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für Marius

 Es gibt Steine wie Seelen, die sind hingeworfen auf den Straßen. Aber wenn einst die neuen Häuser gebaut werden, dann fügt man ihnen die heiligen Steine ein. 

 (Nachman von Bratslav) 

1. TEIL

I

DER POLNISCHE HAUSMEISTER

Jerzy, der polnische Hausmeister in unsrem Block, ist einundachtzig Jahre alt.

Ein Hutzelhomunkel, nicht eben zwangsjackenhacke, doch eigenstartig bis skurrilst. Jedes Weibswesen, welchen Alters einerlei, spricht er mit »Gneidiges Froilein, wie scheen Sie sein!« an und bezirzt/beschleimt es, als stünde sein Mittelleib noch in vollem Saft und Wuchs. Manchmal holt er aus der Hose etwas hervor, das, denn Jerzy weiß um präzise Grenzen, in seiner Faust versteckt bleibt. Es ist mehr als Witz gemeint denn als Bedrohung oder Angebot. Wenn er über den Hof schlurft und seine fleckigen Hände zittern, könnte man Mitleid bekommen – oder in Verstimmtheit geraten über die hier deplazierte Lethargie des Todes, die einen wie ihn nicht erlösen will. Indes – der Flinkflug seiner Zunge erstaunt, er zäumt sie auf ihren verwegenen Ausritten mit Komplimenten und erotischen Avancen, die an sich peinlich wirken mögen. Von einem reiferen, gnädigeren Standpunkt aus betrachtet, der die Welt und ihre Insassen gründlicher kennengelernt hat und um die Vergänglichkeit allen eitlen Treibens weiß, kann man ihm etwas Drolliges abgewinnen. Und wie als überraschende Pointe, die einen schlechten Witz in eine formidable Anekdote verwandelt, führte er dem Block eines Tages seine Freundin vor. Sie sah ungefähr zwanzig Jahre jünger aus als er, war blond, leicht fettig, in einem preußischblauen Jogginganzug, doch insgesamt – für seine Verhältnisse – durchaus vorzeigbar. Sie küßten einander im Hinterhof, sie schmusten unter der Kastanie. Daß Jerzy dabei jodelte und seltsam eselshafte Brunftlaute ausstieß, solch maskulines Overstatement verwässerte ein wenig seinen Triumph, der still genossen um einiges mehr beeindruckt hätte. Vorgestern dann wurde Jerzy angezeigt, von einer jungen neuseeländischen Touristin, die im Hinterhaus, erster Aufgang zweiter Stock, eine Wohnung (eine heimlich betriebene, nicht als solche deklarierte Ferienwohnung) gemietet hat. Sie fühlte sich »sexually offended« vom Inhalt seiner Faust, den sie als »not completely erected penis« beschrieb, welchen sie jedoch deutlich auf sich gerichtet empfand. Jerzy wurde keine Stunde später abgeholt und in die Psychiatrie verfrachtet. Er war damit zuerst nicht einverstanden, seine Schreie hallten über den Hof, aber die Polizisten setzten eine provisorische Unterschrift auf eine Einverständniserklärung, drohten mit der Alternative des Untersuchungsgefängnisses, warben mit einer kostenlosen ärztlichen Untersuchung und priesen das warme Essen, das er dort zweimal täglich erhalten würde. Die optische Problematik der Festnahme eines Überachtzigjährigen schien selbst den Staatsbeamten recht wohl bewußt, auf der anderen Hand lagen mögliche Schicksale von Frauen, denen von Jerzys Gemächtle Traumata drohten. Die Situation erforderte Fein-, ja Fingerspitzengefühl, zumal Jerzy den ihm gemachten Vorwurf strikt bestritt. Seine Faust sei weder offensiv gemeint noch genital gefüllt gewesen. Ein leeres Versprechen also. Wie auch immer. Die Vollzugskräfte der Staatsgewalt nahmen ihn in Gewahrsam, und im Karree, ganz ehrlich gesagt, begrenzte sich der Proteststurm auf ein paar höfliche Widerworte. Zu oft waren in jüngster Vergangenheit aus dem Hinterhof Fahrräder verschwunden, sogar teure und schwer angekettete – und irgendwer mußte ja nächtens dem Diebsgesindel die Pforte geöffnet haben. Jerzy war durch seine Herkunft in der Pole-position der üblichen Verdächtigen. Entschuldigen Sie das Wortspiel, aber ich bin etwas betrunken, und so schlecht ist es gar nicht. Ich bemühe auch kein Klischee, ich habe mich erkundigt. Es gibt polnische Diebe. Viele im Block atmeten insgeheim durch, nachdem Jerzy unsrer Mitte entrissen war.

Es ist jetzt drei Uhr morgens. Ich ersinne soeben für meine neueste Oper eine Passacaglia, nichts, was man eben mal so hinspritzen kann. Vom Hof her stört mich Gebrüll. Es hört und hört nicht auf. Es ist weibliches, spitzes Gebrüll. Und hört und hört nicht auf. Ich gehe zum Fenster, das erschrickt, weil ich es öffne. Nach so langer Zeit wieder einmal. Frischluft dringt in mein Zimmer. Im Hof steht die preußischblaue Blonde. Und hört und hört nicht auf. Sie hält eine Taschenlampe in der linken Hand, mit der rechten vollführt sie Attacken wider den eigenen Kopf, greifvogelgleich, reißt sich Haare aus und zetert. Ihr Zorn richtet sich auf den zweiten Stock, auf die Wohnung mit Neuseeländerin. Der hat sie aber mordswas zu sagen. Runterkommen soll sie, die Lügnerin, die Verleumderin, die Feministin, runterkommen und von Frau zu Frau reden, die Feiglingin, Lügenbaroneß, Schweinebackenkackbratze.

Ich sehe aus dem Fenster und luge schräg nach oben, in den zweiten Stock. Es brennt dort Licht, aber die Fenster sind geschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Die junge Frau vom anderen Weltende ist anscheinend nicht willens, der Einladung zu folgen, sie hat bestimmt Angst, verständliche Angst, denn die Preußischblaue schlägt ihr eine Mastdarmspiegelung ohne medizinisches Gerät vor und allerlei, was in eine ähnliche Richtung weist.

Was bedeutet, es muß nun wer die Polizei anrufen, und wer ruft schon gern die Polizei an, aber sonst hört und hört das nicht auf, also wird jemand die Polizei anrufen, es ist nicht mehr wie früher, als niemand in diesem Viertel die Polizei angerufen hätte, solange nicht mindestens eine Blutpfütze – und ich, ich hocke im ersten Stock zwischen Preußischblau und Lügenbaroneß und möchte eine Passacaglia schreiben, und ich hätte ja ein Luftgewehr, aber vielleicht muß es nicht zum Äußersten kommen, es würde vollauf genügen, die paar Schritte nach unten zu laufen und die Heulboje bewußtlos zu schlagen mit einem einzigen Kinnhaken, oder mit dem Feuerhaken, das wäre noch versprecherischer. Oder doch die Polizei? Sonst hört und hört das nicht auf. Vielleicht wirft man die Preußischblaue zu ihrem Jerzy in die Zelle. In die überall gepolsterte Zelle.

Plötzlich rattert eine Jalousie nach oben, in der Tonleiter etwa vom eingestrichenen g rauf zum fis ‘‘, ein Fenster öffnet sich, ein Eimer ist zu sehen, ein voller Eimer, dann Wasser, oder wenigstens etwas Flüssiges im freien Flug, dann ein leerer Eimer, dann eine triefendnasse, wild mit den Armen wedelnde Preußischblaue, all das ist zu sehen in weniger als vier Sekunden. Phantastisch. So geht’s auch.

Die hinterhöfischen Beifallskundgebungen, das Klatschen, die Woo-Hoo!-Rufe, die Bravi und Da-Capos – müßte man erfinden, denn natürlich unterstützt hier niemand eine Touristin. Alle haben ihr Schnäuzelchen gestrichen voll von dem Rollkofferpack. Bis auf den Hundsfott, der die Wohnung schräg über mir illegal an Touris vermietet und am Tag achtzig schwarze Euro kassiert. Dem geht bestimmt die Düse, so aufgeflogen wie er ist. Es klingelt.

Draußen steht die Preußischblaue. Sie sei naß, ansonsten April. Ob sie mein Bad benutzen dürfe, meine Dusche, das heiße Wasser meiner Dusche, ob ich vielleicht leihweise ein paar Gegenstände für sie hätte, Kleidungsgegenstände wie Jogginghose und ein paar T-Shirts, die bringe sie mir dann am nächsten Tag gewaschen zurück, sonst müsse sie jetzt hinaus in die kühle, frostvolle Nacht, ach, sie würde so gern dem Aas aus Neuseeland die Tür eintreten und dann die Bauchdecke und dann die Nase und dann, aber, Problem sei ja die Justiz, und ob ich nicht zugunsten Jerzys aussagen möchte, daß er sich nie exi, exibitzi, also aufgedrängt hat mit Minimäxchen in der Hand. Ja, sage ich, hier ist das Bad, und gern gebe ich zu Protokoll, der alte Jerzy habe mir nie, also nicht so genau, seinen Restbestand gezeigt, alles, auch heißes Wasser, aber im Gegenzug solle, wie sie eigentlich heiße? Tamara. Im Gegenzug solle Tamara ehrlich zu mir sein und zugeben, daß Jer-zy die Fahrräder geklaut hat. Ja, das schon.

Ich wechsle wieder die Erzählzeit, von nun an Präteritum, denn seit dieser Nacht, die eben noch so gegenwärtig erschien, auch mir selbst, sind fast acht Monate vergangen. Ich hätte mir eine andere Genesis ausdenken können, keine Frage, eine noblere und plausiblere Geschichte, in der Personen des gesellschaftlichen Unterbaus, wie Jerzy oder Tamara, keinen Platz gehabt hätten. Doch das Leben ist verrückt, und ich möchte der Letzte sein, der alldem nachträglich einen Plan, einen tieferen Sinn überstülpt. Das tun schon andere. Man überstülpt uns tagtäglich. Wir sind am Ende immer die Überstülpten. Das ist keine Paranoia. Wie wahrscheinlich war es denn, daß Tamara ausgerechnet jemanden wie mich traf? Manchmal gerät selbst das rationalste Denken ins Wanken, und man erwägt die Vorstellung, daß der Himmel sich allerlei derbe Späße mit uns Irdischen erlaubt. Vielleicht wissen wir eines Tages mehr.

Verzeihen Sie mir übrigens, wenn ich trinke. Das gehört sich eigentlich nicht, wenn man realistisch und objektiv Bericht erstatten will. Leider muß ich ein wenig betrunken sein, um das hier niederzuschreiben. Damit es dem Geschehen angemessener gerät. Manchmal wird es wirken, als wäre ich grade sehr betrunken, aber das ist nicht wahr. Ich halte mich im Zaum, um nichts zu übertreiben. Als das, was ich erzählen will, geschah, ja, zugegeben, da war ich manchmal sturzbetrunken. Anders hätt ich es nicht durchgestanden.

Ich bin gerne hier. Hier war alles noch erträglich.

Tamara ließ die Tür zum Bad zwei, drei Spaltbreit offen und praßte mit Lob für meine Liebenswürdigkeit.

In dieses Niveau wollte ich mich nicht hineinlassen. Meine Nacht war versaut genug.

Ein wenig ins Plaudern kamen wir doch, so von Diele zu Wanne. Was eine Passacaglia sei, wollte sie wissen, ihr Jerzy habe als junger Mann auch ein Instrument gespielt, sie habe den Namen vergessen, er könne es auch nicht mehr spielen, da seine Finger zu sehr zittern, das namenlose Instrument sei verpfändet worden, es tue ihr leid wegen der Fahrräder, das Instrument sei eine Art Blasinstrument gewesen, sie selber ganz unmusikalisch. Leider.

In Jerzys kleinem Hausmeisterkabüffchen lägen noch Noten herum, ob ich Verwendung dafür hätte? Jerzy nämlich habe keine mehr, und sie, Tamara, wolle sich unbedingt für mein Entgegenkommen mit einem Gegenentgegenkommen revanchieren. Sie trug inzwischen eine meiner ausrangierten Cordhosen und ein paar XL-T-Shirts. Auf ihre Bitte hin hatte ich eine Flasche Kochwein entkronkorkt. An Arbeit war ohnehin nicht mehr zu denken.

Sie erzählte, wo sie Jerzy zuerst begegnet war, in einem Supermarkt, wo er ihr die schwere Einkaufs-tasche tragen half, und was sie so reizend an ihm fand: Sein Ge-ständ-nis, er habe ihr die Einkaufstasche stehlen wollen, habe sich nun jedoch in deren Eigentümerin eigentümlich verliebt und bitte um Begnadigung für die geplante Missetat – mit diesen mutigen Worten habe er ihr Herz berührt. Ein eifriger Küsser und Streichler sei Jerzy, ein Knuffling, ein Gentleman – und Erektionen habe er höchstens noch zweimal im Jahr. Sie sah mich dabei an, als erwähne sie eine freie Stelle, für die ich in Frage käme. Mit einem leisen Seufzen, begleitet von einem großen Bedauern, offenbarte ich ihr, schwul zu sein.

Mehr passierte kaum. Sie ging heim, wo immer das war, und gut. Ich, etwas betrunken, schrieb noch ein, zwei Noten in meine Datei, doch sie waren nicht die richtigen, nicht diejenigen, die nötig gewesen wären, den Abend zu retten.

Den nächsten Tag verbrachte ich größtenteils im Tonstudio, wo meine Glitzernde Finsternis aufgenommen werden sollte, ein Zyklus aus fünf neoimpressionistischen Kunstliedern.

Der Tenor war hervorragend, ein junger Finne, der bald seinen internationalen und hochverdienten Durchbruch erleben würde. Am Klavier saß ich selbst, was sich als anstößige Idee entpuppte, denn ich bin ein beschissener Pianist und komponiere Sachen, die ich selber nicht adäquat zu spielen vermag. Es ging wie immer ums Geld, ich hatte die zweite Gage sparen wollen, in der Annahme, die Tricks der Technik, die ein modernes Studio zu bieten hat, würden über meine Unsicherheiten und Patzer hinweghören helfen. Natürlich war das im Prinzip auch möglich, beinahe alles ist möglich, aber die Nachbearbeitung würde eine Flickschusterei sein, würde in ein elendes Gefummel und Gepfriemel ausarten, und die dafür benötigte Studiozeit würde mich letztlich genauso teuer kommen wie ein Profipia-nist. Ich schämte mich vor der Crew und dem Finnen. Bertram, telefonisch um Hilfe gebeten, rettete mich. Bertram ist einer der Korrepetitoren an der Staatsoper, ein Hexenmeister, der praktisch alles, was menschenmöglich ist, vom Blatt spielen kann. Wir sind seit Jahren befreundet, und er schuldete mir keinen Gefallen, deshalb gab ich ihm für zwei Stunden Arbeit 500 Euro. Er hätte es auch für weniger gemacht, aber das wäre stillos gewesen, und man muß Wert darauf legen, daß Freunde, die man um Hilfe bittet, den Anlaß in guter Erinnerung behalten. Mein Kontostand war beklemmend. Sollte es mit dem Auftrag für Hamburg nichts werden, ich hatte da etwas in Aussicht, weder ganz vage noch konkret – ein furchtbarer Aggregatzustand, der einen zum Esel mit Möhre vorm Maul degradiert –, dann, ja dann … Was dann? Immer öfter suchte ich Antwort im Wein, der einem nur seine ganz eigene Wahrheit erzählt. Er gab mir Mut und Zuversicht und die Chuzpe, nachts lange Mails an Dramaturgen und Intendanten zu versenden, des ungefähren Inhalts, daß ich – und nur ich –, der Retter der Gattung zeitgenössische Oper sein werde, der Messias, der die zu Museen verkommenen Opernhäuser mit ihrem immergleichen Repertoire aus hundert abgenudelten Standardwerken in Stätten neuer gesellschaftlicher Relevanz zurückverwandeln wird, der ein junges Publikum in Bann schlägt, mit spannenden Stoffen und betörender Musik, ohne all den neutönerischen Schnickschnack, der im Grunde nicht viel anderes erreicht hat, als den Jahrtausende gültigen Vertrag zwischen Künstler und Publikum, sich gegenseitig zu unterhalten, auszuhebeln. Obwohl man das Beste im Sinn hat und die Alternative nur die völlige Marginalisierung der Oper und die Schließung vieler Häuser wäre, wird man, solches verkündend, schnell schief angesehen und als Populist beziehungsweise gar als Reaktionär eingestuft und befeindet. Wobei – soweit war ich noch gar nicht. Ich wurde weder befeindet noch sonstwie beachtet. Meist erhielt ich auf meine Mails gar keine Antwort, und wenn doch, dann eine vorsichtige, hinhaltende. Mein Gemüt war ausgefranst und müde, mein Nervenko-stüm zerfurchte Fassade. Hier und da hatte ich kleinere Arbeiten untergebracht, ein Streichquartett, zwei sechsstimmige Chorsätze, eine Suite für kleines Orchester, für ein Negligé von Honorar. Geduld war noch nie meine Stärke. Und der Liedzyklus, die Glitzernde Finsternis, bestand aus sinnlos vor die Säue hingeworfenen Perlen. Kein Schwein interessiert sich für Lieder.

Als ich aus dem Studio heim nach Kreuzberg fuhr, dachte ich über diverse Möglichkeiten eines möglichst schmerzreduzierten Selbstmords nach. Auf der Fußmatte vor meiner Wohnung lag ein Paket. Jeder Vo-r-überkommende hätte es aufheben und mitnehmen können. Es enthielt zwei T-Shirts, gewaschen und gebügelt, eine Cordhose und einen braunen Umschlag, DIN-A5. Darin eine Postkarte mit Grüßen von Tamara und einem nochmaligen Dank für meine Hilfsbereitschaft. Der Rest waren gilbfleckige, von Hand geschriebene Noten, insgesamt an die fünfzehn Seiten, auf sehr dünnem, sehr altem Papier. Die Noten wirkten wie von einem Kind – mehr gemalt als geschrieben. Offensichtlich er-ste Notizen eines Schülers, ganz simple einstimmige Tonfolgen, wahrscheinlich für ein Blasinstrument geschrieben, ohne Triolen, Ornamente, Triller oder schwierige Sprünge. Vom Tonumfang her vielleicht für eine Es-Klarinette bestimmt. Nichts In-ter-es-san-tes. Kein wundersam wiederaufgetauchtes Werk von Mozart oder Bach. Ich legte die Blätter neben den Fernseher, auf den Stapel mit den Rechnungen, und öffnete eine Flasche Amarone, auf die ich mich schon den ganzen Tag gevorfreut hatte. Aus der Stereoanlage machte sich die Glitzernde Finsternis breit. Tolle Lieder. Aber es ist das grausame Los eines jeden Komponisten, daß er nach einiger Zeit die eigene Musik nicht mehr hören kann.

Später am Abend kam überraschend Sonja, meine Freundin, zu Besuch und machte mit mir Schluß, weil sie im Netz einen neuen Mann kennengelernt hatte. Mein ständiges Gejammer darüber, nicht aufgeführt zu werden, sei ihr in den letzten Monaten auf den Keks gegangen.

Gejammer? Ich will über Sonja kein weiteres Wort verlieren, da sie es weder wert wäre noch irgendeine Rolle spielte bei dem, was nach ihr kam. Ihr Auftritt und Abgang hatte meine ohnehin poröse Befindlichkeit allerdings noch eine Spur desaströser gestaltet. Selbst den erbetenen finalen Trennungssex hat die Bestie mir verweigert.

Mein Nikotinkonsum stieg sprunghaft an. Rauchen, ohne dabei zu trinken, ist eine Medaille mit nur einer Seite – geht nicht. Kein Sex mehr. Bedeutet: Es gab auch keinen Grund mehr, mich täglich zu rasieren, zu duschen, meine Wäsche zu wechseln. Und mit der Verwahrlosung kam die Antriebslosigkeit.

Ich war erfahren genug, um zu wissen, daß ich mich nicht ins Schwert, sondern in die Arbeit hätte stürzen müssen. Oder sollte ich mit der Suche nach Sonjas Nachfolgerin beginnen? Vielleicht eher das. Doch für erotische Ablenkungen der gewerbsmäßigen Art war kein Geld vorhanden, und bei der Vorstellung, mich mit Frauen zu treffen, denen ich stundenlang Schwänke aus meinem Leben erzählen und ein positives Selbstbild vorgaukeln müsste, nur um am Ende in ihnen ein paar Milliliter destillierten Trennungsschmerz loszuwerden, beim Gedanken daran erfror ich von innen.

Kalendarisch gesehen begann – irgendwo da draußen – der Mai, während mein geistiger Gefrierbrand beängstigende Ausmaße annahm. Freunde, die mir Kredit geben konnten, gab es ein paar, doch derlei hätte nur aufschiebende Wirkung gehabt. Und darum ging es auch nicht. Es sind romantische Begriffe, die man nicht beliebig oft verwenden sollte, aber es gibt in der »Seele« eines Künstlers eine Art »heiliges Feuer«, das mindestens noch glimmen muß, damit daraus mal wieder eine Flamme wächst. Sonja hat gepißt auf – ach, ich wollte ihren Namen nicht mehr erwähnen. Im Hof, auf dem Wipfel der Kastanie, saß eine Elster, das ist auch so ein widerliches Vieh. Ihre Schreie weckten mich regelmäßig am frühen Morgen, dagegen mußte ich antrinken.

Eine Woche verging, mit Nichtstun, Tiefkühlpizza und tollen amerikanischen TV-Serien, denen ich nicht genug Dank dafür sagen kann, daß ihre Bilder mich betäubten. Danke, danke, danke! Es ist eine alte Geschichte, und doch wird sie von jeder Generation immer wie etwas unfaßbar Neues erzählt. Wo man doch spätestens mit Mitte dreißig genau weiß, was kommt. Irgendwann ist es nicht mehr ganz so schlimm. Es wird besser. Und dann kam der Anruf. Der Orchestermanager der Hamburger Kammersinfonie fragte an, ob ich noch Interesse an einem Auftrag hätte, es sei überraschend ein Programmplatz vakant geworden, für das Konzert im September. Natürlich sei das sehr kurzfri-stig, aber das Stück solle auch nur kurz sein, sieben, höchstens zehn Minuten, gesetzt für einundzwanzig Instrumente, das müsse zu schaffen sein.

»Sie«, sagte der Manager, »haben uns doch mal angeboten, eine Tondichtung zu schreiben, und wir haben ja alle erst mal gelacht und gedacht – wer ist der? Richard Strauss? Aber dann fanden wir es plötzlich reizvoll, mal ein Konzert mit zeitgenössischer Neotonalität zu machen, die anderen Programmpunkte sind Martynov und Pärt – also, das ist Ihre Chance, sind Sie dabei?«

»Und was ist mit Honorar?«

»Honorar?«

Ein irritierender Moment der Stille.

»Ich meine«, sagte ich, »gibt es Geld?«

Ein tiefes nasales Luftholen am anderen Ende der Leitung. Dann eine kurze Ansprache, halb entgeistert, halb angewidert.

»Wir zahlen Ihnen Bahnfahrt zweiter Klasse, Unterbringung in einem Dreisternehotel mit Frühstück. Wir führen Ihr Stück auf, und von mir aus dürfen Sie die Aufnahme ins Netz stellen. Am Ende gibt es einen Blumenstrauß. Was wollen Sie noch?«

Ich zögerte. Im Grunde hatte der Mann recht.

»Na, die Frage ist, zahlt ihr mir das Stimmenmaterial? Ich habe doch keinen Verlag, ich muß die Stimmen einzeln ziehen, heften und binden, dafür ist eine Leihgebühr üblich.«

»Ach so. Na ja. Gut. Was haben Sie sich denn da vorgestellt?«

»Zweitausend Euro.«

»Verehrter Herr Brandt, das kriegen Sie vielleicht bei den Philharmonikern. Wir sind ein kleines, von der Politik kaputtgespartes Ensemble, uns steht das Wasser bis Unterkante Oberlippe, Mensch!«

»Was bekommen denn Pärt und Martynov?«

»Ja nun, hoho, also, ich bitte um Entschuldigung für meine freimütige Rede, aber das sind doch wohl – ähm«, (Pause), »erfahrenere Kollegen. 1000 Euro. Mehr gibt’s nicht.«

Kurz erwog ich zu feilschen, aber ich wollte den Auftrag nicht noch gefährden. Demütigung ist immer eine relative Sache. Es war ein Auftrag, es war Geld, das mich einen Monat lang vor dem Gang zum Arbeitsamt bewahrte, es war eine Motivation, die ich noch nie so dringend benötigt hatte, und am Ende würde ich sieben bis zehn Minuten Musik in Händen halten, Musik, gespielt von einem fast schon Orchester zu nennenden Klangkorpus, Musik, die für mich werben konnte. Aufträge ziehen Folgeaufträge nach sich. So muß man das sehen.

»Ach, noch etwas!«

»Ja?«

»Was immer Sie fabrizieren – egal, wie gut es wird –, nennen Sie es bitte nicht Tondichtung, ja? Wir sind für manchen Spaß zu haben, aber lächerlich machen wir uns nicht gern.«

Mit meinem knapp hingeknurrten Naschön endete das Gespräch.

Ich hätte irgendein Intermezzo aus einer meiner Schubladenopern nehmen und ein wenig umarbeiten können. Sich selbst darf man beklauen. Kein Mensch kennt die Hamburger Kammersinfonie. Deren Konzerte werden in der Regel nicht mal im Radio ausgestrahlt. Aber ich begriff den Anruf als eine Art Rettungsanker, der mir von den Göttern, oder dem Zufall – dazwischen liegt soviel –, heruntergeworfen wurde. Ich wollte arbeiten, unbedingt.

Eine besondere Herausforderung war, daß ich ausdrücklich etwas Tonales abliefern sollte. Für den Fall, daß einem nichts einfällt, kann man ansonsten immer noch Krach generieren, solange man dem Unsinn ein wenig Struktur gibt. Solche Musik ist leicht herzustellen. Man nimmt zur Not fünfzig zeitgenössische Partituren und nimmt aus jeder vorn einen Takt und hinten einen Takt. Das sind hundert Takte, die, ein bißchen zurechtgeschüttelt und -gezupft, aneinandergereiht erstaunlicherweise immer etwas ergeben, was auf Donaueschinger Avantgardisten interessant und handwerklich gediegen wirkt. Da keiner der gestohlenen Takte irgendeinen melodischen Wiedererkennungswert aufweist, bemerkt keiner der Komponisten den Diebstahl, und wenn doch, so glaubt er, man habe ihn zitiert, und wenn er einem das vorhält, sagt man ihm, es sei selbstverständlich als Hommage gemeint gewesen.

Nicht, daß ich das schon jemals gemacht hätte. Ich besitze überhaupt keine fünfzig zeitgenössischen Partituren. Das Wissen aber, daß ich dergleichen machen könnte, wenn mein Talent sich einmal als minderwertig erweist, hat mich von jeher beruhigt.

Ich brauchte einen Titel. Wenn einem nicht sofort etwas Grandioses einfällt, nimmt man die Hölderlin-Gesamtausgabe und schlägt sie an irgendeiner Stelle auf. Gibt fast immer was her. Und wie. Ich nahm also den Ziegelstein aus dem Schrank und las in den Anmerkungen auf Seite 982: Fragment aus Hyperion: »Alles muß kommen, wie es kömmt. Alles ist gut.«

Das war gut. Programmatisch, erhaben, optimistisch, provokant.

Wenn man fleißig ist, kann man an einem Tag eine Minute Musik für kleines Orchester schreiben. Na, seien wir ehrlich: Wenn man richtig fleißig ist, also unter dem Einfluß von Drogen und Folterknechten steht, kann man auch zehn Minuten schaffen. Im Falle von Minimal music wären es noch einige mehr, weil man vieles mit einem einzigen Mausklick kopieren kann. Ich wollte noch im Mai mit Alles ist gut fertig werden, damit ich mich um eine neue Freundin kümmern konnte. Schludern wollte ich nicht.

Neotonale Musik muß sich rechtfertigen durch Melodien, die wirkungsvoller und überwältigender sind als jene der Popmusik. Und es werden noch Jahrzehnte vergehen, bis Computer die Parameter herausfinden, wie eine große, wirkungsvolle Melodie zu konstruieren ist. Das Melos ist die letzte Terra incognita auf Erden. Ein neotonaler Komponist ist also von irgendeiner Art Inspiration abhängig. Nicht jeder befindet sich gern in einem solchen Abhängigkeitsverhältnis. Manchmal verstehe ich meine Gegner, die mehr nach mathematischen Prinzipien arbeiten.

Und dann klingelte Jerzy bei mir. Man hatte ihn aus der Psychiatrie entlassen und das Strafverfahren überraschend eingestellt, wohl aus dem hauptsächlichen Grund, weil die neuseeländische Touristin heimgekehrt war und sich nicht bereit zeigte, für ein Gerichtsverfahren noch einmal die Reise nach Berlin zu unternehmen.

Jerzy wirkte sehr unruhig. Seine Lider zuckten häufiger als sonst, und seine Lippen befanden sich in einer Schieflage, die eine ausgesprochen skeptische Stimmung andeutete.

Es gehe um Tamaras Geschenk. Die Noten. Tamara hätte diese Noten nicht ohne seine Zustimmung verschenken dürfen. Warum um aller Herren Länder sie das getan habe?

»Weil ich Komponist bin«, sagte ich. »Sie dachte, ich könne das Zeug brauchen.«

»Ach? Sie sind Komponist? Na gut, das erleichtert mich ein bissele. Sie wissen, ich bin alt … Hätt ich die Noten wohl mal irgendwem geben sollen, aber bittschön wem? Das mir nie wurde gesagt. Komponist. Gut. Mag gut sein.«

Ich fragte ihn, warum er solch ein Aufhebens um diese Noten mache, die seien doch offensichtlich von einem Kind niedergeschrieben worden. Er zögerte die Antwort hinaus, dann endlich redete er, und ich glaube, es war das erste Mal, daß er jemandem davon erzählte. Ich kann mich an seinen genauen Wortlaut nicht erinnern, drum gebe ich, was er sagte, einfach in ortsüblichem Deutsch wieder ohne all die verfärbten Vokale und grammatikalischen Rochaden.

»Nein, ein Kind war das nicht. Es war, so erzählt man sich, der Rabbi Mordechai Gershon, der Großvater vom Narren Elieser Gershon in Warschau. Den hab ich aber schon nicht mehr gekannt. Ich war damals zehn Jahre alt und einer der wenigen Nichtjuden im Ghetto. Ich durfte hinein und wieder hinaus.«

»Warum?«

»Ich schmuggelte. Ich verdiente Geld mit Schmuggeleien. Ich brachte den Leuten Dinge, die sie zum Leben brauchten, und verdiente mir damit ein Zubrot. Wir waren sehr arm. Eines Tages bat man mich, etwas mitzunehmen. Ein Bündel von alten Papieren, ich sollte sie aus dem Ghetto schmuggeln und aufbewahren, ich sollte einfach nur ihre Existenz sicherstellen.«

Ich erfuhr so allerhand. Die Musik auf diesen Bögen sei sehr alt, und dieser Rabbi Rhabarber habe sie einmal abschreiben müssen, weil die Originale zerfallen seien, zerbröselt wie Schmetterlingsflügel in Kinderfingern. Mordechais Handschrift möge unsicher wirken, aber er sei, zu seiner Zeit, ein erwachsener Mann gewesen. Und seriös.

Ich kann das bestätigen. Es gibt erstaunlich viele Komponisten mit infantil-unbeholfener Handschrift.

»Die Papiere wogen praktisch nichts, und ich hab die Bögen bei mir zu Hause in den Schrank gesperrt. Der Aufstand im Ghetto ging los, und alle, denen ich sie hätte zurückgeben können, wurden von den Deutschen getötet. Vielleicht hätte ich sie einmal einem hier ansässigen Rabbi ausliefern sollen, ja, mag sein, ich hab nie die Zeit gehabt dafür. Eigentlich würde ich die Papiere nicht soo gern einem Deutschen geben, verstehen Sie? Das ist nicht persönlich. Aber nun sind Sie ja nicht nur Deutscher, sondern auch ein Komponist, sagen Sie mir: Was ist so wichtig an dieser Musik?«

»Nichts«, sagte ich. »Das ist ziemlich … unbedarft. Bedeutungslos.«

»Diese jüdischen Rabbiner waren Religiöse, wissen Sie, aber nicht dumm. Denken Sie noch einmal nach, bitte, irgendeinen Grund wird man gehabt haben, um deswegen Trara zu machen …«