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Martina Borger
Maria Elisabeth Straub

Katzenzungen

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien

2001 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Franz Gertsch, ›Mireille, Colette, Anne‹, 1967

Foto: Copyright © Aargauer Kunsthaus, Aarau

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23356 8 (13. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60659 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Erster Tag

[7] DODO

Natürlich bin ich wieder zu spät dran, wie immer. Wär wahrscheinlich ein gefundenes Fressen für jeden Psychologen, daß ich jedesmal um ein Haar die Abreise verpaß, unbewußter Wunsch und so weiter.

Zehn Jahre ziehn wir das nun schon durch. So alt ist Fiona jetzt, meine süße Schnecke, kommt mir wie eine Ewigkeit vor, ihre Geburt im März 89, saukalt war’s an dem Tag, weiß ich deshalb noch, weil ich im Klinikgarten stundenlang spazierengehen mußte, um die Wehen in Gang zu kriegen. Ma ist unermüdlich mit mir auf und ab gehumpelt, links ihren Stock, rechts mich am Arm, immer schön um die zugefrorenen Pfützen rum, und hat mir gut zugeredet, sie hat sich gefreut auf ihr Enkelkind, ahnte wohl schon, daß es das einzige bleiben würde. Sie fehlt mir, viel mehr, als ich mir jemals vorstellen konnte. Über vier Jahre ist sie schon tot, dabei hätte sie neunzig werden können bei ihrer Konstitution und ihrer Disziplin. Dieses Schwein, das sie auf dem Gewissen hat, würd ich gern in die Finger kriegen eines Tages, und wenn’s das letzte ist, was ich tu.

Hoffentlich hat der Zug Verspätung, sonst wird’s verdammt knapp. Nora macht sich garantiert schon die schlimmsten Sorgen, obwohl es ja im Prinzip kein Problem wär, die nächste Bahn zu nehmen, wartet ja niemand auf uns, wir sind vier Tage lang frei von allen Pflichten und Terminkalendern, aber sie ist nun mal der Typ, für den [8] alles nach Plan laufen muß, sonst kommt sie aus dem Tritt. Könnte ja was Überraschendes passieren sonst, was ihr geordnetes Pinneberger Weltbild ins Wanken bringt.

Wenn ich das Taxi bezahlt hab, bleiben mir gerade noch dreihundert Mäuse, müssen reichen. Fahrkarte und Hotel hat ja wieder mal Claire übernommen, sonst hätt ich sowieso nicht mitgekonnt. Irgendwelche Luxusrestaurants sind natürlich nicht drin, jedenfalls nicht auf meine Rechnung. Wird auf absehbare Zeit sowieso das letzte Mal sein, daß ich auswärts esse, außer vielleicht mal Curry-Wurst und Pommes mit Fiona im Stehen.

Hoffentlich kommt sie gut mit Nick klar. Bock hatte der ja keinen, vier Tage mit einer Zehnjährigen zu verbringen, ich mußte wochenlang gut Wetter machen. Für ihn ist Fiona einfach nur lästig. Wenn sie doppelt so alt wär, hätt ich ihn nicht überreden müssen. Schade eigentlich, daß die, die am besten vögeln, am wenigsten mit Kindern am Hut haben. Scheint sich irgendwie zu widersprechen, geiler Sex und Vatergefühle. Und wenn ich wählen muß zwischen diesen beiden Männertypen, wen nehm ich da? Genau. Ich bin ja schließlich nicht Nora.

Ich muß aufhören, sie ständig zu analysieren und immer nur Schlechtes von ihr zu denken, sonst kann ich gleich zu Haus bleiben. Sie hat ja auch ihre guten Seiten, das darf ich nicht vergessen. Ich muß mir fest vornehmen, während dieser vier Tage so nett zu ihr zu sein, wie ich nur kann. Sie nicht kritisieren, sie nicht mit meinem persönlichen Scheiß belasten. Einfach eine ganz normale gute Freundin sein. Muß doch hinzukriegen sein, verdammt noch mal.

[9] NORA

Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt, wir haben schon unser Gepäck verstaut und warten immer noch auf Dodo. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß sie noch kommt. Aber natürlich erst auf den allerletzten Drücker, wir kennen das nicht anders bei ihr, mich regt das schon lange nicht mehr auf und schon gar nicht heute. Dabei starten wir unsere gemeinsamen Reisen einzig ihretwegen grundsätzlich an ihrem Wohnort, damit sie es möglichst einfach hat, zehn Minuten im Taxi von ihrer Wohnung bis zum Bahnhof, während ich bereits fünf geschlagene Stunden unterwegs bin und darauf brenne, endlich etwas zu mir zu nehmen, ich habe wie immer für unsere Verpflegung gesorgt, nichts schöner, als mit den beiden zusammen im Zug zu picknicken. Claire ist natürlich mit dem Flugzeug gekommen. Eingeflogen, wie Dodo es nennt.

Diese Reisen mit ihr und Claire sind für mich immer Höhepunkte des Jahres, auf die ich mich wochenlang freue und von denen ich hinterher noch lange zehre. Aber diesmal ist es noch mehr, und ich werde nicht zulassen, daß irgendeine Lappalie mir diese wenigen kostbaren Tage verdirbt.

Und merkwürdig: Obwohl er nichts weiß, war Achim diesmal besonders aufmerksam. Er hat mich nicht, wie sonst immer, in Pinneberg in die S-Bahn gesetzt, sondern mich zum Hamburger Hauptbahnhof gebracht, obwohl in der Kanzlei Unmengen von Arbeit auf ihn warteten. Ich war [10] richtig gerührt von seiner Fürsorge, die ja nicht selbstverständlich ist nach einundzwanzig Jahren Ehe. Er hat mich regelrecht ermahnt, mich gut zu amüsieren, mir keine Sorgen zu machen, mir auch mal etwas zu leisten. Ich hätte es nötig, hat er gesagt. Eine Sekunde lang ist mir das Herz stehengeblieben, ich dachte, er weiß es, aber das ist natürlich Unsinn, für Bitterlings Verschwiegenheit würde ich meine Hand ins Feuer legen.

Er hat sogar auf dem Bahnsteig gewartet, bis der Zug abgefahren ist. Jetzt sitzt er sicher schon längst wieder im Büro. Er arbeitet zu viel, vor acht kommt er doch fast nie aus der Kanzlei, ein- oder zweimal die Woche sogar noch später, wenn er Klienten außerhalb treffen muß. Die paar Stunden pro Woche, in denen ich die Buchhaltung erledige, fallen dagegen wirklich nicht ins Gewicht. Hoffentlich kümmert er sich trotz seines dicken Terminkalenders auch um Miriam und Daniel, es wär so eine gute Chance für ihn, mal ein bißchen mit ihnen zu kommunizieren. Jeden Tag, den sie älter werden, brauchen und wollen sie ihn weniger, er sollte die Zeit nutzen, die ihm noch bleibt mit ihnen, so vieles ist schon für immer und unwiederbringlich verloren. Die Gelegenheit zum Beispiel, Daniel näherzukommen, der zunehmend Probleme hat und macht. Am besten nicht daran denken, nicht jetzt.

Claire setzt sich mir gegenüber ans Fenster, diese Sitzordnung ist längst Tradition, weil ja Dodo immer als letzte kommt. Sie holt ihre Zigaretten aus einer fabelhaften Handtasche aus dunklem Leder, die ich noch nie an ihr gesehen habe, an die tausend Mark, schätze ich. Das goldene Feuerzeug benutzt sie schon seit Jahren, und immer wieder ist es [11] vorgekommen, daß Dodo es eingesteckt hat, ob versehentlich oder nicht, wage ich nicht zu beurteilen, bei ihr ist das Unterscheidungsvermögen zwischen mein und dein nicht besonders stark ausgeprägt. Aber ich liebe sie auch deswegen, weil sie alles so leicht nimmt.

An Claire ist immer alles perfekt. Allein, wie sie jetzt ihre Utensilien auf dem Tisch anordnet, ein Stilleben. Ihre Vollkommenheit bewirkt natürlich, daß man sich der eigenen Nachlässigkeiten peinlich bewußt wird: daß ich zum Beispiel meine Fotos nicht chronologisch in ein Mäppchen geordnet habe, jetzt muß ich den ganzen dicken Stapel erst einmal vorsortieren. »Ich hab es gleich«, sage ich.

»Wir haben alle Zeit der Welt«, sagt sie und drapiert sich ein riesiges Seidentuch mit Fransen um die Schultern. Auch neu.

Sie sieht überhaupt wieder phantastisch aus, höchstens ein winziges bißchen erschöpft, aber gerade das verleiht ihr ja dieses gewisse Etwas. Sie war immer die Schönste von uns dreien, das kann ich heute ganz ohne Neid und Mißgunst konstatieren. Natürlich ist auch Dodo sehr attraktiv und hat vermutlich mehr Erfolg bei Männern, aber Claire ist die klassische Schönheit, Paps sagte immer, sie sehe aus wie ein Gemälde aus der Renaissance und so müsse man sie auch betrachten, nämlich aus gebührendem Abstand. Damals hab ich das nicht verstanden, heute weiß ich, was er gemeint hat. Irgendwie ist Claire nicht von dieser Welt.

Allein dieser flauschige Mantel, den sie mit zwei Griffen akkurat zusammengelegt und neben ihrem Metallkoffer auf der Gepäckablage deponiert hat, Kaschmir natürlich, was sonst. Und weiß. Jeder normale Mensch hätte nach [12] spätestens zwei Stunden Schneematsch drauf oder Pfotenspuren von Hunden, aber nicht Claire. Ich hab noch nie erlebt, daß sie schlampig aussieht oder irgendeinen Fleck an ihren Kleidern hat, in all den vielen Jahren nicht. Wie sie das macht, weiß ich nicht. Dodo hat mal gesagt, sogar winzigste Staubteile würden sich nicht näher als einen Meter an Claire heranwagen, aus purer Angst, aber da war sie betrunken.

Ich bewundere Claire. Sie hat etwas gemacht aus ihrem Leben, sie hat es am weitesten gebracht von uns dreien, zumindest von außen betrachtet. Allein mit welcher Energie und Zielstrebigkeit sie damals ihr Studium durchgezogen hat, während ich… Aber ich habe mir noch nie erlaubt, den verpaßten Möglichkeiten meines Lebens nachzutrauern, ändern kann man sowieso nichts, wozu sich also den Kopf zerbrechen. Und auch Claires Leben hat seine dunklen Momente gehabt, seine Stolpersteine und Abgründe. Ich weiß das, und sie weiß, daß ich es weiß, auch wenn wir nie darüber reden. Man muß bestimmte Dinge ruhen lassen können, sonst würde man doch verrückt.

[13] CLAIRE

Wie jedesmal dauert es eine Weile, bis ich mich auf ihre Anwesenheit eingestellt habe. Ich bin es nicht gewohnt, Menschen so nahe um mich zu haben, schon lange nicht mehr. Und so viel zu reden. Auf dem Bahnsteig vorhin hat sie mich geradezu überfallen mit ihren zahllosen Fragen, die ihr viel wichtiger sind als meine Antworten. Mich kostet das Jahr für Jahr größere Mühe, und am Ende dieser gemeinsamen Tage bin ich erschöpft wie nach einer körperlichen Anstrengung, als hätte ich zu Fuß ein Hochgebirge durchqueren müssen. Meistens lege ich mich dann ein paar Tage ins Bett, nehme ein paar Veldorm und schlafe fast rund um die Uhr, so erschlagen fühle ich mich. Weil mich in ihrer Gegenwart zwangsläufig alle Erinnerungen wieder überfallen und über mir zusammenschlagen.

Aber sosehr das Zusammensein mit ihnen mich auch jedesmal mitnimmt, so nötig brauche ich es andererseits auch, denn diese beiden Menschen, Dodo und Nora, waren zeit meines bewußten Lebens immer die mir nächsten, vertrautesten. Und sie sind es geblieben. Niemand kennt mich besser als sie. Sie sind mein Netz.

Da kommt Dodo endlich, Gott sei Dank. Wir sind komplett. Es kann losgehen.

[14] DODO

Als ich mit hängender Zunge meine Tasche durch den Großraumwagen bugsier, springt Nora freudig auf, gleichzeitig setzt sich mit einem Ruck der Zug in Bewegung, ein fettiges Hühnerbein aus ihrem Proviant rutscht auf den Boden – und sie und ich klammern uns aneinander und fallen trotzdem im Doppelpack auf Claire, Nora kreischt und lacht, Claire stöhnt, unter meinem Stiefel zerquetscht das Hühnerbein, drei aufeinandergeschmissene Frauen, und ich fühl mich schlagartig um drei Jahrzehnte zurückversetzt: Nora beim Schwimmenlernen an der Angel des Bademeisters, springt vom Beckenrand, der Gurt reißt, sie gluckert ab, und Claire und ich ohne nachzudenken hinterher. Nora natürlich in Panik, denkt, sie ertrinkt, schlägt um sich wie eine Verrückte, dann klammert sie und krallt, tagelang hab ich blaue Flecke an den Armen, aber wir haben sie wieder hochgekriegt, Claire und ich, haben sie zur Leiter am Bassinrand gelotst und ihr rausgeholfen, und ich werd nie vergessen, wie sich das angefühlt hat, unsere drei glitschnassen Kinderkörper, und man wußte nicht, wem von uns welcher Arm gehört, welches Bein, welcher Bauch. Fand ich irgendwie geil.

Wir rappeln uns auseinander. Claire klopft irgendwelche imaginären Flusen von ihrem superschönen Umschlagtuch, ich verstau mein Gepäck, Nora sortiert ihre durcheinandergekullerten Fressalien und verkneift sich doch tatsächlich jeden Vorwurf über mein spätes [15] Kommen, statt dessen will sie auf der Stelle alles wissen, als würden wir uns nach einer halben Stunde wieder trennen. »Wie geht’s dir, rauchst du etwa immer noch, alles in Ordnung im Job, was macht Fiona? Und dein Axel?« Schwall schwall. Und wieso kann sie eigentlich Männernamen immer noch nicht ohne besitzanzeigendes Fürwort aussprechen; Achim ist und bleibt in ihrem Mund grundsätzlich mein Achim.

Immer noch außer Atem, laß ich mich erst mal auf den Sitz ihr gegenüber fallen, mir ist schweineheiß, das Hemd unter meiner dicken Jacke klebt mir am Rücken, als wär ich in den Wechseljahren, Nora nennt es Menopause, führt kein Weg dran vorbei, fürcht ich, aber bei Ma ging das erst mit fünfundvierzig los, also hab ich noch eine Galgenfrist, denk ich mal. Aus Claires Päckchen klopf ich mir eine Zigarette und schnapp mir ihr geiles Dupont. »Axel«, sag ich, »wer soll denn das sein.«

Nora angelt mit Hilfe einer Serviette das plattgetretene Hühnerbein vom Boden und guckt irritiert auf. Sie traut mir tatsächlich zu, daß ich mir die Namen meiner Lover nicht merken kann. »Hieß er nicht so?« fragt sie mit gerunzelter Stirn. »Dieser Musiker mit dem Pferdeschwanz.«

Als ob ich den Kerl vergessen könnte. Schuldet mir noch achthundert Mark, zu allem andern, aber die kann ich abhaken wie den ganzen Typ. »Kleiner Joke«, sag ich, »aber den gibt’s nicht mehr, schon seit Weihnachten.« Was der jetzt wohl macht. Will ich lieber gar nicht wissen.

»Und dein Neuer? Du hast doch bestimmt einen, oder?« Meine Männergeschichten haben Nora schon immer brennend interessiert, klar. Sie ist ja heilfroh, wenn ich [16] versorgt bin, wie sie es vermutlich insgeheim nennt, denn wenn ich solo wär, könnt das ja auch irgendwas mit ihr zu tun haben.

»Nick«, sag ich, und dann, um das Thema schnell abzufrühstücken, »neunundzwanzig, studiert noch oder tut jedenfalls so, wohnt seit Mai bei mir und nein, ich hab kein Foto dabei. Reicht dir das?«

Sie betrachtet bedauernd das Hühnerbein, das sie ja nun wohl oder übel wegwerfen muß, schade drum. Spukt ihr garantiert im Kopf rum, der Altersunterschied zwischen Nick und mir, wahrscheinlich assoziiert sie damit automatisch ein exotisches Sexleben, rauschende Nächte und so. Gleichzeitig aber hat es natürlich auch immer was Suspektes, eine Frau meines Alters mit einem zwölf Jahre jüngeren Kerl, wird sofort die Psychoschublade aufgerissen, von wegen Unfähigkeit, sich auf ebenbürtige Partner einzulassen pipapo.

»Dann paßt er auch auf Fiona auf im Moment?« fragt sie.

»Genau«, sag ich, und um das Thema endgültig abzuhaken, greif ich nach den Fotos, die auf dem Sitz neben Nora liegen. »Mein Gott«, sag ich, »ist das Daniel? Der ist ja ein Mann. Wie alt jetzt, siebzehn?«

Hoffentlich läßt sie sich ablenken, ich hab echt keinen Bock, über Nick zu reden, er gehört schließlich auch zu dem großen Wust, den ich paar Tage lang vergessen will. Aber wenn Daniel so weitermacht, sieht er in drei Jahren gespuckt aus wie Achim damals. Diese vermaledeite Linie vom Kinn zum Ohr, Mixtur aus energisch und soft.

Sie nickt glücklich und sagt: »Stell dir vor, er will sich jetzt einen Bart stehenlassen.«

[17] Deckt den Gefahrenbereich zu, denk ich, gut so. Und sag: »Na fein. Reduziert die Stromrechnung.« Und ich blätter die Bilder durch, ausschließlich heitere Szenen eines Pinneberger Familienlebens, Nora, Achim und die Früchte ihrer Liebe, und wie jedesmal versetzt mir diese Dreizehn-mal-achtzehn-heile-Welt-Dokumentation in Hochglanz einen Stich, immer noch und trotz allem.

Gott sei Dank erklärt und kommentiert sie nichts, wühlt statt dessen in ihrer Tasche. Und als ich wieder aufschau von den Fotos, hält sie mir einen Apfel hin: »Magst du? Der letzte Prinz, heute morgen noch gepflückt.«

Und schon wieder fall ich zurück, und sie verwandelt sich in die sechsjährige Nora an unserm ersten Schultag. Wir sind eher zufällig nebeneinandergeraten, und sie sitzt ganz ruhig neben mir und guckt mich immer wieder von der Seite an, mit funkelnden grauen Augen, aber irgendwie schüchtern. Und dann greift sie in ihre rotglänzende Schultüte, mindestens doppelt so groß wie meine, holt einen Apfel raus und schiebt ihn zu mir rüber, ganz vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter. »Aus unserm Garten«, flüstert sie. »Haseldorfer Prinz. Wenn sie reif sind, klappern drinnen die Kerne.« Und ich nehm ihren Apfel, laß kurz die Kerne klappern, dann beiß ich rein und akzeptiere sie von diesem Moment an als meine Freundin.

»Weißt du noch?« sag ich. »Der Apfel, den du mir geschenkt hast? An unserm ersten Schultag?«

[18] NORA

Daß sie sich daran noch erinnert. Ich könnte heulen, so sehr bewegt mich das. »Natürlich weiß ich noch«, sage ich, »von diesem Moment an waren wir doch unzertrennlich. Du hast sogar den Stiel mitgegessen.«

Dodo war damals alles, was ich auch sein wollte: dünn, mutig, freches Mundwerk, sprang schon vom Dreimeterbrett, als ich noch keine drei Züge hintereinander schwimmen konnte. Und als hätte sie dieses Amt gepachtet, war sie während unserer ganzen Schulzeit Klassensprecherin, vor allem deshalb, weil sie nie die geringste Scheu gehabt hat, sich mit den Lehrern anzulegen, notfalls sogar mit dem Direktor, so etwas wie Autoritätsangst war ihr schon damals völlig fremd. Sie war von Anfang an unangefochten der Star unserer Klasse, alle wollten mit ihr befreundet sein, aber sie hat mich erwählt. Von mir hat sie sich morgens zur Schule abholen lassen, von mir hat sie die Hausaufgaben abgeschrieben, meine Schulbrote hat sie gegessen, sich von mir vorsagen lassen. Sie hat sich blind auf mich verlassen, und das konnte sie auch.

Es ist wie immer auf unseren Reisen: Kaum sind wir eine halbe Stunde unterwegs, vergesse ich den ganzen übrigen Planeten und bin nur noch bei Dodo und Claire. Schon als ich mir den neuesten Stern gekauft habe vorhin und Claire sich mit drei Tageszeitungen eindeckte, habe ich gewußt, daß ich ihn nicht lesen würde. Was interessiert mich die Welt, wenn ich mit meinen Freundinnen [19] zusammen bin. Oder vielleicht andersherum: Wir sind die Welt. Alles, was wir wirklich wissen und können und fühlen, passiert doch immer im ganz persönlichen Bereich, alles andere bleibt theoretisch und fern. Unser eigentliches Leben findet innerhalb unserer Beziehungen statt, da kann mir keiner etwas anderes erzählen. Und welche Fülle tut sich da auf. Ich wette, auch Einstein hat mehr mit seiner Frau und seinen Freundinnen zu tun gehabt als mit der Relativitätstheorie.

Seit über drei Jahrzehnten kennen wir uns mittlerweile, und insgeheim bin ich richtig ein bißchen stolz darauf, daß wir es geschafft haben, unsere Beziehung über alle Schwierigkeiten hinweg am Leben zu erhalten. Ich kenne nicht viele Leute, die eine Freundschaft über so lange Zeit bewahren, vor allem über diese kritische Phase hinweg, so zwischen zwanzig und dreißig meistens, wenn sich die Prioritäten des Lebens verschieben durch Männer und Kinder und man sich zwangsläufig neu orientiert, was Beziehungen und Kontakte betrifft.

Schade nur, daß ich Dodos kleine Tochter nicht kenne, ein einziges Mal hab ich sie gesehen, da war sie gerade zwei Wochen alt. Dabei hab ich Dodo so oft angeboten, sie mal ein paar Tage zu mir zu nehmen, ich täte es wirklich gerne, kleine Mädchen in dem Alter sind eine reine Freude für mich, vielleicht deshalb, weil ich mich so gut in sie hineinversetzen kann. Hoffentlich denkt Achim an Miriams Klavierstunde und daß sie abends nicht zu lange vor dem Fernseher sitzt. Aber ich habe frei und will mich nicht belasten, sie werden schon zurechtkommen.

Dodo stellt ihre Rücklehne zurück, sie hat sich [20] natürlich wieder mal abgehetzt. Meinen ›Prinz‹ noch in der Hand, schließt sie die Augen, sie konnte das schon immer, schlafen in jeder Situation und sei sie noch so kummerbelastet.

Ich wende mich Claire zu, wir haben ja kaum ein paar Worte gewechselt bisher. Was kramt sie da jetzt raus? Steuerunterlagen? Also das find ich jetzt… Ganz ruhig, entspann dich, sei verständnisvoll. Sie hat viel um die Ohren mit ihrer Galerie, die offenbar phantastisch läuft, sogar im Pinneberger Tageblatt steht ab und zu etwas über ihre Vernissagen und die bis dahin unbekannten Künstler, die sie protegiert, sie hat sich auf Amerikaner spezialisiert, sie scheint ein Händchen zu haben für Entdeckungen. Hoffentlich hat sie nicht vor, während der nächsten Tage zu arbeiten.

Sie scheint meine Gedanken zu lesen. »Entschuldige«, sagt sie, »ich muß nur schnell noch das dritte Quartal durchgehen, dauert höchstens eine Stunde, du bist nicht böse?«

Ich schüttle den Kopf und lächle und schaue mir wieder Dodo an, die tatsächlich zu schlafen scheint. Ihre Stiefel müßten neu besohlt werden, wahrscheinlich kommt sie zu so etwas einfach nicht, mit Kind und Job und jetzt auch noch diesem Studenten. Bevor ihr mein Apfel aus der Hand kullert, nehm ich ihn behutsam aus ihren Fingern. Claire schaut auf und lächelt mir flüchtig zu, wir sind uns einig: Bisweilen muß man Dodo unter die Arme greifen. Im Kleinen wie im Großen.

Ob Claire mir mal ihren eleganten Mantel leiht? Weiß steht mir gut, und er müßte mir passen, so weit [21] geschnitten, wie er ist, sie trägt immer noch Größe achtunddreißig, bei mir ist vierzig manchmal schon knapp. Nur zwei, drei Kilo, die ich zuviel hab, mit ein bißchen Kürzertreten hätte ich die schnell wieder runter, aber ich mag nicht, nicht jetzt, außerdem werden sie eher früher als später von allein verschwinden.

Mir fällt ein, wie wir in der Schule manchmal unsere Sachen getauscht haben, in der Pause sind wir ins Mädchenklo gerast und haben uns die Blusen und Pullover über die Köpfe gezogen und saßen dann im Outfit der anderen in der nächsten Stunde. Und jedesmal habe ich mich ein bißchen wie Dodo gefühlt oder wie Claire. Und ich roch dann auch wie sie, ich hätte ihre Sachen im Dunkeln unterscheiden können, allein aufgrund des Geruchs. Claire nach Wasser und ein bißchen Zitrone, kaum spürbar, und Dodo ziemlich heftig nach einem Gemisch aus Haut und Seife und Sportunterricht und irgendwo dahinter auch nach fernen Ländern. Von mir behaupteten sie einträchtig, ich röche nach Pudding.

Inzwischen benutzen wir natürlich alle drei verschiedene Parfums, vor allem Dodo. Aber Claires Mantel sieht so aus, als röche er immer noch nach Wasser mit ein bißchen Zitrus, obwohl er so mollig ist und wahrscheinlich kaum Gewicht hat, zu gerne würde ich ihn anprobieren. Aber ich frag sie lieber später, sie sieht gerade so konzentriert aus dem Fenster, obwohl sie von der Landschaft da draußen garantiert nichts mitkriegt. Wahrscheinlich grübelt sie über ihrer Einnahmen-Überschuß-Rechnung.

[22] CLAIRE

Wie unendlich flach diese Gegend ist, Wiesen, Felder, Gräben, kaum ein Baum oder ein Gebüsch. Und wie tief der Himmel. Natürlich seh ich sofort Dänemark vor mir, obwohl ich nie dort gewesen bin. Und wie oft war ich drauf und dran zu fahren, einmal stand ich sogar schon im Reisebüro, mit Philipp noch, »weihnachtliches Kopenhagen« war im Angebot, aber dann sind wir doch wieder nach Florenz gefahren über Silvester. Philipp war es recht, er kannte die Zusammenhänge ja nicht. Ich habe ihm nie erzählt, daß in Tønder, gleich hinter der deutsch-dänischen Grenze, vor mittlerweile zweiundsiebzig Jahren ein gewisser Erik Sørensen geboren wurde, der mein Vater war. Von ihm habe ich die blonden Haare und auch meine Körpergröße; auf dem einzigen Foto, das ich noch besitze, überragt er meine Mutter um einen guten Kopf.

Ein Winterbild. Vielleicht wurde es von meinem dänischen Großvater aufgenommen, ein knappes halbes Jahr vor dem Unfall. In verblaßter Schrift steht hintendrauf: Erik og Christine i januar 62. Meine Eltern stehen eng umschlungen da, die Gesichter einander zugewandt, sie lachen, und um sie herum nur Schnee, unendliche Mengen bis zum Horizont. Wohl deshalb verbinde ich in meiner Phantasie dieses Land immer nur mit Kälte und Eis und kleinen Häusern, die tapfer den Schneemassen trotzen, dabei weiß ich es natürlich besser, ich habe oft gehört und gelesen, daß auch in Dänemark die Sommer so heiß sein können wie in Italien.

[23] Ich erinnere mich nicht mehr, obwohl ich damals dabeigewesen sein muß, im Januar 62, als ich dreieinhalb war. Auch an meine Eltern kann ich mich kaum noch erinnern, wie sie ausgesehen haben, sich bewegt, gelacht. Nur Bruchstücke einer Geschichte weiß ich merkwürdigerweise noch, die müssen sie mir erzählt haben, vorm Einschlafen wahrscheinlich, von Nis Puk, einem Kobold, der nachts kommt, um Unfug zu machen und den Schlaf der Kinder zu stören. Und der mich noch heute verfolgt, wenn er auch kein Kobold war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.

[24] DODO

Obwohl ich nur zu gern mal kurz zu ihnen rüberschielen würde, halt ich meine Augen fest geschlossen, sie sollen um Himmels willen denken, ich schlaf. Ich muß Kräfte sammeln, für diese Tage mit ihnen und überhaupt. Ich werd meine ganze Power brauchen in nächster Zeit.

Aber läuft doch ganz gut bisher. Offensichtlich sind wir alle wild entschlossen, diese Jubiläumsreise zu einem Erfolg werden zu lassen. Die letzte halbe Stunde waren sie beide still. Claire hat in irgendwelchen Papieren rumgefummelt und Nora eine Zeitschrift gelesen, jedenfalls den Geräuschen nach zu urteilen, geht immer zackzack bei ihr, raschel-raschel-nächste-Seite, bei ihrer Bravo früher hat sie sich mehr Zeit gelassen. Und gegessen hat sie, eine Mandarine, ein bißchen Schokolade, ausgerechnet Nougat, kann ich nicht ausstehen. Leider funktioniert meine Nase manchmal zu gut, bei Tiedjens hing früher immer so ein Duftstein im Klo, allein bei dem Gedanken an den Gestank könnt ich heut noch im Karree kotzen.

Jetzt packt Claire ihren Papierkram weg. »Fertig«, sagt sie. »Entschuldige noch mal. Schon phänomenal, oder? Daß Dodo immer noch so schnell einschlafen kann am hellichten Tag.«

Ich weiß, jetzt gucken sie mich beide an, aber ich zuck mit keiner Wimper.

»Und wie geht es deiner Familie?« Claire begibt sich auf [25] höflich gedämpften Konversationstrip. »Alles in Ordnung bei euch? Und was macht Achim?«

Um ein Haar hätt ich die Augen aufgemacht, um Noras Gesicht zu sehn, diese mütterlich-nachsichtige Miene, die sie immer aufstülpt bei der Erwähnung seines Namens. Na los, erzähl, Nora: Was macht eigentlich Achim?

Ich hatte ihn damals überredet, mitzukommen zu unserm Abiball. Unser erster öffentlicher Auftritt sozusagen. Ich war irrsinnig nervös, vor allem hatte ich Schiß vor Claire, richtig gebibbert hab ich vor ihrem Urteil. Aber sie war gnädig. »Scheint nett zu sein«, sagte sie auf dem Klo. Für Claires Verhältnisse ein Sonderlob. »Was studiert er?«

»Jura«, hab ich gesagt, lächerlich stolz. »Schon fast fertig.«

Ich war doch so was von selig in dem Moment, alles stimmte. Ich war neunzehn, schön und unbesiegbar, hatte mein Abi in der Tasche, was kaum einer zu hoffen gewagt hatte, ich selber schon gar nicht, ich hatte sogar schon an meiner ersten Demo teilgenommen, in Brokdorf, und hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Bullenschweine mit Wasserwerfern die Demonstranten auf einer Wiese zusammentrieben und in den Dreck schmissen, Hartmut hatte mich mitgenommen, war extra mit paar Freunden aus Berlin gekommen dafür, ich also in allem up to date, und das Leben lag vor mir wie eine Endlosrolle roter Teppich. In ein paar Tagen würde ich mit Claire auf einen Trip quer durch Europa gehn, ich hatte Ewigkeiten für das Interrail-Ticket gespart, ein ganzes Jahr lang zweimal die Woche abends im Ratskeller in der Küche gejobbt, trotz Abistreß, fettige Essensreste von den Tellern gekratzt, scheißschwere [26] Töpfe und Pfannen gescheuert, echt sauer verdiente Kohle. Und ich hatte Achim. Der vier Wochen später nachkommen sollte, in Italien wollten wir uns treffen, wir hatten uns auf Portofino geeinigt, das klang so vielversprechend, vorher mußte er nur noch eine Prüfung hinter sich bringen. Die Vorstellung, daß ich bald drei ganze Wochen Ferien mit ihm haben würde, ließ mich fast ausrasten vor Freude.

Ich war so jung, so arglos, im Grunde hatte ich doch bis dahin nie was wirklich Schlimmes erlebt, auch Brokdorf war doch eher ein Event für mich gewesen, ich hab mich zwar höllisch aufgeregt, aber was wußte ich denn schon tatsächlich von Politik. Und überhaupt vom Leben. Okay, mein Vater war abgehauen mit der Kirchenmaus, als ich sieben war, hatte meine Mutter sitzenlassen mit zwei Kindern und ohne einen Pfennig, und wir mußten aus dem Haus im Jägerkamp raus, aber das war schon so lange her, ich konnte mich kaum noch an ihn erinnern. Und sonst? Ich hatte mich immer so durchgemogelt, ich war ein Glückskind, und natürlich dachte ich, es würde immer so weitergehen und ich würde ohne große Blessuren durchs Leben zischen.

In meinem Glück konnte ich großmütig sein. Mir taten alle Mädchen leid, die keinen Achim hatten. Und so hab ich ihn auf Nora aufmerksam gemacht. »Mit der mußt du mal tanzen«, hab ich gesagt, »meine zweitbeste Freundin, supernett.« Dabei wollt ich nur ein gutes Werk tun, weil Nora den ganzen Abend von Lothar Kampe belagert wurde, diesem schleimigen Streber, Pickellotti genannt, der seit der Sexta in sie verknallt war und ihr ständig hinterhergelatscht ist. Achim hatte erst keinen Bock auf Nora, da gefiel ihm Claire schon besser, aber als ich ihn dann so [27] richtig lieb gebeten hab, hat er sie aufgefordert, Foxtrott, weiß ich noch genau. Und danach hat sie ihn an den Tisch ihrer Eltern geschleift, und der alte Tiedjen, Noras Paps, hat sich lange mit ihm unterhalten, irgendwas Juristisches wahrscheinlich, Tiedjen war ja der Rechtsanwalt und Notar von Pinneberg. So sind sie sich damals zum ersten Mal begegnet, Nora und Achim. Ich hab gekuppelt, sozusagen. Wenn das nicht wahnsinnig komisch ist.

[28] NORA

Dodo sieht irgendwie rührend aus, wenn sie schläft. Wenn ich ein Mann wäre, ich würde mich vermutlich in sie verlieben und nicht in Claire, vor deren Perfektion ich wahrscheinlich zu viel Respekt hätte. Dodo ist irgendwie menschlicher. So ganz ohne Scheu, ihre Gefühle zu zeigen. Kaum vorstellbar, daß sie mit ihren Emotionen jemals hinterm Berg hält. Wut, Freude, Lust, Trauer, alles muß bei ihr sofort heraus. Bestimmt auch damals, als sie erfuhr, daß Achim und ich… Heute noch bin ich froh, daß ich nicht dabeisein mußte, es wäre mir äußerst unangenehm gewesen, dabei weiß ich, daß ich wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Sie hat es mir in gewisser Weise leichtgemacht damals, jedenfalls für den Moment. Hat einfach den Kontakt abgebrochen, mich aus ihrem Leben gestrichen, ich war nicht mehr existent für sie: Nora? Kenn ich nicht, nie gehört.

Zwölf Jahre lang habe ich mir den Kopf zermartert, wie ich die Geschichte wieder einrenken kann. Und als die Gelegenheit dann kam, war alles so einfach.

Ich weiß noch, welche Angst ich vor dem Wiedersehen hatte. Ich bin ja damals ganz spontan zu ihr gefahren, kaum daß Claire mir am Telefon erzählt hatte, was los war. Im Zug von Hamburg nach Köln bin ich erst so richtig zur Besinnung gekommen, ich hab mir alle Möglichkeiten ausgemalt. Daß sie mir die Tür vor der Nase zuschlägt, daß sie mich anbrüllt, daß sie mich behandelt wie eine Fremde. Trotzdem wollte ich es versuchen, wenigstens dieses eine [29] Mal. Wie sehr ich unter unserer Trennung litt, hatte ich nie jemandem erzählt, nicht einmal Claire und Achim sowieso nicht. Mit mir über Dodo zu reden interessierte ihn nicht, und wenn Achim sich für irgendein Thema nicht interessiert, ist jeder Versuch völlig sinnlos.

In Köln habe ich mir ein Taxi genommen und bin zu ihrer Wohnung gefahren. Bestimmt zehn Minuten habe ich vor ihrer Tür gestanden, ich habe gefroren und geschwitzt vor Angst. Meine Finger haben gezittert, als ich endlich geklingelt hab.

Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit, daß sie in Tränen ausbrechen würde, als sie mich sah. Wir standen in der offenen Wohnungstür, ich hab sie in den Arm genommen, und sie weinte Sturzbäche in den Kragen meiner Jacke. Da hab ich gewußt, daß ich das einzig Richtige getan hatte. Daß alles wieder gut werden würde zwischen uns.

[30] CLAIRE

Nora und ich sind in den Speisewagen gegangen, einen Kaffee trinken. Für Dodo hat sie einen Zettel hinterlassen, könnte ja sein, daß die beim Aufwachen denkt, wir sind aus dem fahrenden Zug gesprungen. Unterwegs bin ich kurz im Klo verschwunden und habe noch eine Lenz 9 geschluckt, reine Vorsichtsmaßnahme, ich fühle mich eigentlich ganz gut. Aber ich will auf keinen Fall sentimental werden, die Gefahr ist groß, ich kann dieses heutige Datum nun mal nicht aus meinem Kopf verbannen, sosehr ich mich auch bemühe. Manchmal glaube ich, ich verbringe mein ganzes Leben mit dem krampfhaften Versuch, an so vieles nicht zu denken. Und immer scheitere ich.

Sie zupft an dem kleinen Strauß aus Plastikblumen, der zwischen unseren Bechern steht. »Weißt du, ich hab immer noch diese aparte grüne Vase, die deine Mutter gemacht hat«, sagt sie. »Hat sie mir zur Konfirmation geschenkt damals. Mit einem Strauß Maiglöckchen. Tausendmal runtergefallen und immer noch heil.«

»Wie schön«, sage ich. Der Kaffee ist heiß und schmeckt nach alter Männersocke, wie Dodo sagen würde. Immerhin kann ich mich darauf verlassen, daß Nora jetzt bis zur nächsten Station in Erinnerungen an unsere gemeinsame Konfirmation schwelgen wird, sie weiß noch genau, welche Kleider wir trugen und wer was von wem geschenkt bekommen hat, sie kann sogar noch ihren und meinen und Dodos Spruch auswendig, keine Reise, auf der sie diese [31] Bibelstellen nicht zitiert, sie gehören zu ihrem festen Repertoire. Sie ist glücklich dran. Sie kann mit ihren Erinnerungen umgehen wie mit einem Setzkasten, alle Einzelteile werden immer wieder vorgeholt und hin- und hergewendet und benutzt und der Mitwelt präsentiert. Beneidenswerte Methode: nicht nur wiederkäuen, sondern zugleich alles Unangenehme aussortieren, so daß sich alles zu einem immer angenehmeren Bild neu zusammenfügt. Wenn man ihr glaubt, hat sie eine durch und durch glückliche Vergangenheit. Undenkbar, daß sie jahrelang an irgend etwas herumkaut wie ich an diesem Datum heute.

Dabei hatte ich mir die ganze Sache dramatischer vorgestellt, langwieriger. Aber wir waren nach ein paar Minuten wieder draußen aus dem Verhandlungszimmer. Unsere gemeinsame Anwältin hat sich eilig verabschiedet und sagte auf Wiedersehen, ohne daß Philipp oder ich widersprochen hätten. Sie mußte zum nächsten Termin, für sie war Routine, was für mich der Weltuntergang war.

Auch Philipp wollte weiter, ich habe das deutlich gespürt, für ihn setzte dieser Tag nur den offiziellen Schlußpunkt unter eine längst erledigte Geschichte. Aber dann hat er mich gefragt, ob wir noch einen Espresso zusammen trinken wollen, zum Abschied. Ich habe nur genickt, meine Zunge lag mir im Mund wie ein Stück Löschpapier.

Wir saßen dann in einem kleinen Café in der Nähe des Gerichts, es war voll und laut, am Tisch neben uns drängte sich eine siebenköpfige indische Familie, die Mutter im orangefarbenen Sari, sie hatte das Jüngste auf dem Schoß, es schrie die ganze Zeit, und sie strich ihm irgendwelche Tropfen aus einer kleinen braunen Flasche auf die [32] zahnlosen Kiefer. Philipp hat versucht, Konversation zu machen, er hat von einem Bürokomplex erzählt, den er demnächst bauen würde, und wahrscheinlich äußerst komische Anekdoten über Bauherren, Genehmigungsverfahren und Handwerker, ich kannte ja seine Mimik in- und auswendig und seinen Witz und seine Themen für quasi offizielle Anlässe. Aber ich hörte nur das Baby neben uns schreien, und ich habe gelächelt und in meiner Tasse gerührt und meinen Blick an Philipp vorbei auf die durcheinanderplappernden indischen Kinder gerichtet, und in meinem Kopf verhakte sich wie ein Rettungsanker das Wort Orgelpfeifen. Ich glaube, ich habe kein einziges Mal den Mund aufgemacht in dieser halben Stunde, wozu und worüber hätte ich noch reden sollen. Es war zu spät, wir waren geschiedene Leute.

Die Lenz 9 wirkt schnell, ich kann mich ohne Schmerz an diesen Tag vor zehn Jahren erinnern, von dem niemand weiß. Außer Philipp natürlich, aber er wird nicht daran denken. Der Tag einer Scheidung ist kein Datum, das man im Kalender vermerkt wie Geburts- oder Hochzeitstage. Geschafft, erledigt, vorbei, Gott sei Dank, so hat er es sicher empfunden. Wieso kann ich das eigentlich immer noch nicht. Endlich alles zu den Akten legen.

[33] DODO

Sie hat Claire in der Mangel, als sie aus dem Speisewagen zurückkommen, es geht um ihren Daniel, der offensichtlich pubertären Streß macht. Eigentlich sollte Claire seine Patentante werden, Nora muß sie wochenlang bequatscht haben damals, 82 war das und ich bis über den Kragen in der Berliner Hausbesetzerszene. Ecke Grainauer Straße entdeckten wir diese Telefonzelle, man steckte einen Groschen rein und konnte endlos nach Japan telefonieren, wenn man wollte, dauerte drei Tage, bis die Schnarcher von der Post das gemerkt haben. Ich natürlich auch bei Claire angerufen und sie nach News ausgequetscht und ihr gesagt, daß sie mich vergessen kann, wenn sie das macht und sich auf Noras Seite schlägt, aber sie hat gesagt, sie kann eh nicht hin, weil sie auf Exkursion geht mit ihrem Seminar, französische Kathedralen oder weiß der Geier, wohin. Und ob ich mich nicht mit Nora wieder vertragen will. Ich hab auf die Gabel geschlagen und postwendend die Zeitansage in Japan angerufen, die Nummer kannten wir alle, irgendwas mit tausend Siebenen.

Als Noras Kronprinz dann Jahre später konfirmiert werden sollte, waren wir ja längst wieder on good terms, Nora und ich, und sie ging selbstverständlich davon aus, daß Claire und ich kommen würden. Claire hat sich tatsächlich geopfert, ich hatte eine Scheißangst, sie würde sich verplappern, aber hat sie nicht. Ist mit Unmengen von Geschenken da aufgekreuzt und ziemlich schnell wieder [34] geflüchtet, aber klar, daß Nora ihr seitdem eine ganz besondere Beziehung zu ihren Kids andichtet.

»Ich hab schon überlegt, ob ich ihn dir nicht mal nach München schicke«, flüstert Nora, »vielleicht kriegst du ja was aus ihm raus oder kannst ihm mal bißchen zureden, er bewundert dich, das weißt du ja.«

Arme Claire. Was soll sie mit einem Siebzehnjährigen anfangen, ihn in ihrer Galerie ausstellen? Und er. Hat doch garantiert null Nerv, so eine mittelalterliche Tante zu besuchen, was hat die ihm schon zu bieten, Geschenke kann man schließlich auch per Post kriegen. Wetten, der ist ein kleiner Raffgeier?

Ich tu so, als ob ich grad aufwach, ausgiebiges Gähnen und Räkeln. »Ich könnt was essen.«

Trick siebzehn, wirkt prompt. »Erst die Vitamine«, sagt Nora und wirft mir ihren ›Prinz‹ wieder zu, dann greift sie nach ihrem Proviant, seit zehn Jahren ist sie für die Verpflegung auf unseren Reisen zuständig, und sie nimmt diese Aufgabe verdammt ernst. Sie fördert eine Tupperdose zutage, die sie mir strahlend präsentiert. »Käsegebäck, extra für dich gebacken, das ißt du doch so gerne.«

Daß sie sich so was merkt. Hat sie also gestern abend mindestens zwei Stunden lang in der Küche gestanden und Käsestangen für mich gemacht. Tut sonst kein Schwein für mich. Rührt mich irgendwie. Ich stopf das Zeug in mich rein, es ist wirklich klasse, auch sie greift zu. Den Apfel steck ich unauffällig in meine Tasche.

»Echte Butter«, sagt sie genießerisch. »Wißt ihr noch? Wie damit gespart wurde, als wir noch klein waren?«

»Bei euch doch nicht«, sag ich, »ihr hattet Joghurt und [35] Räucherlachs im Kühlschrank, als ich noch gar nicht wußte, daß es so was überhaupt gibt«, und reich die Dose an Claire weiter, obwohl ich schon vorher weiß, daß sie nichts nimmt. In aller Öffentlichkeit zu essen widerstrebt ihr, warum, weiß ich nicht. Sie hat garantiert in ihrem ganzen Leben noch nie eine Wurst oder eine Pizza im Stehen und aus der Hand gegessen. Schon als Kind war sie so, auf der Straße mochte sie nicht mal von meinem Brot abbeißen, was Nora andauernd tat, und die kam nun echt aus einem Haus, in dem alles immer nur etepetete war.

Aber auch Claires Eltern standen in der bescheuerten Pinneberger Hierarchie über mir und meiner sogenannten Restfamilie, er als Leiter des städtischen Bauamts und sie als dilettierende Künstlerin, na ja, was man eben in Pi-Dorf so dafür hielt. Sie hat getöpfert, auf gut Deutsch, unten im Keller ihres Reihenhauses im Rosenhof stand ihre Scheibe, billig war das Zeug nicht, Ma hätte sich eine Schüssel von Susanne Backe jedenfalls nicht leisten können. Bestimmt hat Claires Mutter ganz schön Schotter nebenher verdient, sie hat auch Kurse gegeben in der Volkshochschule, »Kreatives Arbeiten mit Ton« oder so ähnlich. Ging total auf in ihrer Kunst, war eigentlich kaum jemals zu sehen oben in ihrem Haus, immer in ihrem sogenannten Atelier im Keller zugange.

Wenn ich’s mir recht überlege, war sie total farblos, eigentlich hab ich sie kaum gekannt. Genau wie den Alten. Ich hab ja auch nur ein paarmal bei denen übernachtet, irgendwie wollten die das nicht so gern, und bei mir durfte Claire nicht, bis auf dieses eine Mal an meinem Geburtstag, als sie noch ziemlich neu in unserer Klasse war, danach war [36] Sense, keine Ahnung, warum. Erst als wir fünfzehn, sechzehn waren oder so, haben wir das wieder gemacht. Wahrscheinlich nicht der richtige Umgang für ihr Schmuckstück, verlotterte Göre, die ich war, deren Vater mit einer zwanzigjährigen Orgelschülerin die Biege gemacht hatte und die mit ihrem abartigen Bruder von ihrer Mutter allein aufgezogen wurde. Und wir armen Schweine hausten ja auch nur in der Ebertstraße, in einem dieser langweiligen Wohnblocks, nicht grad die feinste Gegend, aber zu mehr hat’s eben nicht gereicht.

Auf Claires Freundschaft mit Nora dagegen waren die Backes natürlich total heiß, Tiedjens gehörten schließlich zu den oberen Zwanzig. Und sie wohnten ja auch nah beieinander, Backes im Rosenhof und Tiedjens An der Drostei, mit bevorzugtem Blick auf das einzig schöne Bauwerk in Pinneberg, »Rocaille«, sagte die alte Tiedjen immer, wobei sie den Mund erst spitz machte, dann breit wie ein Frosch, dabei trifft der Begriff strenggenommen ziemlich daneben, aber die gab an mit dem Gebäude, als hätte sie es mit eigenen Händen erbaut, und bei jeder Gelegenheit hat sie uns mit ihren historischen Döntjes genervt, daß Dänemark mal bis nach Altona reichte und daß man sogenannte Drosten als Verwaltungsbeamte eingesetzt hat und daß die quasi kleine Könige waren pipapo. Und daß der Blick auf das historische Haus und die alten Eichen davor ihr das Gefühl vermittelten, mit der endlosen Kette ihrer Vorfahren verbunden zu sein oder so ähnlich, »Familie Tiedjen von Gottes Gnaden«, hat Hartmut immer gesagt.

Noras Paps und Walter Backe hatten auch beruflich miteinander zu tun, irgendwie gab’s da eine Seilschaft zwischen [37] denen. Gute Bekannte, hieß das in dem Kaff, aber ich könnte schwören, die beiden haben verdammt abgesahnt. Und Noras Mami kam ursprünglich aus Quickborn, hat Ma mir mal erzählt, war pure Hybris, ihr historisches Kettengefühl, aber bitte. Kann man ja auch sinnbildlich interpretieren.

Auch umgekehrt sind Noras Eltern natürlich total begeistert gewesen von Claire, eine passendere Freundin hätten sie sich für ihr einziges Kind nicht vorstellen können als die schöne, kluge, wohlerzogene kleine Backe.

Die haben beide noch mit zwölf geknickst, Claire und Nora, muß man sich mal vorstellen, ich wär doch eher gestorben, als vor irgendwelchen Dämlacken den Hampelmann zu spielen, aber da hat mir Ma natürlich den Rücken gestärkt, eigentlich war sie unheimlich fortschrittlich, was ihre Erziehungsmethoden anging, war mir natürlich nicht bewußt damals. Aber ich hätte weder Noras Paps noch Backe zum Vater haben wollen, das wußte ich immer.

Um Backe gab’s dann ja auch diese peinliche Affäre, anders wurde in Pinneberg von der Geschichte nie gesprochen. Aber das war Ende 77, da waren Claire und ich schon in München, und sie wollte über die Sache nicht reden. Zu Nora hatte ich keinen Kontakt, also hab ich im Grunde keine Ahnung, was da eigentlich abgegangen ist, Ma wußte auch nur das, was im Tageblatt gestanden hat. Aber mich hat das alles sowieso nicht besonders interessiert, ich wollte generell nichts mehr wissen von diesem Pißdorf und seinen Schildbürger-Skandalen, für mich war Pinneberg gestorben und all seine Einwohner dazu, von Ma natürlich mal abgesehen. Sie hätte da weggehen sollen damals, als Hartmut und ich aus dem Haus waren, sie hätte ganz woanders [38] neu anfangen können. Aber irgendwie hing sie an dem Kaff, hatte schließlich ja auch ihr ganzes Leben da verbracht, und wo hätte sie auch hin sollen, ich war damals echt nicht auf dem Trip, ausgerechnet mit meiner Mutter zusammenzuleben, und Hartmut schon gar nicht, damals war der gerade in Berlin mit Michel zusammengezogen.

»Wenn du dich da mal nicht irrst«, sagt Nora und packt ihre Tupperdose wieder ein, »ich hab das absolut deutlich vor Augen: du und dein Bruder an einem Sommerabend auf eurem winzigen Balkon, und eure Mutter mußte noch irgendwohin, nach Hamburg, glaube ich, sie hat es furchtbar eilig gehabt und stellte euch Radieschenbrote und Joghurt hin. Wir waren höchstens in der zweiten Klasse, Claire war jedenfalls noch nicht dabei. Es muß kurz nach eurem Umzug in die Ebertstraße gewesen sein, ich meine mich zu erinnern, daß noch tausend Kisten rumstanden.«

Ich verschluck eine Antwort. Von tausend Kisten kann nicht die Rede sein, aber sie weiß eh alles besser als ich. Nur eins nicht, aber das werd ich ihr nicht auf die Nase binden.

[39] NORA