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Martina Borger

Lieber Luca

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien

2007 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Julian Opie, ›Nantra, pool attendant‹, 2002

Mit freundlicher Genehmigung

der Galerie Bob van Orsouw

 

 

Für Salome,

Dino und Ali

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23917 1 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60661 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

19. September

Lieber Luca,

abergläubisch war ich nie, das weißt du. Ich habe immer über Leute gespottet, die sich vor schwarzen Katzen fürchten, die ihnen von rechts über den Weg laufen (oder von links?), die sich über den Anblick eines Schornsteinfegers freuen oder nicht unter Leitern durchgehen; ich würde mich ohne weiteres an einem Freitag, dem 13., operieren lassen, ich hätte auch kein Problem damit, in meinen Geburtstag hineinzufeiern, wenn ich ihn nicht inzwischen so gut wie möglich ignorieren würde. Und trotzdem glaube ich, dass es eine Bedeutung haben muss, dass ich heute gleich dreimal mit der Nase auf dich gestoßen worden bin. Nicht dass ich solche Hinweise bräuchte, um mich an dich zu erinnern, ich tue es jeden Tag, nicht nur einmal; die Gedanken an dich sind ebenso unauslöschlich mit mir verbunden wie die Narbe an meiner Stirn, die ich mir als Kind bei einem Sturz gegen den Tisch zugezogen habe, du folgst mir so beharrlich wie mein eigener Schatten. Aber [6] äußere Zeichen deiner Existenz sind mittlerweile selten geworden.

Ich war spät dran heute Morgen, ich hätte es nicht mehr geschafft, zu Fuß zur Arbeit zu kommen, ich musste also den Bus nehmen. Für die Fahrt habe ich mir schnell ein Buch aus dem Regal gegriffen, das ich schon längst einmal wieder lesen wollte, Flauberts Papagei von Julian Barnes. Als ich es im Bus aufschlug, fiel ein Zettel heraus und auf den klebrigen schwarzen Gummiboden. Ich hätte ihn liegenlassen, aber der etwa 20-jährige Junge mit dem Nasenpiercing neben mir, der über Kopfhörer Musik hörte und die ganze Zeit rhythmisch mit dem Kopf wackelte, bückte sich und reichte ihn mir wortlos. Das Papierstück war gelb, es musste von dem Block stammen, der damals in unserer Küche neben dem Kühlschrank hing, es war eine Einkaufsliste, von dir beschrieben. »Zucker«, las ich, »Alufolie, Milch, Cornflakes, Zahnpasta.« Ich starrte auf deine Schrift, die ich seit über fünf Jahren zum ersten Mal wieder vor Augen hatte, die wenigen flusigen Buchstaben, mir immer noch so vertraut. Wie ist der Zettel in das Buch gekommen? Haben wir ihn zu Hause vergessen? Oder vom Einkauf wieder mitgebracht, und ich habe ihn dann, auf der Suche nach einem Lesezeichen, in Flauberts Papagei gelegt? Jedenfalls war er das erste Zeichen.

[7] Nach Dienstschluss um fünf Uhr nachmittags bin ich in die Sendlinger Straße gegangen zum Juwelier, ich brauchte eine neue Batterie für meine Uhr. Als ich aus dem Geschäft kam, verließ gerade Florian den Laden auf der anderen Straßenseite, in dem modische und teure Snowboardkleidung verkauft wird, Florian trug eine große Tüte bei sich. Ich habe ihn sofort erkannt, er hat sich kaum verändert, auch wenn er die Haare jetzt wieder kurz trägt. Instinktiv habe ich mich auf dem Absatz umgedreht und so getan, als studierte ich mit Interesse das Schaufenster des Juweliers, ich glaube nicht, dass er mich gesehen hat, er war in Begleitung eines Mädchens mit dunklen Haaren. Bestimmt zehn Minuten habe ich vor dem Schaufenster gestanden, ich kannte die Preise zwei- und dreireihiger Perlenketten auswendig, bevor ich gewagt habe, mich wieder umzudrehen. Natürlich war er längst verschwunden, trotzdem war ich auf dem Weg zum Sendlinger Tor jede Sekunde auf der Hut, ich wollte auf keinen Fall von ihm angesprochen und in ein Gespräch verwickelt werden. Falls ihr noch Kontakt habt, kennt er unsere ganze Geschichte, er wird mich ebenso wenig verstehen können wie alle anderen; immerhin aber müsste ich dann nichts erklären. Schlimmer wäre die Möglichkeit, dass ihr euch aus den Augen verloren habt, dann würde er [8] nach dir fragen, wo und wie, mich vielleicht sogar um Telefonnummer oder Mail-Adresse bitten, Grüße bestellen. Ich könnte nur lügen, denn ich würde auf keinen Fall einem mir inzwischen fremden Menschen en passant von dir und mir erzählen.

Wie immer bin ich zu Fuß nach Hause gegangen und dort nicht gleich in die Wohnung, sondern in den Keller, weil ich schon seit Tagen meiner Freundin Sissy versprochen hatte, ihr meine alten Rollerblades zu geben, die ich mir vor Urzeiten gekauft habe, erinnerst du dich noch? Wir sind zweimal zusammen gefahren und dann nie wieder, ich vermutete sie in einer der drei Kisten, die ich ungeöffnet ganz hinten in mein Kellerabteil gepackt und seither nie mehr angefasst hatte.

Ich musste eine Menge ausräumen, bevor ich an die Kisten kam, Autoreifen, einen kaputten Stuhl, den ich seit Ewigkeiten reparieren lassen will, Körbe mit Elektromaterial, Farben und Pinseln. Aber ich hatte Glück, gleich in dem ersten Karton waren die Rollschuhe.

Oben in der Küche habe ich sie ein bisschen saubergemacht und wollte sie schon in eine Tüte packen, als ich in den rechten Schuh fasste und einen Handschuh herauszog, aus dickem grauen Fleece, mit einem winzigen Loch an der [9] Daumennaht. Dein Handschuh, kein Zweifel, mir war er viel zu groß, ich habe ihn anprobiert, sogar an ihm geschnuppert, aber er riecht nur nach Keller. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir ihn jemals vermisst hätten, aber wir waren ja beide nicht die ordentlichsten und an einen gewissen Schwund in unserem Haushalt gewöhnt.

Ich habe den Handschuh in der untersten Schublade meines Schreibtischs verstaut, die noch leer ist. Gerade habe ich sie noch einmal geöffnet, er bietet einen traurigen Anblick, wie er dort liegt. So allein. Und nutzlos.

[10] 2

25. September

Lieber Luca,

von meiner Arbeit weißt du nichts, woher auch. Falls du überhaupt darüber nachdenkst, glaubst du wahrscheinlich, dass ich mich immer noch mit dem Job an der Rezeption des Hotels über Wasser halte wie damals. Aber ich bin inzwischen seit viereinhalb Jahren festangestellt, als Sekretärin in einem privaten Krankenhaus im Klinikviertel. Ich finde, die Arbeit passt zu mir, denn Krankenhäuser haben in meinem Leben bisher eine entscheidende Rolle gespielt.

Ich habe die Stelle durch die Vermittlung von Sissy bekommen, meiner Freundin mit den Rollerblades, von der du nichts weißt, obwohl ich sie schon über 30 Jahre kenne. Damals war sie die beste Freundin meiner Schwester Verena, wir hatten uns lange Zeit aus den Augen verloren. Sissy ist Stationsschwester auf der Inneren.

Ich arbeite von halb neun bis um fünf, mittags habe ich eine halbe Stunde Pause. Gemeinsam mit meiner Kollegin Kerstin sitze ich in der [11] sogenannten Pforte, dem Raum für die Anmeldung und Aufnahme der Patienten, er liegt im Foyer der Klinik, gegenüber der Tür. Die dem Eingangsbereich zugewandte Längsseite des Zimmers ist ganz verglast, deshalb nennen wir den Raum »Aquarium«. Kerstin sitzt an einem Schreibtisch vor einem Fenster, das fast immer offen steht, von dort aus schickt sie die Besucher auf die entsprechenden Stationen oder spricht mit den ankommenden Patienten. Mein Platz ist ganz hinten; im Gegensatz zu Kerstin habe ich so gut wie keinen Kontakt mit Besuchern oder Patienten, nur unter dieser Bedingung habe ich die Stelle damals angenommen. Meine Aufgabe ist neben Telefonaten ausschließlich das Schreiben, ich übernehme Überweisungsbriefe, Privatrechnungen, Speisepläne, Telefonlisten und die Korrespondenz des Chefarztes. Es ist keine anstrengende Arbeit, auch nicht sonderlich herausfordernd, und ich habe immer wieder Leerlauf. Dann lese ich meistens, sehr selten schreibe ich auch, so wie jetzt an dich.

Es ist kurz nach elf, und im ganzen Haus riecht es nach Mittagessen, ich muss nicht auf den von mir geschriebenen Essensplan der Kantine sehen, um zu wissen, dass es Spinat gibt, Kartoffeln und Eier, ein typisches Freitagsessen in einer überwiegend katholischen Stadt. Vielleicht weißt du noch, [12] wie ausgeprägt mein Geruchssinn schon immer war, dann kannst du dir sicher vorstellen, wie ich am Anfang hier gelitten habe unter den vielfältigen und allesamt unangenehmen Aromen, die sich zu einer undurchdringlichen Wolke ballen. In der ersten Zeit hatte ich ein so heftiges Bedürfnis nach frischer Luft, dass ich mir jeden Morgen beim Betreten der Klinik geschworen habe, dies sei der letzte Tag, ich würde auf der Stelle kündigen, lieber wollte ich putzen gehen oder nachts kellnern, nur nicht täglich acht Stunden verbringen in diesem Dunst aus Desinfektionsmittel, Blut und abgestandenem Essen, aus Schweiß und Angst, zwischen abwaschbar gestrichenen Wänden und umgeben von pastellfarbenen Kunstdrucken, fast immer Blumenmotive. In dem Moment, in dem ich die Eingangstür öffnete, erfasste mich ein Gefühl schrecklicher Beklemmung, ein Fluchtinstinkt. Aber das geht wohl jedem so, der ein Krankenhaus betritt, es ist kein Ort, den man je freiwillig aufsuchen würde.

Wenn ich auf meinem Schreibtischstuhl ein Stück zur Seite rolle, kann ich den ganzen Eingangsbereich überblicken und ein Stück der Straße, auf der sich die Besucher der Klinik nähern. Fast alle verlangsamen dabei ihre Schritte. Manche bleiben vor der Eingangsrampe stehen und rauchen eine Zigarette neben dem großen Blechaschenbecher, aber [13] auch die anderen halten einen Moment vor der Tür inne, ich sehe, wie sie sich überwinden müssen, bevor sie bemüht geschäftig die Eingangstür ansteuern und das Foyer betreten und dabei das Papier von ihren Blumensträußen wickeln. Unser Aquarium würdigen sie keines Blickes, sie haben es alle eilig, unangenehme Pflichten bringt man am besten schnell hinter sich. Wenn sie die Klinik wieder verlassen, selten länger als eine halbe Stunde später, bekommen wir oft einen Abschiedsgruß, manchmal sogar ein Lächeln, sie sind erleichtert, fast übermütig: Sie haben ihr gutes Werk vollbracht, es ist erledigt, abgehakt.

Auch wenn ich meine Arbeit nicht gerade liebe, weiß ich doch, dass ich Glück gehabt habe. Ich kenne die Situation auf dem Arbeitsmarkt gut genug, um zu wissen, dass man bei der momentanen Wirtschaftslage als 41-Jährige ohne abgeschlossene Berufsausbildung dankbar sein muss, wenn man eine halbwegs anständig bezahlte Stelle hat, mit guten Sozialleistungen und netten Kollegen.

Meinen Halbtagsjob im Hotel habe ich aufgegeben, kaum warst du weg. Kannst du dich noch daran erinnern, dass du mich oft mittags dort abgeholt hast? Und wir uns manchmal in die Halle gesetzt und uns benommen haben wie verwöhnte und zahlende Gäste? Ilona aus der Küche, die fast [14] zwei Zentner wog und ein Faible für dich hatte, hat die Sandwiches für uns besonders üppig belegt, Milan, der tschechische Kellner, hat sie mit Leinenservietten und Silberbesteck serviert, natürlich habe ich nie eine Rechnung gesehen.

Und weißt du noch, meine Klavierschüler am Nachmittag? Jessica zum Beispiel, die wegen ihrer Zahnspange immer so spuckte, dass ich nach ihrem Unterricht die Tasten gründlich abwischen musste? Oder Herr Fromm? Der Name passte zu ihm wie kein zweiter, er kam immer genau fünf Minuten zu früh, er brauchte diese Zeit für seine »innere Sammlung«, wie er es nannte, manchmal haben wir ihn absichtlich vor der Tür warten lassen, und du hast durch den Spion beobachtet, wie er sich auf unserer Fußmatte »sammelte«; sicher hat er es gemerkt, aber nie ein Wort darüber verloren. Wenn er dann hereinkam und ich ihn ins Wohnzimmer bat, sagte er jedes Mal: »Ich bin so frei«, bevor er mir vorausging, du hast ihn oft nachgeäfft, und ich habe mit dir gelacht, obwohl er ein bemitleidenswerter Mann war, der zu Hause seine steinalte bettlägerige Mutter betreute und der sich den Klavierunterricht als einzigen Luxus gönnte. In all den Jahren hat er mir nach jeder Stunde einen verschlossenen Umschlag mit meinem Geld übergeben, jede Erhöhung meines Honorars hat [15] er klaglos mitgemacht. Und immer hatte er geübt, mit ihm war es wirklich leicht verdientes Geld.

Als ich mit dem Klavierunterricht aufgehört habe, kurz nachdem du weggegangen bist, war Herr Fromm ehrlich traurig. Zu unserer letzten Stunde hat er mir einen Blumenstrauß und eine Schachtel Katzenzungen mitgebracht und mir für die »erfüllende« Zeit gedankt, er hielt meine Rechte lange in seiner feuchten Hand, und ich meinte, Tränen in seinen Augen zu sehen, es war mir peinlich. Und dann bat er mich, dich ganz herzlich von ihm zu grüßen, er hätte sich gerne von dir persönlich verabschiedet, er hoffe, es gehe dir gut. Ich nickte, ich glaube, ich habe sogar gelächelt, und ich sagte ja, natürlich, bei dir sei alles in bester Ordnung. Er merkte nicht, dass es eine Lüge war, denn in Wahrheit hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon keine Ahnung mehr, wie es dir ging.

[16] 3

30. September

Lieber Luca,

Sissy will wissen, was ich schreibe. Sie kam heute Mittag, um mich zur Pause abzuholen, und weil ich noch am Telefon war, saß sie wartend auf meinem Schreibtisch und entdeckte unter dem Stapel von Privatliquidationen von Professor Schaub meinen Block. »Liebesbriefe?« Sie hat mir verschwörerisch zugeblinzelt. Ich habe nur gelacht, sie hat nicht weitergefragt.

Heute Morgen sind wir uns vor der Eingangstür begegnet, ich habe sofort gesehen, dass sie nicht von zu Hause kam, sie hatte die Bluse von gestern an, und unter ihren Augen klebten Krümel von Wimperntusche. Sie hat die Nacht wieder bei unserem neuen Orthopäden, Dr. Wiesinger, verbracht, sie sagt natürlich Konrad. Gestern war sie mit ihm zum Essen bei dem Japaner in der Klenzestraße, danach in seiner Wohnung direkt am Gärtnerplatz, wo heute die Besserverdienenden wohnen, früher galt die Gegend als »Glasscherbenviertel«.

Sissy schwebt auf Wolke Sieben. Erstens ist [17] Konrad Wiesinger Single, was Sissy seit seinem ersten Tag bei uns weiß, weil sie seine Personalakte gefilzt hat. Zweitens ist er auf der Suche nach einer »ernsthaften Beziehung«, zumindest behauptet er das. Und drittens ist er sensibel und einfühlsam, wovon sich Sissy in seiner Wohnung überzeugen konnte: Er liest! Keine Ratgeber à la »Die erste Million ist die schwerste«, sondern richtige Bücher! Er hat eine Katze! Und ein Patenkind in Afrika! Er hört Klassik! Er hat Fotos von seinen Eltern auf dem Schreibtisch stehen!

»Klingt schwul«, ist mir rausgerutscht, als Sissy mir am Morgen nach ihrer ersten Nacht sämtliche Details aufgezählt hat. Sie hat nur höhnisch gelacht: »Alles andere als das, kann ich dir flüstern!«

Also hab ich sie umarmt und ihr gratuliert und ihr alles Glück der Welt gewünscht. Ich habe nicht gefragt, wie alt dieser Konrad ist, vermutlich mindestens fünf Jahre jünger als sie, und auch nicht, wieso ein Mann, der eine ernsthafte Beziehung sucht und keinen One-Night-Stand, sie gleich am ersten Abend mit in seine Wohnung und sein Bett nimmt. Ich habe Sissy sehr gerne, sie soll ihre Liebe genießen, solange sie dauert. Das böse Erwachen kommt früh genug.

[18] Endlich war ich mit dem Telefonieren fertig und habe meine Jacke angezogen. Wir haben uns von Kerstin verabschiedet, die am Computer eine Partie Solitär gespielt hat, und wollten gerade zur Tür gehen, als vor dem Klinikeingang ein Taxi hielt. Die hintere Tür flog auf, eine Frau sprang aus dem Wagen. Sie drehte sich um, beugte sich zur Rückbank und nahm ein Kind in die Arme, sein weißblonder Kopf hing über ihrem Ellbogen schlaff herunter. Die Frau ließ die Taxitür offen stehen und rannte zum Eingang, um ein Haar wäre sie gegen das Glas geprallt, weil die Automatik nicht schnell genug reagierte. Sie stürzte auf unser Aquarium zu, dabei löste sich aus ihren Haaren, die unordentlich auf dem Hinterkopf hochgesteckt waren, eine Strähne und fiel ihr über das rechte Auge, die Haare waren nur eine Spur dunkler als die des Kindes. Ihr Gesicht war verschwitzt und gerötet. Vor dem geöffneten Fenster blieb sie stehen.

»Bitte«, keuchte sie, »einen Arzt… mein Sohn… Samuel… er ist nicht mehr bei Bewusstsein…«

Sie war höchstens so alt wie ich, eher jünger. Ein großflächiges Gesicht, sehr helle Augen von einem eigenartig schillernden Grau, wie Fischschuppen. Ihr Blick fiel auf mich.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Wir nehmen keine Kinder auf.«

[19] Von dem Jungen konnte ich nichts sehen außer seinem hellen Hinterkopf, sein Gesicht lag an ihrer Brust. Zwischen den Haaren sein Nacken, von einem sanften Braun, mit dieser schmalen kleinen Mulde in der Mitte. Er trug einen Schlafanzug mit kurzer Hose, seine nackten Beine waren mager, an der Wade ein kaum verheilter Kratzer.

»Gestern hatte er Fieber«, sagte sie gehetzt, ohne auf mich einzugehen, jetzt starrte sie in Panik auf das Kindergesicht, »aber nur ein bisschen, und heute Morgen konnte er den Kopf nicht mehr bewegen, ich wollte zum Kinderarzt, aber jetzt auf einmal…«

Wieder sah sie mich flehend an, warum eigentlich mich und nicht Sissy? Oder Kerstin? Sie trug Jeans und einen V-Ausschnitt-Pullover, der viel zu groß war, in aller Eile übergezogen, auf ihrem Dekolleté hektisch rote Flecken.

»Sie müssen in die Kinderklinik!« Sissy war ans Fenster getreten und beugte sich vor. »Gleich um die Ecke, die nächste rechts und dann nach etwa zweihundert Metern auf der linken Seite.« Sie sprach in diesem energischen Krankenschwestern-Ton, dem man nicht widerspricht, bestimmt und kompetent.

»Aber er glüht, sehen Sie das nicht!« Die Augen der Frau irrten von Sissy weg und wieder hin zu [20] mir, ich dachte, was will sie von mir, ich bin hier niemand.

»Wir sind nicht eingerichtet auf Kinder«, sagte ich, wie es mir beigebracht worden ist. »Es ist besser, wenn Sie in die Kinderklinik gehen.«

Die Frau hielt mich für einen Moment mit ihrem Blick fest, ich fühlte, wie mir die Hitze in den Kopf stieg.

»Ihr Taxi wartet doch noch«, sagte Sissy. »Und es ist wirklich nicht weit.«

Die Frau drehte sich wortlos um und lief zurück zur Tür, dabei rempelte sie einen Mann mit Krücken an, der ihr etwas hinterherrief und ihr empört nachsah. Ich sah, wie sie mit dem Kind ins Taxi stieg, sie warf sich förmlich hinein, und sie hatte die Autotür noch nicht geschlossen, als der Wagen schon losfuhr.

Wir verließen die Klinik gleich nach ihr und gingen in den kleinen Park an der Matthäuskirche, ein beliebter Treffpunkt für Rentner und Junkies. Auf dem Weg redete Sissy ohne Punkt und Komma von ihrem Konrad, meine Gedanken waren bei der Frau mit den schillernden Augen. Sie musste jetzt fast bei der Klinik sein, die Fahrt konnte nicht länger als zwei, drei Minuten dauern, jetzt bog das Taxi vermutlich um die Ecke, sie würde das Schild [21] der Notaufnahme schon erkennen können. Jetzt hielt der Wagen, sie war angekommen. Jetzt hob sie das Kind mit der sanften Mulde im Nacken aus dem Wagen, jetzt lief sie auf den Eingang zu, das Kind schwer in ihren Armen, jetzt betrat sie die Klinik, eine Schwester kam auf sie zu, die mit fachkundigem Blick sofort erkannte, was mit dem Jungen nicht stimmte, die die Frau mit dem Kind in ein Zimmer führte und einen Arzt verständigte. Jetzt war sie gerettet.

[22] 4

4. Oktober

Lieber Luca,

dass ich in unserer gemeinsamen Wohnung in der Oettingenstraße nicht mehr lebe, weißt du. Ich bin zwei Monate und ein paar Tage nach Beginn der Eiszeit dort ausgezogen, fluchtartig, könnte man sagen; ich habe die erste Wohnung gemietet, die von der Größe und vom Preis her akzeptabel war. Jetzt wohne ich in Sendling, einem Viertel, in das ich vorher noch nie einen Fuß gesetzt hatte, das für mich so fremd war wie das Alleinsein. Ich habe damals gedacht, dass es hilft, wenn ich mich komplett neu orientieren muss, ich habe sogar überlegt, in eine andere Stadt zu ziehen, in der mich nichts mehr an dich erinnern könnte. Aber dann habe ich doch nur die Wohnung verlassen, die noch auf jedem Quadratzentimeter erfüllt war von dir, die nach dir roch, in der deine Worte noch in der Luft hingen, in der ich auf Schritt und Tritt Spuren entdeckte von dir.

Von meiner neuen Wohnung aus – denn so nenne ich sie nach fast fünf Jahren immer noch – gehe [23] ich normalerweise zu Fuß zur Arbeit und zurück, obwohl ich bequem die U-Bahn nehmen könnte, aber ich laufe gern. Morgens brauche ich kaum länger als eine Dreiviertelstunde, am Nachmittag lasse ich mir mehr Zeit. Außer bei strömendem Regen gehe ich nicht auf direktem Weg nach Hause, sondern spaziere kreuz und quer durch die Straßen zwischen Sendlinger Tor und Harras, mal gehe ich durch den alten südlichen Friedhof und am Schlachthof vorbei, dann wieder bis zur Isar und dann südlich, ein anderes Mal die Theresienwiese entlang.

Heute bin ich auf dem Heimweg durchs Klinikviertel gegangen, Richtung Stephansplatz. Eigentlich komme ich auf diesem Weg nicht direkt an der Kinderklinik vorbei, aber ich bin dort gelandet, ohne Absicht, ganz in Gedanken. Es war kurz nach fünf, die reguläre Besuchszeit war vermutlich schon vorbei, denn alles war ruhig, aber aus einem gekippten Fenster im zweiten Stock konnte ich einen Laut hören, es kam mir vor wie ein Kinderlachen. Ich überlegte, ob es der kleine Junge mit den hellen Haaren sein könnte, der irgendwo dort oben in einem Bett lag. Aber wahrscheinlich waren die Aufregung und Panik seiner Mutter völlig überflüssig gewesen, und sie war in der Notaufnahme samt Kind und einem Rezept nach Hause geschickt worden.

[24] Dass dieses Kind mir nicht aus dem Kopf geht, irritiert mich, weil es in mir bestimmte Erinnerungen wachruft, auf die ich keinen Wert lege, die keinen Platz haben in meinem jetzigen Leben. Gegen die ich mich aber auch nicht wehren kann. Mit deinem Zettel hat es angefangen, mit Florian, mit deinem Handschuh. Und anstatt diese drei Zeichen, die doch nur ganz zufällig an einem einzigen Tag zusammengetroffen sein können, zu ignorieren, habe ich angefangen, dir zu schreiben. Warum? Was bezwecke ich damit? Dass ich Antworten von dir erwarte, ist nicht möglich, denn ich werde diese Briefe nicht abschicken. Ich bewahre sie in einer roten Blechschachtel auf, in der einmal Kekse waren, Verena hat sie uns aus Schottland geschickt. Die Kiste liegt ganz hinten in der untersten Schreibtischschublade, neben deinem Handschuh; ich schließe die Schublade immer sorgfältig ab, den Schlüssel lege ich in die Schale mit Schreibutensilien unter einen Radiergummi, so dass er nicht zu sehen ist.

Ich glaube, dass ich diese Briefe in Wahrheit nicht an dich, sondern an mich selbst schreibe, um mich meinen Erinnerungen zu stellen, ein letztes Mal. Wenn ich damit fertig bin, werde ich hoffentlich endlich wieder nach vorne sehen können und nicht nur zurück. Dann haben sie ihren Zweck erfüllt, und ich werde sie vernichten können.

[25] Ich weiß nicht, ob du es gerne hörst, aber ich lebe nicht allein. Der Mann, mit dem ich die Wohnung teile, heißt Frank, ist vier Jahre älter als ich und Taxifahrer, genau gesagt besitzt er einen Betrieb mit vier Wagen, zwei festangestellten Fahrern und ein paar Studenten, die je nach Bedarf aushelfen.

Ich habe nie daran gedacht, wieder einen Partner zu finden, geschweige denn, ihn zu suchen, ich wollte auf absehbare Zeit keinen Mann mehr in meinem Leben, voller Selbstmitleid sah ich mich als gebranntes Kind.