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Der Mittelpunkt der Welt

Der Mittelpunkt der Welt ist ein spitzer grünweißer Stein, der in den Fußboden einer Bank an der Hauptstraße von Foligno eingelassen ist.

In der guten alten Zeit, so erzählen mir die Einheimischen, ging es am Mittelpunkt der Welt erheblich lustiger zu. Damals markierte kein Stein diese Stelle, sondern ein Billardkegel, das rote Kegelchen, das bei der italienischen Variante des 5-Kegel-Billards genau in der Mitte des grünen Filzes steht. Alle drängten sich um den Tisch, tratschten, tranken Wein und schauten beim Spiel zu.

Zu jener Zeit, der noch immer alle nachtrauern, beherbergten die Räume, in denen sich nun die Bank befindet, das viel geliebte Sassovivo, eine liebenswürdige alte Café-Bar im Jugendstil, mit Holzpaneelen an den Wänden und einladender Atmosphäre, wo man sich auf einen Kaffee oder einen aperitivo und ein Schwätzchen traf. Der Billardtisch stand exakt in der Mitte des Hinterzimmers zum Sassovivo, das nach den Berechnungen der Einheimischen genau in der Mitte der Stadt lag, die wiederum die geografische Mitte Italiens bildet – und Italien ist, wie jedes Kind weiß, der Mittelpunkt der Welt.

Doch leider musste das Sassovivo eines Tages einem Schnellimbiss weichen und dieser dann einer Bank. Heute erinnern nurmehr die verzierten schmiedeeisernen Lampen des Cafés, die an der terrakottafarbenen Fassade des Gebäudes hängen, an jene gute alte Zeit. Die Lampen und der Stein, der unter einer runden Glasscheibe genau an jener Stelle in den Boden eingelassen ist, wo früher der zentrale Billardkegel auf dem Tisch stand. Der Stein ist umgeben von gleich zwei Inschriften, die im örtlichen Dialekt verkünden, dass dies hier »lu centru de lu munnu« ist.

Andere wiederum erzählen, dass der Mittelpunkt der Welt – bescheidener ausgedrückt, Italiens – anderswo liegt. Die Römer, darunter auch so berühmte Dichter wie Plinius der Ältere, erklärten, der »umbilicus italiae«, der Nabel Italiens, läge weiter südlich in oder um Rieti, das eine Weile zu Umbrien gehörte. Und der Einfluss der Römer reichte so weit, dass noch viele Jahrhunderte später die Menschen Rieti für den Mittelpunkt der Halbinsel hielten. Und auch dort wird die Stelle von einem Stein markiert, der auf einem Platz mit dem illustren Namen »Piazza San Rufo Centro d’Italia« liegt und die Inschrift »Medium Totius Italiae« trägt, die »Mitte ganz Italiens«. Zumindest lag der Stein dort, bis ihn eines Tages jemand entwendete, 1950, als das Pflaster der Piazza erneuert wurde. Ein Plan, den Stein durch einen Zylinder zu ersetzen, der einen Lichtstrahl in den Himmel werfen sollte, wurde rasch wieder fallen gelassen, aus Angst, der Flugverkehr könne gestört werden; stattdessen brachte man an der Wand eine Steinplatte an, in die die Botschaft von der Mitte in zwanzig verschiedenen Sprachen eingemeißelt ist.

Gegen Ende des vorigen Jahrtausends entschieden die Stadträte von Rieti allerdings, dass der Mittelpunkt auf würdigere Weise gekennzeichnet werden sollte, und nun bildet eine große, gedrungene runde Plattform aus Travertin, in die die Form Italiens eingelassen ist, die Mitte. Diese Plattform ist zu groß für die kleine alte Piazza; die Mehrheit der Einwohner findet diese Plattform offengestanden grauenhaft, und ich schließe mich dieser Meinung an.

In der Zwischenzeit hat das Italienische Militärische Geografische Institut, das die offiziellen Karten des Landes herausgibt, erklärt, dass der wahre geografische Mittelpunkt Italiens weiter südwestlich liegt. Diese neue Mitte, die von einem spiralförmig behauenen Stein markiert wird, der in eine schmale Stahlnadel mündet, steht in der Nähe des Ponte Cardena, eines pittoresken römischen Aquädukts, das eine Schlucht in der Nähe der Stadt Narni überbrückt. Man erreicht diesen Stein nach einem gemütlichen Spaziergang entlang des Aquädukts; der Ganze wirkt durchaus wissenschaftlich fundiert. Doch viele in Foligno und Rieti bezweifeln stark, dass die Wissenschaft richtiger liegen kann als der Lokalpatriotismus, wenn es darum geht, den Mittelpunkt eines Landes zu bestimmen, das so unregelmäßig geformt ist wie Italien.

Dies sind nicht die einzigen Ansprüche, den Mittelpunkt Italiens bilden zu wollen. Alle zusammen jedoch verraten einem, dass hier, weit weg vom Meer und von Bergen umgeben, das Herz des Landes liegt. Das allein sagt, neben der Rivalität um die Mitte, schon viel über Umbrien aus.

Das Herz des Landes oder gar der Mittelpunkt der Welt zu sein bedeutet nicht, dass man dessen Kraftwerk oder Nervenzentrum ist oder im Brennpunkt allen Geschehens steht. Ganz im Gegenteil: Umbriens Position ist vielmehr mit dem Auge eines Wirbelsturms zu vergleichen, mit der ruhigen Stelle im Zentrum des Strudels. Die Welt dreht sich um Umbrien, doch in der Mitte herrscht Ruhe, und man hat den Eindruck, fern von allem Trubel zu sein.

Das rührt nicht nur daher, weil die alten Umbrer, die auf ihren abseits gelegenen, nur von Land umgebenen Bergen hockten, sich anscheinend nur um ihren eigenen Kram gekümmert haben und sich für nicht viel mehr als ihr eigenes Überleben interessierten. Und wohl auch nicht daher, weil Umbriens berühmteste Männer und Frauen, also jene, die den größten Einfluss auf ihre Zeitgenossen und die Geschichte hatten, zu den berühmtesten Aussteigern zählen, die der Welt und all ihrem törichten Rummel entsagten. Nein, es gab durchaus Zeiten, in denen die Geschichte durch diese Täler stürmte und großen Tumult brachte, aber auch enorme Kreativität auslöste. Doch dann folgten mehrere Jahrhunderte unter der berüchtigten »toten Hand« der Päpste, in denen das Erbe der Vergangenheit und die altherkömmliche Lebensweise zwar nicht gerade konserviert wurden, sich aber doch nur sehr, sehr langsam weiterentwickelten.

Der »Fortschritt« der letzten fünf Jahrzehnte, der bessere Straßen ins Land brachte, dazu einen winzigen Flughafen, Fernsehen, Handys und Internet, hat es bisher noch nicht völlig geschafft, Umbrien aus dieser Käseglocke herauszuholen. Die Schönheit der (weitgehend) unberührten Natur und der uralten Gemeinden, die Lebensqualität und die ruhige Lebensart, beides ironischerweise Ergebnis von Rückständigkeit und Armut, entpuppten sich für Umbrien in letzter Zeit als Vorteil. Leid und Entbehrung ihrer Vorfahren haben sich in das Glück der heutigen Bewohner Umbriens verkehrt, auch wenn es manchen von ihnen sehr schwerfällt, das so zu sehen.

Natürlich trifft man auch Umbrier, die den Mittelpunkt der Welt langweilig und provinziell finden; tagein, tagaus dieselben alten Gesichter, und nichts ist hier los. Für manche von ihnen ist Umbrien sogar eine Gegend, die man besser hinter sich lässt. Für uns Auswärtige, gleich ob Ausländer oder Italiener, die die Hektik der Zeit hinter uns gelassen haben und in diesen beschaulichen Gefilden gelandet sind, ist Umbrien dem Himmel nahe. Manche Umbrier finden das äußerst seltsam.

1999 bezog ich einen Teil einer uralten Ölmühle am Rande eines auf einem Hügel gelegenen mittelalterlichen Städtchens. Als ich mich eines Abends mit meinen neu gewonnenen Freunden unterhielt, lehnte sich Giuseppe zurück und fragte mich: »Patricia, wie bist du nur auf die Idee gekommen, hier in Umbrien leben zu wollen?« Giuseppe ist Architekt, er ist weit gereist, doch selbst er fand meine Entscheidung gelinde gesagt rätselhaft. Ich weiß nicht mehr, was ich auf seine Frage antwortete; sonderlich klug wird meine Antwort jedenfalls nicht ausgefallen sein, denn eigentlich hatte ich mir selbst nie klargemacht, warum ich mich ausgerechnet in Umbrien niederlassen wollte: Ich hatte einfach gewusst, dass ich es wollte. Zu jenem Zeitpunkt war ich in der selten glücklichen Lage, vollkommen frei entscheiden zu können, wo ich leben wollte, und nach einigem Suchen wusste ich, Umbrien war die richtige Gegend für mich.

Warum schlägt mich Umbrien denn nun so in den Bann? Ich würde es mir zu einfach machen, wollte ich mich in lyrischen Ergüssen über die Symphonie der Grün- und Grautöne ergehen, wenn Zypressen und Olivenbäume aus dem Morgennebel steigen, oder Lobgesänge anstimmen auf die fruchtbaren Täler, die den Fresken Peruginos entsprungen sein könnten, auf die strenge Schönheit einer alten Kirche, deren cremefarbene Steine im Abendlicht fast leuchten, die mittelalterlichen Städte auf den Hügeln, ihre unvergleichlichen Malereien. Das ist nur die, zugegeben atemberaubend schöne Kulisse, die so überaus wichtig ist für alle, die hier zu Besuch sind oder hier leben. Umbrien hat aber viel, viel mehr zu bieten.

Große Schwester, kleine Schwester

Meine Entscheidung, mich hier niederzulassen, war nicht sonderlich originell. Seit Jahrhunderten sind viele Nordeuropäer erst dem sirenenhaften Charme Roms und Florenz’ erlegen, dann jenem des zauberhaften Landes zwischen diesen beiden Städten. Wahrscheinlich hat es etwas mit dem Zeitgeist zu tun. Während Oma sich danach sehnte, mit einem Sonnenschirm in der Hand an der Strandpromenade zu flanieren, und Mama und Papa am liebsten mit der Gitarre über die Berge und durch die Wälder stapften, ähnelt die Vorstellung des Menschen im 21. Jahrhundert vom Paradies wohl eher einem hübschen Plätzchen unter einer Pergola, wo man köstliche regionale Speisen und exzellente Weine verkostet, während der Blick über die zypressengesäumte Szenerie schweift und man in Gedanken noch bei den mittelalterlichen Türmen und Burgen ist, die man gerade auf Gemälden der beseeltesten Künstler der Welt gesehen hat. Das Nirwana ist ein schönes altes Bauernhaus auf einem Hügel, umgeben von Weinbergen oder Olivenhainen, vorzugsweise den eigenen. Und wenn man das nicht haben kann, trösten einen die von Millionen verschlungenen Bücher über Menschen, die solche Häuser aufgemöbelt haben, Kalender, die jeden Monat eine andere Ansicht jener besagten Hügel, Bauernhäuser, Zypressen und Weinberge zeigen, oder wenigstens ein Abend in einem namhaften Restaurant mit dem Namen, dem Essen und den Weinen aus diesem Teil Italiens.

Lange Zeit trug dieses Paradies den Namen Toskana. Das war nur natürlich, denn die Toskana ist berühmt, sie hat Florenz, die Medicis, die Renaissance, die wunderschönen Villen. Nur ganz allmählich ging der Welt auf, dass das Paradies einen anderen Namen hat – Umbrien. Auch hier gibt es Olivenbäume und Zypressen, Burgen, auf Hügeln kauernde Dörfer, wunderschöne Kirchen, feinste Gemälde. Auch hier gibt es exzellente Weine und köstliche Gerichte. Doch die Atmosphäre ist eine andere. Hier sind die großen Gebäude meist älter, strenger, steiniger; die Kunst ist geistiger, weniger weltlich orientiert. Die unvergleichliche Landschaft der Toskana ist großteils von Menschen geschaffen; Umbriens sanfte, kultivierte Täler und Hügel sind von bewaldeten Bergen umgeben und wirken verschlossen und geheimnisumwittert. Die Toskana prahlt nachgerade mit ihrer Schönheit; Umbriens uralte Klöster, Burgen, Einsiedeleien und Steindörfer liegen häufig zwischen Felsen und schwarzen Ilexbäumen verborgen.

Manche tun Umbrien gern ab als »Toskana für Arme«. Zwar sind hier die Ansprüche und Preise sicherlich bescheidener als in der Toskana, doch trifft diese abfällige Bemerkung in keinerlei Hinsicht zu. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeiten und der langen gemeinsamen Grenze zur Toskana ist Umbrien schlichtweg ein anderer Landstrich mit einem eigenen Charakter, der geprägt wurde durch eine andere Geografie und eine vollkommen andere Geschichte. Die Toskana, davor Etrurien, Heimat der Etrusker, grenzt ans Meer, hatte also Kontakt zu anderen Zivilisationen; die Umbrier lebten zurückgezogen auf ihren landumschlossenen Hügeln. Das Goldene Zeitalter der Toskana war die Renaissance; Umbrien war schon im Mittelalter zu voller Blüte gelangt. Während die Toskana unter den Großfürsten zwar nicht mehr so glorreich war wie zuvor, spielte sie doch auf der europäischen Bühne noch immer eine Rolle. Ein Großteil jener Gegend, die heute Umbrien bildet, war dagegen im Besitz der Päpste, die bei aller Autorität, die sie vielleicht im Hinblick auf das Jenseits gehabt haben mögen, im Diesseits ziemlich schlechte Herrscher waren. Unabhängigkeit, schöpferische Freiheit und Initiative wurden unterdrückt, Handel und Landwirtschaft verfielen, und das Ergebnis waren vier Jahrhunderte Hinterwäldlerei und Armut, deren Auswirkungen auch heute noch zu spüren sind. Die Toskana strahlt; Umbriens Charme ist schon häufig als »franziskanisch« bezeichnet worden, streng, aber ungeheuer liebenswert. Manche meinen, die Toskaner wirkten arrogant; Umbrier sind im Allgemeinen bescheiden und Meister der Untertreibung.

Und dann wäre da noch die simple Frage nach der Größe. In der Toskana leben dreieinhalb Millionen Menschen; Umbrien weist mit 826 000 Einwohnern gerade mal ein Viertel davon auf. Die Toskana besteht aus sieben Provinzen und bedeckt fast 20 000 Quadratkilometer; Umbrien, eine der kleinsten Regionen Italiens, hat zwei Provinzen und ist gerade mal 8456 Quadratkilometer groß, also kaum mehr als ein Drittel der Nachbarin.

Die Toskana ist schick, und das kann man sehen: an den Immobilien- und Restaurantpreisen, an den schnieken Geschäften. Der Aufmarsch der Politiker und Berühmtheiten mit ihren Sonnenbrillen und Prada-Täschchen, die dort Urlaub machen oder ein Haus besitzen, sorgt dafür, dass die Region in den Schlagzeilen bleibt. Mit wenigen Ausnahmen in der Gegend um Todi (wovon später noch die Rede sein wird) bemühen sich Zugereiste in Umbrien darum, nicht weiter aufzufallen und sich einzufügen. Abgesehen von der Tatsache, dass wir Zugereiste unwissentlich die Preise für alte Häuser in die Höhe getrieben und vielleicht etwas für die Wirtschaft getan haben, haben wir doch für recht wenig Veränderung gesorgt, und das soll auch so bleiben.

Ich muss zugeben, ich habe mich erst in der Toskana nach einem Haus umgeschaut. Das habe ich aber schnell wieder aufgegeben, weil mich nicht nur die Preise entmutigten, sondern auch die Tatsache, dass der Charakter vieler Landstriche dort durch Ausländer und Nicht-Toskaner, die dort hingezogen sind, verändert worden ist. Umbrien jedoch bietet noch immer eine intakte italienische Gesellschaft. Und übrigens: Soweit ich das beurteilen kann, existiert die Rivalität zwischen der Toskana und Umbrien nur in den Köpfen ausländischer Reisefachleute oder potenzieller Hauskäufer. »Wir haben uns nie bekämpft«, meinte ein Journalistenkollege, »wir waren aber auch nie Verbündete. Wir nehmen uns einfach so, wie wir sind.«

Das mag sich für manche Ohren merkwürdig anhören, vor allem, wenn man sich anschaut, wie schnell sich die Nachbarn in alten Zeiten schon beim geringsten Anlass in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelten. Doch zumindest in einem Fall bewiesen die Toskana und Umbrien, genauer gesagt ihre Vorgängerstaaten, bemerkenswerte Zurückhaltung. 1440 verkaufte Papst Eugen IV. ein Stück Umbriens, die Gegend um San Sepolchro, für 14 000 Dukaten an die Republik Florenz; offizielle Vertreter beider Parteien setzten sich zusammen und bestimmten die neue Grenze. Wahrscheinlich machten sie sich gar nicht erst die Mühe, die Gegend zu inspizieren; stattdessen entschieden sie anhand der vorhandenen Landkarten, dass die neue Grenze dem Flüsschen Rio folgen solle, und damit waren alle glücklich. Schon bald aber ging ihnen auf, dass es in der Gegend zwei kleine Flüsschen namens Rio gab, die etwa einen halben Kilometer auseinander lagen, und dass zwischen ihnen das kleine Dorf Cospaia lag. Aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls konnten sie sich nicht einigen, wem der Ort zuzuschlagen sei. Gleichzeitig aber entschieden beide Seiten, dass Cospaia nicht wichtig genug war, um deswegen einen Krieg anzuzetteln, und ließen alles beim Alten. Cospaia wiederum erklärte sich prompt zur Freien Republik; 400 Jahre lang lebten die Anwohner glücklich und zufrieden ohne Steuern, Militärdienst oder geschriebene Gesetze, während sie mit dem Anbau von Tabak, der in den meisten anderen Gegenden verboten war, wirtschaftlich erfolgreich waren; Rauchern konnte gar die Exkommunikation drohen. Die Geschichte dieser wohl kleinsten Republik der Welt ging erst im 19. Jahrhundert zu Ende, als Cospaia nicht nur ein geschäftiges Zentrum des Tabakschmuggels war, sondern auch Zuflucht für Wehrflüchtige und andere, die vor den mächtigen Nachbarn fliehen mussten. 1825 nahmen Papst Leo XII. und der Großfürst Leopoldo II. die Verhandlungen wieder auf. Die Gespräche dauerten über ein Jahr. Am 28. Juni 1826 hörte die Republik Cospaia auf zu existieren. Das Dorf wurde Teil Umbriens; als Kompensation für ihre verlorene Freiheit erhielten die Cospaianer das Recht, eine halbe Million Tabakpflanzen anzubauen. Heute ist Cospaia eine unbedeutende Ansammlung von Häusern, ohne – soweit ich das sehen konnte – Geschäfte und Restaurants. Die einzigen Hinweise auf die lange Unabhängigkeit sind das gelbe Schild am Straßenrand, das stolz die »ehemalige Republik Cospaia« verkündet, und eine Inschrift über der Kirchentür: »PERPETUA ET FIRMA LIBERTAS« – »Freiheit ist dauerhaft und fest.«

Zugehörigkeit

Jemand, der in der Toskana geboren und aufgewachsen ist, wird ohne zu zögern sagen (es sei denn, er stammt aus Florenz), er sei Toskaner – und wahrscheinlich wird er stolz sein auf die Assoziationen von Kultur, Witz und Temperament, die dieses Wort auslöst. Fragt man einen Umbrier, woher er stammt, wird er höchstwahrscheinlich antworten: aus Perugia, Terni oder welcher Stadt auch immer. Ich jedenfalls habe noch niemanden kennengelernt, der sich selbst als Umbrier bezeichnet hätte.

Viele führen das auf die Tatsache zurück, dass Umbrien über Jahrhunderte hinweg vor allem eine Ansammlung unabhängiger Städte war, jede Einzelne von ihnen ungeheuer stolz auf sich selbst und den Nachbarn gegenüber argwöhnisch, wenn nicht gar feindlich gesonnen. Diese Angewohnheit hat bis heute überlebt, wenn auch glücklicherweise in erheblich abgemildeter Form. Das Gleiche lässt sich auch über die Toskana oder jede x-beliebige andere Gegend in Mittel- und Norditalien sagen. Meiner eigenen Theorie nach ist ein weiteres wichtiges Kennzeichen Umbriens, neben der Zentrallage und der Weltabgewandtheit, die lange historische Zeitspanne der Nichtexistenz: Viele Generationen lang gab es schlichtweg kein Umbrien, mit dem man sich hätte identifizieren können.

Früher mal gab es das italische Volk der Umbrer, das einen Großteil Zentralitaliens von der Ost- bis zur Westküste und nach Norden bis zur heutigen Romagna besiedelte. Nach und nach ließen sie sich von anderen Völkern auf jene kleine, gebirgige Region zwischen dem Tiber im Westen und Norden und dem Apennin im Osten zurückdrängen. Zu den stärksten Dränglern gehörten die Etrusker, ein erheblich dynamischeres und einfallsreicheres Volk, das von der Adriaküste aus vordrang, bis es an den Tiber kam (woher die Etrusker ursprünglich stammen, weiß niemand so ganz genau). Südlich der Umbrer lebten die Sabiner, die sich ihre Frauen auf sagenumwobene Weise von den Römern rauben ließen.

Kaiser Augustus war der Erste, der Umbrien einen Namen gab. Unter ihm hieß die Gegend »regio VI. Umbria« und erstreckte sich vom Tiber bis zum Adriatischen Meer. Bei einer Reorganisierung mehrere Jahrhunderte später wurde ein erheblich kleinerer Teil davon mit den benachbarten etruskischen Gegenden zu »Tuscia et Umbria« vereint. Dieser Bezirk hieß im weiteren Verlauf nur Tuscia; der Name Umbria ging für Jahrhunderte verloren. Erst seit der Renaissance taucht Umbrien wieder auf, und auch da nur auf Landkarten, nicht als Verwaltungseinheit. Die Karten selbst sind sich nicht einig, auf welche Gegend genau dieser Name zutreffen sollte.

Erst im 19. Jahrhundert, anfangs unter Napoleon, später dann unter der wiederhergestellten päpstlichen Herrschaft, gab es eine Verwaltungseinheit, die dem heutigen Umbrien ähnelte; nach der Reichseinigung Italiens von 1861 wurde Umbrien zu einer Provinz. Doch selbst da handelte es sich um ein Konstrukt, um Flickwerk. Das Kerngebiet Umbriens wurde vom Tiber in zwei charakterlich unterschiedliche Regionen geteilt, die aus früheren umbrischen und etruskischen Siedlungsgebieten gewachsen waren. Diesen Gebieten wurden andere Regionen angegliedert, die mit dem Rest nur wenig mehr gemein hatten als Randständigkeit und Isolation. Noch immer kann man die alten Zollhäuser sehen, große Gebäude mit einer Kolonnade zur Straße hin, die den Verkehr von Waren und Menschen zwischen der einen längst abgeschafften Verwaltung und der nächsten kontrollierten. Terni, eine moderne Industriestadt mit Stahlindustrie, die im Zweiten Weltkrieg 110 Luftangriffe erlitt, liegt nur wenige Kilometer von der vollkommen anderen Welt des Val di Nera mit seinen mittelalterlichen Burgen, Konventen und Hügeldörfern entfernt. Orvieto, physikalisch und symbolisch durch die Autostrada del Sole, die Hauptverkehrsader Italiens, vom Rest Umbriens getrennt, hat so überhaupt nichts von Umbrien an sich. Hier ist das Gestein rauer vulkanischer Tuff, kein Kalkstein oder Travertin; die Verkehrsverbindungen sind eher nach Rom denn nach Perugia ausgerichtet; selbst die Werbetafeln, die alle paar Meter an den Straßen stehen und die Aussicht verschandeln, erinnern eher an Latium und Rom, nicht an Umbrien. Bis heute unterscheiden sich Dialekte, Gewohnheiten und regionale Gerichte von einer Gegend in Umbrien zur anderen erheblich, manchmal sogar von einem Dorf zum nächsten.

Umbrien ist eine recht fragile Angelegenheit: 1923 fiel die sabinische Gegend um Rieti, die Umbrien sehr, sehr ähnlich ist, an Latium. Und die noch in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts – glücklicherweise erfolglos – unternommene Anstrengung, Umbrien, eine der zwanzig selbstverwalteten Regionen Italiens, völlig aufzulösen und das Gebiet zwischen der Toskana und Latium aufzuteilen, dürfte dem Selbstbewusstsein der Bewohner keineswegs zuträglich gewesen sein.

Und dann wäre da noch die Trennlinie Tiber. Manche, wie mein Freund Theo, meinen, dass die Bewohner Perugias gar keine Umbrier sind, sondern Etrusker. In Perugia selbst bekommt man zu hören, dass es so etwas wie ein etruskisches Gesicht gäbe, rundlich und recht flach, dass dieses Gesicht in der Gegend recht häufig vorkomme und auf direkte Verwandtschaft mit jenem alten Volk hinweise. Darauf ließe sich zwar erwidern, dass dieses rundliche, flache Gesicht wahrhaftig keinerlei Ähnlichkeit mit den aristokratischen Gesichtern auf den Bildnissen in den Etruskergräbern hat; dennoch glaubt man hier daran. Manche behaupten sogar, dass die Menschen, die in den ehemaligen Siedlungsgebieten der Etrusker leben, energischer, klüger und geschäftstüchtiger sind. Andere wiederum behaupten, dies alles sei nur Einbildung. Ich jedenfalls habe bisher keinen Unterschied feststellen können, um ehrlich zu sein.

Für den Außenstehenden wirken die Umbrier manchmal reserviert, ja verschlossen, vor allem ältere Bewohner auf dem Land; lernt man sie ein wenig näher kennen, sind sie allerdings nett und freundlich und erstaunlich schnell geneigt, zum familiären »tu«, du, überzugehen und das formelle »Lei«, Sie, zu überspringen. Mit etwas Mühe mag man vielleicht fehlenden Antrieb, Ehrgeiz oder mangelnde Phantasie erkennen, doch meistens sind die Umbrier beruhigend geradeheraus und ehrlich, bescheiden und würdevoll.

Gegensätze

Meine neue Nachbarin, eine Amerikanerin, die ihr Traumhaus fast direkt nebenan gefunden hat, kam eines Tages völlig verwirrt auf einen Kaffee vorbei. »Ich leide unter einem akuten Kulturschock!«, erklärte sie. »Ich war in der Shoppingmall einkaufen: So sehr ich das auch hasse, aber es ist nun mal praktisch. Die Mall hätte auch irgendwo in den Staaten sein können, in Fresno, Kalifornien, vielleicht. Als ich zu meinem Wagen zurückkehrte, sah ich zwei umwerfend schöne kleine mittelalterliche umbrische Dörfer auf dem Hügel. Dieser Gegensatz zwischen der Einkaufsatmosphäre in der Mall und den liebenswerten alten Gemeinden direkt daneben hat mich völlig schockiert. Es war total verwirrend, diese beiden Welten so nah beieinander zu sehen.

Ich bin in meinen Wagen gestiegen, aber nicht nach Hause gefahren. Stattdessen entschied ich, mir eines der Dörfer anzuschauen. Da gab es einen hübschen kleinen Kirchturm, ganz pfirsichfarben, den ich mir aus der Nähe ansehen wollte. Als ich auf die kleine Piazza vor der Kirche kam, marschierte eine Gruppe von Frauen einen Hang hinunter auf die Piazza zu. Einen Augenblick dachte ich schon, sie wollten mich aus dem Dorf jagen! Sie hatten Seifenpulverschachteln und Wäsche bei sich. Sie gingen in ein altes öffentliches Waschhaus an der Piazza und machten sich daran, ihre Wäsche von Hand zu waschen. Keine zehn Minuten zuvor war ich noch in der Shoppingmall gewesen, in der die jungen Umbrierinnen aussahen wie Popstars … und nicht weit davon entfernt waschen diese Frauen ihre Wäsche auf dem Marktplatz! So etwas gibt es nur in Umbrien!