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eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

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Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2015

Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 01.05.2015

ISBN 978-3-944818-91-7

Für Sisi

DIE NACHT DAVOR

Spirit of Europe | Deck 12

Lalita Masarangi und Joseph Quezón

At ang iyong mata’y biglang lumuha
Ng di mo napapasin
Pagsisisi at sa isip mo’t nalaman
Mong ika’y nagkamali
Nagsisisi at sa isip mo’y
Nalaman mong ika’y nagkamali

 

Die Dolphins at Dawn spielen den allerletzten Song auf der Bühne in der Mitte des Pools. Keine Zuschauer mehr da. Ach doch. Das Mädchen im geblümten Hosenanzug hockt neben der Plastikpalme und glotzt seit Stunden in die Spiegel-App ihres iPhones. Der gekrümmte Körper eine geballte Niederlage. Die Freundinnen weg, kichernd hinter irgendeiner Tür zu den Innenkabinen. Und der Junge, mit dem sie früher am Abend auf Deck 5 gesehen wurde? Als noch alles glitzerte. Auch weg.

Die Luft dampft. Weiße Schwaden ziehen über das Schiff. Es stinkt. Einer hat in den Pool gekotzt, jedenfalls schwimmen da faserige Stückchen auf dem Wasser. Entenkeule in Trüffel-Reduktion. Empfehlung des Tages vom Küchenchef. Das Mädchen richtet sich auf wie in Zeitlupe, taumelt schlingernd zwischen Stapeln von Liegestühlen davon und verschwindet im Dunst.

Lalita steht ganz, ganz dicht am Rand des Pools und summt mit. Jo singt Tagalog. Hat sie gegoogelt, weil ihr langweilig war und weil sie immer wieder an den asiatischen Jungen mit den Dreads denken musste. Er singt mit seiner richtigen Stimme jetzt, die Augen zu. Keine Coverversion. Kein antrainierter amerikanischer Akzent. Keine zweite, dritte oder vierte Haut. Lalita schwankt. Oder schwankt das Schiff? Diese verdammten High Heels. Zwölf Zentimeter samtig ummantelter Stahl. Egal. Sie hat ja frei.

Lalita Masarangi, Security Team der Spirit of Europe. Melde mich zum Dienst. Acht bis zwanzig Uhr, zweimal halbe Stunde Pause, plus Extrastunden. Sieben Tage die Woche, drei Monate lang, einen Monat frei. What a fuck. Neunzehn Tage hat sie heute geschafft. Eineinhalb Mal »Erfüllen Sie sich Ihren Traum im westlichen Mittelmeer«.

Mach die Augen auf, Jo! Sieh mich!

 

Jo öffnet die Augen. Das Haus zwischen Reisfeldern, nördlich von Manila, verschwindet langsam wie das Nachbild eines Traums. Ein letzter Blick auf Großmutter Bella, die sich an ihrem Stock aufrichtet. Ihre Augen blitzen aus dem faltigen Gesicht, durchbohren ihn. Joseph mit dem Negerhaar. Beweis ihrer Liebe zu dem Amerikaner in den Wäldern des Mount Arayat, atemlos, auf der Flucht vor japanischen Faschisten.

Gurkha Girl, so nennt er sie für sich, die ist ja überirdisch rausgeputzt. In ihrer Dienstkleidung sieht sie doch cool aus, schwarze Hosen, grünes Barett, Guerilla Style. Der Glitzermini und die Stöckelschuhe sind cheap. Gurkha Girl als nepalesische bitch. Der Lidschatten zu blau, die Locken zu falsch. Die kühle Gefährlichkeit weg. Dafür was anderes, eine Möglichkeit, das törnt ihn an. Ihre Augen sind geschlossen, sie wiegt sich im Rhythmus. Jo dreht sich um. Raymond am Bass lächelt und nickt. Deine Nacht, Jo. Jo ohne e. Joseph und nicht Joe.

Einmal ausbrechen.

Dreimal täglich zwei Stunden Unterhaltungsmusik, ausschließlich UK- und US-Charts, ausschließlich von der Playlist der Konzernzentrale von Gold Cruises in Miami, ausschließlich jugendfrei, ausschließlich der langweiligste Scheiß auf der Welt.

»Du siehst vielleicht aus wie Jimi Hendrix, aber die alten Weiber wollen höchstens Bob Marley, klar?«

No Woman No Cry. Mittags in der Maharaja Lounge, nachmittags in der Star Lounge, nachts Promenadendeck oder Poolside, je nach Ansage. Sieben Tage die Woche, zehn Wochen lang, drei Wochen frei. Heute ist der achte Tag ihrer dritten Reise. Heute hat Jo dem Gurkha Girl in die Augen gesehen und ins Mikro geflüstert: »Anak.« Die Blicke der anderen drei in seinem Rücken. Der Song kann sie ihren Vertrag kosten. Aber Jo weiß, dass sie dem Reiz nicht widerstehen können.

Einmal ausbrechen.

Einmal wir selber sein. Noch einmal der Refrain des philippinischen Megahits. Dann Stille.

Rauschen. Der Wind. Lauter.

Hey.

Viel lauter als vorher.

Gurkha Girl knickt um und lächelt.

Östlich von Ghazaouet | Algerien

Karim Yacine

Karim steht auf der Spitze des Felsvorsprungs und sieht auf das dunkle Meer hinaus. Das Kribbeln ist wieder da, gefühlte zwei Zentimeter unter dem linken Schulterblatt. Seit er die Gürtelrose hatte, juckt es da ab und zu.

Schlechtes Vorzeichen?

Ach komm, alter Mann, einfach nur ein Signal deines Körpers: Der will noch mal los, der will Gummi und Salzwasser riechen. Das Blut in den Adern rauscht, Delfine jagen neben dem Boot. So fühlt es sich an, wenn man lebt.

Algerien ist Stillstand, ist Tod.

Ein scharfer Windstoß reißt ihn zurück in den Augenblick. Unten am Strand leuchtet das Feuer viel zu hell. Daneben die Männer, die im Lichtschein ihre Sachen zusammenpacken. Sie sind unruhig, die Haraga, les brûleurs, »die ihre Pässe verbrennen«.

Einer sieht hoch, zeigt in die Richtung, in der das Boot versteckt ist. Karim hebt die Hand. Alle warten auf sein Zeichen. Er ist der Älteste. Allah, wie die Zeit vergeht. Er macht die Fahrt zum sechsten Mal. Keiner hat es so oft gemacht wie er.

Karim trifft eine Entscheidung. Wenn der Wind innerhalb der nächsten zehn Minuten abflaut, fahren sie los. Wenn nicht, werden sie eine weitere Nacht vorgeben, harmlose Typen auf Campingurlaub zu sein. Junge Männer, die ihr Leben vergeuden, weil sie keine Zukunft haben. Nicht hier.

Sie sind die Kinder des schwarzen Jahrzehnts.

Schwarz wie diese Nacht.

 

Der Wind hat nachgelassen. Karim reißt die Zündleine an. Der Außenbordmotor röhrt los. Laut, brutal laut, hallt es von den zerklüfteten Bergwänden wider. Nichts wie weg hier. Er steuert das Boot so, dass er den Berg im Rücken hat. Wie ein Schatten erhebt er sich aus der Dunkelheit. Karim weiß das.

Er dreht sich nicht um.

Er fühlt den Berg. Seine Masse. Seine Größe.

Er kann auch den unsichtbaren Berg spüren, der aus dem Meeresboden wächst und die Wasser trennt, ungefähr auf der Hälfte der Strecke zwischen Afrika und Europa. Sura 25, Al-Furqan, Vers 53, Koran. Die Legende sagt, Jacques Cousteau habe diese Wasserscheide entdeckt und sei danach zum Islam konvertiert. Die Filme, die Männer an Bord der Calypso, geheimnisvolles Universum unter Wasser. Karim hat sie alle gesehen, Wiederholungen im algerischen Fernsehen. Welt ohne Sonne ist sein Lieblingsfilm. Vielleicht weil der Titel so gut auf seine Welt passt.

Auch den erloschenen Vulkan nordöstlich von Almería fühlt er, noch bevor sich das GPS aktivieren lässt. Eine Bodenwelle aus kegelförmigen Felsen, die wie ein Finger ins Meer zeigt und ihm den Weg in die Bucht weist, in der er landen wird. Mitten im Nationalpark Cabo de Gata.

Drei Berge in vierzehn Stunden, wenn es gut läuft.

Inschallah.

Der Mond wirft ein kurzes Schlaglicht auf die Gesichter, bevor er ganz hinter einer Wolke verschwindet: Am Bug zwei entfernte Cousins aus Oran, die er als Kinder das letzte Mal gesehen hat. Daneben der Lehrer aus Algier. Abdelmjid aus dem Laden in Ghazaouet, bei dem seine Mutter ihre Datteln kauft. Zwei Jungs aus seinem Viertel, deren Brüder schon lange in Frankreich sind. Mit denen ist Karim zur Schule gegangen und verdammt, warum ist er eigentlich immer noch hier?

Die anderen fünf aus dem Dorf am Ende der Bucht hat ihm der Typ aufs Auge gedrückt, der die Schlauchboote verkauft. Drei Boote zum Preis von zweien, hieß es, aber Karim macht diese neue Masche mit den Massenstarts nicht mit. Drei starten, eins kommt durch. Die Pech haben, ersaufen vor den Augen der Küstenwache. Algerisches Roulette.

Du wirst alt, Karim Yacine. Achtunddreißig Jahre werden es im Herbst. Alt und ängstlich. Zohra hat es zuerst gesehen. Sie skypen täglich, wenn das Netz nicht ausfällt.

»Sei nicht so ungeduldig, Karim. Hab keine Angst, wir werden einen Weg finden.« Diese Angst, niemals wieder sein Gesicht in ihr Haar zu tauchen, bevor sein Leben zu Ende ist. Sie treibt ihn über das Meer.

»Versprich mir, dass du es nie wieder tust!« Ihr Gesicht, über Skype verpixelt, aber trotzdem – sie hat auch Angst, das kann er sehen. Er verspricht es.

Er bricht sein Versprechen.

Kein guter Start in eine Ehe. Ich verspreche dir, Zohra, es ist das letzte Mal. Das Fahren und das Lügen. Denn sonst, sonst gibt es gar keine Zukunft für uns.

Weiße Möwen erscheinen lautlos aus der Dunkelheit und umkreisen das Boot. Karim folgt ihnen mit seinem Blick, er ist wie hypnotisiert von den geisterhaften Vögeln. Wieder und wieder fliegen sie an, eine 180-Grad-Wende in der Luft und dann im Sturzflug auf das weiße Wasser, das sein Motor in den Wellentälern hinterlässt. Da kommt wieder eine, ihr Gefieder flammt auf über dem schwarzen Meer – weißes Leuchten – sekundenschnell gestreift von einem Finger aus Licht.

»Vorsicht, Küstenwache!«

Karim reißt das Ruder herum. Schüsse peitschen über das Meer. »Keine Angst! Das sind nur Warnschüsse!«, ruft er seinen Leuten zu.

Der Cousin am Bug verschwindet im Dunkel.

Panik.

»Bruder! Wo bist du!«

Der Scheinwerfer schickt einen Lichtstrahl in die Dunkelheit, der suchend über den Himmel zuckt.

»Wir müssen hier weg!«

»Nein!« Verzweiflung. Hallt durch die Nacht.

Motorengeräusch. Lichtfinger. Sie sind ganz nah.

»Da vorne!« Abdelmjids Gesicht, direkt neben seinem eigenen. Karim lehnt sich nach links. Sieht an Abdelmjid vorbei. Eine Wand. Ihre Rettung liegt hinter dieser Wand aus Nebel. Er hält blindlings darauf zu.

Und schon tauchen sie ein. Das Heulen des Windes stirbt einen schnellen Tod. Die Nebelgrenze wird zu einem dreidimensionalen Feld aus weißlichem Licht. Es dehnt sich aus, sehnt sich nach Unendlichkeit, leckt an den Konturen ihres kleinen Bootes.

Karim stoppt den Motor.

Keiner sagt ein Wort.

Alle denken dasselbe: Wenn er Glück hat, ziehen sie ihn rechtzeitig aus dem Wasser.

Wenn nicht …

Der andere Cousin hat das Gesicht in den Händen vergraben und trauert lautlos, bis ihn der Nebel verschluckt.

Hafen von Oran | Algerien

Oleksij Lewtschenko

Auf den Felsen von Oran ragen entlang der Uferstraße die erleuchteten Hochhäuser in die Nacht. Der Nebel verstärkt das Licht um ein Vielfaches und wirft es wie Flutlicht zurück auf den Hafen und das Bassin d’Arzew. Arzew, Umschlaghafen für Gas und Öl aus der Sahara, zweiundvierzig Seemeilen nordöstlich von Oran. Oran, Wahran auf Arabisch, Container- und Fährhafen, zweitgrößte Stadt in Algerien, 678 000 Einwohner. Die Pest von Albert Camus spielt hier, bedeutender französischer Roman, aus der Reihe »Klassiker des 20. Jahrhunderts«, Folio Verlag Charkow.

Wann hat er das gelesen?

Irgendwann in den Neunzigern? Ja?

Ein Sommerabend, aber der Nebel lässt ihn frösteln. Oleksij Lewtschenko. Oleksij von Oleksa, griechischer Ursprung: Alexander. Lewtschenko, Ursprung: Sohn von Lewko. Lewtschenko wie Anatoli Lewtschenko: sowjetischer Kosmonaut ukrainischer Herkunft. Dezember 1987, dritter Platz in der Sojus TM-4 zur Raumstation MIR. Eine Woche im Weltraum. Rückkehr zur Erde.

Held der Sowjetunion. Lenin-Orden.

Kein Jahr später tot. Gehirntumor.

Was ist mit dir passiert da oben, Anatoli, mein Freund? Was hast du gesehen?

Olek Lewtschenko. Für alle auf der Siobhan nur der Chief.

Chief Engineer. Herr über das Herz des Frachters. Neun Motorblöcke von MAK. MAK, Schiffsmotoren aus Kiel, Deutschland. Heute Tochtergesellschaft von Caterpillar. Globalisierung, verdammte. Unser Leben und unser Verderben. Ist doch so, ja? Gibt uns Zuckerbrot und Peitsche. Uns hier auf See.

Olek starrt durch den Nebel auf die Stadt. Er steht auf Deck A am Ausgang zum Fallreep. Er kneift die Augen zusammen.

Olek ist der Meinung, wenn man die Augen zusammenkneift, oder noch besser, wenn man schon ein paar Wodka intus hat, kann man sich einbilden, in Marseille zu sein und nicht in Oran. Dmitri findet das ganz und gar nicht. Ein Hafen, sagt er, lebt von seinen Kneipen und den Frauen. Insofern ist Oran ein toter Fisch. »Die Atmosphäre, Olek! Darauf kommt es an!«

Olek beobachtet die algerischen Arbeiter unten auf dem Pier. Sie montieren gerade die Schläuche ab, mit denen das Öl in die Adern seiner unersättlichen Siobhan gepumpt wurde.

»Olek, es geht los!« Das ist Dmitri. Oder besser: der Captain.

In dem Dunst sieht man ja kaum seine eigene Hand vor Augen. Olek flucht und versucht die Leute vom Zoll zu zählen, die aus dem Nebel auftauchen und sich der Siobhan nähern.

Verdammte Scheiße.

»Wenn ich nichts sehe, siehst du erst recht nichts«, murmelt er in Richtung Brücke, nach oben. Sekundenbruchteile später beginnt sein Walkie-Talkie zu knistern.

»Olek!«

Ja doch.

»Wie viele sind es heute, Olek?«, knarrt es, und Olek kann die Worte mitsprechen, so oft hat er sie gehört. Er und Dmitri, sie sind wie ein altes Ehepaar. Seit sechs Jahren fahren sie miteinander auf der Siobhan über die Meere, mehr schlecht als recht am Leben erhalten von Collins, dem irischen Reeder.

Er und Dmitri, na ja, sie sind die beiden Alten. So ist es doch. Ü 40 oder wie heißen diese Partys, die sie im Itaka Club daheim in Odessa veranstalten? Die Filipinos fahren so lange, bis sie heiraten, dann bauen die sich von der Heuer ein schönes Häuschen am Strand und werden sesshaft. Und die Offiziere werden auch immer jünger. Frisch von der Akademie in Odessa, St. Petersburg oder sonst woher.

Der schrille Piepton lenkt ihn beim Zählen ab. Mit den zwei Bordkränen hievt die Siobhan immer noch Container in ihren offenen Schlund. Der Zweite Offizier springt da mit rum und überwacht das Laden, anstrengend. Rauf und runter zwischen den Containern. Nicht ungefährlich. Der einzige Sport, den du machen kannst hier an Bord. Und die Treppen, na klar, zigmal am Tag. Auf den großen Tankern fährt die Mannschaft Fahrrad und macht Jogging auf Deck. Nicht bei uns. Jeder Zentimeter für die Container. Da kommst du links und rechts nur vorbei, wenn der Bauch nicht zu fett ist.

Mann, wie viel Ladung denn noch? Werden wir jemals ablegen? Das denkt er immer, und doch ist irgendwann Schluss, oft mitten in der Nacht. Endlich der Moment für Dmitris Lieblingsfrage: »Wäre der Chief Engineer wohl so freundlich, die Maschinen zu starten?«

Die Stunde des Chiefs, sie kommt immer.

Sie fahren wieder Leergut heute. Volle Container nach Afrika und leere zurück nach Europa. Algerien konsumiert. Export gleich null, nur Gas und Öl, davon leben die hier. Demokratische Volksrepublik Algerien, rein flächenmäßig größtes Land des afrikanischen Kontinents. Im Norden Algeriens lebt der Hauptteil der Bevölkerung, dort ist auch das Atlasgebirge. Der deutlich größere Süden ist fast unbesiedelt und wird von den Wüstenregionen der Sahara dominiert. Unter dem Sand liegt das Gas.

Wenigstens hauen die sich zurzeit nicht tot. Algier und Oran sind die letzten nordafrikanischen Häfen, die ihnen bleiben mit ihren Feederfahrten. Tunis und Casablanca, Tanger, da gehen die Großen rein. Libyen versinkt im Chaos. Syrien im Krieg. Und in Beirut ist letztes Jahr eine Rakete in die Ladung der Siobhan gekracht. Haarscharf war das, ganz knapp vorbei an der großen Katastrophe.

Und Europa? Die andere Seite. 2008 die Krise, dann der Dominoeffekt, einmal quer über den Kontinent. Ob er zukünftig Bürger der EU werden möchte, so sicher ist sich Olek da nicht. Im Prinzip war er immer dafür, sich mehr an Russland zu halten. Sein Fehler.

Die Algerier sind da. »Acht«, nuschelt er ins Funkgerät. Es können auch neun sein, die jetzt das Fallreep hochkommen, oder sieben. Dmitri hat Angst, dass sie wieder einen blinden Passagier aufgabeln. In Nordafrika kann man nie wissen, die kommen sogar als Zollbeamte verkleidet an Bord. Und die echten Zöllner sitzen schön an Land und zählen ihr Geld. Und dann, wenn du auf hoher See bist, steht plötzlich einer vor dir, den du noch nie gesehen hast. »Europa«, sagt der. Und Dmitri ruft den Reeder an. Und der rechnet aus, was es kostet, den wieder loszuwerden. Wenn du überhaupt einen europäischen Hafen findest, wo du ihn an Land setzen kannst.

»Salam aleikum«, murmeln die Algerier und drücken sich an ihm vorbei.

»Neun sind es, Olek, neun. Kannst du nicht zählen oder bist du besoffen?«, bellt das Gerät an seinem Gürtel.

Olek nickt. Dann sind es eben neun.

»Brüderchen, nimm das nicht auf die leichte Schulter. Collins kennt kein Pardon. Das dauert keine drei Tage, und wir sitzen im Flieger nach Hause. Und dann, Olek? Was machen wir dann?«

Olek nickt. Er hat ja recht, Captain Dmitri.

Der große Kapitän. Immer in Uniform. Immer gestriegelt. Die Offiziere vergöttern ihn. Vaterersatz für die Filipinos von der Crew. Ein Mann, zu dem man aufsehen kann. Dmitri kümmert es nicht, ob er den ältesten Kahn von Collins’ Flotte unter seinem Kommando hat. Hauptsache Captain.

Egal wie stressig es heutzutage ist, dem geht die Seefahrt über alles. In jedem Hafen an Land, wenn sie nur lange genug vor Anker liegen. Kaffeetrinken mit dem Charterer, Geschenke für die Mannschaft. Gestern wieder, ein Vers aus dem Koran, eingerahmt in Gold, für die Crewmesse, die auch Besprechungszimmer ist. Arabische Besucher, klar, die sollen sich auch wohl fühlen. Also gibt’s Koran für die und die eingerahmte Madonna für die Filipinos. Für jeden was dabei, genau wie beim Essen. Dmitri hat über die Crewing Agentur in Zypern einen Koch aufgetrieben, der kann buchstäblich alles. Halal, koscher, Asia. Der kocht dich einmal um die Welt, wenn du willst. Macht besseren Borschtsch als Oleks Mutter.

»Geh doch auch mal an Land!« Dmitri kann wirklich nerven. Der hat was Missionarisches. »Gönn dir ein bisschen Ablenkung, Chief.«

Ablenkung. So viel Zeit möchte Olek mal haben. Morgen früh müssen sie in Cartagena sein. Zeit ist Geld! Das Geld von Collins natürlich, nicht ihrs. Wenn Olek Ablenkung will, findet er die auf Wikipedia und Vesselfinder.

Motorengeräusch dringt durch den Nebel. Nicht schlecht, das dürften ein paar Pferdestärken mehr sein. Olek tritt neugierig auf die Gangway, öffnet die Foto-App auf seinem Handy. Immer bereit.

Hinter der Siobhan kommt die Küstenwache in Sicht, knallt mit Volldampf an die Mole und macht fest. Das Handy verschwindet in der Tasche. Die algerischen Behörden verstehen keinen Spaß, wenn man auf dem Hafengelände Fotos macht. Nationale Sicherheit. Olek sieht zu, wie ein nasses Bündel an Land fliegt.

Oje. Dem kann keiner mehr helfen.

Er bekreuzigt sich.

Ein Toter.

Keine gute Nacht heute.

Spirit of Europe | Brücke

Léon Moret

»Titanic-Alarm!« Er weiß, dass die tiefe Stimme sein Kapital ist. Erster Offizier auf der Spirit of Europe, mit sechsundzwanzig. Das drittgrößte Kreuzfahrtschiff der Welt! Er klingt älter, das ist es. Sie machen andauernd Leadership-Seminare an Bord, Ansage aus Miami, obligatorisch für alle Führungskräfte. Da wird man in Typen eingeteilt: Analyser, Harmonizer, Show Runner, Neophyte und was noch alles. Léon ist ein Analyser-Typ. Analysiert erst die Fakten und handelt dann.

Der Zweite vom Dienst ist schon auf dem Weg zum Suchscheinwerfer. Ein lautloser Schatten vor den Panoramascheiben auf der Brücke. Seine Schritte geschluckt vom dicken blauen Teppich. Alles ist blau hier oben. Die Brücke ist Léons lieu de prédilection, seine Spielwiese. Würde man ihn fragen, wo er mal sterben möchte, dann würde er ohne zu zögern antworten: »Hier oben.«

Solche Gedanken kommen dir auf der Brücke. Allein im Dunkeln, die Augen brennend vom stundenlangen Starren in die schwarze See. Unter dir fünftausend schlafende Menschen. Auf dieser Fahrt genau dreitausendsiebenhundertachtundsiebzig Passagiere und eintausendzweihundertneunundfünfzig Crewmitglieder. Ihrer aller Schicksal in deinen Händen, in den Händen eines Mannes von sechsundzwanzig. Das ist wie ein Rausch, Alter. Du kannst die Macht fühlen, mit jeder Faser deines Körpers. Voll jedimäßig ist das. Nachtwache zwischen zwölf und vier. Sieben Tage die Woche.

Die Tagschicht ist dagegen langweilig, da liegen sie eigentlich immer im Hafen, außer an den Seetagen. Morgen ist wieder einer. Kreuz und quer über das Mittelmeer, damit die Gäste in der Sonne liegen können und wir die Zeit rumbringen bis Palma de Mallorca. Zehn Wochen lang Dienst, dann zehn Wochen frei. Wenn Léon frei hat, zieht er runter zu Mado auf Deck 1.

Seine Frau hat einen anderen Vertrag, sie muss länger an Bord bleiben. Guest Reception Manager ist sie, arbeitet front of house, jeden Tag von morgens bis abends mit den Gästen. Das würde ihm wirklich Angst machen. Viel mehr als die Verantwortung hier oben. Aber Mado ist ein wundervolles Sozialgenie. Um zusammen zu sein, cruisen und arbeiten sie abwechselnd, ihr Leben spielt sich auf der Europe ab. Ist nicht das Schlechteste, echt nicht. Eine Kleinstadt, in der Leute aus mehr als fünfzig Nationen friedlich zusammenleben. Jeden Abend Party. Welches Zuhause wo auf der Welt kann da mithalten? Genau, keins.

Léon zwinkert ein paarmal. Er darf nicht zu lange in die Taschenlampen-Apps sehen, die zwei da vorne am Bug tanzen im Licht ihrer Handys. Der grelle Schein wird durch den Nebel noch verstärkt. Der Quartermaster, ein Kroate, hat sich mit seinem Fernglas nach Backbord verzogen. Das Mädchen mit dem Glitzermini kommt Léon vage bekannt vor. Sie breitet die Arme aus. Der Junge stellt sich ganz nah hinter sie. Ihre langen Haare im Wind. Machen sich bereit für das Selfie. Eins, zwei –

In dem Moment wirft Kiyan, der Zweite, den Suchscheinwerfer an. Die beiden stolpern rückwärts vor Schreck, und Léon lacht laut auf. Sanft geleitet Kiyan sie mit seinem Spot zurück auf das Seitendeck. Léon entspannt sich. Wenn die Dunkelheit zu lange unterbrochen wird, brauchen seine Augen ewig, um sich wieder darauf einzustellen. So ist das hier. Alles homemade. No substitutes. Der Kapitän der Spirit of Europe ist ein Mann der alten Schule, der hat noch Schiffe mit dem Rad gesteuert, nicht mit dem Joystick. Auch wenn er nicht oft auf der Brücke zu sehen ist, weil er ständig im Büro hocken und mit dem Headquarter in Miami telefonieren muss. Wenn du dich nur auf deine Instrumente verlässt, geh zur Luftfahrt, ist sein Motto. Deswegen ist es hier so stockfinster. Ein paar Kontrolllampen auf der Konsole flackern ihr leises Leuchten. Kiyan hat seine Monitore hinter dem Vorhang, Logbuch und Radar. Léon und der Quartermaster haben nur Rotlicht für Notfälle, sogar auf dem Klo.

»Die sind weg«, murmelt Kiyan mit seiner leisen Stimme.

»Go fuck your brains off«, setzt Léon hinzu.

Der Kroate lacht ihm eine Nummer zu laut. Plötzlich reißt er das Fernglas hoch. »Verflucht, da kommt einer!«

Léon fühlt den Adrenalinschub und springt auf. Sie stecken immer noch in der Nebelbank, verdammt. Seit Gibraltar eine einzige Suppe. Yellow condition. Sichtweite unter hundert Meter. »Kiyan, ruf den Alten an.«

Kiyan wählt schon. Léon joggt kurz rüber nach Backbord, mehr weil er Bewegung braucht. Der Kroate, wie heißt der eigentlich, der ist neu, deutet nach draußen. »Eben war er da.« Jetzt ist die Wand wieder dicht, tutto completto.

Léon sprintet zurück und schaltet das Elefantenohr an. Das Rauschen von Wind und Meer trifft seine Trommelfelle wie ein Schlag. Da ist was, ja. Maschinen.

»Kiyan?«

Kiyan kommt zu ihm, Daumen hoch. Autorisierung vom Kapitän ist erfolgt. Léon drückt den Knopf.

Das Nebelhorn ertönt.

Der Klang breitet sich aus wie ein Atompilz, mächtig und alles mit sich reißend. Léon drosselt die Geschwindigkeit und starrt weiter in die Nacht. Wenn die fünftausend unter ihm wüssten, wie verflucht voll dieses Meer ist. Wie viele Beinah-Unfälle es gibt. Eine scheiß Autobahn ist das hier.

Von der Backbordseite schiebt sich ein dunkler Schemen in sein Blickfeld. Der Frachter schneidet ihren Weg. Die haben ihn ganz genau gesehen, die Europe leuchtet nachts wie ein Weihnachtsbaum.

»Siobhan, Irland«, hört er Kiyans Stimme. »Frachter. Soll ich sie anfunken?«

Ach was. Léon stellt sich ganz nah an die Panoramafenster. Die haben es verdammt eilig. Sitzen da mit höchstens fünfzehn Mann auf dem rostigen alten Kahn, bis zum Rand voll mit Containern. Können einem leidtun, die armen Schweine. Léon korrigiert den Kurs und das mächtige Schiff unterwirft sich seinem Willen, nicht ohne ein leichtes Bocken.

Was willst du von mir, kleiner Mensch?

Doch Léon weiß: Die Macht ist mit ihm.