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Titelseite

Ein Pferdesommer
an der Nordsee

Mathe

Wenn es etwas gibt, das ich noch mehr hasse als Matheunterricht, dann sind das Mathehausaufgaben. Dreimal pro Woche trichtert uns unser Mathelehrer die kniffligsten Berechnungen ein, nur um uns dann komplett andere Übungen aufzugeben. Morgen ist der letzte Schultag vor den Ferien, doch er macht wieder mal keine Ausnahme.

Ich sitze auf dem Gatter der Koppel, balanciere mein Rechenheft auf den Schenkeln und male in ein verwackeltes Dreieck einen noch viel verwackelteren rechten Winkel.

Okay. Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Ich könnte mit meinen Hausaufgaben ein wenig sorgfältiger sein. Aber eine klitzekleine Mitschuld an den zittrigen Linien trägt Alfie, der mit seinem Kopf zärtlich an meinen Ellbogen stupst. Aber das hätte ich ihm natürlich nie vorgehalten, denn ich liebe Alfie über alles.

Alfie ist übrigens ein strohblondes, norwegisches Fjordpony. Das Besondere an ihm ist seine aufrecht stehende zweifarbige Mähne. Ein echter Blickfang. Er ist einfach wunderschön mit seinem falbfarbenen Fell, das wie Gold in der Sonne glänzt.

Kein Zweifel. Alfie ist ein echter Superstar.

Und der Superstar hat nur Augen für mich. Während Alfies Stallgefährten Jolly und Jill ausgelassen über die Koppel toben, trabt Alfie am Gatter auf und ab und weicht nicht von meiner Seite. Kurzerhand knalle ich mein Rechenheft und das Buch auf den Kiesweg und vergrabe meine Hände in seiner Mähne. Alfie schnauft zufrieden und legt seinen warmen Kopf in meinen Nacken. Einen Moment lang rührt sich keiner von der Stelle und wir genießen die traute Zweisamkeit.

Ich bin total verliebt in ihn, auch wenn er nicht mir gehört. Alfie ist das Pferd meiner besten Freundin Kathi, die hier auf diesem riesigen Bauernhof am Stadtrand lebt. Weil Kathis Eltern vor Kurzem eine ziemlich eitle Araberstute namens Primadonna gekauft haben, die den ganzen Tag gestriegelt, gefüttert und liebkost werden will, kümmere ich mich nun allein um Alfie.

Jeden Nachmittag laufe ich von der Schule zu Kathis Bauernhof, miste Alfies Box aus und mache mit Primadonna und Kathi einen ausgedehnten Ausritt entlang der Kuhweiden. Danach erledige ich am Gatter meine Hausaufgaben, bis mich Papa pünktlich um sechs abholt und zurück in unsere Stadtwohnung bringt.

„Und? Alle Knochen heil, Malina?“, fragt Papa, als ich im Auto sitze. Prüfend lässt er seinen Blick im Rückspiegel über meine Klamotten schweifen.

Papa. Den muss ich euch natürlich auch noch vorstellen. Pferde und Papa, das ist so eine Sache. Bis zu meinem elften Geburtstag hatte er mir das Reiten verboten. Er hatte unsägliche Angst, mir könnte etwas zustoßen. Aber dank Mamas Überredungskünsten bin ich seit zwei Jahren die größte Pferdenärrin unter der Sonne.

Trotzdem frage ich mich, warum gerade ich bei der Geburtslotterie das große Pech hatte und den strengsten Vater des Universums abbekam. Er behütet mich und meine Schwester Chrissi, als wären wir noch im Kindergarten. Fehlt nur noch, dass er einen Detektiv anheuert, der in der Eiche neben meinem Fenster wohnt und mit einem Fernglas in mein Zimmer späht.

Dabei bin ich doch schon dreizehn. Aber in Papa lebt die Hoffnung, dass diese fiese Pubertät wie eine Erkältung vorüberzieht und ich mich bald wieder in die pausbäckige Dreijährige zurückverwandle, die ihren Vater „Dada“ nennt und sich ständig wie ein Äffchen an sein Bein klammert.

Manchmal frage ich mich, was wäre, wenn ich ein Junge wäre. Jede Wette, dann wäre ich ein Riesenweichei und alle würden über mich lästern. Dabei finden mich die Leute aus meiner Klasse als Mädchen mit totalem Pferdetick schon seltsam genug.

„Alles heil. Nicht mal ein Kratzer“, versichere ich ihm stolz. Mein Outfit ist dreckig, wie immer. Aber darunter habe ich nicht mal die kleinste Schramme abbekommen. Wie auch? Alfie ist das reinste Lämmchen.

Papa antwortet mit einem skeptischen Brummen. Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich von Alfies Rücken stürze. Dreimal dürft ihr raten, warum ich ausgerechnet auf einem Pony reite und nicht auf einem Pferd. Alles über einem Stockmaß von 1,48 Meter bereitet Papa schlaflose Nächte.

Das Auto rollt über die Hauptstraße und schließlich halten wir vorm Einkaufszentrum. Meine große Schwester Chrissi schiebt sich neben mich auf den Rücksitz.

„Bäh!“ Sie hält sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu. „Malina, dein Shirt stinkt nach Pferd“, verkündet sie, holt ein mini Parfumfläschchen heraus und schickt einen Sprühstoß in die Luft.

Klebriger Erdbeerduft umnebelt mich. Ich halte den Atem an. Gehen diese Duftproben denn nie zur Neige?

Seit Chrissi diese Misswahl im Einkaufszentrum gewonnen hat, versorgen sie die Läden mit unzähligen Produktproben. Dabei gebührt ihr der Titel eigentlich gar nicht. Die Teilnahme war erst ab sechzehn erlaubt. Meine Schwester hatte sich kurzerhand ein Jahr älter gemogelt. Total frech!

Aber da niemand gepetzt hat, lacht Chrissi nun von den dazugehörigen Postwurfsendungen, die in unserem Bundesland in jedem Briefkasten stecken. Weil in der aktuellen Verkaufsaktion vor allem Haushaltsartikel beworben werden, posiert sie darin mit einem Wischmop im Arm und spitzt die Lippen wie Heidi Klum. Sie sieht aus, als werbe sie nicht für Putzmittel, sondern für Chanel Nummer Fünf. Wirklich lächerlich ist das.

Damit wisst ihr eigentlich schon das Wichtigste über mich. Eigentlich bin ich ganz normal. Ich heiße Malina, habe ein Pflegepferd, das mir bei den Hausaufgaben hilft, einen ängstlichen Papa und eine Schwester, die nur mit Wäscheklammer auf der Nase in einen Pferdestall geht.

„Pferdeduft ist der beste Duft der Welt“, mache ich ihr klar und rieche heimlich an meinem Shirt. „Außerdem kann Mama meine Klamotten ja waschen.“

„Dieser Mief hat sich doch längst ins Gewebe gefressen“, pflaumt Chrissi zurück.

Sie duftet natürlich nicht nach Pferdestall, sondern nach irgendeinem Parfum von Lady Gaga oder sonst wem. Außerdem trägt sie ein nagelneues glitzerndes T-Shirt mit der Abbildung einer Flamencotänzerin, daneben steht in dicken Lettern „Spanish Beauty“ geschrieben.

Das ist übrigens eine von Chrissis Eigenheiten. Tag für Tag trägt sie ein T-Shirt mit passendem Slogan. Obwohl ich den heutigen Spruch erklären muss. Auch wenn sich Chrissi für eine Schönheit hält, spanische Wurzeln haben wir keine.

Chrissi trägt das T-Shirt, um Papa zu überreden, doch noch mit uns nach Spanien zu fliegen. Am Wochenende haben Papa und Mama nämlich verkündet, dass unser Sommerurlaub dieses Jahr ins Wasser fallen wird.

Chrissi hat deswegen total die Krise bekommen. Der Urlaub ist ihr jährliches Sommerhighlight. Schon ab Mai bräunt sie sich vor, lackiert ihre Nägel und kauft sich fünfunddreißig neue Bikinis und Strandkleider.

„Wie gefällt dir mein Shirt, Papa?“, startet Chrissi einen Versuch. „Ich habe es extra für Spanien gekauft. Können wir nicht doch noch fahren? Bitte? BITTE?“

„Wie oft denn noch?“, seufzt Papa und sieht Chrissi durch seine Rahmenbrille im Rückspiegel an. „Es bleibt keine Zeit für einen Urlaub. Mama und ich haben alle Hände voll mit unserer neuen Firma zu tun.“

„Oh Mann. Eure beknackte Firma“, bockt Chrissi und verschränkt die Arme.

Die beknackte Firma ist Papas und Mamas neuer Job als Unternehmensberater. Das hört sich total wichtig und kompliziert an. Und wenn man Papa glaubt, ist es das auch. Immerhin kümmern sich die beiden darum, dass Läden nicht bankrott gehen und zusperren müssen.

„Die ‚beknackte Firma‘ hat heute ihren allerersten Auftrag an Land gezogen, Chrissi“, kontert Papa triumphierend und reiht sich in den Kreisverkehr ein. „Die Sache hat nur einen Haken. Mama und ich müssen verreisen. Richtung Süden. Schon morgen.“

Bei Chrissi läuten alle Alarmglocken. „Ihr fahrt doch nach Spanien!“, empört sie sich. „Gebt es zu! Ihr fahrt ohne uns!“

„Ich meinte den Süden von Deutschland“, korrigiert Papa lahm. „Wir beraten ein Metzgereiunternehmen im Bayerischen Wald.“

Chrissi schneidet eine Grimasse. „Da könnt ihr ohne mich hinfahren.“

„Wir können euch auch nicht mitnehmen“, grummelt Papa. „Deshalb haben wir beschlossen, dass ihr morgen nach der Zeugnisvergabe für zwei Wochen zu Oma fahrt.“

Mir fällt die Kinnlade runter. Damit hätte ich niemals gerechnet. Unzählige Male bin ich meinem Vater schon damit in den Ohren gelegen: Urlaub, alleine bei Oma. Aber nie hat mir Papa erlaubt, mit dem Zug und anschließend der Fähre auf die friesische Insel Seeholm zu fahren. Ich glaube, Papa hatte Angst, der Dampfer könnte während der dreißigminütigen Fahrt übers seichte Wattenmeer einen Eisberg rammen.

„Ich weiß, es ist ganz schön weit“, gibt Papa zu und macht ein Gesicht, als schicke er uns mutterseelenallein in den Regenwald. „Und angeblich wohnen bei Oma jetzt sogar noch mehr Katzen als früher.“

„So weit ist es doch gar nicht nach Seeholm“, bremse ich seine Zweifel aus. „Und Omas Katzen sind bestimmt superniedlich!“

Eine Sache muss ich euch unbedingt über Oma erzählen. Oma ist verrückt nach zwei Dingen. Zum einen ist das Kleidung mit Blümchendruck. Und zum Zweiten sind das Katzen. Oma ist die größte Katzennärrin auf Erden. Seit sie auf Seeholm lebt, beheimatet sie in ihrem Häuschen herrenlose Streunerkatzen. Dort gewesen bin ich leider noch nie, doch laut Omas Erzählungen haben sich Kitty, Minka und die anderen jeden Winkel ihres Häuschens unter den Nagel gerissen. Man findet sie überall. Auf dem Sofa, in der Schublade, sogar in Omas Wäschekorb.

„Tierlieb“ sage ich dazu. „Verrückte Katzenlady“ nennt sie mein Papa.

„Zu Oma? Bei Oma ist es längst nicht so cool wie in Spanien“, jammert meine Schwester und sieht noch unglücklicher aus als vorher.

„Auf Seeholm gibt es auch Strand“, kontert Papa.

„Aber keine Spanier!“ platzt es aus Chrissi heraus.

Jetzt wird mir einiges klar: Chrissi geht es um Jungs.

„Kann ich nicht hierbleiben?“, bettelt Chrissi, während Papa in die Tiefgarage unserer Wohnung fährt. „Meine Modelkarriere kommt gerade in Schwung und du schickst mich auf eine lahme Nordseeinsel?“

„Keine Chance, mein Fräulein.“

Wütend lässt sich Chrissi in den Sitz fallen und verdeckt mit der Jeansjacke die Flamencotänzerin auf ihrer Brust. Arme Chrissi. Ein Gefühl sagt mir, dass dieses T-Shirt für unbestimmte Zeit im Schrank verschwinden wird.

Chemie

„Chrissi, du hast dreimal so viel Gepäck wie Malina“, lacht Oma und späht in Chrissis große Tasche. „Was ihr alles mitgebracht habt. Was ist denn das da?“

Oje. Oma hat das Spray mit dem riesigen, sechsbeinigen Floh darauf entdeckt. Papa hat uns die Chemiekeule noch schnell zugesteckt, aus Angst, dass wir mit Katzenflöhen im Gepäck zurückreisen. Total peinlich.

„Ist nur Sonnenöl“, flunkere ich und stopfe das Spray tiefer in die Tasche.

Oma nickt und scheint mir zu glauben. „Als ich euch das letzte Mal gesehen habe, habt ihr eure Klamotten miteinander geteilt. Ihr hattet einen Micky Maus-Pullover, den jeden Tag eine andere tragen durfte, nicht wahr?“

„Das ist wirklich ewig her“, murrt Chrissi, als wäre es in einem anderen Leben passiert.

Es ist echt lange her. Seit Oma auf Seeholm lebt, haben wir sie nicht mehr gesehen. In ihrem neuen Zuhause führt sie ein ruhiges und beschauliches Leben und kommt kaum noch von der Insel runter. Eigentlich schade.

Oma ist wirklich zum Knuddeln, mit ihren wirren Locken und der großen altmodischen Brille auf der Nase. Passend dazu stecken ihre Beine in einer viel zu weiten Hose mit dem typischen Blümchenmuster. Chrissi findet, dass nur noch das Nudelholz fehlt. Aber das war ja klar, dass Chrissi über Omas Stil lästert.

Wir folgen Oma über den belebten Hafenplatz mit den unzähligen Fischerbooten. Sie hält vor einer offenen Kutsche mit Verdeck. Davor, aufgeschirrt und vor den Wagen gespannt, scharren zwei braune Pferde.

„Wollen wir ein Inseltaxi nach Hause nehmen?“, schlägt Oma vor. „Dann könnt ihr unser schönes Seeholm besser kennenlernen.“

„Das sind eure Inseltaxis?“, staune ich.

Oma nickt. „Auf Seeholm sind Inseltaxis beliebte Touristenattraktionen. Autos gibt es hier nicht viele. Das ist das Besondere.“

Während sich der Kutscher um Chrissis Gepäckberg kümmert, zieht es mich zu den Pferden. Die braunen Zugpferde an der Kutsche wirken zwar kräftig, trotzdem blutet mir beim Anblick das Herz. Die beiden müssen sich bei Wind und Wetter hier abrackern. Nichts und niemand könnte mich dazu bringen, Alfie je vor eine Kutsche zu spannen. Der soll seine Tage mal schön auf der Koppel beim Herumtollen mit Jolly und Jill verbringen.

Alfie. Wie es ihm jetzt wohl geht? Zwei Wochen ohne meinen vierbeinigen Liebling, das ist der einzige Wermutstropfen an dieser Reise.

Zumindest kann ich mir sicher sein, dass Alfie gut versorgt sein wird. Ab Montag fallen nämlich Horden von Reiturlaubern auf Kathis Hof ein, da bekommt Alfie wie jeden Sommer mächtig viel Aufmerksamkeit. Trotzdem tut die Trennung weh. Alfie ist mein engster Vertrauter. Er kennt mich glücklich und genauso tief betrübt.

In Gedanken versunken fasse ich in meine Jackentasche und, ha, finde noch eine von Alfies Möhren. Ich breche sie in zwei Hälften und reiche sie den Pferden. Prompt fressen sie mir aus der Hand.

„Mach schon, Pferdefreak“, drängt Chrissi und winkt mich in die Kutsche.

Kaum habe ich Platz genommen, setzt der Kutscher die Braunen in Bewegung. Unter Hufgetrappel rollt das Gefährt an Fischkuttern und Promenadencafés vorbei. Bald verlässt unsere Kutsche die hohen Backsteinbauten und rumpelt auf einem Kiesweg zwischen grünen Salzwiesen entlang. Kühler Nordseewind bläst uns um die Ohren.

„Hast du schon mal geguckt, wie langweilig es hier aussieht?“, flüstert mir Chrissi ins Ohr und starrt unbeeindruckt auf den Streifen Sand, der in der Ferne die Insel umsäumt. „Wir könnten jetzt in Spanien sein.“

Da kann ich nicht widersprechen. Hier, weit weg vom Hafendörfchen, herrscht gähnende Einöde. Es gibt nur einen Leuchtturm und ein winziges Café am Strand. Mit Spanien hat Seeholm nichts gemeinsam. Keine Strandpartys, kein Sonnenschein und erst recht keine spanischen Jungs.

Endlich biegen wir von den windigen Feldern in eine Siedlung. Sie besteht aus vier Backsteinhäuschen, die aussehen, als hätte sie jemand im Dutzend billiger gekauft: dieselben Heckenrosen, dieselben weißen Fenster, dieselben Sanddornsträucher mit den leuchtenden orangefarbenen Beeren. Vor dem letzten Häuschen zieht der Kutscher die Zügel. Die beiden Braunen schnaufen und halten an.

„Da sind wir“, verkündet Oma und klettert aus der Kutsche. „Klein Schönhorst. Ein ruhiges Nest.“

Ruhig und verträumt ist es hier wirklich. Geradezu verschlafen liegt die kleine Siedlung vor uns. Keine Menschenseele ist unterwegs, nur eine einsame schwarze Katze schleicht den Bürgersteig entlang, als hätte sie alle Zeit der Welt. Im Haus gegenüber wird ein Rollo hochgelassen und eine alte Frau guckt aus dem Fenster, ein buntes Windrad quietscht, irgendwo weiter hinten geht ein Rasensprenger.

Ja, hier ticken die Uhren tatsächlich langsamer.

Chrissi sieht aus, als wäre sie in den falschen Film geraten. Ihr Blick fährt unruhig herum, als wäre sie dringend auf der Suche nach einem Kino oder einem Laden. Nach irgendwas!

„Ein ruhiges Nest?“, echot sie schockiert.

Und da steht es tatsächlich, unübersehbar und riesengroß, an einem bunten Schild am Ortseingang: „Klein Schönhorst. Ein ruhiges Nest“. Darunter ist ein Seeadler im Adlerhorst abgebildet, der unter seinem Gefieder ein Junges wärmt. Der Buchstabe O im Wort Schönhorst hat die Form einer Sonne. Und das, obwohl sich seit unserer Ankunft eine dicke Wolkendecke über den Himmel spannt.

„Natürlich ist es hier nicht immer so ruhig, meine Engelchen“, erklärt Oma mit einem Augenzwinkern und in Chrissis Augen flackert ein hoffnungsvolles Leuchten auf. „Heute Abend wartet schon die erste Überraschung auf euch. Wir sind auf eine Party eingeladen!“

„Willkommen in Klein Schönhorst“, schallt es uns entgegen, als Oma uns ins Häuschen ihres Nachbarn führt. Der ganze Raum ist mit bunten Luftballons geschmückt, aus dem Radio dudelt ein Schlager und auf dem Couchtisch türmen sich alte Zeitschriften, Karten und Brettspiele. Auf dem Sofa dahinter sitzen drei Senioren und durchbohren uns mit erwartungsvollen Blicken.

Verblüfft sehe ich mich um. Als Oma von einer Party gesprochen hat, dachte ich an die Art von Festen, die meine Klassenkameradinnen feiern. Mit fetziger Popmusik, Jungs, eiskalten Limonaden und Guitar Hero. In einem ruhigen Nest feiert man wohl auch ruhigere Partys.

„Schön, dass ihr da seid“, begrüßt uns ein älterer Herr im Rollstuhl. Er hat weißes Haar und lebhafte blaue Augen. „Ich bin Herr Eisenböck und wohne hier. Fühlt euch ganz wie zu Hause.“

„Und ich bin Helga Kinkel.“ Eine alte Dame mit maskenhafter Schminke und grellen Ohrringen gesellt sich dazu. „Wir haben einiges für euch vorbereitet. Herr Eisenböck hat sogar extra zwei Folgen Tatort aufgenommen.“

„Wow“, macht Chrissi und sieht sich skeptisch um. Der dritte Rentner schenkt gerade Orangensaft in ein Glas.

„Da staunt ihr, was?“, lacht Oma. „Ganz Klein Schönhorst ist heute hier. So gute Stimmung hatten wir hier noch nie. Und wenn uns doch langweilig wird, könnten wir einen Apfelkuchen backen. Oder alte Fotoalben ansehen.“

„Das klingt ja spannend“, murmele ich lahm.

Ich weiß nicht, wie ich das alles finden soll. Eigentlich wirken Omas Freunde nett. Doch der Gedanke, zwei Wochen mit Rentnern zu verbringen, drückt mir ein wenig aufs Gemüt.

Chrissi schweigt. Ich weiß genau, was sie denkt. Klein Schönhorst liegt am Rande von Nirgendwo. Es gibt weit und breit keine Unterhaltung für Teenager, bloß vier gleiche Häuschen mit vier kleinen Gärten, in denen vier Rentner wohnen. Und wir stecken mittendrin.

Oma hat keinen blassen Schimmer von meinen trüben Gedanken. Ganz aufgekratzt nimmt sie uns an der Hand und stellt uns ihren Nachbarn vor. Neben der schrillen Frau Kinkel und Herrn Eisenböck gibt es noch den schwerhörigen Herrn Popinski, der seine Zeitung nie aus der Hand legt. Und die er – keiner weiß, warum – ständig verkehrt herum hält.

Eine Weile herrscht ein großes Hallo, dann kehrt im Wohnzimmer wieder Ruhe ein. Chrissi und ich lümmeln auf dem Sofa und blättern durch Herrn Eisenböcks Seniorenzeitschriften. Golf ist ein heißes Thema. Weiter hinten werden die zehn schönsten Luftkurorte gekürt. Ich muss gähnen.

„Hier.“ Oma setzt sich zu uns und drückt mir ein Set Spielkarten in die Hand. „Wenn du gern Uno spielst, findest du in Helga Kinkel die perfekte Partnerin. Spielt doch eine Partie! Na?“

Ich spähe zu den anderen. Herr Popinski ist über seiner Zeitung eingeschlafen und Herr Eisenböck guckt die Parade der Volksmusik im Fernsehen. Auf dem Bildschirm singt ein Typ in Lederhosen auf einer Kuhweide.

Eigentlich würde ich lieber rüber in Omas Häuschen gehen. Um mein Zimmer zu beziehen und den Koffer auszupacken. Danach könnte ich mit den Katzen spielen und mir den Strand ansehen. Aber das kann ich Oma so natürlich nicht sagen. Immerhin sind wir bei ihren Nachbarn eingeladen. Die haben sogar Götterspeise mitgebracht.

Höflich nehme ich das Kartendeck und setze mich zu Frau Kinkel. Neugierig rollt auch Herr Eisenböck an den Tisch. Vorher dreht er noch die Schlagermusik lauter, damit er sie bis hinten hören kann.

Aus Langeweile spielt sogar Chrissi mit. Erst verläuft das Spiel ziemlich ausgeglichen, doch am Ende gewinne ich die Partie. Frau Kinkel wird Zweite. Chrissi bleibt mit einem ganzen Stapel Karten über und wirkt noch frustrierter als zuvor.

„Keine Sorge.“ Frau Kinkel klopft ihr aufmunternd auf die Schulter. „Das lernst du schon noch. Hier ist sonst nichts los. Wir können jeden Tag spielen. Uno, Canasta, Rommé, Mau Mau …“

Ich kann sehen, wie Chrissi schluckt.

„Seht mal“, ruft Herr Popinski dazwischen und zieht ein Werbeprospekt aus seiner Zeitung. „Ist das nicht Chrissi? Die mit dem Wischmop im Arm?“

Frau Kinkel und Herr Eisenböck spähen über seine Schulter. „Tatsächlich“, staunt Herr Eisenböck und sieht Chrissi an wie eine Erscheinung. „Das Wischmopmädchen. Das bist du!“

Meine Schwester macht ein empörtes Gesicht, als hätte er ihr geraten, dringend mal abzunehmen. „Na, hören Sie mal! Ich bin doch kein Wischmopmädchen!“

„Ist doch nicht schlimm.“ Frau Kinkel streicht Chrissi übers Haar. „Ist doch toll, wenn du Sauberkeit schätzt. Die wenigsten Mädchen in deinem Alter wissen, wie man richtig in die staubigen Ecken wischt.“

„Das war doch nur fürs Shooting“, stellt Chrissi klar und springt auf. Mit einem Schlag wirkt sie fürchterlich aufgebracht. „Ich bin Model und keine Putzfrau. Kapiert? Sie haben doch keine Ahnung.“ Kurzerhand knallt sie ihre Karten auf den Tisch, funkelt uns an und stürmt durch die Hintertür in den Garten.

Seufzend sehe ich ihr nach. Mich wundert es gar nicht, dass Chrissi durchdreht. Ich verrate euch jetzt mal ein Geheimnis. Meine Schwester mag zwar eine Landplage sein, aber unter ihrer rauen Schale ist sie total empfindlich.

Ich lasse Frau Kinkel und die Uno-Karten links liegen und renne unter dem verwunderten Blick meiner Oma in den Garten. Einen Moment überlege ich, wohin Chrissi gelaufen sein könnte. Dann fällt mir ein, dass es hier nichts gibt, abgesehen vom Wattenmeer im Süden und dem Strand im Norden.

Aber klar! Der Strand. Ich kann den Küstenstreifen vom Garten aus sehen. Hinter dem Zaun verläuft ein ausgetretener Dünenweg. Ich folge ihm durch den Strandhafer bis an den breiten, endlos langen Sandstrand.

Der Anblick raubt mir den Atem. Hier ist es unglaublich schön. Das Wetter hat endlich aufgeklart und jetzt schickt die untergehende Sonne rote und orangefarbene Strahlen über die spiegelnde Meeresoberfläche. Die Brandung rauscht sanft und ruhig, es riecht nach Fisch und Algen und irgendwo in der Ferne kreist ein krächzender Schwarm Möwen durch die Lüfte.

Doch weit und breit keine Spur meiner beleidigten Schwester. Nur verlassene Strandkörbe. Ich will schon umkehren, da entdecke ich eine rosa Handtasche, die achtlos neben einem der Strandkörbe liegt. Bingo.

„Kann man auf dieser Insel denn nirgendwo seinen Frieden haben?“, schimpft Chrissi, als ich näher komme. Sie trägt eine verspiegelte Sonnenbrille, hat einen Kopfhörer im Ohr und starrt aufs Meer.

„Bist du wütend, weil du dieses dumme Spiel verloren hast?“, erkundige ich mich und setze mich ungefragt in den Strandkorb.

„Quatsch. Das Spiel ist mir doch egal. Es liegt am Urlaub. Dieser Trip ist eine Katastrophe“, schnaubt Chrissi und dreht die Musik an ihrem iPod lauter.

Ich kenne den Song. Das ist der neueste Sommerhit, irgendein Schmachtfetzen, den meine Schwester ständig hört.

„Ich habe mir unseren Urlaub ohne Eltern auch etwas anders vorgestellt“, gebe ich zu.

Lange schlafen. Bücher lesen. Freundschaften schließen. Souvenirs kaufen. Den neuen Film mit Zach Efron im Kino ansehen. Aber hier gibt’s weder einen Laden noch ein Kino. Hier gibt es nichts.

Mir drückt es schwer in den Magen. Würden das die langweiligsten Ferien aller Zeiten werden? Wären wir bloß daheim geblieben. Ich hätte sicher bei Kathi wohnen können. Dann würde ich in diesem Moment mit Alfie einen ausgedehnten Ausritt durch unser Wäldchen unternehmen, mit einer Pause am Schotterteich.

„Ich will einfach nach Hause“, unterbricht Chrissi meine Träumereien. Traurig sieht sie aus. Ihre Augen sind total verquollen und die schwarze Wimperntusche hat hässliche Kleckse auf ihren Wangen hinterlassen. Mit einem Werbemodel hat sie jedenfalls keine Ähnlichkeit mehr.

Schon komisch. Verheult und ungeschminkt sieht mir Chrissi immer noch nicht ähnlich. Dass wir Schwestern sind, ist schon eine Laune der Natur. Ich habe lange dunkle Haare, bin blass und eine der kleinsten in meiner Klasse. Chrissi dagegen ist blond, hat schon einen richtigen Busen und wird gerne auf sechzehn geschätzt.

Hätten wir nicht die gleichen blauen Augen mit den braunen Sprenkeln drin, hätte ich Mama längst schon gefragt, ob ich adoptiert wurde. Aber Schwester bleibt nun mal Schwester. Ich gebe mir einen Ruck und lege meine Hand auf ihre Schulter. „Was hältst du davon, wenn wir für zwei Wochen nicht ständig aufeinander rumhacken?“, biete ich ihr an. „Du akzeptierst meinen Pferdetick und ich mache mich nicht mehr über deine Modelkarriere lustig. Wie findest du das?“

Chrissi seufzt. „Wir können es ja mal versuchen“, willigt sie ein, während die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwinden. Dann deutet sie mit dem Finger auf mein Gesicht. „Aber nur, weil wir uns auf einer verlassenen Insel befinden, kapiert?“

Ich rolle dramatisch mit den Augen und Chrissi entschlüpft ein kleines Kichern.

„Fein“, lache ich und schüttele ihre Hand. „Dann eben Freundschaft auf Zeit.“

Naturkunde

In der folgenden Nacht liege ich in Omas Gästebett und starre an die Decke. Ich bringe einfach kein Auge zu. Überall knarzt und quietscht es. Tapsgeräusche ertönen vom Treppenhaus. Dort ein Rumpeln, da ein Kratzen. Ruhig ist es in Omas Häuschen nie. Kein Wunder! Denn hier wohnen zehn nachtaktive Katzen.

Bei unserer Ankunft haben wir schon Ninja, Omas einzigen Kater, kennengelernt. Mit seinem roten Fell und dem schwarzen Fleck ums rechte Auge ist er ein echter Blickfang. Ein Pirat auf vier Pfoten. Am liebsten klettert er auf Möbel und saust dann in einem unerwarteten Moment herab. Als er vorhin in einem mächtigen Satz von der Hutablage gesprungen ist, ist mir vor Schreck der Koffer auf den Boden geknallt.

Die anderen Katzen sind nicht so temperamentvoll, sondern schlafen viel lieber. Jeder von Omas Schützlingen besitzt einen geheimen Schlafplatz. Einige dieser Verstecke habe ich schon entdeckt. Minka schläft auf dem Wäscheständer, Sissy liebt ihre Schuhschachtel und Kitty die Waschtrommel.

Irgendwann lassen die Katzengeräusche nach und ich beginne einzunicken. Ich träume von Pferden. In meiner Fantasie bin ich nicht in einem einsamen Nest gelandet, sondern auf einer Insel voller Wildpferde. Bei näherem Hinsehen gleichen sie alle Alfie. Auf dem Rücken eines der Tiere jage ich beinahe schwerelos durch die Dünen.

Ein Wiehern reißt mich aus dem Traum. Aufgeregt schrecke ich hoch und blinzele ins helle Tageslicht. Leider weckt mich kein Wildpferd, sondern nur das laute Poltern von Omas Schritten auf der Treppe.

Die Tür fliegt auf. Oma steckt in einem Jogginganzug und baut sich breitbeinig vor unserem Bett auf. „Raus aus den Federn, meine Engelchen. Wir haben Niedrigwasser, das ist die beste Zeit für Naturkunde im Watt. Wie ein Sprichwort so schön sagt. Der frühe Vogel fängt den Wattwurm.“

„Verschon mich, Oma, ich bin in den Ferien“, protestiert Chrissi und schiebt sich die Schlafmaske aus dem Gesicht. „Malina, Süße, sag doch auch was.“

Ich muss zugeben, die Sache mit der Freundschaft auf Zeit funktioniert echt gut. Gestern Abend hat mich Chrissi nicht nur zuerst duschen lassen, sondern mir sogar eine Handvoll von ihrem Erdbeer-Banane-Papaya-Duschgel abgegeben und danach gefragt, auf welcher Seite des Doppelbetts ich lieber schlafen möchte. Als ich mich zögernd für die Fensterseite entschieden habe, hat sie zuckersüß gelächelt und „Was immer du willst, Süße“ geantwortet. Seitdem stellt Chrissi dieses Süße entweder vor, hinter oder mittenrein in jede Aussage und ich fühle mich schon ein wenig wie Kerstin, Chrissis beste Freundin.

„Chrissi hat recht“, helfe ich meiner Schwester, obwohl ich schon ausgeschlafen bin und voller Tatendrang stecke. „Es ist noch zu früh.“

„Aber meine Freundin Pippa kommt auch mit“, verkündet Oma und bindet sich die Locken zum sportlichen Haarknoten. „Sie wartet auf Lavendel unten am Gartentor.“

Kaum ist der Satz raus, ertönt ein neuerliches Wiehern. Mein Herz klopft augenblicklich schneller. Das war also doch kein Traum! Mit einem Satz schlage ich die Blümchenbettdecke zur Seite und flitze zum Fenster.

Dann sehe ich ihn, leuchtend wie ein Juwel in der Morgensonne. Ein wunderschöner, eleganter Schimmel wartet an der Straße zwischen Omas Gartenzwergen und den Heckenrosen von Herrn Eisenböck. Als ich das Fenster öffne, hebt das Tier wie durch Zauberhand den Kopf, blickt mir direkt in die Augen und beginnt zu scharren, als wolle es mich zum Morgensport überreden.

„Moin, Moin“, ruft mir die Frau auf dem Pferderücken zu und winkt hoch. Diese Freundin von Oma ist ausnahmsweise keine schrullige Rentnerin. Ganz im Gegenteil. Sie ist jung, hat ihr rotes Haar zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten und trägt einen coolen Arbeitsoverall. „Kommt in die Gänge, Mädchen. Sonst überrascht uns noch die Flut.“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. In Windeseile schlüpfe ich in meine Jeans, werfe ein T-Shirt über und stehe kurz darauf unten auf der Matte. Nach einer Weile folgt auch meine gähnende Schwester und wir machen uns zu viert auf zum Watt.

„Das ist meine Freundin Phillipa“, stellt Oma die rothaarige Reiterin vor. „Sie und ihr Mann Enrico wohnen auf Gut Schwalbennest im Westen der Insel. Wir gehen jeden Morgen gemeinsam spazieren.“

„Ihr könnt mich Pippa nennen“, bietet sie uns an und reitet auf dem Schimmel voran. Sie streicht über den Hals der Stute. „Und das hier ist übrigens Lavendel.“

Fasziniert starre ich die beiden an. Pippa wirkt total cool, auch ohne Schminke und schicke Klamotten. An ihren Bewegungen sehe ich, wie perfekt sie reitet und wie brav ihr Lavendel gehorcht.

So interessiert, wie ich Lavendel bestaune, muss ich achtgeben, wo ich hintrete. Bei dem weichen Untergrund ist das Gehen nicht so einfach. Ich muss die Beine wie ein Storch heben, um nicht ins Watt zu fallen.

Neugierig halte ich an und betrachte meine Gummistiefel, die in der braungrauen Pampe versinken. Aus der Schule weiß ich, dass die Flut diesen Teil des Meeres bald in Meeresboden verwandelt. Würde ich dann noch an dieser Stelle stehen, würde ein Schwarm Heringe um meinen Kopf kreisen.

Irgendwie doch spannend, diese Insel.

Wir stapfen weiter. Pippa reitet immer ein kleines Stück vor uns und erzählt von ihrem Zuhause. Gut Schwalbennest ist eine Auffangstation, die heimatlosen Tieren ein Zuhause bietet. Bei den Bewohnern handelt es sich um Hasen und Gänse, einen Hund und zwei südamerikanische Alpakas, die der friesische Tierschutz Pippa anvertraut hat. Auch Lavendel und ein Islandpony namens Mariechen hatten kein Zuhause, bevor sie zu Pippa kamen.

„Warum wollte den denn niemand?“, fragt meine Schwester, die noch nicht ganz verstanden hat, dass Lavendel eigentlich eine Stute ist.

„Lavendel sollte als Schulpferd eingesetzt werden“, erklärt Pippa, während wir zurück zum Festland waten. „Nur leider hat sie ständig wie wild gebuckelt.“

„Gebuckelt?“, wiederhole ich. Auf Kathis Bauernhof gab es mal einen Rapphengst mit dem gleichen Problem. Buckeln kann viele Ursachen haben. Aber bei ihm war es ein Zeichen der Vorfreude, wenn ein Ausritt bevorstand.

Pippa nickt. „Einmal hat Lavendel sogar eine Schülerin abgeworfen“, erzählt sie weiter. „Danach kam sie zum Pferdehändler und galt wegen ihrer störrischen Art als schwer vermittelbar.“ Sie beugt sich etwas nach vorne und streicht Lavendel sanft über den Hals. „Unsere Diva lässt sich nicht von jedem reiten.“

Wählerisch und störrisch? Mit Pippa im Sattel wirkt Lavendel, als könne sie kein Wässerchen trüben. Ich kann mir schon vorstellen, wie die Stute tickt. Sie ist lammfromm, außer jemand geht ihr gewaltig gegen den Strich, dann zeigt sie die Zähne.

„Was hältst du davon, wenn du mich später auf Gut Schwalbennest besuchst, Malina?“, schlägt Pippa vor. „Gegen Mittag trifft Flash ein. Ein verunfalltes Sportpferd, das nicht mehr geritten werden darf. So ein neues Beistellpferd wird ganz schön viel Aufmerksamkeit brauchen. Und ich bin dankbar für jede helfende Hand.“

„Klar“, sage ich prompt.

Okay, Flash ist bestimmt toll, aber in Wahrheit will ich Lavendel wiedersehen. Seit mich die Schimmelstute am Dachfenster entdeckt hat, weiß ich genau, dass wir einen Draht zueinander haben.

Zum ersten Mal, seit ich auf Seeholm angekommen bin, bin ich richtig euphorisch. Ob ich auf Lavendel reiten darf? Dann hätte ich meinen Reithelm doch nicht umsonst eingepackt.

Zufrieden strahle ich vor mich hin. Endlich kommt Leben in diesen Urlaub!

Pünktlich zum Mittagessen lässt sich zum ersten Mal der Sommer blicken. Chrissi und ich sitzen in Bermudas auf Omas Terrasse und essen zwischen Heckenrosen und Krähenbeeren zu Mittag.

Vorhin ist Herr Eisenböck zu uns rübergerollt. Oma und er haben eine Art Ritual. Jeden Vormittag verabreden sie sich zum Kräuterteetrinken. Danach sitzen sie stundenlang in Omas Obstgarten und plaudern über Apfelsorten, Schlagermusik und Gott und die Welt.

Chrissi behauptet, dass Omas Stimme total piepsig geworden ist, als Herr Eisenböck eben vor der Tür gestanden ist. Sie denkt, Oma und ihr Nachbar sind heimlich ineinander verliebt.

Typisch Chrissi. Mir ist das nicht aufgefallen. Vielleicht habe ich kein Gespür für solche Dinge, weil ich noch keinen Freund hatte. Meine Stimme ist jedenfalls noch nie in die Höhe geschnellt, weil mir ein Junge über den Weg gelaufen ist. Ich hatte nur ein einziges Mal einen Frosch im Hals. Das war während einer fiesen Kehlkopfentzündung im Januar.

Wenn Verliebtsein genauso schmerzhaft ist, können mir alle weiteren Frösche im Hals gestohlen bleiben. So viel ist sicher.

„Und du willst bestimmt nicht mitkommen?“, biete ich meiner Schwester höflichkeitshalber an, als ich nach dem Essen Richtung Gut Schwalbennest aufbreche.

Sie schenkt mir ihr zuckersüßes Lächeln. „Nö. So ein Gaul, äh, Pferd interessiert mich nicht. Ich gehe heute lieber an den Strand“, sagt sie und richtet ihren Kopf in den Himmel, als wolle sie die Strahlen aufsaugen, aus Angst, dass der Nordsee plötzlich die Sonne ausgeht.

Wenn Chrissi an den Strand will, stört mich das nicht im Geringsten. Unserer neuen Freundschaft traue ich ohnehin nicht ganz über den Weg. Dass Chrissi plötzlich zum Pferdefreak mutiert und in ihren Glitzershirts Lavendels Hufe auskratzt? Undenkbar!

„Tschüss, ihr beiden“, verabschiede ich mich. Ich schnappe meinen Reithelm, verstaue ihn aber in meinem Rucksack. Pippa soll nicht sehen, dass ich schon von einem Ritt mit Lavendel träume. Sie hat es ja noch nicht erlaubt.

„Tschüss, mein Engelchen“, ruft Oma.

„Ciao, Süße!“, säuselt Chrissi.

Und schon befinde ich mich auf dem Weg zu Pippa. Ich bin noch keine zehn Minuten entlang des Deichs gewandert, als sich schon ein großer Backsteinbau mit reetgedecktem Dach vor mir erhebt.

Der Hof sieht genau so aus, wie Pippa erzählt hat. Der lange Pferdestall, dahinter die Gehege für die Gänse und die Hasen. Auf den ersten Blick wirkt der Hof wie ein Paradies. Erst beim zweiten Hinsehen fallen mir die bröckelnde Fassade und die alten Geräte auf.

„Hallo? Jemand zu Hause?“, rufe ich und wage mich durchs Hoftor. Niemand antwortet. Ein Wachhund sonnt sich auf der Wiese, die Hasen schlafen im Stall und die beiden Alpakas futtern Gras. Beinahe gespenstisch ruhig wirkt der Hof. Nur hinten auf der Koppel wiehert es.

Ich entdecke Lavendel beim gemütlichen Grasen neben einem gescheckten Islandpony. Als ich am Gatter auftauche, recken mir die beiden Pferde neugierig ihre Köpfe zu. Für einen kurzen Moment mustern sie mich. Doch dann senkt sich der Kopf der Islandstute wieder gelangweilt ins Gras.

Nur Lavendel denkt nicht mehr ans Fressen. Sie jagt über die Wiese, prescht an dem Pony vorbei und stupst mich mit den Nüstern an. Ich habe mich also nicht getäuscht. Die Chemie zwischen uns hat vom ersten Moment an gestimmt. Wusste ich’s doch!

„Na, wie wär’s? Nutzen wir die Zeit, um uns besser kennenzulernen?“, biete ich ihr an und streichle über ihr weißes Fell.

Lavendel stupst mich mit den Nüstern an und das ist mir Antwort genug. Ich hole Striegel, Kardätsche und Mähnenkamm aus der Stallgasse, führe Lavendel in den Hof und beginne mit der Schönheitspflege. Ich bürste ihren Körper sorgfältig ab, dann kümmere ich mich um die Hufe. Lavendel lässt alles geduldig über sich ergehen. Ich glaube, sie mag mich tatsächlich. Entweder das, oder sie ist ziemlich eingebildet.

Als ich Lavendel zurück auf die Koppel bringe, spüre ich ein seltsames Prickeln im Nacken. Verdutzt halte ich inne und sehe mich um. Werden wir beobachtet?

Ach! Da ist ja doch jemand zu Hause! Ein blonder Junge steht am Fenster und beobachtet mich. Obwohl uns einige Höhenmeter trennen, kann ich sehen, wie außergewöhnlich hübsch er ist. Blasse Haut, gleichmäßige Gesichtszüge. Vollkommen fasziniert starre ich ihn an.

Der Junge fängt meinen Blick und sieht nicht gerade freundlich zu mir herunter. Einen Moment lang blicken wir uns an, dann hebe ich zaghaft die Hand und winke.

Er winkt nicht zurück, sondern heftet den Blick aufs Hoftor. Erst da höre ich es auch: das Brummen eines Wagens. Ein Jeep mit Hänger rollt auf den Hof. Pippa sitzt am Steuer und winkt mir aufgeregt zu. Ihre roten Zöpfe flattern wild im Fahrtwind des offenen Fensters.

Aus Reflex wende ich mich noch mal zu dem Jungen um. Niemand mehr da. Beinahe gespenstisch schnell ist der Typ verschwunden. Das ist ja seltsam. Pippa hat mir gar nicht erzählt, dass sie einen Sohn hat.

„Moin, Moin. Du warst aber schnell da!“, begrüßt mich Pippa und stapft in giftgrünen Gummistiefeln ums Auto. Dann entdeckt sie den Striegel in meiner Hand. „Hui, du warst ja schon fleißig. Kannst es wohl nicht erwarten, dich um die Pferde zu kümmern?“

„Klar“, strahle ich sie an. „Womit kann ich dir helfen?“

„Mit unserem Neuzugang hier“, erklärt Pippa. Über die Hängerrampe stakst ein dunkles, stattliches Pferd mit breitem Rahmen und seidiger Mähne. Sein Fell glänzt in der Sonne und es scharrt unruhig und hektisch mit den Hufen. Ein richtiges Kraftpaket, dieser Flash.

Wirklich eine Schande, dass der Besitzer ihn nach dem Unfall beim Vielseitigkeitsreiten einfach weggegeben hat, nur weil der Pferderücken nicht mehr belastbar ist. So ein Tier ist doch kein Auto, das man auf den Schrottplatz bringt, wenn es kaputtgeht. Zum Glück hat Pippa den Wallach entdeckt und aufgenommen.

„Hol erst mal den Hufauskratzer“, weist sie mich an und hat sichtlich Mühe, Flash zu halten. Der Wallach wiehert aufgeregt und tänzelt herum. „Ich bringe ihn in den Stall und kümmere mich um die verkrusteten Stellen auf seinem Fell. Danach kann er sich auf der Koppel von der langen Fahrt austoben. Allerdings sollten wir vorher die Stuten in die Box bringen. Sonst beißt er sie womöglich noch.“

„Alles klar.“ Während Pippa versucht, Flash zu beruhigen, laufe ich los und hole den Hufauskratzer. Dann suche ich einen feuchten Schwamm und Haushaltspapier, um empfindliche Stellen, wie die Augen, zu reinigen.

Nach einer halben Stunde sieht Flash schon viel gepflegter aus. Nur ich schwitze wie beim Schulsport im Sommer.

Als ich zum dritten Mal aus dem Stall eile, kommt gerade ein Mann auf einem Fahrrad auf den Hof. Er trägt ein weißes Käppchen und hat eine große Truhe mit der Aufschrift „Gelati“ an seinem Rad befestigt.

Ungläubig reibe ich meine Augen. Träume ich? Ist das eine Fata Morgana oder tatsächlich ein Eisverkäufer hier mitten im Nirgendwo?

Der Fahrer springt ab und eilt auf mich zu. „Belissima! Du musst Malina sein“, begrüßt er mich mit italienischem Akzent und drückt mir einen überschwänglichen Kuss auf die Wange. „Ich bin Enrico, Pippas Ehemann. Sie hat mir schon erzählt, dass du uns heute unterstützt.“

Ach, das ist also Pippas Mann! „Du bist Eisverkäufer?“, staune ich.

Enrico wackelt mit dem Kopf. „Das wäre ich gerne. Heute habe ich nur zwei Kugeln verkauft. Ich glaube, hier ist es zu kalt für Eiscreme.“ Hoffnungsvoll deutet er auf die Truhe an seinem Rad. „Aber was ist mir dir? Brauchst du vielleicht eine Erfrischung?“

Oje. Mein schlechtes Gewissen packt mich. Sofort fühle ich mich verpflichtet, ein Eis zu kaufen. Immerhin lebt Gut Schwalbennest nur von Enricos mickrigen Eisverkäufen.

„Klar. Ich nehme zwei Kugeln.“ Es ist ohnehin Zeit für eine Pause, beschließe ich und setze meine Sonnenbrille auf. Die ist rosa, mit Gläsern in Herzform. Sie wirkt zwar lächerlich, aber vor Pferden brauche ich mich wirklich nicht zu schämen. Sonne, Hufgeklapper und jetzt auch noch Eiscreme! Was will man mehr?

Enrico schenkt mir sein schönstes Italienerlächeln. „Zwei Kugeln. Si, certo“, säuselt er, bohrt den Eislöffel in die Box und reicht mir eine Eistüte.

Skeptisch betrachte ich mein Eis. Die Kugeln haben eine seltsame Farbe. Braungrau. Sieht aus wie die Pampe, durch die Chrissi und ich am Morgen mit den Gummistiefeln gewatet sind.

„Die Sorte nenne ich Wattmeereis“, erklärt Enrico mit stolz geschwellter Brust. „Ich habe sie speziell für diese Insel kreiert. Probier!“

Wattmeereis? Vorsichtig teste ich es. Schmeckt zwar nicht wie Meeresboden, sondern wie Cola gemischt mit Milch. Genauso widerlich. Langsam wird mir klar, warum Enrico heute nicht viel Umsatz gemacht hat.

„Und?“, will Enrico wissen.

„Hm, lecker“, lüge ich, während meine Geschmacksknospen Alarm schlagen.

„Nachschub gefällig?“, bietet Enrico an.

In diesem Moment ruft Pippa nach mir. Ehe ich mich versehe, klatscht Enrico eine dritte Kugel auf die Eistüte. Beim nächsten Gang zum Misthaufen muss ich das Zeug schleunigst verschwinden lassen.

„Ah, ihr habt euch schon kennengelernt“, sagt Pippa, als sie aus dem Stall tritt und sich den Schweiß von der Stirn wischt. „Malina, holst du bitte ein engeres Halfter? Im ersten Stock haben wir eine Rumpelkammer, da lagert altes Reitzeug.“