden Rolle des Kontexts und der Art unserer frühen Bildung. Ein Überblick über den Preis der Gedankenlosigkeit, über die Beschränkung, die sie unseren Fähigkeiten auferlegt, und über Erwartungen und Möglichkeiten folgt in Kapitel 3. In Kapitel 4 erörtere ich das Wesen der Achtsamkeit (Mindfulness) und zeige die Unterschiede zu verwandten Begriffen in der östlichen Philosophie. Kapitel 5 bis 9 zeigen die Anwendung der Mindfulness-Forschung in fünf wichtigen Gebieten des täglichen Lebens: Altwerden, Kreativität, Berufstätigkeit, Vorurteile, Gesundheit.

Die Teile meiner Forschung, mit denen ich mich besonders gern beschäftigt habe, darunter Unsicherheit bei Führungskräften in der Arbeitssituation und die Verknüpfung von Gedankenlosigkeit mit der alten Falle des Leib-Seele-Dualismus, werden in den 17entsprechenden Kapiteln über Arbeit und Gesundheit behandelt, also Kapitel 7 bzw. 9. Wie so vieles in diesem Buch haben sie jedoch auch für andere Gebiete Bedeutung. Mir geht es wie Ivan Illich, als er erklärte, warum er Verschulung, Verkehr und die Medikalisierung der Gesundheit für seine Kritik an Technisierung und Enteignung heranzog: ich könnte genau so gut über das Postwesen geschrieben haben (oder auch über Politik).4

Da das Festhalten an starren Regeln und Achtsamkeit (Mindfulness) per definitionem unvereinbar sind, werden in diesem Buch keine Gebrauchsanweisungen gegeben. Viele, die das Manuskript in einer früheren Fassung gelesen haben oder in der Forschung mit mir zusammenarbeiteten, haben wie ich festgestellt, dass das Nachdenken über Achtsamkeit und Gedankenlosigkeit ihre Lebenseinstellung verändert hat. Manche haben es fortan leichter gefunden, etwas zu riskieren und sich über eine Veränderung zu freuen, oder sie fürchteten Fehlschläge nicht mehr so sehr; andere wurden Herr der Lage, wo sie früher hilflos gewesen waren, oder fühlten sich frei, wo sie früher eingeengt gewesen waren. Ich hoffe, dass die Leser Spaß an den Einblicken in unsere Forschung haben, dass sie die Schlüsse achtsam denkend in Frage stellen und die Folgerungen in ihrem eigenen Leben testen.

* Der Begriff Priming bzw. Bahnung bezeichnet in der Psychologie die Beeinflussung der Verarbeitung eines Reizes dadurch, dass ein vorangegangener Reiz implizite Gedächtnisinhalte aktiviert hat. (Wikipedia)

** Mark Twain: „Leben auf dem Mississippi“. Gesammelte Werke Bd. 6, Frankfurt (Insel) 1977. Deutsch von Helene Ritzerfeld.

1 Langer, E. und J. Rodin: „The Effects of Enhanced Personal Responsibility for the Aged: A Field Experiment in an Institutional Setting“. Journal of Personality and Social Psychology 34 (1976): 191–198. – Rodin, J. und E. Langer: „Long-term Effects of a Control-Relevant Intervention Among the Institutionalized Aged“. Journal of Personality and Social Psychology 35 (1977): 897–902.

2 Im deutschen Text verwende ich der Übersichtlichkeit halber für Mindfulness und mindful „Achtsamkeit“ und „achtsam“ etc. Mindlessness lässt sich problemlos mit „Gedankenlosigkeit“ wiedergeben. (Anm. d. Übers.)

3 Gersick, C. und J. R. Hackman: „Habitual Routines in Task-Performing Groups“. Organizational Behavior and Human Decision Processes 47, 65–97.

4 Illich, I.: „Die Enteignung der Gesundheit“, deutsch von Nils Thomas Lindquist. Reinbek 1975.

19Teil I
Gedankenlosigkeit
(Mindlessness)

21Kapitel 1
Ein Stück Holz wird gewünscht

„Aus der Zeit schneiden wir uns ‚Tage‘ und ‚Nächte‘,
‚Sommer‘ und ‚Winter‘ heraus. Wir sagen, was jedes Teil
des wahrnehmbaren Kontinuums ist, und jedes
abstrakte Was ist ein Begriff.

Das intellektuelle Leben des Menschen besteht fast ganz darin,
dass er ein konzeptuelles (begriffliches) System einsetzt
anstelle des perzeptionellen (wahrnehmenden) Systems,
aus dem seine Erfahrung ursprünglich stammt.“

William James, The World We Live In

Stellen Sie sich vor, es ist zwei Uhr nachts. Plötzlich schrillt die Haustürklingel. Sie stehen erschrocken auf und gehen nach unten. Sie öffnen die Tür, und vor Ihnen steht ein Mann. Er trägt zwei Diamantringe, hat einen Mantel mit Pelzkragen an, und hinter ihm steht ein Rolls-Royce. Er bittet um Entschuldigung, dass er Sie zu einer so unmöglichen Zeit geweckt hat, aber er steckt mitten in einer „Scavengerjagd“5, wie er sagt. Seine Exfrau nimmt ebenfalls teil, deshalb ist es für ihn besonders wichtig, dass er gewinnt. Er braucht ein Stück Holz von ungefähr einem mal zwei Meter. Ob Sie ihm helfen können? Damit es sich für Sie lohnt, will er Ihnen zehntausend Dollar geben. Sie glauben ihm das. Er ist offensichtlich reich. Und Sie fragen sich: Wie um alles in der Welt kann ich ihm so ein Stück Holz beschaffen? Ihnen fällt der Heimwerkermarkt ein; leider wissen Sie nicht, wie der heißt; übrigens wissen Sie auch nicht genau, wo der eigentlich liegt. Jetzt, mitten in der Nacht, ist er bestimmt auch geschlossen. Sie mögen sich noch so anstrengen, Ihnen fällt nichts Brauchbares ein. Und bedauernd sagen Sie: „Tut mir leid, ehrlich …“

22Am nächsten Tag kommen Sie auf dem Weg zu Freunden an einer Baustelle vorbei und entdecken ein Stück Holz in genau den richtigen Maßen, ein Meter mal zwei Meter – eine Tür! Sie hätten nur ein Türblatt auszuhängen und ihm zu geben brauchen – für 10 000 Dollar!

Wieso eigentlich ist mir das heute Nacht nicht eingefallen, fragen Sie sich. Es ist Ihnen nicht eingefallen, weil Ihre Tür gestern nicht „ein Stück Holz“ war. Dieses ein mal zwei Meter große Stück Holz war vor Ihnen verborgen in einer Kategorie mit Namen „Tür“.

Diese Art Gedankenlosigkeit, die meistens in langweiligerem Gewand auftritt – „Warum hab ich nicht an Susan gedacht? Die kann doch Abflüsse reinigen!“ – kann man unter „Gefangensein in Kategoriendenken“ einordnen. Das ist die erste von drei Definitionen, die uns das Wesen der Gedankenlosigkeit verständlich machen. Die anderen beiden werden wir auch erklären; es sind mechanisches oder automatisches Reagieren und das Handeln unter einer einzigen Perspektive.

Gefangen im Kategoriendenken

Wir erfahren die Welt, indem wir Kategorien schaffen und Unterscheidungen treffen. „Dies ist eine chinesische und keine japanische Vase.“ – „Nein, er ist noch Schüler.“ – „Das Knabenkraut steht unter Naturschutz.“ – „Sie ist jetzt seine Vorgesetzte.“ Auf diese Weise machen wir uns ein Bild von der Welt und von uns selbst. Ohne Kategorien würden wir die Welt nicht begreifen können. Tibetische Buddhisten nennen diese Denkgewohnheit den „Herrn der Sprache“: „Wir benutzen Gruppen von Kategorien, die als Handhabe dienen, um Phänomene zu meistern. Die vollkommensten Produkte dieses Bestrebens sind Ideologien, Systeme von Ideen, die unser Leben rationalisieren, rechtfertigen und gutheißen. Nationalismus, Kommunismus, Existentialismus, Christentum, Buddhismus – sie alle versehen uns mit Identitäten, Gesetzen des Handelns und Deutungen, wie und warum Dinge so geschehen, wie es der Fall ist.“6

23Die Schaffung neuer Kategorien ist, wie wir in diesem Buch immer wieder sehen werden, eine achtsame Tätigkeit. Gedankenlosigkeit setzt ein, wenn wir uns zu starr auf Kategorien und Unterscheidungen verlassen, die aus der Vergangenheit stammen (männlich/weiblich, alt/jung, Erfolg/Versagen). Wenn Unterscheidungen einmal gemacht worden sind, gewinnen sie ein Eigenleben. Zum Beispiel: 1. Zuerst gab es die Erde. 2. Dann gab es Land, Meer und Himmel. 3. Dann gab es Länder. 4. Dann gab es ein Deutschland. 5. Dann gab es ein Deutschland-Ost gegenüber einem Deutschland-West. – Die Kategorien, die wir bilden, gewinnen an Stoßkraft und sind nur schwer abzubauen. Wir entwickeln eigene und gemeinsame Wirklichkeiten und werden dann ihre Opfer – blind gegenüber der Tatsache, dass sie bloß Konstrukte sind, Ideen.

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