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Das Buch

Hals über Kopf verlässt die Floristin Andrea Dernbach ihren Freund in New York und beschließt, in Europa einen Neuanfang zu machen. Sie landet in dem Familien-Chalet ihrer Freundin Christiane im Engadin. Was für eine Idylle hier auf dem Land. Aber nichts da: In dem Anwesen ist noch jemand zu Hause. Der neue Nachbar Julian Steinhäuser geht Andrea gehörig auf den Geist – dabei sieht er so unverschämt gut aus. Dann taucht auch noch der Architekt Norbert Zauner auf und macht Andrea voller Charme den Hof. Sie wollte sich doch nie mehr verlieben, und jetzt sind da zwei Männer. Warum hat ihre Freundin ihr von der attraktiven Gesellschaft hier im Hochtal nichts erzählt? Hat Christiane das etwa alles eingefädelt? Ein amüsantes Missverständnis folgt auf das nächste, und Andreas Erholung ist bald endgültig dahin …

Die Autorin

Johanna Nellon lebt mit ihrem Mann im schönen Rheinland. Sie ist gern auf Reisen und liebt die Schweiz und die Alpen über alles.

Von Johanna Nellon sind in unserem Hause bereits erschienen:

Ein Sommer am Chiemsee

Liebesleuchten am Bodensee

Marillenglück und Gummistiefel

Johanna Nellon

Nussgipfel
und Alpenglück

Roman

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

List Taschenbuch

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Originalausgabe im List Taschenbuch

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

1. Auflage Mai 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: bürosüd° GmbH, München


ISBN 978-3-8437-1109-8


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Andrea stand an einem der breiten Fenster des Lofts und sah hinunter auf Manhattan. Immer mehr Lichter gingen in den Hochhäusern und auf den Straßen an und mischten sich mit den Leuchtreklamen, die ununterbrochen ihr grelles Licht in den Straßenschluchten verströmten.

Wenn Andrea sich auf die Zehenspitzen stellte und scharf nach links schaute, konnte sie den Hudson River erkennen – zumindest ein paar Meter des Flusses, der sich träge durch die Millionenmetropole schlängelte.

Andrea sah hinauf zum wolkenverhangenen Himmel. Nicht ein Stern war zu sehen. Im Grunde sah man in New York nie einen schönen Sternenhimmel, denn die Lichter der Stadt waren greller als die hellen, kleinen Tupfen am nachtdunklen Firmament. Früher, als Kind, hatte sie zusammen mit ihrem Großvater oft zu den Sternen hochgeschaut. Der Großvater kannte alle Sternbilder und hatte sie ihr gezeigt.

Erste Regentropfen zerplatzten auf den Scheiben und zogen eine dünne, feuchte Spur bis hinunter zu dem rotbraunen Vorsprung aus Ziegelsteinen, der das Loft von den acht unteren Etagen abtrennte.

»Mairegen bringt Segen«, murmelte Andrea den Spruch vor sich hin, den schon ihre Großmutter immer gesagt hatte. »Nur merk ich gar nichts von irgendeinem Segen.« Sie wandte sich seufzend ab und ging hinüber zur Küchenzeile. Hier lagen noch die zartgelben Lilien, die sie aus dem Blumenladen mitgebracht hatte, in dem sie arbeitete.

Mechanisch begann sie die rostroten Staubblätter abzuschneiden. Wenn man mit den Staubgefäßen in Berührung kam, gab es hässliche Flecken, die sich nur schwer entfernen ließen. Vor drei Wochen hatte sich Markus sein weißes Hemd an einer Lilienblüte verdorben. An seinen fast hysterischen Tobsuchtsanfall erinnerte sich Andrea heute noch.

»Hör endlich auf, den halben Blumenladen hierher zu schleppen«, hatte er geschrien und die Blumen mitsamt der alten Kristallvase, einem Erbstück von Andreas Großmutter, zu Boden geschleudert. »Ich hasse dieses Gemüse. Und den alten Krempel, den du immer wieder irgendwo hier aufstellst, erst recht. Hast du denn gar keinen Sinn für modernes Design? Himmel noch mal, wir leben hier doch nicht auf einem verschlafenen Dorf!«

Andrea biss sich auf die Lippen, als sie an die unschöne Szene dachte. Wieder einmal sah sie sich in dem weitläufigen Loft um, in dem nur wenige, aber erlesene moderne Möbel standen. Alles hatte Markus ausgesucht. Und alles war teuer und von irgendwelchen gerade angesagten Designern entworfen worden. Markus legte großen Wert auf Statussymbole. Seit anderthalb Jahren arbeitete er als Broker bei einer amerikanischen Bank. Er war höchst erfolgreich, und das wollte er gern auch zeigen.

»Ich kann’s mir leisten« war einer seiner Lieblingssprüche, die Andrea hassen gelernt hatte. »Schließlich hab ich hier im Big Apple einen supergeilen Job, und der wird fürstlich bezahlt.«

Sein Job, sein Loft, sein Sportwagen, seine Freunde, genauso oberflächlich und auf Äußerlichkeiten bedacht wie er selber. Alles muss hip und total angesagt sein, dachte Andrea bitter. Schön und teuer, das ist wichtig. Aber unsere Wohnung ist kein bisschen gemütlich! Kalte Pracht – nichts weiter!

Sie arrangierte noch ein paar gelbe Rosen zu den Lilien. Wenigstens ein paar Blumen musste sie um sich haben, um sich halbwegs wohl zu fühlen.

Tu ich das überhaupt noch in Marcs Nähe?, fragte sie sich zum wiederholten Mal. Von der großen Liebe, die sie daheim in Köln für ihn empfunden hatte, war nicht mehr sehr viel übrig. Verschlungen von dem Moloch New York, von Marcs Job, von seinen Kumpels, mit denen er seine Freizeit viel lieber verbrachte als mit ihr.

Am verrücktesten fand sie es, dass er darauf bestand, nur noch Marc genannt zu werden, sogar von ihr. Kosenamen waren total out, er fand es lächerlich, wenn sie ihn daran erinnerte, dass er sie früher gern ›Feechen‹ genannt hatte. Jetzt war sie entweder Andrea oder ›Darling‹ und ›Sweet­heart‹. Austauschbar und stereotyp.

Ein leiser Pfeifton ertönte – der Nudelauflauf war fertig!

Andrea sah auf die Uhr, eigentlich müsste Markus – o sorry, Marc natürlich – gleich kommen. Es war Freitagabend, da schlossen Börse und Banken pünktlich. Doch es kam vor, dass er noch mit ein paar Kollegen in eine Bar ging. Oder in das neue Fitnessstudio, das sich im 72. Stock eines neu erbauten Hochhauses befand und das – laut Marc – einfach alles an Fitnessgeräten bot, was man sich nur wünschen konnte. »Dazu gibt’s Sauna, Jacuzzi und eine Massageabteilung samt Bräunungsstudio. Tom und Edward sind da schon Stammgäste.«

»Und du bald auch, nehm ich mal an.« Sie hatte den bitteren Ton in der Stimme nicht unterdrücken können, als er ihr von dem neuen »In-Treff« erzählte.

»Ja, ich auch. Es gehört einfach dazu, fit zu sein – und auch so auszusehen. Im Business zählt nur, wer gut aussieht und up to date ist. Tom hat sich sogar das Fett am Bauch absaugen lassen, weil’s gut für sein Image ist. Wäre gut, wenn du auch mal anfingst, was für dich zu tun.« Bei diesen Worten hatte er sie angesehen, als sei sie mindestens fünfzig und vollkommen aus dem Leim gegangen. Dabei besaß Andrea eine fast perfekte Figur. Nur ihr Busen war ein bisschen zu klein, fand sie zumindest. Aber das hatte Marc bislang nicht gestört.

Bisher hat er dich ja auch noch mindestens so sehr geliebt wie seinen Job, ging es ihr durch den Kopf. Inzwischen bist du allerdings nur noch ein Sexobjekt für ihn. Willig, immer da, wenn ihm danach ist, sanft und anschmiegsam, dankbar für jedes nette Wort, jede noch so kleine Zärtlichkeit.

Ihre Augen begannen zu brennen, und Tränen rannen Andrea über die Wangen, die nur leicht von der ersten Sonne getönt waren.

Wo war die große Liebe geblieben? Wo die Zärtlichkeit, die Leidenschaft? Wo das große Gefühl, das vor drei Jahren, als sie den verheirateten Markus Weinburg kennenlernte, alle Bedenken und Zweifel überlagert hatte? Nie hatte sie sich mit einem verheirateten Mann einlassen wollen, das hatte sie sich immer geschworen. Doch als sie Markus begegnete, lösten sich alle Vorsätze in Rauch auf. Hilflos wirkte er, als er in dem Blumengeschäft, in dem sie arbeitete, einen Geburtstagsstrauß für seine Frau orderte.

»Rote Rosen?«, fragte Andrea und wies auf eine hohe Vase mit wunderschönen Baccararosen.

»Nein. Keine Rosen.« Er schüttelte den Kopf. »Irgendwas Buntes, Fröhliches.« Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Was würde Ihnen denn gefallen?«

Andrea zögerte und wies dann auf Lilien und hellgelbe Rosen. »Das sind meine Lieblingsblumen.«

»Dann hätte ich gern einen solchen Strauß.«

Während sie fünf Lilien und sieben großköpfige Rosen band, ließ der Kunde sie nicht aus den Augen. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen, und seine Augen begannen zu leuchten.

Andrea spürte seinen Blick und musste sich bemühen, das Zittern ihrer Finger zu verbergen. Gut sah der Mann aus! Das dunkelblonde Haar passte zu den graublauen Augen und dem gebräunten Gesicht. Der dunkelblaue Anzug saß perfekt und verriet den erstklassigen Schneider. Auch die dezent gestreifte Krawatte zum weißen Hemd war geschmackvoll ausgewählt. Er war schlank, und seine Hände mit den langen, schmalen Fingern wirkten ausgesprochen gepflegt.

»Ist’s so recht?« Sie hielt den gebundenen Strauß in die Höhe.

»Sehr gut. Danke.« Wieder ein tiefer Blick. »Und jetzt hätte ich doch noch gern ein Dutzend rote Rosen.«

Für eine Sekunde runzelte Andrea die Stirn, kam aber dem Wunsch kommentarlos nach.

»Soll ich die Sträuße in Folie wickeln?«

»Nur die roten Rosen.« Mit drei großen Schritten umrundete er den Verkaufstresen, nahm den Lilienstrauß und legte ihn ihr in den Arm. »Die sind für Sie.«

So begann ihre Beziehung.

Schon am nächsten Tag kam Markus wieder. Er kaufte wieder Rosen und Lilien, und auch diesen Strauß schenkte er ihr. Auch am über- und übernächsten Tag. So lange, bis sie ihm Einhalt gebot und einwilligte, mit ihm auszugehen.

»Ich kann ja daheim bald einen Blumenladen aufmachen«, sagte sie und lachte ihn an. »Hören Sie auf damit.«

»Nur, wenn Sie heute mit mir essen gehen.«

Was blieb ihr anderes übrig, als einzuwilligen? Er war charmant und zeigte ihr mit jedem Blick, wie sehr sie ihm gefiel und wie sehr er sie begehrte.

»Ich will keine Beziehung zu einem verheirateten Mann. Das schafft nur Probleme.« Wie oft hatte sie das gesagt! Aber bei Markus vergaß sie ihre Vorsätze. Sie glaubte ihm, dass seine Ehe unglücklich war und er sich nur der Kinder wegen nicht scheiden ließ. Es war die klassische Ausrede, die bestimmt schon viele tausend Männer benutzt hatten. Und ebenso viele Frauen waren wohl darauf hereingefallen!

Fünfzehn Monate lang trafen sie sich heimlich, und Andrea genoss die Stunden, die erfüllt waren von Liebe und Zärtlichkeit.

Dann, an einem nasskalten Herbsttag, erklärte Markus strahlend: »Endlich hab ich’s geschafft!« Er hob Andrea hoch und wirbelte sie übermütig durch die Luft. »Wir gehen nach New York! Na, was sagst du?«

Zunächst sagte sie gar nichts. Die Neuigkeit nahm ihr ebenso den Atem wie Markus’ leidenschaftliche Küsse. Schließlich schob er sie ein Stück von sich und sah sie stirnrunzelnd an. »Nun sag doch endlich was!«

»Ich … ich gratuliere dir.« Ihre Stimme war kaum zu verstehen.

»Das ist alles?« Eine kleine Ader an seiner Schläfe schwoll an, die eben noch so zärtlich dreinblickenden Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ich hatte mehr von dir erwartet.«

Andrea biss sich auf die Lippen. »’tschuldige. Aber ich bin total perplex. Wann gehst du denn nach New York?«

»In einem Monat. Drüben wird alles für mich bereitgestellt: Büro und Wohnung. Ich hab mich übrigens nicht für ein großes Apartment, sondern für ein Loft entschieden. Das ist zwar teurer, aber die Investition wird sich lohnen, glaub mir.« Er zog sie wieder an sich. »Du musst mitkommen, Kleines. Ohne dich bin ich doch nur noch ein halber Mensch. Ich brauche dich. Ich liebe dich.«

Wie hätte sie da noch lange widerstehen können?

Aber sie machte ihm klar, dass sie nicht einfach alles stehen und liegen lassen konnte. Sie hatte ja auch einen Job, eine Wohnung, Verpflichtungen.

»Na und?« Für Markus waren das keine Probleme. »Du kündigst alles und wir fangen noch mal ganz von vorn an. Nur wir zwei.«

Seine Familie war ihm offenbar nicht wichtig. Die Kinder mussten zur Schule. Lucca, der elfjährige Sohn, hatte gerade aufs Gymnasium gewechselt, die siebenjährige Emma besuchte die zweite Klasse einer Waldorfschule.

»Lilo und die Kinder bleiben in Köln, so ist’s abgemacht.« Wieder ein langer Kuss. »Mach dir um meinen Anhang keine Gedanken, die kommen gut klar. Lilo ist ein Gewohnheitstier. Träge und langweilig. Sie mag einfach keine Veränderungen, ist total unflexibel. Ihr ist nur wichtig, dass sie im Haus wohnen bleiben kann. Sie braucht den Kaffeeklatsch mit der Nachbarin und ihre Nähkurse im Kirchenclübchen. Ätzend, so ein Leben. Aber jeder, wie er mag.« Noch ein Kuss. »Du bist da anders, und gerade deshalb liebe ich dich so sehr.«

Seinen Überredungskünsten hatte sie nicht mehr viel entgegensetzen können. Und so folgte sie ihm drei Monate später nach New York.

Markus hatte sich schon eingelebt in der Großstadt. Er wollte nun Marc genannt werden, sprach nur noch Englisch und hatte sich schon einen kleinen Freundeskreis aufgebaut.

Andrea blieb außen vor. Nur selten nahm Marc sie mit, wenn er sich mit den Kollegen traf. Er erklärte, dass sie von dem Fachchinesisch, das er und seine Kumpels auch in der Freizeit sprechen würden, ja doch nichts verstünde.

»Richtig ausspannen tun wir sowieso nicht, irgendwie sind wir immer präsent und bereit, einen neuen Deal abzuschließen. Deshalb ist es auch ganz wichtig für mich, dass ich mich mit den anderen austauschen kann, die sind ja schon länger hier und kennen sich aus.«

Zum Glück fand sie rasch einen guten Job in einem exklusi­ven Blumenladen auf der Fifth Avenue. Schräg gegenüber lag ein bekanntes Luxushotel, vier Häuser weiter war der berühmte Flagstore von Tiffany & Co. Ihre Chefin war deutschstämmig und schätzte sowohl Andreas Pünktlichkeit als auch ihr Können.

Eines Tages, Andrea brachte die Tischdekoration für eine große Hochzeit ins Hotel, lernte sie Ellen Kaspars kennen, die an der Rezeption arbeitete und aus Düsseldorf stammte. Die quirlige Rothaarige wurde bald ihre Freundin, der einzige Mensch, dem sie anvertraute, wie wenig glücklich sie in New York war.

Ellen und Marc mochten sich nicht, das stellte sich rasch heraus, und so trafen sich die beiden Frauen stets allein. Zwei Mal hatte Ellen der Freundin geraten, sich wieder von Marc zu trennen. »Das ist doch keine Liebe, die euch verbindet«, hatte sie gesagt. »Du bist sein Heimchen am Herd, machst es ihm gemütlich, hältst die Wohnung in Schuss und kochst für den Herrn und Meister. Und was gibt er dir? Liebe?« Sie hatte den Kopf so heftig geschüttelt, dass die roten Locken wippten. »Das ist keine Liebe.« Kurz hatte sie Andrea an sich gezogen. »Werd wach, Andrea! Der Typ nutzt dich nur aus, der braucht dich für sein Ego, mehr nicht. Wahrscheinlich geht er irgendwann zurück nach Deutschland zu Frau und Kindern.«

»Das stimmt so nicht. Marc liebt mich. Und seine Ehe existiert nur noch auf dem Papier, da bin ich sicher. Und ich will nicht, dass du schlecht von ihm sprichst.« Sie hatte beleidigt reagiert, und da beide ihre Freundschaft nicht gefährden wollten, blieb das Thema Marc ab diesem Zeitpunkt tabu.

Doch insgeheim wusste Andrea, dass es stimmte: Marc war lange nicht mehr so liebevoll wie noch vor einem Jahr. Er arbeitete hart und wollte daheim nur noch entspannen. Und dazu gehörte, dass Andrea dafür sorgte, dass im privaten Bereich alles reibungslos lief. Und dass sie mit ihm schlief, wann immer ihm danach war.

Anfangs hatte sie seine Leidenschaft, die ihn ganz spontan überwältigte, als wunderbar empfunden, doch aus dem Liebesspiel war inzwischen nur noch ein kurzer, heftiger Akt geworden, der einzig dazu diente, Marcs Bedürfnisse zu befriedigen.

Seit einiger Zeit ließ er sich auch gern irgendwelche perversen Spielchen einfallen, auf die sie nun gar nicht stand, die ihn aber total erregten.

Ich will heim, dachte Andrea nicht zum ersten Mal.

Ich will zurück nach Köln.

Ich will mein altes, ruhiges Leben zurück.

Die Kruste auf dem Nudelauflauf war zu braun geraten, sie hatte die Auflaufform zu spät aus dem Ofen gezogen. Leichter Brandgeruch waberte durch den großen Raum.

Hoffentlich ging der Rauchmelder nicht an!

Andrea öffnete zwei der hohen Kippfenster und hoffte, dass die grauen Schwaden rasch abziehen würden.

Ein melodischer Klingelton ließ sie zusammenzucken. Am Telefon, das gleich neben der Eingangstür auf einem elipsenförmigen Acryltisch stand, blinkte ein Lämpchen auf.

Nein, sie hatte absolut keinen Bock drauf, Marc beim Telefonieren ins Gesicht zu sehen! Das Bildschirmtelefon oder das Skypen waren auch so neumodische Dinge, die Andrea hasste.

Jetzt summte ihr Handy. »Ja, hallo?«

»Darling, ich bin’s. Warum gehst du nicht ans Telefon?«

»Keine Lust.«

»Du bist … na, ist jetzt auch egal. Ich komme noch nicht heim, wollte ich nur sagen. Wir gehen noch in den Fitness­club. Es wird sicher später, Edward hat zu einer Massagerunde eingeladen.«

»Viel Spaß.« Sie ahnte, wie diese Massagerunden aussahen! Mit Wellness hatte es sicher nicht viel zu tun. Als er vor drei­ Wochen ziemlich betrunken von einem dieser ›Männer­abende‹ heimgekommen war, hatte Marc mehr erzählt, als er es im nüchternen Zustand getan hätte. Er hatte von der scharfen Candy gesprochen und davon, dass es im Club keine Tabus gab.

»Und du? Was hast du mir zu bieten, ha?« Er hatte sie an sich gezogen und brutal geküsst. Dann hatte er mit ihr schlafen wollen, wie immer, wenn er etwas getrunken hatte.

Als Andrea ihn abwehren wollte, hatte er sie zum ersten Mal geschlagen. Dann beinahe vergewaltigt. Davon hatte er am nächsten Morgen nichts mehr gewusst. Oder nichts mehr wissen wollen.

»Sweety, sei nett, es kommt nicht mehr vor, dass ich mit den Jungs so versacke«, hatte er nur gesagt und sie flüchtig geküsst, ehe er zum Joggen gegangen war.

Und heute? Heute war er schon wieder mit den »Jungs« unterwegs. Oder in einem Bordell.

Egal. Es störte sie nicht mehr. Es tat nicht mehr weh. Im Gegenteil, sie war froh, allein zu sein, ihn nicht sehen, ihn nicht in der Nähe haben zu müssen.

Und gerade das schockierte sie total!

Denn als Fazit blieb: Ich liebe ihn nicht mehr!

***

»Beim nächsten Mal tauschen wir. Ich will Candy auch mal vögeln.« Edward Kleeman schlug Marc auf die Schulter. »Die kleine Biggy hatte ich jetzt schon dreimal.«

»Wir können ja würfeln.« Marc lachte lautstark. »Oder wir wechseln uns ab. Ein flotter Vierer ist ja auch nicht zu verachten.«

»Hey, Boys, noch etwas Champagner?« Candy, deren samtbraune Haut nur von einem pinkfarbenen Slip bedeckt war, schwenkte eine Flasche durch die Luft. »Dazu vielleicht was hiervon? Ich sag euch, das ist ein supergeiles Zeug.« Zusätzlich zur Flasche hielt sie ein Tütchen mit kleinen lilafarbenen Pillen hoch.

Edward zögerte, er gönnte sich hin und wieder einen solchen Kick.

Marc allerdings wehrte gleich ab. »Keine Drogen, das weißt du doch.« Er schob das Mädchen von sich. »Ich gehe. Hab genug für heute.«

»Spielverderber!« Edward zog sich eines der leicht bekleideten Mädchen auf den Schoß und tastete nach ihren Brüsten.

Marc grinste anzüglich. »Wer sagt das denn? Ich weiß, wo ich noch weitermachen kann. Für mich ist die Nacht noch lange nicht zu Ende.«

»Noch ein Glas!« Candy köpfte die Champagnerflasche mit einer geschickten Bewegung und goss ein. Dass sie dabei in jedes Glas eine der kleinen Pillen fallen ließ, bemerkten die Männer nicht.

Marc trank sein Glas in einem Zug leer. »Bis bald mal wieder, Darling.« Er umarmte Candy und küsste sie lange und leidenschaftlich. »Du warst gut heute.«

Candy antwortete mit einem sinnlichen Lachen.

Als Marc den Club verließ, fühlte er sich leicht und beschwingt. So ein langer, entspannter Abend tat ihm einfach gut. Der hemmungslose Sex stärkte sein Selbstbewusstsein noch mehr, und er konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und mit Andrea ins Bett zu gehen. Sie war so ungemein spießig, sprach immerzu von Liebe, verlangte Zärtlichkeit und Rücksichtnahme.

Nicht mit mir, dachte Marc, und er spürte, dass seine Erregung zunahm, noch während das Taxi durch die Nacht fuhr. Ich werde dir zeigen, wie aufregend Sex sein kann. Und welch wunderbare Praktiken es gibt, die du noch nicht kennst. Aber du wirst sie heute Nacht kennenlernen – ob du willst oder nicht!

Andrea lag auf dem hellen Ledersofa, als er heimkam. Schlaftrunken richtete sie sich auf und schlug die nussbraune Kaschmirdecke mit den hellen Fransen zur Seite.

»Du bist spät.«

»Na und?« Er lachte. »Ich komme lieber spät als nie. Wirst es gleich sehen.« Er versuchte sie zu küssen, doch Andrea wehrte ihn ab und drehte sich um.

»Du hast getrunken.«

»Na und? Was ist gegen einen Absacker im Kreis von Freunden einzuwenden? Es kann nicht jeder so ein langweiliges Leben führen wie du.« Er zog sie hoch und presste seine Lippen auf ihren Mund, während seine Hände sich unter ihre dünne Baumwollbluse schoben. »Aber heute zeig ich dir, wie aufregend Sex sein kann.«

»Nein!« Andrea bog den Kopf zur Seite. »Ich will nicht.«

Er lachte nur, warf sie zurück auf die Couch und riss ihr mit einer brutalen Bewegung die Bluse auf, so dass die kleinen Perlmuttknöpfe über den Boden rollten.

Andrea versuchte, sich zu wehren, sie wollte ihn zur Vernunft bringen oder ihn von sich stoßen, doch Marc war ihr körperlich weit überlegen. Er schien wie von Sinnen, reagierte weder auf Bitten noch auf Andreas unterdrückte Schreie, die er mit einer Hand zum Verstummen bringen wollte. Als ihm das nicht gelang, schlug er hart zu.

Dann nahm er sie. Rücksichtslos und brutal. Als sie nach ihm zu schlagen versuchte, band er ihr mit seiner Krawatte die Hände auf dem Rücken zusammen.

Eine Stunde lang litt Andrea Höllenqualen. Sie war ihm wehrlos ausgeliefert, musste es ertragen, dass er sie schlug, auch ihre Füße fesselte und sie immer wieder vergewaltigte. Tränen rannen ihr übers Gesicht, doch das schien Marc nicht zu beeindrucken. Wie von Sinnen schien er zu sein, und Andrea atmete auf, als er endlich von ihr abließ, die Fesseln löste und nach nebenan ins Schlafzimmer ging. Halb angezogen ließ er sich dort aufs Bett fallen und schlief sofort ein.

Andrea wartete eine Weile, um sicher zu sein, dass er in komaähnlichen Schlaf gefallen war, dann duschte sie ausgiebig, packte das Nötigste und verließ die Wohnung. Erst im letzten Moment, sie stand schon vor dem Aufzug, fiel ihr ein, dass sie unbedingt ihre Papiere einstecken musste.

Noch einmal sah sie zurück. Ihr Blick streifte die elegante Einrichtung, wanderte zur breiten Fensterfront, durch die sie auch jetzt die unzähligen bunten Leuchtreklamen erkennen konnte. Schließlich blieb er an der hellen Couch haften, und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.

Mit einem Ruck drehte sie sich um und ging. Sie zitterte, doch die Kälte kam von innen. Zum Glück fand sie rasch ein Taxi, das sie zu Ellens Wohnung brachte. Die Freundin hatte zum Glück in dieser Woche Frühdienst, sie war also aller Wahrscheinlichkeit nach daheim.

Ellen fragte nicht viel, sie sah Andrea nur an, zog sie in die Arme und streichelte ihr behutsam über die zuckenden Schultern.

»Er ist ein Schwein, das hab ich mir gleich gedacht. Komm, ruh dich aus. Alles Weitere bereden wir morgen.«

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»Nach Junkersdorf, bitte.« Andrea schloss die Augen, als das Taxi anfuhr und den Flughafenbereich verließ. Sie war erschöpft und hatte das Gefühl, die letzten zwei Tage wie in einem Film erlebt zu haben. Einem Horrorfilm.

Natürlich hatte Marc sie gleich bei Ellen gesucht. Wie ein Irrer hatte er vor der Wohnung der Freundin getobt. Dann hatte er sich aufs Bitten verlegt und geschworen, Andrea zu lieben, sich zu ändern, nicht mehr ohne sie auszugehen.

Doch sie hatte sich nicht umstimmen lassen.

»Du kannst dir deine Worte sparen. Ich verlasse dich. Endgültig. Schick meine Sachen an Ellens Adresse. Und jetzt geh, sonst rufen wir die Polizei.«

Die Warnung wirkte – er hörte auf, gegen die Tür zu hämmern, und ging, fluchend und wüste Beschimpfungen ausstoßend. Sie hörte nichts mehr von ihm, bis sie im Flieger nach Deutschland saß. Dank einer leichten Beruhigungstablette verschlief sie den größten Teil des Flugs.

Erst als die große Maschine den Landeanflug auf den Airport Köln-Bonn begann, stieß sie der ältere Herr, der neben ihr saß, behutsam an. »Wach werden, junge Frau. Gleich landen wir.«

»Danke.« Sie blinzelte verschlafen, doch als das Flugzeug aufsetzte und sie heimischen Boden unter den Füßen hatte, war sie hellwach.

Und als sie erst die Domtürme von weitem erblickte, schlug ihr Herz rascher.

Zu Hause! Sie war wieder zu Hause!

In diesem Moment wurde ihr erneut bewusst, dass es ihr wirkliches Zuhause nicht mehr gab. Die Wohnung war schon lange wieder vermietet, und sie würde wohl die ersten Tage in einer Pension verbringen müssen.

Aber zunächst würde sie ihre Schulfreundin Christiane treffen!

Noch vom Flughafen in New York aus hatte sie Christiane angerufen und ihr gesagt, dass sie auf dem Weg zurück nach Hause sei.

»Komm auf jeden Fall erst mal zu mir«, hatte die Freundin gesagt. »Dann reden wir – und ich schwöre, dass ich dich wieder aufrichten kann, Drehwürmchen.«

Drehwürmchen … so hatte Christiane sie als Kind oft genannt, weil Andrea so quirlig war und in der Schule nie stillsitzen konnte. Das hatte sich zum Glück geändert, doch der Spitzname war ihr geblieben.

»Ich … ich freu mich, dich wiederzusehen.«

»Und ich mich erst! Komm auf jeden Fall gleich vom Flughafen aus zu mir. Ich kann dich leider nicht abholen, muss noch so vieles erledigen. Aber das erzähle ich dir, wenn du da bist.«

Andrea traten Tränen in die Augen, als sie an die Freundin dachte. Sie hatten sich nicht oft geschrieben, nur die obligatorischen Karten zu Weihnachten und zu den Geburtstagen. Aber als sie Christiane anrief und ihr erzählte, dass sie Markus verlassen hatte, war die alte Vertrautheit sofort wieder zu spüren gewesen, sogar über die vielen tausend Kilometer hinweg.

Das Taxi hielt vor der angegebenen Adresse, und noch ehe Andrea ihr Gepäck in Empfang genommen hatte, stürmte Christiane aus der weiß gestrichenen Jugendstilvilla. Das lange blonde Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, der jetzt aufgeregt wippte.

»Endlich! Ich warte seit einer Stunde auf dich!« Sie umarmte die Freundin und winkte mit einer Hand dem Fahrer zu. »Bringen Sie bitte alles ins Haus.«

Der Mann nickte. Christiane hatte etwas Bestimmendes an sich, so war es schon immer gewesen. Es gab kaum jemanden, der sich ihr widersetzen konnte.

Sie steckte dem Fahrer einen Schein zu. »Stimmt so. Danke.«

»Aber …«

Andreas Protest erstickte Christiane in einer weiteren Umarmung. »Lass dich erst mal richtig drücken. Und dann sieh mich an.« Sie schob die Freundin ein Stück von sich. »Schlanker bist du als früher. Beneidenswert. Nur diese Schatten unter den Augen … also, die wollte ich nicht haben. Aber die vergehen bald wieder, das schwör ich dir.«

Sie redete ununterbrochen. So wie früher, dachte Andrea, und ein warmes Gefühl stieg in ihr auf, als sie der Freundin in den großen Wohnraum folgte. Alles hier war noch so wie vor zehn Jahren. Die breite taubenblaue Ledercouch, der blau-rot-beige gemusterte Perserteppich mit dem runden Medaillon in der Mitte, der breite Kamin an der Stirnseite des Raums, auf dem in Silberrahmen eine ganze Bildergalerie stand.

Als Kind war sie oft hier gewesen, Christianes Eltern waren großzügig und hatten nichts dagegen, dass die Freunde ihrer Tochter bei ihnen ein und aus gingen.

Andrea, die in einer engen Mietwohnung aufgewachsen war, hatte sich hier immer sehr wohl gefühlt – und so war es jetzt auch wieder. Gemütlich war das weitläufige Zimmer, das im Westen in einen Wintergarten überging. Damals, als Christianes Mutter noch gelebt hatte, war der Wintergarten ein blühendes Paradies gewesen. Die Hausherrin züchtete Orchideen und Kamelien. Doch viel zu früh starb sie an einer tückischen Krebserkrankung. Die Mädchen waren damals gerade vierzehn gewesen.

Die Kamelien wurden verschenkt, die Orchideen blühten zwar noch, aber nicht mehr in ihrer einstigen Pracht. Dafür herrschten Grünpflanzen vor, die pflegeleichter waren. Christiane hatte nicht allzu viel übrig für das Gemüse, wie sie es insgeheim nannte.

Ihr Vater, ein bekannter Hotelier, der vier Häuser in ganz Deutschland besaß, verwöhnte seine Tochter nach Strich und Faden, und auch Andrea hatte er ins Herz geschlossen. Er mochte Christianes beste Freundin, die inzwischen ruhig und besonnen geworden war und seinem Gefühl nach einen guten Einfluss auf Christiane ausübte.

Die beiden Freundinnen waren unzertrennlich gewesen. So lange, bis Christiane zum Kunststudium nach Basel ging. Auch Andrea begann gleich nach dem Abitur zu studieren, sie entschied sich für Volkswirtschaft. Doch nach zwei Semestern verunglückten ihre Eltern bei einem Autounfall tödlich, und sie war gezwungen, ihren Lebensunterhalt allein zu bestreiten. Eine Großtante von ihr besaß einen Blumenladen, und hier begann Andrea ihre Ausbildung zur Floristin. Sie hatte ebenso großes Talent wie einen guten Geschmack, und rasch sprach sich das herum. Der Laden florierte und wurde an eine große Kette verkauft. Mit dem Erlös hatte sich Tante Anna in einem Seniorenstift einkaufen können, und Andrea blieb als Geschäftsführerin im Laden.

Sie war zufrieden mit ihrem Leben.

Bis zu dem Tag, an dem Markus ins Geschäft kam.

»Dieser Markus … ich hab ihn nie leiden können, das weißt du.« Christiane zog die Freundin neben sich auf die Couch. »Ich hab immer geahnt, dass er dich unglücklich machen wird.«

»Du hast ihn doch nur zweimal gesehen!«

»Das hat mir auch gereicht.« Christiane winkte ab. »Aber der Typ ist ja jetzt Vergangenheit. Hier kannst du dich erst mal ausruhen.«

»Ich bin so froh, dass ich für ein paar Tage bei dir bleiben kann. Gleich morgen suche ich mir eine kleine Wohnung, zum Glück hab ich ja ganz gut verdient und komme zunächst mal über die Runden.«

»Gemach, gemach. Du bist mal wieder viel zu schnell in allem, Drehwürmchen. Ich hab da eine viel bessere Idee.« Christiane stand auf. »Aber erst mal essen wir was. Frau Schneider hat was Leckeres für uns vorbereitet.«

»Frau Schneider … sie ist immer noch bei euch?« Andrea folgte der Freundin in die gemütliche Wohnküche, die auf der entgegengesetzten Seite der breiten Diele lag.

»Klar doch. Ohne sie wären wir aufgeschmissen.« Christiane lachte. »Sie sagt immer, sie hätte bei uns lebenslänglich. Sie passt auf Paps auf, als wären die zwei ein altes Ehepaar.« Sie kicherte. »Er hat Diabetes und Gicht, der arme Paps, und Frau Schneider achtet penibel darauf, dass er seine Diät einhält. Und natürlich nicht zu dick wird.«

»Der Arme!«

»Du sagst es!« Christiane kicherte. »Aber ich weiß, dass er sich hin und wieder im Hotelrestaurant schadlos hält.« Sie zuckte mit den Schultern. »Kann ich aber verstehen. Allzu viel Freude im Leben hat er ja doch nicht mehr. Und mit mir hat er’s auch nicht leicht, der arme Paps.«

»Wieso nicht?«

Christiane schob sich eines der delikaten Lachshäppchen in den Mund. »Ich will einfach nicht heiraten! Und schon gar nicht den Mann, den er für mich ausgeguckt hat, der gute Paps.«

»Und der wäre?«

»Natürlich ein Hotelier!« Christiane schüttelte sich. »Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich mag damit nichts zu tun haben. Das muss mein alter Herr endlich einsehen.« Sie zwinkerte Andrea zu. »Ich hab ganz andere Ambitionen. Aber davon erzähl ich dir später. Du willst dich jetzt sicher ausruhen, oder?«

Andrea nickte.

»Das Gästezimmer ist fertig. Paps ist gerade zu einer Messe in Paris, hinterher trifft er sich noch mit einem alten Freund in der Provence. Wir sind also ungestört.« Sie stand auf und zog Andrea hoch. »Komm mit, ich zeig dir dein Zimmer. Dann muss ich noch mal kurz weg.«

Als sie schon auf der Treppe hinauf in den ersten Stock waren, blieb sie noch einmal stehen. »Ach ja … du, ich muss auch übermorgen weg. Davon aber später.« Sie öffnete eine Tür. »Hier, das Gästezimmer. Gleich dahinter ist ein kleines Bad. Richte dich in Ruhe ein und schlaf ein bisschen. Bis heute Abend!« Sie gab Andrea einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Tschau, Drehwürmchen. Ich bin riesig froh, dass du da bist!«

***

Etwas Feuchtes, Kaltes berührte Andrea am Arm. Sie blinzelte und zuckte zusammen. Neben ihrem Bett stand ein großes schwarzes Ungeheuer, das gerade Anstalten machte, ihr seine Zunge quer übers Gesicht zu ziehen.

»Aus, Benny!« Christianes Stimme klang ungewöhnlich scharf. »Du sollst das nicht tun! So weckt man doch keinen Gast!«

Mit einem Ruck setzte sich Andrea im Bett auf. »Was ist das denn?«

»Ein Hund. Sieht man doch, oder?« Christiane ließ sich auf der Bettkante nieder. »Er heißt Benny, ist ein Berner Sennenhund und gehört meinem Freund Bernd.« Sie zog den Hund an seinem Halsband vom Bett fort. »Sitz!«

Der Hund gehorchte, aber er ließ keinen Blick von Andrea.

»Benny ist ganz brav, du musst keine Angst haben.«

»Hab ich auch nicht. Ich mag Hunde, wie du weißt. Nur … auf diese Weise geweckt zu werden ist nicht gerade üblich.«

Christiane grinste. »Könntest du dich eventuell daran gewöhnen?«

»Woran?«

»Na, dass Benny dich morgens weckt.« Christianes ­Gesicht war undurchdringlich, nur das kleine Grübchen in ihrer linken Wange verriet, wie amüsiert sie insgeheim war.

»Ich kenne dich«, murmelte Andrea. »Du führst irgendwas im Schilde. Wenn du so aussiehst …«

»Wie kommst du nur darauf?« Jetzt konnte sich Chris­tiane nicht länger beherrschen und prustete laut los. »Es ist wie früher«, lachte sie. »Man kann dir nichts vormachen. Du durchschaust mich sofort.«

»Und ich weiß es immer schon im Voraus, wenn du irgendwas Verrücktes planst. Das hab ich dir schon früher immer angesehen. Außerdem hast du mich schon zweimal vertröstet und erklärt, du würdest mir später sagen, was los ist. Also – rede. Was hast du für eine Dummheit gemacht?« Andrea war jetzt hellwach.

Christiane schüttelte den Kopf. »Es ist keine Dummheit. Es ist Liebe. Die ganz große Liebe.«

»Auweia.« Andrea schwang die Beine aus dem Bett. »Beichte.«

Christiane streichelte über Bennys seidige Hundeohren. »Ich hab ihn in einem Fitnessclub kennengelernt. Er heißt Bernd, ist sechsunddreißig, hat schwarze Locken und sieht aus wie …« Ein verliebter Seufzer unterbrach die Erklärung. »… wie ein italienischer Gott«, schloss sie dann.

»Dich hat’s ja richtig erwischt.«

»Total. Und Bernd auch. Wir haben uns gesehen, und es hat gleich gefunkt. Seit genau elf Wochen und drei Tagen sind wir zusammen. Und wir wollen es bleiben – für immer.«

»Ihr wollt heiraten?«

Christiane schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Wir wollen erst mal verreisen. Und uns dabei besser kennenlernen. Im Moment sehen wir uns ja nur stundenweise. Oder höchstens mal für ein Wochenende.« Sie verzog leicht den Mund. »Paps soll ja noch nichts davon mitbekommen, weißt du.«

»Aha.«

»Genau. Aha. Wir wollen auf die Seychellen, und da kann Benny natürlich nicht mit.«

»Natürlich nicht.« Andrea sah dem Hund in die dunklen Augen. Benny war ein sehr schönes Tier. Mit hellem Brustfell, einer perfekten Gesichtszeichnung und der typischen weißen Schwanzspitze. Die war jetzt deutlich zu sehen, da er langsam aufstand und schwanzwedelnd auf sie zu kam.

»Er mag dich! Hab ich doch gleich gewusst. Der Hund ist wahnsinnig schlau, er erkennt sofort, ob er einen guten oder schlechten Menschen vor sich hat.«

»Da bin ich aber froh!«

»Sei nicht ironisch! Das passt nicht zu dir.«

»Und was passt? Muss ich auch bei dir die stille, angepasste Andrea sein, die alles mit sich machen lässt?«

»Aber nein!« Christiane zog die Freundin an sich. Sie war einen halben Kopf größer als Andrea, sportlich schlank mit beneidenswert langen, perfekt geformten Beinen. Als Strumpfmodel könnte sie sicher gutes Geld verdienen. »Du sollst Ferien machen. In der Schweiz. Mit Benny zusammen.«

»Das macht Sinn. Ein Schweizer Sennenhund gehört in die Schweiz.«

»Andrea! Hör auf, so zu reden.« Jetzt griff Christiane nach den Händen der Freundin und drückte sie fest. »Du musst mir helfen«, bat sie, und ihr Blick hätte jedem Dackel zur Ehre gereicht. »Wir möchten so gern auf die Seychellen. Aber die Hundepension, in der wir Benny unterbringen wollten, ist schon ausgebucht. Wir haben schon überlegt, ob er so lange ins Tierheim gehen könnte, aber …«

»Ins Tierheim? Sag mal, spinnst du?«

»Natürlich wäre das nur der allerletzte Ausweg gewesen. Wir hätten natürlich auch für seinen Aufenthalt dort gezahlt. Aber als du anriefst, hab ich gleich dran gedacht, dass du dich vielleicht um ihn kümmern könntest.«

»Egoistin.« Das klang schon sehr, sehr versöhnlich.

»Die bin ich, das geb ich zu.« Christiane grinste. »Aber ich bin auch oft sehr, sehr nett. Und deshalb …« Sie stand auf und stellte sich vor dem Bett in Positur. »Deshalb biete ich dir einen Deal an: Du machst vier Wochen Ferien in der Schweiz, genauer gesagt im Engadin. Zusammen mit Benny. Er ist wirklich sehr pflegeleicht und gehorcht aufs Wort. Meistens wenigstens.«

»Und du? Was machst du in der Zeit?«

»Ich fliege mit Bernd auf die Seychellen. Wenn wir eine Weile Tag und Nacht zusammen sind, wird sich ja rausstellen, ob wir auf Dauer miteinander auskommen, oder nicht?«

Auch Andrea stand auf. »Was sagt denn dein Vater dazu? Er hatte doch immer gehofft, du würdest mal einen Mann aus der Hotelbranche heiraten, wo du selbst schon nicht in sein Unternehmen eingestiegen bist.«

»Ja, ja, ich weiß. Und er hält es mir auch bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit vor. Aber das ist nun mal gar nichts für mich. Ich mag Kunst, ich will malen, bildhauern, zwischendurch ein paar tolle Reisen machen … mit Bernd wäre das alles möglich.«

»Muss er denn nicht arbeiten?«

»Klar doch! Er besitzt fünf Fitnessclubs. Zwei in Köln und die anderen in der weiteren Umgebung. Er ist ein ziemlich erfolgreicher Unternehmer.«

»Gratuliere.«

»Danke. Aber noch sind wir nicht fest zusammen. Wir brauchen diese gemeinsame Zeit.« Ihr Blick hatte wieder dieses Dackelhafte, dem niemand widerstehen konnte.

»Es ist doch sicher schwierig, ein Hotelzimmer zu kriegen – mit dem Hund.«

»Überhaupt nicht. Du musst auch nicht ins Hotel. Paps hat voriges Jahr ein Chalet gekauft. Es liegt in Pontresina, das ist ganz nah bei Sankt Moritz. Da könnt ihr wohnen. Ich bin sicher, dass es dir gefallen wird. Und Benny wird sich mit dir zusammen total wohl fühlen.«

»Hat er überhaupt Papiere?«

»Es ist alles da, was er braucht. Und das Haus ist auch komplett eingerichtet. Es wird gerade renoviert. Und einen Anbau kriegt es auch noch.« Sie biss sich auf die Lippen. »Ich soll dort eigentlich die Handwerker beaufsichtigen. Ich hab’s Paps versprochen. Aber da kannte ich Bernd ja noch nicht so gut und …«