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Eigenanzeige

Danksagung

Wieder einmal möchte ich von Herzen allen danken, die mir dabei geholfen haben, meine Worte in ein echtes Buch zu verwandeln.

Ich danke meiner fantastischen Agentin Annelise Robey dafür, dass sie immer so viel Geduld mit mir hat, und meinen ebenso fantastischen Lektorinnen Megan McKeever und Lauren McKenna für ihre Ratschläge, ihre Anregungen und ihre Unterstützung. Ihr habt alle dafür gesorgt, dass es noch mehr Spaß gemacht hat, über Gin zu schreiben.

Außerdem möchte ich Tony Mauro für die wunderbaren Buchcover danken. Jedes Mal denke ich, Tony könne sich auf keinen Fall ein weiteres Mal übertreffen, nur um dann erneut in Ehrfurcht zu erstarren.

Und schließlich möchte ich all meinen Lesern dort draußen danken. Zu wissen, dass es dort draußen Leute gibt, die meine Bücher lesen und genießen, erfüllt mich immer wieder mit Demut. Ich bin froh, dass ihr Gin und ihre Abenteuer mögt.

Viel Spaß!

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1

»Wirst du diesen Kerl jetzt umbringen? Oder wollen wir die ganze Nacht hier herumsitzen?«

»Geduld, Finn«, murmelte ich. »Wir sitzen erst seit einer Stunde im Auto.«

»Die längste Stunde meines Lebens«, seufzte er.

Ich sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Finnegan Lane, meinem Komplizen für den Abend. Eigentlich für die meisten Abende. Es war kurz nach zehn Uhr, ein paar Tage vor Weihnachten, und wir saßen auf den dunklen Sitzen von Finns schwarzem Cadillac Escalade. Er hatte den Wagen vor einer Stunde in einer abgelegenen Gasse geparkt, die uns einen guten Ausblick über die Docks am Aneirin ermöglichte. Seitdem saßen wir hier – und Finn meckerte nonstop.

Er rutschte auf seinem Sitz herum, während ich ihn musterte. Der Wollstoff seines dicken Mantels betonte seine breiten Schultern, auch wenn eine schwarze Wollmütze die walnussfarbenen Haare verbarg. Seine Augen zeigten selbst im Halbdunkel ein leuchtendes Grün, und es gelang den Schatten nicht, die Attraktivität seines kantigen Gesichts zu verhüllen.

Die meisten Frauen wären froh gewesen, so nah bei Finnegan Lane zu sein. Dank seines strahlenden Lächelns und seines natürlichen Charmes hätte er die meisten von ihnen bereits auf dem Rücksitz gehabt, mit aufgeknöpfter Bluse und gespreizten Beinen, während die Fenster des Autos beschlugen und der Wagen rhythmisch wackelte.

Nur gut, dass ich nicht die meisten Frauen war.

»Komm schon, Gin«, jammerte Finn wieder. »Zieh los, ramm ein paar von deinen Messern in den Kerl und hinterlass Mab deine Rune, damit wir hier verschwinden können.«

Ich starrte durch die Windschutzscheibe. Auf der anderen Seite der Straße fuhr der Kerl, den Finn meinte, im Licht einer Straßenlaterne damit fort, hölzerne Kisten von dem kleinen Schleppkahn abzuladen, mit dem er vor ungefähr einer Dreiviertelstunde ans Dock gefahren war. Selbst aus der Entfernung konnte ich hören, wie die verwitterten Holzbohlen unter dem Gewicht ächzten, während der Fluss unter ihnen hindurchfloss.

Der Mann war ein Zwerg – klein, untersetzt, breit gebaut, stark – und trug schwarze Kleidung, die fast der entsprach, die Finn und ich auch anhatten. Jeans, Stiefel, Pulli, Jacke. Die Art von anonymem Outfit, das man anlegte, wenn man in der Nacht herumschleichen wollte, besonders in der rauen Gegend von Southtown. Und ganz sicher dann, wenn man verhindern wollte, dass jemand anderes mitbekam, was man so trieb. Oder wenn man vorhatte, jemanden umzubringen, wie es bei mir heute Nacht der Fall war. Das galt eigentlich für die meisten Nächte.

Ich rieb mit dem Daumen über den Knauf des Steinsilber-Messers, das ich in der rechten Hand hielt. Das Metall glänzte im spärlichen Licht des Wageninneren nur schwach. Das kühle Gewicht der Waffe übte wie immer eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Der Griff berührte leicht die Spinnenrunen-Narbe in meiner Handfläche.

Es wäre nur zu leicht gewesen, Finns Gequengel nachzugeben, aus dem Auto zu gleiten, die Straße zu überqueren, mich hinter den Zwerg zu schleichen, ihm die Kehle durchzuschneiden und seine Leiche vom Dock in den kalten Fluss darunter zu werfen. Wahrscheinlich würde ich mir nicht mal die Kleidung mit Blut besudeln, wenn ich den richtigen Winkel erwischte.

Denn das war es, was Profikiller taten. Das war es, was ich tat. Ich. Gin Blanco. Die Auftragsmörderin, die als »Die Spinne« bekannt war, eine der besten in meiner Branche.

Doch ich stieg nicht aus dem Wagen, wie Finn es wollte. Stattdessen seufzte ich. »Er scheint kaum die Mühe wert zu sein. Er ist ein Lakai, genau wie alle anderen, die ich in den letzten zwei Wochen getötet habe. Mab wird für seinen Job jemand anderen angeheuert haben, noch bevor sie seinen Leichnam aus dem Fluss ziehen.«

»Hey, du warst diejenige, die beschlossen hat, Mab Monroe den Krieg zu erklären«, stellte Finn klar. »Korrigier mich, wenn ich falschliege, aber ich hatte das Gefühl, dass du sogar recht scharf darauf bist, dich langsam in der Nahrungskette nach oben zu morden, bis du die Schlampe schließlich selbst ins Visier nimmst. Du hast gesagt, das würde dir Spaß machen.«

Jetzt war es an mir, zu nörgeln. »Das war vor sechs Morden. Inzwischen sehne ich mich nur noch danach, Mab umzubringen und damit jedem in Ashland ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk zu präsentieren, mir selbst eingeschlossen.«

Doch Finn hatte recht. Vor ein paar Wochen hatte eine Folge von Ereignissen dafür gesorgt, dass ich Mab offiziell den Krieg erklärt hatte, und jetzt musste ich mich mit den Folgen auseinandersetzen – und der damit einhergehenden Langeweile.

Mab Monroe war die Feuermagierin, die unsere Südstaatenstadt Ashland regierte wie ihr eigenes kleines Königreich. Für die meisten Leute war sie der Inbegriff der Tugend, eine Feuermagierin, die ihre Magie, geschäftlichen Verbindungen und ihr Geld einsetzte, um Wohltätigkeitsprojekte in der gesamten Stadt zu unterstützen. Doch diejenigen, die auf der Schattenseite des Lebens standen, wussten genau, was Mab wirklich war – die Chefin eines mafiaähnlichen Reiches, das von Glücksspiel über Drogen bis hin zu Prostitution und Entführungen alles Übel einschloss. Mord, Schutzgeld, Folter, Erpressung, Prügelattacken. Mab konnte all das und noch mehr quasi aus dem Stegreif befehlen. Die Feuermagierin war so wohlhabend, so mächtig, so stark in ihrer Magie, dass niemand es wagte, sich gegen sie aufzulehnen.

Na ja. Von mir mal abgesehen.

Ich hatte einen besonderen Grund, Mab zu hassen – sie hatte meine Mutter und meine ältere Schwester ermordet, als ich gerade mal dreizehn Jahre alt gewesen war. Und sie hatte vorgehabt, dasselbe auch mir und meiner kleinen Schwester Bria anzutun. Doch an diesem schicksalhaften Abend vor so langer Zeit hatte Mab zuerst mich eingefangen und gefoltert, bevor sie ihr eigentliches Ziel, meine Schwester, gefunden hatte. So war ich an die beiden Narben auf meinen Handflächen gekommen.

Ich rieb mit dem Knauf erst über die eine Narbe in meiner Hand, dann über die andere. Ein kleiner Kreis, umgeben von acht dünnen Strahlen, war in jede meiner Hände gebrannt. Eine Spinnenrune. Das Symbol für Geduld. Mein Name als Auftragskillerin. Und eine Rune, der Mab inzwischen überall begegnete, wo sie hinging.

In den letzten zwei Wochen hatte ich Mabs Männer verfolgt, hatte ihr Unternehmen ausgekundschaftet und herausgefunden, in welche illegalen Geschäfte sie verwickelt war. Ich hatte ein paar ihrer Handlanger erledigt, wann immer ich sie dabei erwischte, wie sie Dinge taten, die sie nicht tun sollten, oder Leuten Schmerzen zufügten, die keinen Schmerz verdient hatten. Eine kurze Drehung meines Messers, ein Herabsausen meiner Klinge, und Mab Monroe besaß einen Soldaten weniger in ihrer kleinen Armee des Grauens.

Es war nicht schwer gewesen, ihre Handlanger zu töten, zumindest nicht für mich. Ich hatte die letzten siebzehn Jahre meines Lebens als Auftragsmörderin verbracht, abgesehen von ein paar Monaten, in denen ich mich im Ruhestand gewähnt hatte. Manche Fähigkeiten verlor man einfach nie.

Früher hatte ich nichts zurückgelassen, wenn ich jemanden umgebracht hatte. Keine Fingerabdrücke, keine Waffe, keine DNS. Doch bei Mabs Männern dekorierte ich den Tatort jedes Mal mit dem Symbol meiner Spinnenrune, ganz nah neben der Leiche. Um Mab zu verhöhnen. Um Mab wissen zu lassen, wer ihre Pläne durchkreuzte und dass ich entschlossen war, ihr Reich zu zerstören und einen nach dem anderen abzumurksen, wenn es denn nötig war.

Deswegen saßen Finn und ich jetzt hier im Dunkeln an den Docks, in diesem gefährlichen Viertel von Southtown. Finn hatte von einer seiner Quellen den Tipp bekommen, dass Mab eine Ladung Drogen und anderes illegales Zeug in Ashland erwartete. Also hatte ich beschlossen, hierherzukommen und mal zu sehen, was ich tun konnte, um einen weiteren von Mabs Plänen zu vereiteln, ihr eine lange Nase zu drehen und sie auf die Palme zu bringen.

»Komm schon, Gin«, sagte Finn und unterbrach damit meine Gedanken. »Komm in die Gänge! Der Kerl ist allein. Hätte er einen Partner, hätten wir ihn bereits entdeckt.«

Ich musterte den Zwerg, der inzwischen mit dem Entladen des Kahns fertig war und begonnen hatte, die Kisten zu einem Lieferwagen am Ende des Docks zu schleppen.

»Ich weiß«, sagte ich. »Doch irgendwas stimmt einfach nicht.«

»Klar«, murmelte Finn. »Nämlich dass ich meine Füße nicht mehr spüren kann und du mir nicht erlaubst, die Heizung anzuschalten.«

»Trink deinen Kaffee. Dann fühlst du dich besser. So ist es doch immer.«

Zum ersten Mal am heutigen Abend erhellte ein breites Grinsen Finns Gesicht. »Das halte ich für eine hervorragende Idee.«

Er griff nach hinten und fischte eine große silberne Thermoskanne aus dem Fußraum des Rücksitzes. Er drehte den Deckel ab, und der Duft seines Malzkaffees erfüllte den Wagen. Dieser Geruch erinnerte mich immer an seinen Vater, Fletcher Lane. Er war mein Mentor gewesen, derjenige, der mir alles darüber beigebracht hatte, was es bedeutete, eine Profikillerin zu sein. Der alte Mann hatte dieselbe Plörre getrunken wie sein Sohn, bis er vor einigen Monaten ermordet worden war. Ich lächelte bei der Erinnerung an ihn und wegen der Wärme, die sich dabei in meiner Brust ausbreitete.

Während Finn seinen Kaffee trank, beobachtete ich weiter das Geschehen vor mir. Alles schien ruhig, kalt, dunkel. Doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass hier etwas faul war. Dass diese ganze Szenerie irgendwie falsch aussah. Fletcher hatte mir immer erklärt, dass es nie verkehrt war, wenn man ein paar Minuten länger wartete. Dieser Ratschlag hatte mich ein ums andere Mal am Leben gehalten, und ich hatte nicht vor, ihn heute Abend zu missachten.

Wieder ließ ich meinen Blick über die Gegend schweifen. Leere Straße. Ein paar verfallene Gebäude am Ufer. Das schwarze Band des Aneirin River. Die fahlen Bretter des Docks. Eine einsame Glühbirne, die über dem Kopf des Zwerges flackerte 

Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf das Licht, das in der dunklen Nacht wie ein Leuchtfeuer strahlte. Dann sah ich die Straße entlang, kontrollierte eine Laterne nach der anderen. Jede andere Lampe in diesem Block war zerstört worden. Nicht überraschend. Wir befanden uns schließlich in Southtown, dem Teil von Ashland, in dem die Gangs, die Vampirnutten und die Elementare lebten, die süchtig nach dem Gebrauch ihrer eigenen Magie waren. In diesem Viertel wurde man genauso schnell umgebracht wie angeschaut. Es war kein Ort, an dem man sich länger aufhalten wollte, nicht einmal tagsüber.

Also überraschte es mich nicht, dass die Straßenlaternen zerstört worden waren, wahrscheinlich schon vor langer Zeit; von geworfenen Steinen, Bierflaschen und anderem Dreck, den man mühelos von der Straße aufheben konnte. Seltsam war jedoch, dass nur diese eine Glühbirne noch brannte – ausgerechnet die, die über dem Lieferwagen schwebte, in den der Zwerg gerade Kisten mit illegalem Zeug einräumte.

Wie … praktisch.

»Du kannst es dir wieder gemütlich machen«, sagte ich, während ich die einsam leuchtende Laterne anstarrte. »Denn wir werden noch eine Weile hierbleiben.«

Finn stöhnte.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Weniger als eine Viertelstunde später lud der Zwerg die letzte Kiste in den Lieferwagen. Sobald ich angefangen hatte, ihn zu beobachten – ihn wirklich zu beobachten –, war mir klar geworden, dass er sich bei der ganzen Sache ziemlich viel Zeit ließ. Er bewegte sich langsamer, als man es gewöhnlich getan hätte, besonders angesichts der eisigen Kälte, die Ashland heute Nacht fest im Griff hielt. Andererseits war das hier auch bei Weitem nicht so harmlos, wie es von außen erscheinen mochte.

Jetzt stand der Zwerg neben dem Lieferwagen, rauchte eine Zigarette und starrte mit wachsamem Blick in die Dunkelheit.

»Was treibt er da?«, fragte Finn, bevor er noch einen Schluck Kaffee trank. »Wenn der Mann auch nur einen Funken Verstand hätte, würde er den Motor anwerfen, die Heizung anschalten und hier verschwinden.«

»Warte«, murmelte ich. »Warte einfach.«

Finn seufzte und nahm noch einen Schluck von seiner Malzbrühe.

Weitere fünf Minuten vergingen, bevor eine Bewegung am Dock meine Aufmerksamkeit erregte. »Da«, sagte ich und lehnte mich vor. »Verdammt noch mal, genau da.«

Eine Gestalt trat hinter einer kleinen niedrigen Baracke am Ende des Docks hervor.

Finn richtete sich so plötzlich auf, dass er fast seinen Kaffee auf den Ledersitzen verteilt hätte. »Wo zur Hölle kommt der Kerl her?«

»Kein Kerl«, murmelte ich. »Eine Sie.«

Die Frau schlenderte den Steg entlang auf den Zwerg zu. Die einzelne Laterne erlaubte mir trotz der Dunkelheit einen guten Blick auf sie. Sie war winzig und schlank, ungefähr in meinem Alter, also so um die dreißig. Ihre dunklen Haare waren zu einem Bob geschnitten und wurden von einer Art Stirnband zurückgehalten. Ihre Gesichtszüge wirkten asiatisch – porzellanweiße Haut, ausdrucksvolle Augen, schmale Wangenknochen. Außerdem war sie von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet wie der Rest von uns auch.

Ich runzelte die Stirn. Keine vernünftige Frau würde sich nachts allein in dieser Gegend aufhalten. Verdammt, viele würden es nicht einmal tagsüber wagen – noch weniger würden im Dezember, bei Temperaturen um minus fünf Grad eine gute Stunde in einer heruntergekommenen Bretterbude ausharren.

Außer sie hatten einen wirklich sehr guten Grund dafür. Und langsam drängte sich mir das Gefühl auf, dass ich dieser Grund war.

Die Frau erreichte den Zwerg, der seine Zigarette austrat. Sie sagte etwas zu dem Mann, der langsam mit dem Kopf nickte. Dann drehte sich die Frau um und spähte auf die Straße, auf dieselbe Art, wie ich es die letzte Stunde immer wieder getan hatte. Doch ich wusste, dass sie uns nicht sehen konnte. Der Müllcontainer am Beginn der Gasse schirmte unser Auto vor ihren Blicken ab.

Nach einer halben Minute intensiver Musterung drehte sich die Frau wieder zu dem Zwerg um und ging auf ihn zu. Für einen Moment wirkte er verwirrt. Dann überrascht. Dann riss er die Augen auf, wirbelte herum und wollte vor ihr weglaufen. Er kam vielleicht fünf Schritte weit, bevor sie die rechte Hand hob und ein grüner Blitz aus ihren Fingerspitzen schoss.

Der Zwerg wurde steif und schrie laut genug, dass das Geräusch durch die verlassene Straße hallte, während der Blitz seinen Körper zum Zucken brachte. Die Frau ging weiter auf ihn zu, und je näher sie ihm kam, desto intensiver wurde das magische Licht, das von ihrer Hand ausging.

Sie war verdammt stark. Sie stand um die dreißig Meter von mir entfernt, aber trotzdem konnte ich das scharfe statische Knistern ihrer Macht spüren, sogar hier im Auto. Ihre Elementarmagie ließ die Spinnenrunen-Narben auf meinen Handflächen brennen und jucken, wie sie es immer taten, wenn sie viel Macht, einem Aufwallen von roher Magie ausgesetzt waren. Und diese Frau hatte wirklich eine Menge davon.

Eine Sekunde später ging der Zwerg in Flammen auf. Er schwankte hin und her, bevor er schließlich auf den rissigen Asphalt fiel. Doch die Frau stoppte ihren magischen Angriff nicht. Sie stand über seiner Leiche und schickte eine Welle Blitze nach der anderen in seinen Körper, während die grünen elementaren Flammen ihrer Macht seine Haut, Haare und Kleidung verschlangen.

Als sie fertig war, ballte die Frau ihre Hand zur Faust. Die hellen Blitze flackerten kurz, um sich dann in nichts aufzulösen wie eine Kerze, die man ausgepustet hatte. Graugrüner Rauch stieg von ihren Fingerspitzen auf, den sie auf die Art wegblies, wie die Revolverhelden im Wilden Westen nach einem Duell auf ihren Colt pusteten. Wie dramatisch.

»Hast du das gesehen?«, flüsterte Finn, die grünen Augen weit aufgerissen. Der Kaffee in seiner Hand war offenbar vergessen. »Sie hat ihn durch Stromschläge getötet.«

»Ja. Ich habe es gesehen.«

Ich fügte nicht hinzu, dass sie ihre Elementarmagie dafür eingesetzt hatte. Das hatte Finn genauso deutlich gesehen wie ich.

Elementare waren Leute, die eines der vier Elemente – Luft, Feuer, Eis und Stein – erschaffen, kontrollieren und beeinflussen konnten. Das waren die Bereiche, in denen die Begabungen der meisten Elementare lagen, diejenige, die man anzapfen können musste, um als echter Elementar zu gelten. Doch Magie offenbarte sich in vielen Formen, hatte viele Facetten. Daher gab es auch Elementare, deren Begabungen in einem der Ableger der Elemente lagen. Metall zum Beispiel war ein Ableger der Steinmagie, Elektrizität gehörte in die Gruppe der Luftmagie. Dank der geheimnisvollen Frau hatten wir gerade einen sehr effizienten Einsatz dieser Art von Magie gesehen.

Ich war ebenfalls ein Elementar. Ich besaß die seltene Fähigkeit, zwei Elemente kontrollieren zu können: Stein und Eis. Doch ich hatte noch nie zuvor jemanden mit einer Begabung für Elektrizität gesehen. Und jetzt fragte ich mich, ob ich auf diese Erfahrung nicht auch gut hätte verzichten können.

Die Frau stieß die Leiche des Mannes mit einem Fuß an. Ein großer Teil seines Körpers, vor allem die Extremitäten, zerfiel bei ihrer Berührung zu grauer Asche und flirrte in der Luft wie ein makabrer Nebel. Bei diesem Anblick verzogen sich die Lippen der Frau zu einem Lächeln. Dann griff sie in ihre Manteltasche, zog etwas Weißes heraus und warf es auf die Leiche, bevor sie zum Lieferwagen ging und auf den Fahrersitz glitt.

Dreißig Sekunden später lenkte die Frau den Lieferwagen die Straße entlang, bog um eine Ecke und verschwand aus unserem Blickfeld. Doch statt den Lieferwagen zu beobachten, starrte ich auf die verbrannte Leiche, die sie zurückgelassen hatte, und fragte mich, was dieses weiße Ding war, das auf der immer noch rauchenden Brust lag.

»Soll ich ihr folgen?«, fragte Finn, die Hand bereits am Zündschlüssel.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Bleib hier und pass auf.«

Ich stieg aus dem Wagen und schlich über die Straße, wobei ich von Schatten zu Schatten huschte, ein Steinsilber-Messer in jeder Hand. Nach ungefähr zwei Minuten vorsichtigen Schleichens und jeder Menge Pausen, um zu lauschen, erreichte ich die Ecke des Gebäudes, das der Leiche des Zwerges am nächsten lag. Dort kauerte ich unsichtbar in der Dunkelheit, bis ich mir sicher war, dass die geheimnisvolle Frau nicht nur einmal um den Block gefahren war, um zu sehen, ob jemand ihr Werk bewundern wollte. Dann holte ich tief Luft, stand auf und ging zu dem toten Zwerg.

Selbst jetzt, Minuten nach dem eigentlichen Angriff, stieg noch Rauch von der Leiche auf wie elegante graugrüne Bänder, die dem schwarzen Himmel entgegenstrebten. Ich atmete durch den Mund, trotzdem nahm ich den Gestank von verbranntem Fleisch wahr. Der vertraute Geruch löste jede Menge Gefühle in mir aus, die besser tief vergraben geblieben wären. Doch jetzt drängten sie an die Oberfläche, ob es mir gefiel oder nicht.

Für einen Moment war ich wieder dreizehn. Ich weinte und schluchzte, während ich auf die mit Asche bedeckten Formen hinuntersah, die meine Mutter Eira und meine Schwester Annabella gewesen waren, bevor Mab Monroe ihr Elementarfeuer eingesetzt hatte, um sie zu verbrennen. Ich musste darum kämpfen, mich nicht zu übergeben, als mir klar wurde, was man ihnen angetan hatte. Was man vor dem nächsten Morgen auch Bria und mir antun würde. Die süße kleine Bria 

Entschlossen schüttelte ich die Erinnerung ab. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, bis ich spürte, wie sich die Knäufe meiner Steinsilber-Messer in die Spinnenrunen-Narben auf meinen Handflächen bohrten. Nur mit Mühe gelang es mir, meine Hände zu entspannen, dann ging ich in die Hocke, um mir den weißen Fleck auf der Leiche des Zwerges genauer anzusehen.

Zu meiner Überraschung war es eine einzelne weiße Orchidee mit weichen Blütenblättern, auserlesen und elegant. Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete die Blüte nachdenklich. Ich wusste, was sie bedeutete und wer sie hier hinterlassen hatte, damit sie gefunden wurde. Das war ihr Markenzeichen. Ihr Zeichen, wie es bei mir die Spinnenrune war. Sie hatte die Blume hier hingelegt, um ihre Anwesenheit zu verkünden, ihr Mordopfer für sich zu beanspruchen und um jeden zu warnen, der es wagte, ihr in die Quere zu kommen. Sie verhöhnte mich, so wie ich Mab Monroe die letzten zwei Wochen über verhöhnt hatte.

»LaFleur«, murmelte ich, weil ich ihren Namen laut hören wollte.

Ein Profikiller war nach Ashland gekommen – um mich zu töten.

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2

»Du kannst dir nicht sicher sein, dass sie hier ist, um dich zu töten, Gin«, sagte Finn.

Nachdem ich den toten Zwerg untersucht hatte, war ich wieder über die Straße gejoggt und in Finns Escalade eingestiegen. Dann hatten wir die Docks und die finsteren Straßen von Southtown hinter uns gelassen. Jetzt fuhren wir gerade durch die Innenstadt, auf dem Weg in die Vorstädte, die Ashland umschlossen.

Die Geldscheffler hatten die Hochhäuser und Bürogebäude der City schon lange verlassen, um für den Abend nach Hause zurückzukehren. Die einzigen Leute, die sich zu dieser Zeit noch auf den Straßen befanden, waren die Obdachlosen, die es noch nicht geschafft hatten, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Ein paar von ihnen standen in dunklen Seitengassen und wärmten sich die Hände an Feuern, die in Mülltonnen brannten. Auf der Hauptstraße wanderten Vampirprostituierte auf und ab. Sie trugen so wenig Kleidung, wie es in der Kälte eben möglich war, während sie darauf hofften, dass irgendein Sugardaddy noch mal kommen wollte, bevor er in sein warmes, gemütliches Bett kroch. Die Nutten beäugten Finns Auto mit lüsternem Interesse, als er vorbeifuhr, und ihre Reißzähne glänzten im harten Licht der Straßenlaternen wie spitze Perlen.

»Vielleicht wollte LaFleur den Zwerg einfach nur umbringen, um an sein Zeug zu kommen«, fügte Finn hinzu.

»Und dann? Sie wartet eine Stunde lang in dieser Hütte auf dem Dock, bis er die Kisten für sie ausgeräumt hat? Und dann kommt sie raus und unterhält sich mit ihm, bevor sie ihn mit ihrer elektrischen Magie frittiert? Eher nicht«, antwortete ich. »Der Zwerg wusste die ganze Zeit über, dass sie da war. Sie hat ihn gefragt, ob er etwas gesehen oder gehört hätte. Ob er ein Zeichen von mir gesehen oder gehört hat. Deswegen hat er mit den Achseln gezuckt. Die ganze Aktion war eine Falle, ganz einfach.«

Das war die einzige Erklärung, die Sinn ergab. Es konnte keinen anderen Grund dafür geben, warum jemand mit LaFleurs Ruf, Fähigkeiten und Magie eine Stunde lang in der Dunkelheit herumsitzen sollte. Nein, sie war dafür bezahlt worden, dort zu sein – und ich wusste auch genau, wer das Geld dafür ausgespuckt hatte.

»Bist du dir sicher, dass sie es war?«, fragte Finn. »LaFleur? Hier in Ashland?«

Ich nickte. »Ja, das war LaFleur. Sie ist die einzige Profikillerin, die ich kenne, die bei ihren Opfern eine Orchidee zurücklässt. Das ist ihr Zeichen. Fletcher hat eine ganze Akte über sie.«

Mein Ziehvater Fletcher Lane oder »Der Zinnsoldat«, hatte den Großteil seines Lebens als Auftragskiller gearbeitet, bis ich vor ein paar Jahren das Geschäft von ihm übernommen hatte. Doch Fletcher hatte sich immer auf dem Laufenden gehalten. Das beinhaltete auch, Informationen über alle anderen hochklassigen Profikiller zu sammeln, die momentan noch aktiv waren. Und auch über diejenigen, die sich wie ich angeblich zur Ruhe gesetzt hatten. Stärken, Schwächen, Laster, Eigenarten, bevorzugte Tötungsmethoden. Der alte Mann hatte dokumentiert, was er finden konnte, über alles und jeden – nur für den Fall, dass einer dieser anderen Profikiller sich je zu einer Gefahr für uns entwickeln sollte.

Es war durchaus nicht selten, dass ein Auftragsmörder angeheuert wurde, um einen anderen auszuschalten. Vor ein paar Monaten war ein Profikiller namens Brutus, auch bekannt als Viper, losgeschickt worden, um mich, die Spinne, umzubringen. Ich hatte den Auftrag aufgenommen, einen Whistleblower auszuschalten. Doch mein Auftraggeber hatte entschieden, mir den Mord anzuhängen, also hatte er zusätzlich Brutus angeheuert, um mich am Ort des Verbrechens – dem Opernhaus von Ashland – umzubringen. Viper, der seinen Namen einer Schlangenrunen-Tätowierung am Hals verdankte, hatte mich überrascht und mich sogar beinahe umgebracht, wenn er seine Zeit nicht damit verschwendet hätte, vor mir damit anzugeben, dass er ja so viel besser war als ich. Der Drang zu reden war schon immer die Achillesferse des bösen Buben gewesen.

Ich schrieb mir im Kopf ein Memo an mich selbst, Fletchers Akte über LaFleur auszugraben. Ich hatte heute Abend bereits eine Demonstration ihrer elektrischen Elementarmagie bekommen, doch ich wollte wissen, welche anderen Fähigkeiten sie vielleicht noch besaß.

»Okay, lass uns annehmen, es wäre wirklich LaFleur gewesen«, meinte Finn. »Es gibt nur eine Person, für die sie arbeiten könnte, wenn wir bedenken, dass sie heute Abend auf dich gewartet hat und wem die Ware gehörte, die angeblich ans Dock geliefert wurde.«

»Mab Monroe«, bestätigte ich trocken.

Nicht überraschend. Schließlich hatte ich der Feuermagierin und ihrer Organisation den Krieg erklärt. Doch der Clou war, dass ich vor ein paar Wochen die Verantwortung für den Mord an Elliot Slater übernommen hatte, dem Riesen, der ihre rechte Hand gewesen war. Mab konnte den Tod ihres Vollstreckers nicht einfach durchgehen lassen – nicht, wenn sie vor dem Rest von Ashlands Unterwelt ihr Gesicht wahren wollte. Sie musste mich irgendwie loswerden, und sei es nur, um alle anderen wissen zu lassen, dass sie immer noch als Königin über die Stadt herrschte. Ich hatte bereits darauf gewartet, dass sie endlich reagierte, irgendeine Aktion gegen mich startete. Und jetzt wusste ich auch, wie sie es angehen wollte. Die Feuermagierin hatte LaFleur angeheuert, um nach Ashland zu kommen und mich umzubringen.

Das war ein kluger Schachzug. Kalt, ruhig, logisch, mit einer guten Chance auf schnellen, dauerhaften Erfolg. LaFleurs Hinterhalt heute Abend hätte funktionieren können. Sie hätte mich überlisten, hätte mich sogar töten können, wenn ich nur ein wenig ungeduldiger gewesen wäre. Doch ich war vom Besten ausgebildet worden, vom Zinnsoldaten selbst. Geduldig abzuwarten war das Erste gewesen, was Fletcher mir beigebracht hatte – und heute Abend hatte sich das definitiv ausgezahlt.

Und sosehr ich Mab auch hassen mochte, ich musste zugeben, dass die Feuermagierin niemals halbe Sachen machte. LaFleur war eine der besten Profikillerinnen in der Branche. Und jetzt wusste ich, dass sie Elementarmagie besaß, zusätzlich zu dem gewöhnlichen Arsenal tödlicher Fähigkeiten, die Auftragsmörder eben auszeichnen. LaFleurs elektrische Magie hatte sich mindestens so stark angefühlt wie meine Eis- und Steinmagie. So stark, dass ich mir nicht sicher war, wer am Ende unserer Konfrontation noch stehen würde. Das war gelinde ausgedrückt ein beunruhigender Gedanke.

»Aber warum sollte LaFleur den Zwerg töten?«, fragte Finn. »Besonders, wenn sie beide für Mab arbeiten?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wer weiß? Vielleicht war LaFleur gelangweilt, nachdem sie so lange gewartet hatte, ohne dass ich aufgetaucht bin. Vielleicht macht all diese elektrische Magie sie reizbar. Vielleicht gefällt es ihr einfach, Leute zu frittieren. Ihre Motive sind nicht wichtig. Ich will wissen, wer mich verraten hat. Wer hat dir von Mabs Drogenlieferung erzählt – oder was auch immer sonst sich in diesen Kisten befinden sollte?«

Finn schwieg einen Moment. »Das wird dir nicht gefallen.«

»Richtigstellung. Ihm wird es nicht gefallen, sobald ich ihn in die Finger bekomme. Also, wer war es?«

Finn sah mich an. »Vinnie Volga aus dem Northern Aggression.«

Ich runzelte die Stirn. »Der Eiselementar-Barkeeper?«

Finn nickte. »Genau der.«

Finn hatte recht. Das gefiel mir nicht. Hauptsächlich, weil ich mit Vinnies Boss, Roslyn Phillips, befreundet war – der Vampir-Zuhälterin, der das Northern Aggression gehörte, der berüchtigtste und teuerste Nachtclub von Ashland. Ich ging nicht davon aus, dass Roslyn allzu begeistert wäre, wenn ich ihren Lieblingsbarkeeper umbrachte.

Ich seufzte. »Und wie genau ist diese Information von Vinnies Lippen an deine Ohren gedrungen? Hat er es dir selbst erzählt, oder ging das über ein paar Ecken?«

Finns bevorzugte Handelsware bildeten Informationen. Mein Ziehbruder besaß ein ganzes Netzwerk von Spionen in Ashland und über die Stadtgrenzen hinaus. Von Leuten, denen er mal einen Gefallen getan hatte, über Freunde von Freunden bis hin zu Leuten, die sich einfach ein paar Dollar verdienen wollten, indem sie Infos über die Reichen und Mächtigen der Stadt weitergaben. Finn war ein Meister darin, die Spreu vom Weizen zu trennen beziehungsweise die Tatsachen von den Ablenkungsmanövern. Ich fragte ihn allerdings nur selten, woher er sein Wissen hatte. Ich vertraute Finn, und nur das war wichtig. Er hätte mich nie wissentlich in die Irre geführt.

Finn zuckte mit den Achseln. »Diesmal ging es direkt. Ich saß letzte Nacht an der Bar und habe mich wie gewöhnlich damit beschäftigt, die hübschen jungen Dinger zu beschwatzen. Dann war eine Weile wenig los, also haben Vinnie und ich uns unterhalten. Er hat mich gefragt, ob ich jemals, ähm, etwas Stärkeres als Alkohol ausprobiert hätte, und meinte, er hätte gehört, dass heute Nacht an den Docks etwas Gutes ankommen soll.«

Ich sah Finn an. »Vinnie hat dir einfach erzählt, wann und wo Drogen in die Stadt kommen sollen? Das klingt für mich nach Absicht. Als hätte Vinnie das jedem erzählt, der vielleicht anbeißen könnte.«

»Ich dachte ja selbst, es wäre nur Gelaber, bis dieser Zwerg angefangen hat, die Kisten auszuladen«, meinte Finn.

»Ich denke, inzwischen wissen wir beide, dass die Sache sich ein wenig ernster darstellt.«

Wir verfielen in Schweigen, als Finn die Straßen der Innenstadt hinter sich ließ. Die Stadt Ashland erstreckte sich über die Ecke der Appalachen, in der Tennessee, North Carolina und Virginia aufeinandertrafen. Die Stadt war in zwei Teile aufgespalten – Northtown und Southtown –, die eigentlich nur von der Innenstadt zusammengehalten wurden.

Die Docks, die wir gerade verlassen hatten, lagen tief in Southtown. Dieses Viertel war das raue Pflaster von Ashland, in dem die Armen, die Unglücklichen und die Unterdrückten lebten. Southtown war eine Gegend, in der manche Leute einem allein für ein Paar Schuhe die Kehle aufschlitzten. Alles, was man noch zusätzlich in der Geldbörse hatte, war einfach ein zusätzlicher Glücksfall. Gangs und Junkies beherrschten die Straßen von Southtown, zusammen mit anderem Menschenmüll.

Northtown dagegen war die reiche, feine, vornehme Wohngegend, in denen sich die teuren Villen und die weiten Anwesen befanden, die sich über Quadratkilometer erstreckten. Doch das bedeutete nicht, dass man in Northtown sicherer war. Denn die Reichen verletzten einen erst mit freundlichen Worten, bevor sie einem den Dolch in den Rücken rammten.

Vorstädte der Mittelklasse mit bescheideneren Häusern und Einkommen umringten Ashland auf beiden Seiten mit allen Schulen, Läden und Geschäften, die man eben so erwartete. Und das war die generelle Richtung, die Finn und ich gerade einschlugen.

Ungefähr zehn Minuten später fuhr Finn an einem massiven Eisentor vorbei auf eine lange Einfahrt, die zu einer vierstöckigen Villa führte. Anders als einige der anderen Häuser in der Nähe von Northtown war dieses Haus relativ schlicht mit einer einfachen, massiven Steinfassade. Und ähnelte damit dem Mann, der darin lebte. Demjenigen, mit dem ich den heutigen Abend verbringen wollte.

Finn grinste mich an, und seine weißen Zähne glänzten in der Dunkelheit. »Nun, ich hoffe, dass du und Owen bei eurem Sextreffen heute Abend Spaß haben, wenn du mich schon zwingst, dich hier rauszufahren.«

Der Owen, von dem Finn sprach, war Owen Grayson, der reiche Geschäftsmann, mit dem ich in letzter Zeit ausging. Und der Besitzer der Villa, vor der wir standen. Owen hatte mich gebeten, heute Abend vorbeizuschauen, wenn es nicht zu lange dauerte, Mabs Lakaien umzubringen. Nachdem ich heute Nacht nicht mit Blut überzogen war wie in den letzten Nächten, hatte ich beschlossen, sein Angebot anzunehmen.

»Das ist kein Sextreffen«, murmelte ich.

»Genau«, hielt Finn dagegen. »Und ich bin ein Eunuch.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ich trage zufällig mehrere sehr scharfe Messer am Körper. Also könnten wir das mühelos arrangieren, wenn du wirklich vorhast, diese Art von dauerhafter Lebensentscheidung zu treffen.«

Finn hob in einer theatralischen Abwehrgeste die Hände. »Da wäre ich lieber tot.«

Das stimmte wirklich. Finn schätzte das andere Geschlecht auf eine Weise, die schon an Besessenheit grenzte. Alt, jung, fett, dünn, blond, brünett, zahnlos. Für Finn spielte das alles keine Rolle. Solange es sich um eine atmende Frau handelte, deutete er das als Einladung, charmant und ach so gewinnend zu sein.

»Richte auf jeden Fall Eva schöne Grüße von mir aus«, meinte Finn hoffnungsfroh.

Eva Grayson war Owens atemberaubende, neunzehnjährige Schwester und das Objekt von Finns Begierde, wann auch immer er sie sah – oder zumindest, wann immer sich nicht gerade eine andere, zugänglichere Frau in seinem Blickfeld befand. Finn wies in Bezug auf die Damen die Aufmerksamkeitsspanne einer Stubenfliege auf.

»Ich dachte, du hättest den Collegemädchen abgeschworen, nachdem die beiden im Northern Aggression erklärt haben, du wärst alt genug, um ihr Vater zu sein.«

»Hmph.« Finn schnaubte. »Ich bin erst einunddreißig, Gin, also war das nicht ganz korrekt. So alt bin ich noch nicht.«

»Ach nein?«, fragte ich. »Du warst mehr als zehn Jahre älter als die Mädchen, die du angebaggert hast.«

Doch Finn störte sich nicht an meiner Retourkutsche. Stattdessen wurde sein Grinsen nur breiter. »Zehn Jahre hin oder her, es war doch trotzdem schön, dass sie einen Vaterkomplex hatten, oder nicht? Denn ich bin mit beiden nach Hause abgezogen.«

Ich verdrehte die Augen und boxte ihn in die Schulter. Finn lachte nur.

»Aber jetzt mal ernsthaft«, meinte er, nachdem sein Lachen verklungen war. »Was willst du in Bezug auf Vinnie und die Info unternehmen, die er mir zugespielt hat?«

»Wir werden Vinnie einen Besuch abstatten – morgen«, sagte ich. »Nachdem wir mit Roslyn geredet und ihr erzählt haben, was vor sich geht. Schau doch in der Zwischenzeit mal, was du an dreckigen Details über ihn ausgraben kannst. Ich will alles wissen, was es über Vinnie Volga zu wissen gibt, bevor wir ihn konfrontieren und herausfinden, warum er Gerüchte für Mab Monroe streut.«

Und bevor ich entschied, ob Vinnie eine Gefahr für mich darstellte – und ob der Barkeeper sterben musste, weil er so dämlich gewesen war, die Spinne hintergehen zu wollen.

Finn und ich machten aus, wann wir uns morgen treffen wollten, und verabschiedeten uns. Dann sauste er in seinem Escalade die Einfahrt entlang, um in seine Wohnung in der Stadt zurückzukehren. Ich dagegen blieb allein vor dem Haus zurück.

Statt sofort zur Villa zu gehen, blieb ich noch in der Einfahrt stehen. Ich lauschte, doch nicht auf den Wind, der die Bäume neben dem Haus zum Ächzen brachte. Stattdessen legte ich den Kopf schräg und konzentrierte mich auf das Flüstern der grauen Pflastersteine unter meinen Füßen und die größeren Steine der Villa über meinem Kopf.

Mit der Zeit beeinflussen die Gefühle und Handlungen von Leuten ihre Umgebung. Für Stein galt das besonders. Als Steinelementar konnte ich alle emotionalen Vibrationen in dem Element hören und deuten, und zwar egal, in welcher Form es auftrat – von losem Kies über ein geziegeltes Haus bis hin zu Grabsteinen aus Granit. Ich konnte hören, ob ein Haus glücklich war, ob in der Einfahrt Blut vergossen worden war oder ob jemand mit finsteren Absichten in den Schatten neben dem Gebäude kauerte.

Heute Abend hörte ich von den Pflastersteinen nur ihr übliches, leises Murmeln, das von dem Winterwind erzählte, der den gesamten Tag um die Villa gepfiffen hatte, und von den Streifenhörnchen, die auf der Suche nach einem Versteck über die Einfahrt geeilt waren.

Doch meine Steinelementarmagie beinhaltete mehr als nur die Fähigkeit, auf Steine zu lauschen. Meine Magie ließ mich die Steine auch manipulieren. Ließ mich Einfluss auf das Element ausüben und machte es möglich, dass ich ihm meinen Willen aufzwang. Ich konnte Ziegel genauso zerbröseln lassen wie Beton spalten. Ich konnte sogar meine eigene Haut so hart werden lassen wie Marmor, sodass nichts sie durchdringen konnte, nicht einmal die Macht eines anderen Elementars – ein Trick, der mir mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Und zusätzlich war meine Magie sehr stark. So stark, dass ich damit mühelos von Owen Graysons Villa einen Stein nach dem anderen hätte zerstören können. Das wäre mir nicht schwerer gefallen, als zu atmen. Ich wusste aus Erfahrung, dass meine Elementarmacht mühelos all diese wunderschönen grauen Steine zu Staub zerfallen lassen könnte.

Schließlich hatte ich genau das mit meinem eigenen Elternhaus getan, in der Nacht, in der Mab meine Mutter und ältere Schwester ermordet hatte.

In dieser schrecklichen Nacht hatte ich meine Steinmagie eingesetzt und unser gesamtes Haus zum Einsturz gebracht, in dem Versuch, noch rechtzeitig meine kleine Schwester Bria zu erreichen. Um sie zu retten, bevor Mab sie fand, folterte und umbrachte. Ich hatte immer geglaubt, dass Bria aufgrund meiner Taten gestorben war – dass sie unter den fallenden Steinen zerquetscht worden wäre. Siebzehn Jahre lang hatte ich diese hässlichen Schuldgefühle tief in mir vergraben herumgetragen, bis ich erfahren hatte, dass Bria noch lebte und sich wieder in Ashland aufhielt.

Ich war erst dreizehn Jahre alt gewesen, als ich mein eigenes Elternhaus zerstört hatte. Jetzt, mit dreißig, war meine Magie um einiges stärker als damals. Und, laut Jo-Jo Deveraux – der Zwergin, die mich mit ihrer Luftelementarmagie heilte, wann immer es nötig war – würde meine Macht nur weiter anwachsen.

Dieser Gedanke sorgte immer dafür, dass mir unwohl zumute wurde. Selbst jetzt überlief mich bei dieser Vorstellung ein kalter Schauder. Meine Mutter, Eira, war der stärkste Eiselementar gewesen, den ich je getroffen hatte. Doch auch ihre Magie hatte nicht ausgereicht, um sie vor Mabs Feuermacht zu retten. Mabs Flammen hatten meine Mutter eingehüllt – heiß, hungrig und unaufhaltsam – und sie verbrannt, bis nur ein Haufen rauchender Asche zurückblieb. Also war es mehr als nur ein Bauchgefühl, das mir verriet, dass meine Eis- und Steinmagie mir nicht viel helfen würde, wenn ich mich der Feuermagierin endlich stellte.

Manchmal fürchtet sich selbst ein Auftragsmörder vor dem Tod.

Ich verdrängte diese melancholischen Erinnerungen und ging zur Eingangstür, an der ein Türklopfer hing – ein großer Hammer aus schwerem, schwarzem Eisen. Dasselbe Symbol fand sich auch auf dem riesigen Eisenzaun wieder, der sich um das Grundstück zog.

Der Hammer war eine Rune, genauso wie die Narben auf meinen Handflächen. Doch wo die Spinnenrune, die in meine Hände eingebrannt war, für Geduld stand, repräsentierte Owens Hammer Stärke, Macht und harte Arbeit – Dinge, von denen Owen eine Menge verstand. Owen Grayson benutzte den Hammer genauso als seine persönliche Rune wie als Geschäftsrune. Das war in Ashland nicht ungewöhnlich. Elementare, Vampire, Riesen, Zwerge – die meisten magischen Gestalten der Stadt nutzten eine Rune, um sich, ihre Familie, ihr Geschäft oder selbst ihre Macht zu repräsentieren.

Über der Tür brannte zwar eine Lampe, doch ich sah keine anderen Lichter innerhalb des Hauses, also beschloss ich, nicht den Türklopfer zu benutzen. Es war ja nicht nötig, alle aufzuwecken. Außerdem war ich es gewöhnt, mitten in der Nacht in Gebäude zu schleichen. Mir erschien das einfach natürlicher.

Ich hob meine Hand, die Handfläche nach oben gerichtet, und griff nach der Eismagie, die durch meine Adern floss. Ein kaltes, silbernes Licht flackerte auf, direkt über der Spinnenrunen-Narbe in meiner Haut. Eine Sekunde später hielt ich zwei schmale Dietriche aus Eis in der Hand. Werkzeuge meines Berufs, wie ich sie schon Hunderte Male eingesetzt hatte.

Ich gehörte zur seltensten Sorte von Elementaren – weil ich nicht nur ein Element, sondern sogar zwei beherrschte. In meinem Fall Eis und Stein. Jahrelang war meine Steinmagie stärker gewesen, was den Spinnenrunen-Narben in meinen Händen zu verdanken war. Sie bestanden aus Steinsilber, einem speziellen Metall, das alle Formen von Magie aufnahm, auch Elementarmagie. Wie die meisten Eiselementare gab ich meine Macht durch meine Hände frei, um Eiswürfel, Kristalle und alles andere zu produzieren. Doch das Steinsilber in meinen Händen hatte die mühelose Freigabe meiner Eismacht blockiert und die Magie so schnell aufgesaugt, wie ich sie erzeugen konnte.

Vor einigen Wochen hatte ich die Blockade überwunden – in einem Kampf um Leben und Tod mit einem anderen Steinelementar. Es überraschte mich immer noch, wie leicht es mir inzwischen fiel, meine Eismagie zu nutzen – und dass sie sich jedes Mal stärker anfühlte. Jo-Jo Deveraux behauptete, dass meine Eismagie schon bald genauso stark sein würde wie meine Steinmagie. Und auch mit diesem Gedanken fühlte ich mich nicht besonders wohl.

Besonders, da meine Elementarmagie – meine zweifache Begabung – der Grund gewesen war, warum Mab überhaupt meine Familie ermordet hatte.

Es kostete mich weniger als eine Minute, das Schloss zu knacken. Natürlich hätte ich die Eisdietriche gar nicht gebraucht, und ich hätte hier auch nicht in der kalten Dunkelheit herumstehen müssen. Owen hatte mir vor ein paar Tagen den Hausschlüssel gegeben und mir gesagt, dass ich jederzeit vorbeischauen konnte, ob nun tagsüber oder nachts.

Ich war mir nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte, den Schlüssel zum Haus eines Mannes zu besitzen. Keine meiner bisherigen Beziehungen hatte jemals lang genug gehalten, um diesen Punkt zu erreichen. Owen und ich waren ebenfalls erst seit ein paar Wochen zusammen, doch die Sache zwischen uns entwickelte sich schneller, als ich erwartet hatte. Dinge, die mit Owen Grayson zu tun hatten, machten mich oft unsicher.

Besonders die Art, wie ich in Bezug auf ihn empfand.

Für einen Moment blieb ich vor der offenen Tür stehen und fragte mich, ob ich wirklich ins Haus gehen wollte. Ob ich Owen heute Nacht wirklich sehen wollte. Ob ich mich wirklich mit dieser Beziehung und den sich stetig vertiefenden Gefühlen auseinandersetzen wollte.

Ich, Gin Blanco, die Auftragsmörderin, die als »die Spinne« bekannt war, stand vor der Tür ihres Liebhabers wie ein nervöser Teenager, der versuchte, endlich den Mut zu finden, diesen süßen Jungen in ihrer Klasse anzusprechen. Finn hätte sich über mich und meine Unentschlossenheit krank gelacht. Doch ich persönlich hätte mich lieber jeden Tag einem Dutzend Profikillern wie LaFleur gestellt, als mich mit etwas so Verzwicktem, Kompliziertem und Zerbrechlichem wie meinen Gefühlen auseinanderzusetzen.

Trotzdem. Owen hatte mich gebeten, vorbeizukommen, und ich hatte gesagt, dass ich es tun würde, wenn mein letzter Mordanschlag nicht zu gewalttätig und blutig endete. Gefühle hin oder her, ich hielt meine Versprechen, wann immer ich konnte. Besonders gegenüber Owen, der bis jetzt so gut zu mir gewesen war und so mühelos akzeptiert hatte, wer ich war und was für schreckliche Dinge ich schon getan hatte – und ohne zu zögern wieder tun würde, um die Leute zu beschützen, die ich liebte.

Also atmete ich einmal tief durch, glitt ins Haus und schloss leise die Tür hinter mir.

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3

Ich blieb einen Augenblick im Foyer stehen, damit meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnen konnten. Der vordere Teil des Hauses war dunkel, aber im hinteren Teil konnte ich Licht sehen. Die beiden mussten im Wohnzimmer sein. Leise Musik drang durch den Flur an mein Ohr. Jemand säuselte gerade den alten Klassiker »Winter Wonderland«.

Es wäre höflich gewesen, mich bemerkbar zu machen. Vielleicht rufen, um herauszufinden, ob Eva und Owen noch wach waren. Stattdessen schlich ich den Flur entlang, von einem Schatten zum nächsten. Vorsichtig – genauso wie draußen, als ich draußen stehen geblieben war, um auf das Murmeln der Steine zu hören und herauszufinden, ob sich jemand dort aufhielt, der dort nicht sein sollte. Ich konnte mir aktuell einfach nicht leisten, leichtsinnig zu sein. Nicht einmal hier.

Während ich tiefer ins Haus eindrang, ließ ich meinen Blick über die Möbel gleiten, die ich sehen konnte. Ich suchte nach allem, was vom Üblichen abwich oder anders wirkte. Nach allem, was, und jedem, der eine Bedrohung für mich darstellen konnte. Doch ich entdeckte nur das vertraute, einfache Mobiliar. Schränke aus dunklem Massivholz, dicke Teppiche auf dem Boden, Eisenskulpturen in den Ecken. Alles stand an seinem Platz.

Bis auf mich, denn ich fühlte mich absolut fehl am Platze.

Ich erreichte den Türrahmen zum unteren Wohnzimmer. Hier war die Musik lauter, wenn auch nicht unangenehm laut. Immer noch in den Schatten versteckt, lugte ich in den Raum.

Es sah aus wie das Haus eines Weihnachtselfen. In der Ecke neben dem Kamin aus grauem Holz stand ein riesiger Tannenbaum. Der frische, saubere Holzgeruch der Tanne stieg mir in die Nase, selbst hier draußen im Flur. Glitzernde weiße Lichterketten waren um den Baum gewunden, und auf den dunkelgrünen Zweigen glänzten Kugeln in den verschiedensten Farben. Auch der Rest des Raums war dekoriert – mit Stechpalmenzweigen auf dem Kaminsims sowie rot geringelten Kerzen auf den Beistelltischen. Und von der Decke hing ein großer Mistelzweig.

Eva Grayson stand vor dem Baum, eine große Kiste mit silbernem Lametta in der Hand. Passend zur späten Stunde trug sie einen pinken Flanellpyjama, in dem sie gleichzeitig süß und sexy aussah. Der Schnitt des Pyjamas brachte Evas hochgewachsene, schlanke Figur bestens zur Geltung, und die Farbe betonte noch ihre außergewöhnliche Färbung: tiefschwarze Haare, blaue Augen und eine makellose, helle Haut.

Eva zog einen einzelnen Strang Lametta aus der Kiste und warf ihn über einen Ast. Dann legte sie den Kopf schräg, um zu kontrollieren, ob er an der richtigen Stelle gelandet war, bevor sie sich den nächsten Alustreifen griff und ihn Richtung Baum warf.

»Willst du wirklich jeden Streifen einzeln aufhängen? Denn dann stehen wir morgen früh noch hier«, grummelte eine männliche Stimme.

Owen Grayson trat hinter dem Baum heraus, eine weitere Kiste mit Lametta in der Hand. Wie Eva trug Owen für den Abend gemütliche Kleidung – ein schwarzes T-Shirt und eine Pyjamahose. Die Baumwolle spannte über seiner breiten Brust und betonte seine kompakte Gestalt, die mich immer an den untersetzten Körperbau eines Zwerges erinnerte. Doch mit über einem Meter achtzig war Owen gute dreißig Zentimeter größer als die meisten Zwerge. Er hatte dieselben tiefschwarzen Haare wie Eva, und auch seine Haut war hell, doch seine Augen zeigten ein helles, durchdringendes Violett. Außerdem war sein Gesicht kantiger als ihres. Eine dünne, weiße Narbe zog sich von der Wange bis zu seinem Kinn, und seine Nase war ein wenig schief. Diese kleinen Unvollkommenheiten ließen ihn hart und gefährlich wirken, was ihn in meinen Augen nur noch attraktiver machte.