Über Jaron Lanier

Foto: 2013, Insightfoto.com

Jaron Lanier, 1960 in New York geboren, ist Computerwissenschaftler, Unternehmer, Schriftsteller und Musiker. Er hat den Begriff der »virtuellen Realität« erfunden, gehört als einer der Pioniere in der Entwicklung des Internets zu den wichtigsten Konstrukteuren der digitalen Welt, lehrt an der University of California in Berkeley und arbeitet als Forscher für Microsoft Research. Die Encyclopaedia Britannica nennt ihn als einen der 300 wichtigsten Erfinder der Geschichte. Zuletzt erschien von ihm Wem gehört die Zukunft? (2013, deutsch 2014) das mit dem Goldsmith Book Prize der Harvard University ausgezeichnet wurde. 2014 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Fußnoten

1

Oud: arabische Laute (Anm. d. Übers.).

2

Elektronisches Musikinstrument, erfunden 1920, das durch bloße Handbewegungen in einem elektromagnetischen Feld Klänge erzeugt (A.d.Ü.).

3

Wohnmobil (A.d.Ü.).

4

Das »Moore’sche Gesetz« besagt, dass sich die Rechenleistung von Computern regelmäßig (man spricht von achtzehn oder auch von vierundzwanzig Monaten) verdoppelt (A.d.Ü.).

5

Messeinheiten zur Erfassung von Beschleunigungen und Drehraten vor allem in der Flugnavigation (A.d.Ü.).

6

Auch Mittelsmann- oder Janus-Angriff; Angriff auf ein Rechnernetz, bei dem der Angreifer Informationen nach Belieben einsehen und sogar manipulieren kann. »Man in the middle«, weil der Angreifer beiden Seiten vortäuscht, das jeweilige Gegenüber zu sein (A.d.Ü.).

7

Beschreibt die Reaktion des Menschen auf menschenähnliche künstliche Figuren; dabei kommt es zu dem paradoxen Effekt, dass der Betrachter umso ablehnender reagiert, je menschenähnlicher die Figur wirkt (A.d.Ü.).

8

Eyematic Interfaces befasste sich mit der Frage, wie Computer Bilder verstehen (A.d.Ü.).

9

Ein Gedankenexperiment, das von einem Forums-Beiträger namens »Roko« vorgeschlagen wurde. Es stellt die Überlegung an, dass eine zukünftige, im Wesentlichen »gutartige« künstliche Intelligenz (KI) die künstlichen Kopien von Menschen bestraft, die nicht geholfen haben, sie, die KI, hervorzubringen. Das tut sie, damit die Menschen, die jetzt dieses Gedankenexperiment anstellen, ebendies tun – helfen, die KI hervorzubringen, da sie das Ende aller Sorgen und Nöte der Menschen bedeuten würde (A.d.Ü.).

10

Smalltalk ist eine Programmiersprache, die die Entwicklung vieler späterer Programmiersprachen beeinflusst hat (A.d.Ü.).

11

Ein konzeptioneller Vorläufer heutiger Laptops, Notebooks und Tablet-PCs, den Alan Kay 1968 entwickelte, der aber nie gebaut wurde (A.d.Ü.).

12

Die Arbeit an diesem Buch wurde nicht beendet, es ist nicht erschienen (A.d.Ü).

13

Satirische Novelle von Edwin Abbott Abbott: Flatland. A Romance of Many Dimensions, London 1884.

14

Transmission Control Protocol / Internet Protocol ist eine Familie von Netzwerkprotokollen (A.d.Ü).

15

Der englische Begriff »commons« beinhaltet auch den historischen Begriff der »Allmende«, also eine von allen genutzte landwirtschaftliche Fläche (A.d.Ü.).

16

Whole Earth ’Lectronic Link: die älteste Online-Community der Welt (A.d.Ü.).

17

Special Interest Group on Graphics and Interactive Techniques: eine Themengruppe der Association for Computing Machinery, die sich mit Computergrafik beschäftigt. Eine Tagungsrunde desselben Namens findet seit 1974 jährlich in den USA statt.

18

In Turings eigenen Worten klingt die Beschreibung anders, aber so wird der Turing-Test allgemein gelehrt, und mich interessiert er vor allem als Legende.

19

Ich versuche, das Wort »Bewusstsein« zu vermeiden, weil es von Materialisten in Beschlag genommen wurde und heute einen spezifischen Teil eines Computers bezeichnet, der einen anderen Teil nachbildet und Kontrolle ausüben kann.

20

In »Karma Vertigo«. Siehe in diesem Buch S. 213.

21

Die Angst vor dem Tod war eine der größten Antriebskräfte in der Geschichte des Denkens und bei der Entwicklung der Zivilisation, doch ihre Bedeutung wird zu wenig erkannt. Das großartige Buch zum Thema Dynamik des Todes: The Denial of Death von Ernest Becker (1973; Die Überwindung der Todesfurcht, 1976) verdient es, wieder gelesen zu werden. Trotz des Niedergangs der Psychoanalyse ist das Buch erstaunlich aktuell.

22

Der Bildschirm ist im Jahr 1997 die gebräuchlichste Display-Form, aber zweifellos wird jedes anspruchsvolle Brainorama eine Virtual-Reality-Schnittstelle haben, sodass man in eine dreidimensionale Repräsentation des eigenen Gehirns eintauchen kann.

23

Um zu vermeiden, in eine endlose Rekursionsschleife zu geraten, bei der man die eigenen Gedanken über die eigenen Gedanken sieht, gibt es eine einfache Lösung: In den Brainorama-Computer wird ein Filter für diese Art von Feedback einprogrammiert.

24

Ich meine hier das Bewusstsein der »schwierigen« Art. Das »einfache« Bewusstsein, das Anästhesisten ausschalten können, ist zweifelsfrei lokalisierbar, da es sich um ein empirisches Phänomen handelt, und es hat anscheinend vor allem mit den Kernbereichen des Gehirns zu tun, nicht so sehr mit dem Kortex.

25

Das Christentum, eine post-platonische Religion, gründet sich nicht auf Wunder wie brennende Büsche, Dämonen oder andere unerklärliche Phänomene, sondern auf die Berichte von mehr oder weniger »gewöhnlichen« Leuten wie Jesus und Lazarus und ihre Ansichten über ein Fortbestehen des Bewusstseins nach dem Tod. (Zwar enthalten die Berichte über das Leben Jesu auch übernatürliche Ereignisse, etwa dass er übers Wasser ging, aber sie sind für die Religion nicht von entscheidender Bedeutung.) Im Christentum wurde die physische Welt »gewöhnlich« und das Jenseits »wundersam«. Diese Entwicklung verstärkte sich im Lauf der Jahrhunderte.

26

Und zwar in dem Essay »Mit einem Zombie kann man nicht diskutieren«. Siehe in diesem Buch S. 248.

27

N.B.: Man muss nicht sterben, um ein Brainorama zu testen, wenn man es vorsichtig benutzt.

28

Das sorgt nur für eine mögliche Einigung auf Fakten – nicht für Einigkeit bei der Motivation. Tatsächlich würde man erwarten, dass die Bewusstseins-freien Menschen in jeder gemeinsamen Richtung eine Bedeutungskrise und einen Motivationsmangel erleben.

29

Zumindest hat mir John Perry Barlow gesagt, dass es eine Spruchweisheit der Navajo sei.

30

Zombies spielen in der Bewusstseinsforschung und in der Diskussion des Leib-Seele-Problems eine nicht unwichtige Rolle. In den einschlägigen Gedankenexperimenten haben sie kein Bewusstsein und keine innere Erfahrung, was man ihnen nach außen hin aber nicht ansieht. Es ist umstritten, ob ein Zombie real existieren könnte oder ob die innere subjektive Erfahrung unweigerlich auf das Verhalten oder Vorgänge im Gehirn abfärbt.

31

Daniel Dennett, Autor von Consciousness Explained (1991; Philosophie des menschlichen Bewusstseins, 1994) und vieler anderer Zombie-Manifeste.

32

Dennett bezeichnet seine Gedankenexperimente als »Intuitionspumpen«.

33

Um den Begriff Bewusstsein ist in letzter Zeit ein Tauziehen entstanden. Früher bedeutete er »subjektive, unbeschreibliche Erfahrung«, heute könnte er aber auch bedeuten »Teil eines Programms, das andere Teile nachbildet und Kontrolle über die Ausführung übernehmen kann«. Ich verwende gern den Begriff des »Erlebens«, wenn ich die subjektive Erfahrung des Erlebens meine, also das, was das Bewusstsein zu so einem schwierigen Problem macht.

34

Die Bezeichnung »Computer« hat verschiedene Bedeutungen. In diesem Essay bedeutet »Computer« ein praktisches Objekt, das existieren kann, wie zum Beispiel ein Macintosh. Die heilige Turing-Hypothese besagt, dass es eine Obergrenze an Befähigung gibt, die kein Computer aus ordinären Bauteilen überwinden kann. Diese Obergrenze wird durch einen »idealen Computer« definiert, die sogenannte Turing-Maschine, die zwar wie ein ordinärer Computer aufgebaut ist, aber einen unendlichen Speicher hat. Allgemein wird diese Hypothese von Computerwissenschaftlern als wahr betrachtet. Penrose und andere interessieren sich für Quanteninformatik, weil daraus vielleicht ein Computer entsteht, der mehr kann als die Turing-Maschine. Die heilige Turing-Hypothese schleicht sich in fast jede Debatte über Bewusstsein ein und mündet in der verwandten Behauptung, dass Computer mit begrenztem Speicher, die immer größer werden, so behandelt werden sollten, als ob sie funktional äquivalent zueinander wären. Deshalb wird das Gehirn von vielen als großer Computer betrachtet. Falls sich die reine oder die eingeschlichene Hypothese als falsch erweisen sollten, wird sich an diesen Argumenten nichts ändern. Die Obergrenze wird einfach auf eine neue Ebene verlegt, die dem neuen idealen Computer entspricht.

35

Der »Objektcode« ist ein Programm, auf dessen Grundlage ein Computer läuft, im Gegensatz zum Quellcode, der von Menschen geschrieben wird. Der Quellcode muss in den Objektcode übersetzt werden, bevor ein Computer irgendetwas machen kann. Jeder Computertyp verwendet einen anderen, inkompatiblen Objektcode. Manche Biologen verstehen die DNA als eine Art Objektcode. Ein Computer ohne Objektcode ist inaktiv, genauso wie ein Code, für den man nicht den richtigen Computer hat. Ich schlage hier also vor, dass jedes Stück Natur ein Objektcode für einen möglichen Computer sein könnte.

36

Zwei verschiedene Objektcodes können genau denselben Effekt haben und gelten als zwei verschiedene Ausführungen desselben Programms. Rein funktional betrachtet sind die beiden identisch. Wenn sich zum Beispiel zwei Versionen eines Programms auf einem Macintosh und einem PC identisch verhalten, hat man zwei verschiedene Objektcodes mit äquivalenter Funktion. Rein funktional betrachtet könnte es viele verschiedene Objektcodes geben, die auf den gleichen oder verschiedenen Computern laufen und unserem Gehirn entsprechen. Ich schlage hier ein ganz bestimmtes Gehirn vor, das zufällig auch ein Meteoritenschauer ist.

37

Man könnte einen Computer konstruieren, der jede ausreichend große Datenmenge als Objektcode behandelt, um jedes Programm nachzuahmen, indem man einfach eine große »Lookup-Tabelle« mit einbezieht. Eine Lookup-Tabelle würde sämtliche Daten, die man gefunden hat, als die Daten abbilden, die man haben will (in dem Fall der Objektcode, auf dem Ihr Gehirn läuft). Das fühlt sich ein bisschen wie Mogeln an. Zu simpel, um magisch zu sein. Für die Magie müssen wir einen Computer konstruieren, der keinerlei eingebaute Informationen hat, die ein fortgeschrittenes Wissen Ihres Gehirns reflektieren würden. Schön. Dann muss man bei möglichen Computern (hier definiert als endlicher Automat) suchen, bis man auf einen stößt, der ordentlich funktioniert. Ihn zu finden ist ähnlich, wie wenn man einen sehr, sehr langen kryptografischen Code knacken will. Das ist vielleicht nicht praktikabel, aber theoretisch möglich. Wenn Zombies das abstreiten wollen, müssen sie sich mit Penrose zusammentun und nach einem fabulösen Quantenelement im Gehirn suchen, dann könnten sie sich die andere Suche sparen.

38

Es könnte viele verschiedene Computer geben, die jeweils denselben Meteoritenschauer als ein anderes Gehirn interpretieren und so diesem willkürlichen Stück Natur ein reiches Innenleben verpassen würden.

39

Eine Emulation ist ein Programm auf einem Computer, das die Existenz eines anderen Computers simuliert. So können beispielsweise Macintosh-Computer Emulatoren realisieren, die vom Typ her IBM-Computer zu sein scheinen, die im Macintosh »leben«. Natürlich könnte auf einem Macintosh auch ein Programm laufen, das eine Kopie seiner selbst simuliert. Hier besteht das potenzielle Problem einer endlosen Rekursion, aber das lässt sich in meinem Beispiel leicht vermeiden, wenn man die Emulation unvollständig gestaltet, sie wird also keine weitere interne Emulation ihrer selbst umfassen.

40

Er könnte »betroffen« sein, wenn Sie die Messinstrumente abschalten würden, doch vom Status Ihres Computers, der die Daten als Programm abspielt, wird er sich nicht stören lassen. Selbst Schrödingers Katze wäre von diesem Computer nicht betroffen.

41

Wenn Sie dieses Argument bei einem Zombie anwenden, ist nun der Zeitpunkt gekommen, an dem der Zombie dem Funktionalismus abschwört.

42

Ich gehe davon aus, dass unsere Außerirdischen mit ihren Instrumenten den internen Zustand der Transistoren in den Computerchips erfassen können.

43

Auch andere Bereiche der Naturwissenschaften wie Chemie und Biologie werden zur Erklärung des beobachtbaren Universums benötigt, doch diese Denkrahmen gelten nur innerhalb begrenzter Parameter als funktionsfähig. So würde zum Beispiel niemand behaupten, dass man allein mithilfe der Chemie die Energiequelle der Sonne erklären kann. Aufgrund ihrer begrenzten Reichweite ist die Chemie ontologisch keine Herausforderung, die Physik dagegen schon, denn sie ist notwendig. Meiner Meinung nach ist das der Grund, warum so viele Physiker als Zagneten enden.

44

Das Geheimnis, funktionierende Computer (und nicht nur eigenständige Programme) überall dort zu finden, wo man sucht, besteht darin, Teile des Universums auszuwählen, die über einen bestimmten Zeitraum wechselseitigen Einfluss ausüben (das ist nicht schwer). In meinem großen Meteoritenschauer zum Beispiel üben alle Meteoriten eine gewisse Anziehungskraft aufeinander aus, sie sind also kausal verbunden. Wenn man fleißig genug sucht, kann man einen Computer finden, der die relativen Bewegungen der Meteoriten über eine bestimmte Zeit als Protokoll des sich verändernden Zustands vieler Gehirne und als Kommunikationsprozess auffasst. In diesem Fall könnte ein Außerirdischer in einem Meteoritenschauer nicht nur einen Computer finden, sondern sogar einen Computer, der konkret funktioniert.

Zombies wenden manchmal ein, dass ein »echter« Computer nicht im Vorfeld wissen muss, was er zu tun hat, meine konstruierten Computer dagegen schon. Das ist ein bemerkenswertes Argument, weil es bestätigt, dass sich deterministische Computer von Meteoritenschauern unterscheiden, weil sie eine besondere, praktische Beziehung zu ihrer Umgebung haben. Solche Argumente sind geradezu rührend, weil sie die sentimentalen alten Zagneten-Vorstellungen wiederaufwärmen, dass der Mensch etwas Besonderes sei.

45

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass viele Objekte, die für ein Verständnis des Universums gar nicht erforderlich sind, von Instrumenten erfasst werden. Ein Beispiel wären Chemikalien (da die Chemie eine theoretisch unnötige, aber unglaublich praktische Abstraktionsebene über der Physik ist). Damit hätten wir ein ontologisches Spektrum, das die Entbehrlichkeit der Dinge reflektiert. Man könnte sagen, dass Chemikalien mehr »existieren« als Computer, und Energie sogar noch mehr, weil sie sowohl messbar als auch weniger verzichtbar ist.

46

Ich verwende das Wort »unendlich« in Teilen dieses Essays im umgangssprachlichen Sinn, damit auch technisch nicht so versierte Leserinnen und Leser meinen Ausführungen folgen können. Die Bedeutung entspricht also eher dem Begriff »unbegrenzt«.

47

Zombies könnten natürlich die Spielregeln ändern und vorschlagen, man könnte einen Computer objektiv erkennen, indem man ihn als »am besten geeignete« oder »effizienteste« Zustandsmaschine neu definiert, um das Verhalten eines ausgewählten Stücks des Universums zu erklären (in dem Fall das Stück, das wir Computer nennen). Entsprechend würden Außerirdische unsere Computer erkennen, weil unsere Interpretation tatsächlich die beste verfügbare Interpretation ist, und alle, die danach suchen, werden zu dieser (oder einer ähnlichen) Sichtweise kommen. Ich glaube aber, dass solche Entwürfe in Wirklichkeit einen Schritt verbergen, in dem menschliche Führung erforderlich ist (nicht weil Menschen die beste Sichtweise haben, sondern weil wir sie nicht haben). Offensichtlich gibt es ja auch noch die Frage, welches Stück des Universums man auswählt, das an sich schon Übermittler der »Semantik« sein könnte. Selbst wenn die Außerirdischen das richtige Stück ohne menschliche Hilfe auswählen könnten, unterscheidet sich das Problem von unserem Beispiel mit dem Meteoritenschauer. Bei diesem Problem suchten wir nach einem bestimmten Computer, doch beim jetzigen Problem müssen wir den bestmöglichen Computer finden, der so viel wie möglich vom Meteoritenschauer enthält. Anders ausgedrückt, müssten wir alle Computer untersuchen, die sich in der Natur verstecken, und nicht einfach nur einen finden. Damit stehen wir vor einem unbegrenzten Problem, wohingegen das vorige zwar groß, aber begrenzt war. Das ist ähnlich, wie auf einen Algorithmus zu hoffen, den man mit einer Datenmenge füttert und der dann die bestmögliche wissenschaftliche Theorie zur Erklärung der Daten ausspuckt.

48

Bestärkt, aber auch enttäuscht (ich wollte die Idee zuerst veröffentlichen!) musste ich feststellen, dass John Searle in The Rediscovery of the Mind (Die Wiederentdeckung des Geistes) ebenfalls argumentiert, Informationsverarbeitung sei keine intrinsische Fähigkeit der Natur. Allerdings unterscheidet sich Searles Position etwas von meiner, denn er verwirft die Idee nicht komplett, dass ein Computer im richtigen Kontext objektiv existieren könnte, und er glaubt auch nicht, dass Computer mit anderen Phantomen wie der Sprache vergleichbar sind.

49

Außerdem würde ich behaupten, dass sie noch viel schlimmere Dualisten sind. Mein Dualismus ist klar durch die Existenz zweier unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Kanäle definiert, den empirischen und den subjektiven Kanal. Ihr Dualismus verbirgt sich hinter seltsamen Fantasien von imaginären Objekten wie »Information« mit seinen nicht definierten Eigenschaften, etwa der »Semantik«.

50

Freunde, die mit psychedelischen Drogen experimentiert haben, sagten mir, sie hätten eine Form der Übereinstimmung erlebt, bei der jeder Erfahrungsaspekt durch physische Einwirkungen auf das Gehirn radikal verändert wird. Bemerkenswert finde ich daran, dass sich die Erfahrung an sich auch bei diesen radikalen »Trips« fortsetzt. Das ist wieder einmal ein Grund dafür, weshalb ich das Wort »Erfahrung« anstelle von »Bewusstsein« verwende. Das Bewusstsein ist etwas, das in veränderten Zuständen existiert, während die Erfahrung nach meinem Verständnis ein Ding ohne Zustand ist.

51

Wie dieser Essay zeigt.

52

Siehe den Essay »Agenten der Entfremdung«. In diesem Buch, S. 227.

53

Oder an Penrose’ Quantennatur des Bewusstseins.

54

Gemeint ist nicht die Entscheidung eines »freien Willens« und auch keine bewusste Entscheidung. Es geht vielmehr um eine unbewusste Entscheidung, die im Akt der Wahrnehmung erfolgt.

55

Mit Vektorfeldern drückt man in der Mathematik die Kontinuität des Universums aus.

56

Verschwindet die Subjektivität, wenn man gründlich genug ist? Einige Zombies glauben das. Wenn genügend außerirdische Wissenschaftler mit den richtigen Instrumenten genügend Situationen auf der Erde untersuchen würden, würden sie dann – vielleicht im Vertrauen auf einen Evolutionsprozess – alle möglichen anderen, aber plumpen Interpretationen der Vorgänge hier obsolet machen? Ja, würden sie unsere Welt überhaupt so »zergliedern« wie wir – in Leute mit Gehirn, die Worte benutzen, um sich auf Objekte zu beziehen –, weil diese Interpretation die einfachste ist? Das ähnelt der Argumentation von weiter oben: siehe Fußnote zwei auf S. 261. Ich würde sagen, dass Außerirdische, die lernen, wie wir zu denken, gemogelt und den einen oder anderen Tipp bekommen haben müssen, um sich zurechtzufinden.

Aktuelle Untersuchungen zur »Komplexität« (von Stuart Kaufman, Brian Goodwin und anderen) schlagen vor, dass die Bandbreite an Formen im Universum viel stärker begrenzt ist, als wir bisher dachten, und den Konturen einer neuen Klasse mathematischer Objekte folgen, etwa den »Katastrophen«. Selbst wenn sich das als richtig erweisen sollte, bedeutet das meiner Meinung nach nicht, dass auch die Zahl der möglichen »Abstraktionsebenen« entsprechend begrenzt wäre. Eine beschränkte Anzahl an Territorien bedeutet nicht eine beschränkte Anzahl an Landkarten. Diese Denkweise könnte sehr gut zur hier vorgestellten Idee des objektiven Universums passen (»die Neigung zu einer besonderen Unendlichkeit möglicher Scheiben«).

57

Zombies werden wahrscheinlich fragen, ob es einen Skalenknopf pro Person gibt oder einen Knopf für das ganze Universum. Ich würde antworten, dass Skalenknöpfe im »erkenntnistheoretischen Raum« existieren, nicht im physischen, weshalb dies keine vernünftige Frage ist.

58

»to muzzle«: einen Maulkorb anlegen (A.d.Ü.).

59

Aus: »Ein halbes Manifest«. Siehe in diesem Buch S. 315.

60

Jaron Laniers erstes Buch Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht erschien 2010.

61

In »Mit einem Zombie kann man nicht diskutieren«. Siehe in diesem Buch S. 248.

62

Auf Deutsch: Illusion Fortschritt: Die vielfältigen Wege der Evolution (1996).

63

Die US-amerikanische Version der britischen Casting-Show Pop Idol, die in der Bundesrepublik als Deutschland sucht den Superstar adaptiert wurde (A.d.Ü).

64

Auch »Millenium-Bug« genannt, in Deutschland oft »Jahr-2000-Problem« (A.d.Ü.).

65

Sein zweites Buch erschien 2013 (dt. 2014).

66

Freiheitskämpfer in der amerikanischen Revolution (A.d.Ü.).

67

In »Der Tod des Mysteriums«. Siehe in diesem Buch S. 157.

Vorwort

Mit meinem Buch will ich nachzeichnen, wie sich die Meinung eines Menschen ändern kann. Ein Meinungswechsel ist ein wunderbares Phänomen, das viel zu selten dokumentiert wird. In diesem Buch sind Essays und Interviews gesammelt, die zeigen, wie es zu einem Meinungsumschwung kommt, und zwar bei mir. Vielleicht nützt das auch anderen.

Mein Sinneswandel war ziemlich drastisch und verstörend, denn gerade als ich anfing umzudenken, wandte sich plötzlich die ganze Welt einer Denkweise zu, die ich einst mit formuliert und populär gemacht hatte.

Vielleicht ist das gar nicht so überraschend. Ich habe im Leben schon oft festgestellt, dass sich das Erwünschte nach einer langen Auseinandersetzung genau in dem Moment einstellt, in dem man seine alten Wünsche hinter sich gelassen hat. Vielleicht soll es ja so sein.

Wie bin ich hier gelandet?

In jüngster Zeit werde ich manchmal als »radikaler« Autor zum Thema Internet und technologieverwandter Fragen bezeichnet, obwohl ich mich selbst als gemäßigt und pragmatisch betrachte.

Wenn die alten Ideen funktioniert hätten, würde ich sie immer noch unterstützen. Aber stattdessen musste ich feststellen, dass das Leben heute viel anstrengender und zugleich absurder ist als früher. Ich mache mir Sorgen, dass mit der zunehmenden Digitalisierung immer mehr Menschen in eine düstere wirtschaftliche Zukunft blicken. Und deshalb gehe ich nun einfach wieder zurück ans Zeichenbrett und belebe Optionen neu, die wir Digitalfans damals in unserer anfänglichen Begeisterung nicht in Betracht gezogen haben.

Ist es »radikal«, wenn man die Wahrheit erkennt, wenn man sieht, was funktioniert und was nicht? Heute findet man beispielsweise die weitverbreitete Ansicht, dass viele Leute gut von der »Sharing Economy« leben, aber wenn man genauer hinschaut, wird man feststellen, dass nur ein winziger Bruchteil tatsächlich dauerhaft Geld verdient. Warum soll man die Wahrheit nicht aussprechen? Das ist zwar nie einfach, sollte aber auch nicht als radikal gelten, auch wenn es vielleicht bequemer ist, zu lügen.

Ich habe nicht den Wunsch, zu schockieren. Allerdings bin ich in einer ungewöhnlichen Position und sage Dinge, die all diejenigen aufschrecken, die in einem Klima aufgewachsen sind, in dem die Digitalisierung als der Trend schlechthin gilt.

Nach meinen Vorträgen kommen manchmal technikbegeisterte junge Leute auf mich zu und sagen: »Sie äußern immer Ihre Meinung, ohne sich darum zu kümmern, was die Leute sagen werden. Wie schaffen Sie das?« Solche Fragen sind ein bisschen traurig und besorgniserregend. Ich bin keinen gewalttätigen Drohungen ausgesetzt wie manch andere Autoren. Aber der soziale Druck kann dennoch gewaltig sein.

Der digitale Diskurs bewegt sich fast immer in einem bestimmten Rahmen, der mir jedoch langweilig und hoffnungslos erscheint. Der Grund dafür ist nicht in Unterdrückung zu suchen, sondern in einer neuen Form der allgemeinen Konformität.

Ich schreibe natürlich auch, um meine Leserinnen und Leser von etwas zu überzeugen, aber ich mache mir wenig Gedanken darüber, ob sie mir tatsächlich zustimmen. Viel wichtiger ist mir, dass sie selbstständig denken.

Mein Buch dient hoffentlich noch anderen Zwecken. Es war die Idee meines deutschen Verlags, ein Buch mit meinen Essays zu veröffentlichen, nachdem mir der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden war. Dieser Preis ist in der deutschsprachigen Welt eine ziemlich große Sache. Viele Leute waren schockiert, dass ein Preis, den man mit früheren Preisträgern wie Albert Schweitzer oder Martin Buber in Verbindung bringt, jemandem wie mir verliehen wurde, einem Vertreter der Technologie-Kultur.

Das Buch soll also auch einen Eindruck vermitteln, wer dieser Autor ist, der Träger eines Preises, der normalerweise Personen verliehen wird, die sich auf ganz anderen Wegen für die Würde des Menschen einsetzen.

In jüngster Zeit bin ich in gewissen Kreisen eher als »Kritiker« oder sogar Nestbeschmutzer bekannt geworden, doch über viele Jahre hinweg war ich ein begeisterter Erfinder, Impulsgeber und Förderer der Technologie. Bevor die Überwachungswirtschaft Fuß fasste und ich anfing, sie zu kritisieren, wurde ich recht häufig als »Prophet« der Technologie beschrieben. Ein peinlicher Begriff, den ich selbst nie verwenden würde.

Gemeint war damit vermutlich, dass ich begeistert von etwas schwärmte, was damals noch völlig neu war – die virtuelle Realität. Wenn ich darüber sprach, hatte das einen mythischen und spirituellen Unterton. Heute bin ich älter und sehe die Sache nüchterner, doch meinen anfänglichen Enthusiasmus spüre ich nach wie vor. Ich liebe die Technologie noch immer. Ich habe immer noch große Freude daran, vor allem an der virtuellen Realität.

Daher finden sich im Buch Essays und Interviews aus den frühen Jahren, aber auch aus allerjüngster Zeit, denn in letzter Zeit ist das Interesse an der virtuellen Realität noch einmal enorm gestiegen. Ich hoffe, dass Leser, die sich für virtuelle Realität interessieren, Vergnügen an den Schnappschüssen aus ihrer Entstehungszeit haben.

Mit meiner Essaysammlung möchte ich aber auch vermitteln, wie die Informatik einen positiven, kreativen Zugang zur Welt und zum Leben bieten kann. Dafür wurden einige meiner ungewöhnlicheren Essays in die Sammlung aufgenommen, satirische Texte wie der Vorschlag, Zeitungsarchive in die DNA von Küchenschaben einzupflanzen oder Sterne zu verlegen und künstliche Sternbilder zu erschaffen, um den Kontakt zu Außerirdischen zu erleichtern.

Ich kann mir nichts Absurderes vorstellen als den Kampf um eine bessere Welt, wenn man dabei den Spaß vergisst. Deshalb übe ich nicht nur Kritik und äußere meine Befürchtungen, sondern schreibe auch über das, was mir Freude macht.

Aber zuerst kommt meine Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.

Jaron Lanier, im Dezember 2014

Der »Hightech-Frieden« braucht eine neue Art von Humanismus

Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

Dieser geschichtsträchtige Preis darf nicht mir allein gelten. Ich kann ihn nur im Namen der Weltgemeinschaft der digitalen Aktivisten und Idealisten annehmen, auch wenn viele von uns nicht einer Meinung sind.

Ich nehme diesen Preis auch zu Ehren des Lebens von Frank Schirrmacher entgegen, der in unserer Zeit eine Quelle des Lichts gewesen ist. Er wird uns schrecklich fehlen.

Gern würde ich hier eine Rede halten, die zum großen Teil positiv und inspirierend ist, aber als Realist bin ich gezwungen, manchmal etwas dunkler zu werden. Wenn man dem Realismus genug Vertrauen schenkt, kann man sich durch die Ausläufer der Dunkelheit hindurchbrennen. Denn oft stellt sich heraus, dass auf der anderen Seite das Licht wartet.

Wir leben in einer verwirrenden Zeit. In der entwickelten Welt haben wir so lange Überfluss genossen, dass wir ihn kaum noch zu schätzen wissen. Wir lieben besonders unsere Gadgets, denen wir immer noch Neues abgewinnen können, aber vieles deutet darauf hin, dass wir, wenn wir die Augen weiter öffnen würden, über den Rand eines Abgrunds blickten.

Es tut mir weh, die bekannte Liste der aktuellen Gefahren anzustimmen: zuallererst der Klimawandel; die Spiralen von Bevölkerungswachstum und Abwanderung, die unseren Gesellschaften völlig zuwiderlaufen; unsere Unfähigkeit, für das Versiegen der billigen fossilen Brennstoffe vorzusorgen; die scheinbar unausweichlichen Wellen von Sparmaßnahmen; die unaufhaltbaren Trends von Reichtumskonzentration; der Aufstieg gewalttätiger Extremisten in vielerlei Formen an vielerlei Orten … und natürlich sind all diese Prozesse miteinander verwoben.

Angesichts dessen ist es für viele von uns (und für mich am meisten) natürlich eine Überraschung, dass der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgerechnet an eine Figur wie mich verliehen wird, die mit dem Aufstieg der digitalen Technologien assoziiert wird. Sind digitale Spielzeuge nicht mehr als der flüchtige Schaum auf den großen, dunklen Wellen?

Digitale Errungenschaften haben auf jeden Fall geräuschvolle Veränderungen in unsere Kultur und Politik gebracht.

Fangen wir mit den guten Nachrichten an. Wir haben einen ersten Blick darauf erhascht, was eine digital effiziente Gesellschaft sein könnte, und trotz der Absurdität der Überwachungswirtschaft, für die wir uns scheinbar bisher entschieden haben, dürfen wir nicht vergessen, dass es auch viel Positives gibt.

Wie sich zeigt, kann Abfall systematisch reduziert werden, genau in dem Moment, da wir den Klimawandel noch wirksamer bekämpfen müssen. Wir haben festgestellt, dass sich Sonnenenergie viel effektiver nutzen lässt, als viele für möglich gehalten hätten, indem sie an ein intelligentes Netz gekoppelt wird, um zuverlässig zur Verfügung zu stehen. Das ist genau die Art von positiven Optionen, die meine Kollegen und ich uns von einer digitalen Vernetzung erhofft hatten.

Doch die praktischen Hoffnungen für digitale Netzwerke werden von einem symbolischen, fast metaphysischen Projekt begleitet. Die digitale Technik wird in unserer Zeit als maßgeblicher Kanal des Optimismus überfrachtet. Und das, nachdem vor ihr so viele Götter versagt haben. Was für ein sonderbares Schicksal für ein Phänomen, das als sterile Ecke der Mathematik begonnen hatte.

Trotzdem ist digitaler Kulturoptimismus nicht verrückt. Wir haben neue Muster der Kreativität gesehen und vielleicht sogar ein paar neue Fühler der Empathie gefunden, die sich über frühere Barrieren wie Entfernung und kulturelle Fremdheit hinausstrecken. Diese freudigen Ereignisse wurden inzwischen erschöpfend gefeiert, aber sie bleiben eine Tatsache. Um ein triviales persönliches Beispiel zu geben: Wie herrlich, dass ich heute mit Oud-Spielern1 auf der ganzen Welt in Verbindung stehe, mit denen ich über das Internet für Konzerte proben kann. Es macht einen Riesenspaß.

Ich habe ein paar der guten Dinge erwähnt, doch wenn wir unser digitales Spielzeug verwenden, unterwerfen wir uns bekanntermaßen der billigen und beiläufigen Massenspionage und Massenmanipulation. Damit haben wir eine neue Klasse ultra-elitärer, extrem reicher und unberührbarer Technologen erschaffen, und allzu oft geben wir uns mit dem Rausch eines digital effizienten Hyper-Narzissmus zufrieden.

Ich habe immer noch größere Freude an Technologie, als ich ausdrücken kann. Die virtuelle Realität kann Spaß machen und wunderschön sein. Trotzdem stehe ich hier als Kritiker. Denn Widersprüche und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden heißt, die Realität zu vermeiden.

Können wir zurücktreten und Bilanz ziehen? Gibt es derzeit mehr digitales Licht oder mehr Dunkelheit?

Dies ist eine Frage, über die Online-Kommentatoren täglich viele tausend Mal nachdenken. Eine Meinung über die Internetkultur abzugeben ist wie ein Tropfen aus einer Pipette auf einen Bürgersteig bei Sturzregen. Jeder, der im Netz das Wort ergreift, weiß, wie es heutzutage ist. Entweder du schließt dich mit denen zusammen, die deine Meinung teilen, oder deine Meinung wird sofort von gewaltigen Klingen in den großen grauen Brei püriert.

In der Online-Welt führen These und Antithese, eine Hand und die andere, nicht mehr zu einer höheren Synthese. Hegel wurde enthauptet. Stattdessen gibt es nur statistische Datenwellen, die unaufhörlich zu erstaunlichen Vermögen zusammengerührt werden von denen, die sie benutzen, um ihren wirtschaftlichen Vorteil auszurechnen.

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat mit Büchern zu tun, also müssen wir uns in der Ära der digitalen Übernahme fragen: »Was ist ein Buch?«

Im Internet gibt es ebenso viele Kommentare über das Internet wie Pornografie und Katzenfotos, aber in Wirklichkeit können nur Medien außerhalb des Internets – insbesondere Bücher – Perspektiven und Synthesen aufzeigen. Das ist einer der Gründe, warum das Internet nicht zur einzigen Plattform der Kommunikation werden darf. Wir haben am meisten davon, wenn es nicht gleichzeitig Subjekt und Objekt ist.

Aus diesem Grund schreibt ein Geschöpf der digitalen Kultur wie ich Bücher, wenn es Zeit ist, einen Blick auf das große Ganze zu werfen. Denn es besteht die Chance, dass ein Leser ein ganzes Buch liest. Zumindest gibt es einen ausgedehnten Moment, den ich mit dem Leser teile.

Wäre ein Buch nicht mehr als ein Erzeugnis aus Papier, könnten wir es nur auf die Art feiern, wie wir Klarinetten oder Bier feiern. Wir lieben diese Dinge, aber es sind eben nur bestimmte Erfindungen, aus denen sich Produkte entwickelt haben, mit ihren jeweiligen Fachmessen und Subkulturen.

Doch ein Buch greift viel tiefer. Es ist die Feststellung eines bestimmten Verhältnisses zwischen einem Individuum und der menschlichen Kontinuität. Jedes Buch hat einen Autor, eine Person, die ein Risiko auf sich genommen hat und eine Verpflichtung eingegangen ist, indem sie sagt: »Ich habe einen wesentlichen Teil meines kurzen Lebens damit verbracht, eine bestimmte Geschichte und einen bestimmten Standpunkt wiederzugeben, und ich bitte euch, dasselbe zu tun, indem ihr mein Buch lest: Darf ich so viel Engagement von euch verlangen?« Ein Buch ist ein Bahnhof, nicht die Gleise.

Bücher sind ein Spiel mit hohem Einsatz, vielleicht nicht in Bezug auf Geld (im Vergleich mit anderen Branchen), doch in Bezug auf Aufwand, Engagement, Aufmerksamkeit, der Bereitstellung unseres kurzen Menschenlebens und unseres Potenzials, positiven Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Autor zu sein zwingt uns zu einer vermenschlichenden Form der Verwundbarkeit. Das Buch ist ein Bauwerk menschlicher Würde.

Das Wesen des Buchs ist Beweis dafür, dass individuelle Erfahrung existenziell für die Bedeutungsebene ist, denn jedes Buch ist anders. Bücher aus Papier sind naturgemäß nicht zu einem kollektiven universalen Buch verquirlt. Seltsamerweise ist für uns der Gedanke normal geworden, es gäbe nur einen Wikipedia-Eintrag für ein humanistisches Thema, für das es absolut nicht die eine optimierte Darstellung geben kann. Die meisten Themen sind keine mathematischen Sätze.

Im Zeitalter des Buchdrucks gab es viele verschiedene Enzyklopädien, von denen jede einen Blickwinkel vertreten hat – und im digitalen Zeitalter gibt es nur eine. Wieso muss das so sein? Es ist keine technische Zwangsläufigkeit, trotz »Netzwerkeffekten«. Es ist eine Entscheidung, die auf dem unbestrittenen, aber falschen Dogma beruht, Ideen selbst sollten mit Netzwerkeffekten gekoppelt werden. (Manche sagen, Wikipedia werde zum Gedächtnis einer globalen künstlichen Intelligenz.)

Bücher verändern sich. Einige der Metamorphosen sind kreativ und faszinierend. Ich bin entzückt von der Vorstellung, eines Tages könnte es Bücher geben, die sich mit virtuellen Welten synchronisieren, und von anderen seltsamen Ideen.

Aber zu viele der Metamorphosen sind unheimlich. Plötzlich müssen wir uns gefallen lassen, überwacht zu werden, um ein E-Book zu lesen! Auf was für einen eigentümlichen Handel haben wir uns da eingelassen! In der Vergangenheit kämpften wir, um Bücher vor den Flammen zu retten, doch heute gehen Bücher mit der Pflicht einher, Zeugnis über unser Leseverhalten abzulegen, und zwar einem undurchsichtigen Netzwerk von Hightech-Büros, von denen wir analysiert und manipuliert werden. Was ist besser für ein Buch: ein Spionagegerät zu sein oder Asche?

Bücher haben uns immer geholfen, die Probleme zu lösen, die wir uns aufgehalst haben. Jetzt müssen wir uns selbst retten, indem wir die Probleme erkennen, die wir den Büchern aufhalsen.

Abgesehen von Büchern geht es bei einem »Friedenspreis« offensichtlich um Frieden, aber was meinen wir mit Frieden?

Ganz sicher muss Frieden bedeuten, dass keine Gewalt und kein Terror benutzt werden, um Macht oder Einfluss zu gewinnen. Aber dem Frieden müssen außerdem schöpferische Eigenschaften innewohnen.

Die meisten von uns wollen keine statische oder stumpfsinnige Existenz akzeptieren, selbst wenn sie frei von jeder Gewalt wäre. Wir wollen nicht die friedliche Ordnung akzeptieren, die uns autoritäre oder aufgezwungene Lösungen vermeintlich bieten, seien sie digital oder altmodisch. Genauso wenig dürfen wir erwarten, dass zukünftige Generationen für immer unsere Version einer nachhaltigen Gesellschaft akzeptieren, ganz gleich wie klug wir sind und wie gut unsere Intentionen.

Frieden ist also ein Puzzle. Wie können wir frei sein, ohne die Freiheit zu missbrauchen? Wie kann Frieden gleichzeitig abwechslungsreich und stabil sein?

Die Kompromisse zwischen Freiheit und Stabilität, die wir erlebt haben, neigen dazu, auf Bestechung zu beruhen – durch stetig wachsenden Konsum. Aber das scheint auch keine langfristige Lösung zu sein.

Vielleicht ließe sich die Gesellschaft durch digitale Boni stabilisieren, das ist zumindest eine Idee, die man im Silicon Valley häufiger hört. Bringt die Leute dazu, ihren CO2-Fußabdruck zu verringern, indem ihr sie mit virtuellen Vergütungen in Videospielen umgarnt. Am Anfang mag es funktionieren, aber dieser Ansatz hat etwas Verlogenes, Gönnerhaftes an sich.

Ich glaube, wir wissen heute einfach noch nicht genug, um Lösungen für das langfristige Puzzle Frieden zu finden. Das mag negativ klingen, aber eigentlich ist es eine ganz klar optimistische Aussage, denn ich glaube, dass wir immer mehr über den Frieden lernen.

Die dunkelste meiner digitalen Ängste betrifft das, was ich den »Rudelschalter« nenne. Es ist die These von einem hartnäckigen Zug des menschlichen Charakters, der sich dem Frieden widersetzt.

Nach dieser Theorie sind die Menschen Wölfe. Wir gehören zu einer Spezies, die als Individuum oder als Rudel funktionieren kann. In uns ist ein Schalter. Und wir neigen dazu, uns immer wieder plötzlich in Rudel zu verwandeln, ohne dass wir es selbst bemerken.

Wenn es eines gibt, was mich am Internet ängstigt, dann dies: Es ist ein Medium, das »Flashmobs« auslösen kann und regelmäßig schlagartig »virale« Trends schafft. Zwar haben diese Effekte bisher noch keinen größeren Schaden angerichtet, aber was haben wir im Gegenzug, um sie zu verhindern? Wenn Generationen heranwachsen, die sich großenteils über globale korporative Cyber-Strukturen wie geschützte soziale Netzwerke organisieren und austauschen, woher wissen wir, wer die Kontrolle über diese Strukturen erbt?

Die traditionelle Definition von »Frieden« bezieht sich auf den Frieden zwischen Rudeln oder Clans, und so ist das »Clangefühl« vielleicht die gefährlichste unserer Sünden. Es zersetzt uns tief im Wesen.

Trotzdem wird Schwarmidentität fast überall als Tugend angesehen. Das Buch der Sprüche im Alten Testament enthält eine Liste von Sünden, darunter Lügen, Mord, Hochmut, aber auch »Hader zwischen Brüdern säen«. Ähnliche Gebote gibt es in allen Kulturen, allen politischen Systemen, allen Religionen, die ich studiert habe. Ich will damit nicht sagen, dass alle Kulturen und Glaubensbekenntnisse gleich sind, sondern dass es eine Gefahr gibt, die uns gemein ist, weil sie in unserer Natur liegt, und die wir abzuwehren lernen müssen. Die Loyalität gegenüber dem Rudel wird immer wieder mit Tugend verwechselt, obwohl – besonders wenn! – Menschen sich selbst als Rebellen sehen. Es tritt immer Rudel gegen Rudel an.

Dies gilt für die Anhänger bestimmter Pop-Richtungen oder Stile digitaler Politik wie für traditionelle Volkszugehörigkeiten, Nationalitäten und Religionen. In der digitalen Kultur zum Beispiel wird schnell diffamiert, wer sich nicht streng genug zum Dogma der »offenen« Netzgemeinde bekennt.

Immer wieder brechen krude »Sünden« wie Habgier oder Rudel-Mentalität hässlich, aber verstohlen durch unsere sorgsam kultivierten Muster des perfekten Denkens – ausgerechnet dann, wenn wir uns einbilden, wir wären nahe an der technischen Perfektion.

Die großartige Idee der Menschenrechte wird in unserer algorithmischen Ära durch Kumpanei zunichtegemacht. Nach Generationen von Denkern und Aktivisten, die für die Menschenrechte kämpften, was ist passiert? Konzerne sind Personen geworden – das hat zumindest das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten entschieden! Ein Menschenrecht ist ein uneingeschränkter Vorteil, also verschwören sich gewiefte Spieler, um für sich und ihre Rudel-Kumpane das Vielfache dieses Vorteils zu errechnen. Was können wir in Amerika noch mit der Idee der Menschenrechte anfangen? Sie wurde ad absurdum geführt.

Ein anderes Beispiel: Ausgerechnet wenn digitale Unternehmen glauben, sie täten das Bestmögliche, um die Welt zu optimieren, stellen sie plötzlich fest, dass sie ein gewaltiges Imperium der Spionage und Verhaltensmanipulation leiten. Man denke an Facebook, das erste große öffentliche Unternehmen dieser Art, das von einem einzigen sterblichen Individuum kontrolliert wird. Facebook steuert heute zum großen Teil die Muster sozialer Verbindungen in der ganzen Welt. Doch wer wird seine Macht erben? Steckt in diesem Dilemma nicht eine neue Art von Gefahr?

In Deutschland hat dieses Thema natürlich ein besonderes Echo. Gern würde ich etwas Tiefgründiges dazu sagen, aber offen gestanden verstehe ich einfach nicht, was passiert ist. Meine Mutter kam aus Wien, und viele ihrer Verwandten fielen dem Bösen und der hochglänzenden Mega-Gewalt des Nazi-Regimes zum Opfer. Als junges Mädchen hat sie schreckliches Leid erlebt und wäre fast selbst gestorben. Wenn mir diese Ereignisse nicht so nahe wären, wenn ich ihre Wirkung gedämpfter zu spüren bekommen hätte, fiele es mir jetzt vielleicht leichter, so zu tun, als würde ich verstehen, was passiert ist, wie es so viele Gelehrte behaupten.

Auch wenn ich viel darüber gelesen habe, finde ich es immer noch unglaublich schwer, die Nazi-Zeit zu verstehen. Auf jeden Fall haben die Nazis bewiesen, dass eine moderne, hochtechnisierte Sensibilität kein Schutz gegen das Böse ist. In dieser Hinsicht verstärkt die Nazi-Zeit meine Sorge, dass das Internet als überlegene Plattform für plötzliche Massengewaltausbrüche von Rudeln oder Clans dienen könnte.

Doch ich glaube auch nicht, dass die strikte Ablehnung von Rudel- oder Clan-Identitäten der beste Weg wäre, die damit verknüpfte Gewalt zu vermeiden. Anscheinend brauchen die Menschen sie. Länder wehren sich in den meisten Fällen dagegen, ihre Identität zugunsten größerer Konföderationen aufzugeben. Nur sehr wenige Menschen sind bereit, als Weltbürger zu leben, von jeder nationalen Bindung losgelöst. Es ist etwas Unwirkliches, Abstraktes an einem solchen Versuch, den menschlichen Charakter zu perfektionieren.

Das Beste wäre vielleicht, wenn jedes Individuum vielen verschiedenen Gruppen angehörte, sodass kaum klare Clans erkennbar wären, die gegeneinander antreten könnten. Während der digitalen Anfänge vor ein paar Jahrzehnten war genau das meine Hoffnung für digitale Netzwerke. Wenn sich in einer besser verbundenen Welt jeder Mensch zu einer verwirrenden Vielfalt von »Teams« zugehörig fühlte, wären die Loyalitäten vielleicht zu komplex, als dass traditionelle Rivalitäten eskalieren könnten.

Das ist auch der Grund, warum mir der Trend sozialer Netzwerke Sorgen bereitet, die Leute in Gruppen zusammenzutreiben, um sie zu besseren Zielscheiben für das zu machen, was sich heute Werbung nennt, in Wirklichkeit wohl eher das Mikromanagement der billigsten Option, der Verlinkung.

Die Welt kommt mir jedes Mal vor wie ein besserer Ort, wenn mir jemand begegnet, der sich mehreren Sportmannschaften verbunden fühlt und sich bei einem Spiel nicht entscheiden kann, zu wem er hält. Dieser Mensch ist begeistert, aber er ist auch verwirrt, plötzlich ist er ein Individuum und kein Teil eines Rudels mehr. Der Schalter wird zurückgesetzt.

Diese Art von Rücksetzung ist interessant, weil es die äußeren Umstände sind, nicht der Ausdruck von Ideen, die die Veränderung des Blicks bewirken, denn genau das passiert in der Technologie ständig.

In der Vergangenheit konnte eine Idee in einem Buch überzeugend oder verführerisch sein, oder sie konnte den Menschen mit Gewehren und Schwertern aufgezwungen werden. Heute aber sind die Ideen in dem Computercode versteckt, mit dem wir unser Leben führen.

Datenschutz ist ein Beispiel dafür. Ganz gleich, was man über Datenschutz denkt, es ist der Code, der in fernen Cloud-Computern läuft, der bestimmt, welche Konzepte von Datenschutz gelten.

Die Idee von Datenschutz hat viele Facetten, breit gefächert und stets schwer zu definieren, doch der Code, der Datenschutz schafft oder verhindert, ist auf banale Weise konkret und allgegenwärtig. Datenschutz ist längst keine persönliche Entscheidung mehr, und damit nicht einmal mehr ein Thema, über das wir im alten Sinn nachdenken können. Nur fanatische Scholastiker verschwenden ihre Zeit mit irrelevanten Fragen.

Das einzig sinnvolle Nachdenken über Datenschutz wäre ein Nachdenken, dass zu Veränderungen im Code führt. Doch wir haben unsere Politik zum großen Teil an ferne Konzerne »outgesourct«, womit es oft keinen klaren Kanal zwischen dem Denken und dem Kodieren gibt, also zwischen dem Denken und der gesellschaftlichen Realität. Programmierer haben eine Kultur geschaffen, in der sie den Regulatoren davonlaufen können.

Wir verlangen von den Regierungen, sich mit größter Vorsicht in die bizarren Prozesse zu begeben, um zu regulieren, wie die Cloud-basierten Konzerne unsere Kommunikation und unsere koordinierten Interaktionen kanalisieren. Doch manchmal unterwandern Programmierer das, wozu die Unternehmen gezwungen wurden, und führen die Regierungseingriffe ad absurdum. Dieses Muster hat sich beim Urheberrecht gezeigt und auf andere Art bei Themen wie dem Recht auf Vergessenwerden und gewissen Bereichen des Datenschutzes, insbesondere der Privatsphäre von Frauen online. (Die derzeitige Praxis privilegiert anonyme Schikanierer gegenüber den Frauen, die schikaniert werden.)

In jedem Fall wollen viele der kreativsten und gutmütigsten Aktivisten nicht, dass Menschen die Möglichkeit haben, sich gegen die »Offenheit« des Netzes zu wehren. Gleichzeitig aber haben viele digitale Aktivisten eine scheinbar unendliche Toleranz gegenüber der gigantischen Ungleichheit, wer von dem allsehenden Auge profitiert.

Big Data schürt die algorithmische Konzentration von Reichtum. Zuerst ist es in der Musik- und Finanzbranche passiert, doch der Trend greift auf jeden zweiten Schauplatz menschlicher Aktivität über. Algorithmen erzeugen keine Garantien, doch sie zwingen nach und nach die breite Gesellschaft dazu, Risiken zu übernehmen, von denen nur einige wenige profitieren. Dies wiederum führt zu Austerität, rigorosen Sparmaßnahmen seitens der Politik. Da Austerität mit einer Sharing Economy gekoppelt ist (denn Sharing liefert die Daten, mit denen die Maschine läuft), erlebt jeder Einzelne, bis auf die winzige Minderheit ganz oben auf den Rechnerwolken, einen graduellen Verlust von Sicherheit.

Diese Entwicklung ist in meinen Augen die bisher größte negative Konsequenz der Netzwerktechnologie. Womit ich ein anderes Problem nicht ignorieren will, das viel mehr Aufmerksamkeit erhalten hat, weil es spektakulärer ist. Denn eine der Nebenwirkungen der algorithmischen Überwachungswirtschaft ist das zwangsläufige Durchsickern der gesammelten Daten in die Computer nationaler Geheimdienste. Das meiste, was wir heute darüber wissen, verdanken wir Edward Snowdens Enthüllungen.

Staatlicher Überwachung entgegenzuwirken ist grundlegend für die Zukunft der Demokratie, aber Aktivisten dürfen nicht vergessen, dass wir es im Moment mit einer Situation zu tun haben, in der durch Mechanismen von ungleicher Wohlstandsverteilung und Austerität die Regierungen zugunsten der Unternehmen geschwächt werden, die die Daten überhaupt einsammeln. Das gilt natürlich nur für Demokratien. Nicht-demokratische Regimes übernehmen die Kontrolle über ihre eigenen Clouds, so wie wir es zum Beispiel in China sehen.

Manchmal frage ich mich, ob wir unsere Demokratien an Technologiefirmen outgesourct haben, damit wir nicht selbst zur Rechenschaft gezogen werden können. Wir geben unsere Macht und unsere Verantwortung einfach ab.