Zum Gedenken

Einmal verschwindet jeder hinter dem Horizont, so wie Odysseus verschwand und Kapitän Ahab, wie Robinson und Nemo und der große Beutemacher Sir Walter Raleigh. Kein Anker hält für immer. Wünschenswert ist, ohne Groll zu verschwinden, mit den begrenzten Erfahrungen, die du auf deinem Floß gemacht hast. Hier an der Küste des Meeres hat man seine eigenen Empfindungen, das merkt man bald, und besonders dann, wenn man so bepackt ist mit seltsamem Strandgut, wie du es bist. Es gibt manches zu tun, denn auch das Meer schreibt oft genug verschlüsselt. Am Ende eines Strandgangs, da mach es wie ich: nimm dir ein Stöckchen und ritz deinen Namen in den Sand, dort, wo er feucht ist und die Welle noch hinlangt, ritz ihn ein und warte und sieh zu, wie er erlischt. Danach kannst du leicht fortgehen.

 

Siegfried Lenz
19262014

Nachrufe

Fritz J. Raddatz Ein Fremder auf Erden

Es gilt das gebrochene Wort. Erst vor wenigen Wochen habe ich mich vom Kulturjournalismus verabschiedet – und schon werde ich mir untreu. Aus Treue. Zu dem jahrzehntelangen Gefährten Siegfried Lenz. Ihm bin ich ein paar Gedanken, ein traurig-liebevolles Gedenken schuldig, weil sein Werk mich nie unberührt ließ. Sein Charakter hat es geprägt.

Am Anfang stand der Misserfolg. Da saß der 23-jährige Feuilleton-Assistent der Welt in einem »Zimmer mit Kochgelegenheit« an einem Holztisch, vor sich eine klapprige Marine-Schreibmaschine, in die hämmerte er – bei süßsaurem Linsengeruch aus der Kochecke – den Roman Es waren Habichte in der Luft. Der wurde wenig beachtet; wie der zurückhaltende Mann während seiner Lesungen bei der Gruppe 47. Er war nicht apart-somnambul wie Ingeborg Bachmann, nicht graziös wie Hans Magnus Enzensberger, nicht schon vor dem Sieg siegesgewiss wie Günter Grass. Da saß ein Mann von beharrlicher Bescheidenheit. Mit der schuf er schließlich ein Werk, das alsbald Millionen Leser in seinen Bann schlug.

Was war das Besondere an seiner Literatur? Ich habe vor langer Zeit einmal, wohl wissend, wie heikel Etikettierungen sind, die Formel »humanistischer Realismus« geprägt. Das wollte zweierlei bedeuten. Zum einen, dass hier einer, jenseits jeglicher Mätzchen, Wortgirlanden, zungenbrechender Experimente, linear erzählte; jedoch in streng gebauter Prosa von ganz eigener Musikalität. Zum anderen, dass all diese wundersamen Märchen einen Kern hatten: das Humanum.

Er hat das selber einmal (besser) formuliert: »Was sind Geschichten? Man kann sagen, zierliche Nötigungen der Wirklichkeit, Farbe zu bekennen. Man kann aber auch sagen: Versuche, die Wirklichkeit da zu verstehen, wo sie nichts preisgeben möchte.« Das klingt wie ein Programm. Doch Siegfried Lenz war nie ein Autor der Manifeste. Er war jedoch ein Künstler strenger Motivketten und gedanklich-gestalterischer Prinzipien. So wusste er, dass der Begabte ein Fremdling in der Welt bleiben muss, dass diese produktive Fremdheit – geradezu eine vom Leben abtrennende Asozialität – Voraussetzung ist für jegliches Schaffen. Wenn der Schriftsteller in die Welt eingreift, dann, um sie zu verneinen. Das Missverständnis, »der Schriftsteller muss doch«, weist er mit für ihn fast ungewohnter Schärfe zurück. Der wäre dann »ein Oberkellner der Zeitgeschichte, von dem wir erwarten, dass er alle Bestellungen prompt ausführt«.

Fast geheimnisvoll. Denn obenhin gelesen sind ja die Romane, und nicht etwa nur der Welterfolg Deutschstunde, genüsslich zu lesen, pläsierlich gar. Doch wer lesen kann, ohne die Lippen zu bewegen, muss schlechterdings spüren: Nicht nur Dorn und Zorn regieren das Schaffen dieses Romanciers, sondern ein fast erschreckendes Prinzip – der Zweifel. Siegfried Lenz verkündet keine Wahrheiten, er glaubt auch nicht an eine irgendwo aufzufindende Wahrheit. Seine Menschen irren. Da liegt das Wundersame des schrulligen Postboten aus der Deutschstunde, da bleckt sein gelegentlich wütendes Nein zu den Zuständen der Welt hervor – in großartigen Erzählungen noch des Spätwerks, in sehr genau gearbeiteten Essays, in Äußerungen gegenüber Kollegen.

Ich erinnere mich an die Veranstaltung der Hamburger Akademie der Künste zu Ehren des verstorbenen Peter Rühmkorf, auf dem Podium neben Günter Grass und Adolf Muschg saßen Fritz Raddatz und ein so leiser Siegfried Lenz, dass es gellte. Er war es, der dem toten Lyriker die genaueste Reverenz erwies, weil er begriffen hatte, wie fein gearbeitet der Hass war. Nicht zufällig zitierte Siegfried Lenz ja gerne Metternichs Wort über Heinrich Heine: »Vortrefflich, ganz vortrefflich – muss man sofort verbieten.« Tieftraurige Einsicht.

Und Traurigkeit nistet durchaus in der weit ausladenden epischen Kunst dieses Mannes, dem Trompetentöne eigentlich fremd waren, der aber doch einer präzisen Definition von Kunst fähig war. Als es in einem Gespräch mit Manès Sperber um seinen Roman Heimatmuseum ging, verteidigte Lenz seinen essayistischen Trotz als genuinen Bestandteil der Prosa: »Wenn Sie also glauben, dass Heimat eine Erfindung hochtragender Beschränktheit ist, dann möchte ich Ihnen aus meiner Erfahrung sagen, sie ist weit eher eine Erfindung der Melancholie.«

Zweifel also. Der ist aber nicht Skepsis. Siegfried Lenz hatte sich stets einen Hoffnungshorizont aufgespannt. »Dennoch die Schwerter halten …«, heißt das bei Gottfried Benn. Es ist die Hoffnung, die uns jeder Künstler schenkt, weil er sie hegt – die Hoffnung darauf, die Schwärze der Welt ein wenig licht machen zu können. Und uns Liebe zu lehren, Vergebung auch.

Romane wie Das Feuerschiff oder Stadtgespräch halten diese Flamme in unser Leben. Und weil sie unserer Verzagtheit die Finsternis nehmen, sind bis hin zu den erwähnten späten Erzählungen die Texte von Siegfried Lenz auch Trostbücher. Das wird ihren Erfolg bei so vielen Lesern ausgemacht haben. So war seine Literatur, so war der Mann.

Ein Abend mit Siegfried Lenz hatte immer auch etwas Tröstliches, er nahm Kummer gleichsam von den Schultern und lud ihn sich auf. Freundlichkeit soll aber nicht mit Nettigkeit verwechselt werden. Weder im Schreiben noch im persönlichen Umgang verstand sich Siegfried Lenz als gütiger Beichtvater. Sehr spitz konnte er deklarieren, dass »Sartre in seinen politisch-philosophischen Dramen« sein Vorbild sei; und ziemlich emphatisch bekannte er, »mein Anspruch an den Schriftsteller besteht nicht darin, dass er, verschont von der Welt, mit einer Schere schöne Dinge aus Silberpapier schneidet«; vielmehr hoffe er, »dass er mit dem Mittel der Sprache den Augenblicken unserer Verzweiflung und den Augenblicken eines schwierigen Glücks Widerhall verschafft«.

Wahrlich, es ist ihm gelungen. Bitter ist der Abschied von diesem Schriftsteller. Doch den Span vom Glücksbaum, den er uns in die Hand gab – den werden wir ihm nicht vergessen.

Thomas Steinfeld Im Wort

Selten sind die Pfeifenraucher geworden. Nur dann und wann noch sieht man einen älteren Herrn (von einem jüngeren ganz zu schweigen), wie er ein hohles Stück Holz mit Bedacht stopft, wie er den Tabak anzündet, sodass er auf der ganzen Fläche glüht, wie er sich schließlich in eine Wolke hüllt, die langsam nach oben davonzieht. Helmut Schmidt konnte früher so rauchen, oder auch Uwe Johnson. Eine Pfeife zu rauchen war, so schien es, eine ebenso umständliche wie vertrauensbildende Maßnahme, weil diese Art des Genießens Muße und Hingabe verlangt, weil sie, buchstäblich, den Raum füllt, weil sie ihren Raucher für eine gar nicht so kurze Zeit von den anstrengenderen Formen des gesellschaftlichen Lebens ausnimmt. Und weil der Raucher während dieser langen Minuten zuhören kann. Oder erzählen.

Ein Bild von einem Erzähler war Siegfried Lenz immer gewesen. Und nicht nur das: Ein richtiger, leibhaftiger Erzähler war er, und während der Rauch aufstieg (so stellt es sich sein Leser vor), entstanden Menschen und Landschaften, wurden Geschichten gesponnen und die Kleinbahn Popp erfunden.

Siegfried Lenz war, in den Augen des Publikums mehr als in denen der Kritik (die, so Hans Mayer oder Walther Killy, gelegentlich sehr unfreundlich mit ihm umging), einer der großen deutschen Erzähler nach dem Zweiten Weltkrieg. Einer vom gleichen Rang wie Günter Grass (auch er ein Pfeifenraucher, allerdings nicht von der leise schmauchenden, sondern von der vulkanischen Sorte) und Martin Walser. Lenz war lange Zeit genauso erfolgreich, nur behaglicher, bescheidener, freundlicher und nicht so reizbar. Nie löste er eine Debatte aus, nie geriet er ins Gerede, und wenn es in den vergangenen Jahren noch stiller um ihn geworden war, liegt das auch an seinem freundlichen Verhältnis zum Rest der Welt. Sein Publikum liebte ihn auch deswegen: Er nahm keinen Abschied. Eher schon glitt er langsam aus dem Blickfeld.

Merkwürdigerweise war es immer schon so gewesen, dass so vieles an ihm vorbeizog, seitdem er im März 1926 im ostpreußischen Lyck geboren worden war – an einem See, denn er »fischte für sein Leben gern«. Seitdem er kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, nein, nach der Kapitulation, in Dänemark desertiert war. Und auch die (wohl unfreiwillige) Mitgliedschaft in der NSDAP ging, ein Schatten nur, an ihm vorbei. »Meine Heimat«, so heißt es im Nachwort der Schelmengeschichten So zärtlich war Suleyken, dem ersten, 1955 erschienenen großen Erfolg von Siegfried Lenz, »lag sozusagen im Rücken der Geschichte (…), was hier (…) gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft.«

Das Angeln war, neben dem Pfeifenrauchen, die andere Tätigkeit, die unmittelbar zu Siegfried Lenz gehörte. Wenn er, in der zweiten Verfilmung seiner Erzählung Das Feuerschiff (1960), in einer kleinen Nebenrolle sich selbst als Angler spielte, dann war das keine ironische Anspielung, sondern deutlichste Selbstauskunft. Mit dem Rauchen gemeinsam hat das Angeln, dass es eine meditative Tätigkeit sein kann – und für Siegfried Lenz sicherlich war. Beschrieben hat Siegfried Lenz diesen beruhigten Lebenszustand in seinem Text Der vollkommene Angler, halb Essay, halb Erzählung, aus dem Jahr 1958.

Man stellt sich vor, dass Siegfried Lenz seine Geschichten so schrieb, als ob er eine Idee ins Wasser warf, als wäre sie ein Blinker, und dass dann plötzlich eine Erzählung daran hing oder sogar ein ganzer Roman.

Wenn die ebenen, bäuerlichen Landschaften des deutschen Nordens gelobt werden sollen, muss der Himmel für die Dramatik herhalten, die anderswo durch Berge und Täler, Wälder und Flüsse entsteht. Das klare Licht, das Ziehen der Wolken, der weißen und der grauen und der schwarzen, die schiere Größe der gesamten Anlage lässt dann den Menschen schrumpfen, bis er zu einem fernen Strich in der Landschaft wird, kleiner und feiner noch als die Pappel oder die Weide, die hinter dem Wassergraben am Horizont steht und ihre dünnen, kahlen Äste in den Himmel streckt.