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Der Kanal

Im Deutschen bezeichnen wir im allgemeinen einen künstlich geschaffenen Wasserlauf als Kanal. Im Englischen muß man streng zwischen canal (künstlich) und channel (natürlich) unterscheiden. Wird Channel aber groß geschrieben und meist sogar mit dem Zusatz English versehen, so handelt es sich um den Kanal aller natürlichen Kanäle, jene Meerstraße zwischen der Südküste Englands und der Nordküste Frankreichs, zwischen Dover und Calais, Portsmouth und Le Havre, Cornwall und der Bretagne, die England vom Kontinent trennt: den Ärmelkanal.

Der Kanal ist heute nichts als eine leicht zu überquerende und vielbefahrene internationale Wasserstraße mit festen Verkehrsregeln, die denen einer Autobahn ähneln. Das war mehr oder weniger immer so, und daran hat sich wenig geändert. Dabei hat man noch eben im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert eine jener Utopien wahrzumachen verstanden, die so gern als »Traum der Menschheit« bezeichnet wird. In den Jahren 1978 bis 1990 wurde, eine britisch-französische Gemeinschaftsarbeit, der English Channel untertunnelt.

Für viele Engländer eher ein wahrgewordener Alptraum: schien doch dadurch das behagliche Abseits eines Inseldaseins empfindlich gestört. War es keinem der übelsten Tyrannen der Vergangenheit, weder Napoleon noch Hitler, gelungen, die Inselfestung zu erobern, so kam man sich plötzlich vor, als habe man die schützende Haustür endgültig für alle Welt, Krethi und Plethi, aufgesperrt. Was den Volksmund veranlaßte, den milliardenteuren, aber wenig beliebten unterirdischen oder unterseeischen Zugang zum guten alten England mit der unschönen Vokabel chunnel zu versehen, ein Wortgebilde aus channel und tunnel.

Der Name ist dem Channel-Tunnel nicht geblieben. Mag sein, daß sich nach einigem Beinahe-Boykott, vor allem durch die älteren Generationen, die meisten dann doch an die neue Möglichkeit einer bequemen Kanalüberquerung selbst bei Windstärke 10 gewöhnt haben. Zweifellos gehört es auch heute noch zum good sport eines echten Engländers, England, wenn es denn sein muß, wie es sich gehört in Dover auf einem Schiff – und sei es auch nur ein Fährschiff – zu verlassen. Die Hovercraft-Boote, die einst den Fährschiffen Konkurrenz machten und auf denen man, dabei gesagt, erst recht seekrank wurde, gibt es schon gar nicht mehr. Man hat doch, so scheint es, allmählich mit dem Hochgeschwindigkeitszug in dem rund fünfzig Kilometer langen Unterwassertunnel Frieden geschlossen.

Zugegeben: man kommt sich nicht sehr sportlich vor. In den luxuriösen Waggons verschwindet man zwischen grünen englischen Wiesen in einem schwarzen Loch und rast eine knappe halbe Stunde durch völlige Dunkelheit, bis man auf einer französischen Wiese, die nicht viel anders aussieht als vorher die englische, wieder ans Tageslicht gespült wird. Vom Wasser, das man unterquert hat, bekommt man auf keiner Seite auch nur einen Schimmer zu sehen. Verglichen mit dem Anblick der Weißen Klippen von Dover bei der Ein- oder der Abfahrt eine ziemlich langweilige Angelegenheit.

Geographisch und historisch hat der English Channel eine unüberschätzbare Rolle gespielt. Er hat Großbritannien und vor allem England zu dem gemacht, was es geworden ist. Er hat all jene Invasionen ermöglicht, von denen Normannen, Dänen, Sachsen, Franken und viele andere zurückblieben, ein Völkergemisch, aus dem ein Volk heranwuchs. Ebenso hat er die Invasion von Spaniern, Franzosen und Deutschen (Hitlers »Seelöwen«-Unternehmen) abgewehrt. Was Wunder, daß der Kanal eine besondere Rolle in Geographie und, mehr als das, der Geschichte des Landes spielt, die das Inseldasein zu einem Teil der nationalen Eigenart gemacht hat.

Selbst noch lange nach dem Eintritt Englands in die Europäische Gemeinschaft blieb die Mentalität der Inselbewohner geprägt von der gewissen Sicherheit, die die Abgeschnittenheit vom Rest der Welt zu garantieren schien. Mit dem Brexit kann der Engländer nun erst recht wieder ganz selbstverständlich den Erdball in the British and the rest of the world einteilen.

So war die Schlagzeile: »Nebel über dem Kanal« mit dem Zusatz: »Kontinent ist abgeschnitten« nicht nur ironisch gemeint, obwohl dies auch, denn man hat in Großbritannien viel für Ironie übrig, in die man nicht zuletzt sich selbst einbezieht. Man machte sich schon damals lustig über den englischen Stolz auf die angeblich so unbezwingbare Inselfestung. Daß sie es wirklich und tatsächlich war, steht allerdings auf keinem anderen, sondern demselben Blatt.

Es gibt sogar einen wissenschaftlichen Begriff für das Lebensgefühl eines überzeugten Engländers. Er lautet »Anglozentrismus« und wird von Historikern – in diesem Fall F. Béderida, Esq. – wie folgt umrissen: »Eines Abends im Jahre 1853 vertraute ein Baumwollfabrikant in Manchester seine Euphorie mit folgenden Ausdrükken seinem Tagebuch an: ›Unser Land ist zweifellos in einer ungemein glücklichen und günstigen Lage. Gewerbefreiheit, Frieden und allgemeine Freiheit. Oh, glückliches England!‹ … Offensichtlich war es solch einfaches Glücksgefühl, das rasch in Selbstgerechtigkeit umschlug, Stolz auf das Erreichte in Nationalismus und Selbstvertrauen in Chauvinismus, der Züge von Fremdenhaß trug …«

Weiter (ich zitiere aus einer vor wenigen Jahren erschienenen Sozialgeschichte Englands 1851  1975): »Tausend Faktoren, bedeutende und triviale, ermutigten die Briten zu solchem Überlegenheitsgefühl … Da war die Pax Britannica, eine überzeugende Demonstration der Überlegenheit von Flotte und Diplomatie. Geographisch ließ sich auf den Meridian von Greenwich verweisen, nach dem jedes Land der Erde seine Längengrade vermaß. Die Philatelie hielt ein weiteres Symbol bereit – England war das einzige Land der Welt, das seinen Namen nicht auf seine Briefmarken setzte; der Kopf der Königin Viktoria genügte. ›Wir sind ein reiches Volk, mächtig, intelligent, religiös … Unser Geist regiert den Erdball‹, trompeteten die ›Illustrated London News‹, und dasselbe Organ verstieg sich bei anderer Gelegenheit sogar zu der Idee, die Engländer seien die ›Bringer der Zivilisation‹, seien notwendig für die Welt. Überall ›haben wir unsere heilsamen Kennzeichen hinterlassen. In allen Teilen des Erdballs wird unsere physische, moralische und intellektuelle Präsenz anerkannt … Sie könnte nicht leben ohne uns …‹.«

Man kann, wie man sieht, auch den Anglocentrism übertreiben, was inzwischen keiner besser gelernt hat als der Engländer selbst. Schließlich hat man einen Krieg gewonnen, aber den größten Teil des über den Erdball verstreuten Empires verloren, ein »Kunststück sondersgleichen«, wie ein großer Staatsmann kommentiert haben soll.

Mag also der Ärmelkanal kein English Channel mehr sein und das Empire der Geschichte angehören. Der Kontinent ist der Kontinent geblieben. Man höre nur genau hin, wie ein Engländer das Wort continental ausspricht: höflich, unterbetont, manchmal sogar mit Hochachtung, auf jeden Fall aber doch von Fremdheit, Anderssein, Unvertrautheit, vielleicht sogar von ein bißchen Feindseligkeit gewissermaßen durchtränkt.

Der English Channel ist immer noch eine Grenze; daran hat auch der chunnel nichts verändern können. Wer den Kanal überquert, befindet sich im Ausland. Das gilt oft sogar für den Einheimischen, denn Engländer haben einen siebenten Sinn für Fremdes, das sie selbst mitunter in ihrem eigenen Land aufzuschnüffeln vermögen.

Einem Freund von mir ist es passiert, als er einen englischen Verwandten in ein Londoner japanisches Lokal einladen wollte, daß er die Ablehnung erhielt: »Oh, please not. I don’t like continental food!«

Der gemäßigte Anglozentrismus

Dabei haben die Engländer den Tourismus erfunden, den wir heute doch alle begeistert ausüben. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts waren sie das einzige Volk, das planmäßig reiste. Routen, Verkehrsmittel, Herbergen, Hotels, sogar Speisekarten blieben lange Zeit auf englische Bedürfnisse zugeschnitten.

In ihren auffallend großkarierten Reiseplaids, mit den zweischirmigen Mützen und dem unvermeidlich mitgeführten ausziehbaren Fernrohr – angeblich einer Erfindung Admiral Nelsons – bildeten sie, umgeben von unzähligen Gepäckstücken, Seekisten und Kindern, die wie kleine Erwachsene aussahen, so etwas wie eine eigene Gesellschaft mit eigenen Sitten.

Man belächelte die ewig reisenden Engländer zwar, wohin sie auch kamen. Aber die Orte, in die es sie trieb – in Frankreich, Holland, Italien, der Schweiz, am Rhein vor allem –, profitierten von ihrer verrückten Reiselust. Bald begann man sie zu locken und zu umwerben. Sie wurden auch beneidet. Wer reist, dem gehört die Welt.

Das konnte man bei den Engländern wörtlich nehmen. Ihrer Reiselust verdankten sie, schon ehe der Tourismus einsetzte, wenn nicht die ganze, so doch die halbe Welt. Ihre Reisen waren zunächst Expeditionen, und ihre Expeditionen wurden Eroberungszüge, aus denen eben jenes Empire entstand, das nach dem Zweiten Weltkrieg zerfallen ist.

Obwohl sie dadurch weltläufiger wurden als andere Nationen, hat diese Tatsache die Engländer in ihrem Inselfestungsdenken nur noch bestärkt. Einen Engländer erkennt man bis heute überall sofort, wie einem Leserbrief zu entnehmen, den ich einmal in der Times fand und in dem ein Mr. Roger Musgrave berichtete: »Ausgestattet mit einem italienischen Anzug, einem Schweizer Hemd, französischem Schlips und braungebrannt von adriatischer Sonne, bahnte ich mir einen Weg durch die kosmopolitische Menge und reichte dem Verkäufer, ohne ein Wort zu sagen, meine Auswahl aus seinen Postkarten. Sofort sagte er (auf englisch): ›Six hundred lire, please.›«

Weshalb reist der Mensch überhaupt?

Weil die Neugier ihn treibt und er sich, wahrscheinlich, nirgends so recht zu Hause fühlt. Seine Spanne auf Erden ist relativ kurz bemessen; irgendwo wartet schon ein endgültiger Ruheplatz auf ihn. Wer etwas von dieser Erde kennenlernen will, hat kaum Zeit zu verlieren.

Es gibt noch einen dritten Grund, den man mit einem Sprichwort umschreiben könnte, das fast alle Sprachen kennen: Das Gras auf der anderen Seite des Zauns ist immer grüner als das auf der eigenen Seite. Dort, wo man selbst lebt, ist es entweder zu kalt, mitunter auch zu heiß, zu regnerisch, zu trocken, zu wechselhaft oder nicht wechselhaft genug. Den meisten Menschen geht es wie Alfred Polgar, der »überall a bisserl ungern« war. Was spricht jener englische Mister Pief bei Wilhelm Busch? »Warum soll ich nicht beim Gehen – sprach er – in die Ferne sehen?« Dabei entfaltet er sein Nelson-Perspektiv, denn »schön ist es auch anderswo, und hier bin ich sowieso«.

Genauer gesagt: Man unterschätzt stets das, was man hat, und überschätzt, was man nicht hat. Auch die Engländer haben lange ihr eigenes Land unterschätzt, worüber sich schon deutsch-englische Maler wie Philip de Loutherbourg und frühe preußische Reisende wie Fürst Pückler, Karl Friedrich Schinkel und Theodor Fontane höchst verwundert zeigten. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts und ist dann beträchtlich umgeschlagen. Die englische Landschaft jedenfalls war und ist heute noch so schön, so abwechslungsreich, so grün, so reich an Überraschungen und dabei so leicht erreichbar wie kaum eine andere. Es mußte schon erstaunen, warum den reichen britischen Touristen einst das eigene Land so wenig anziehend vorkam, weshalb ihnen die Blaue Grotte oder Teneriffa reizvoller erschienen als der Lake District oder die aufregende Felsenküste von Wales.

Es hat auch dies mit dem Kanal zu tun, den man überqueren muß, wenn man vom Kontinent auf die Britischen Inseln gelangen will und umgekehrt.

Der Reiseverkehr war immer größer von den Britischen Inseln zum Kontinent. Daß England, daß Großbritannien ein vorzügliches und abwechslungsreiches Reiseland ist, scheint in Vergessenheit geraten.

Vor 200 Jahren war das anders. Da mußte nach England fahren, wer etwas von der nachhaltigsten Revolution mitbekommen wollte, die je die Welt verändert hat, die industrielle. England war das Ursprungsland alles damals Modernen, von Maschinen, Fabriken, Eisenbahnen, mechanischem Werkzeug, Dampfschiffahrt, Zentralheizung bis zum simplen Wasserhahn, den noch ein nicht unverwöhnter deutscher Reisender, der Fürst Pückler, angestaunt hat. Man sah verblüfft all die vielen Bequemlichkeiten und auch schon Überflüssigkeiten, die dort – wenn auch noch nicht am laufenden Band, einer amerikanischen Erfindung Henry Fords – erzeugt wurden. Und man bewunderte dann neben der modernen Technik auch Land und Leute.

Aus Hunderten von Berichten, die Reisende nahezu aller europäischen Nationen hinterließen, spricht diese Wertschätzung. England schien den Kontinentaleuropäern sauberer, fortschrittlicher, komfortabler eingerichtet und trotzdem individueller als andere Länder. Nikolai Karamsin, in seinen Briefen eines russischen Reisenden: »Diese unbegrenzte Freiheit, zu leben wie man will, wenn es nur dem Wohle anderer nicht hinderlich ist, bringt in England eine Menge selbständiger Charaktere hervor und ist eine reiche Quelle für Romanschreiber.«

Und weiter: »Die übrigen Länder Europas gleichen regulären Gärten, wo ein Baum so groß ist wie der andere, wo die Wege gerade sind und wo in allen Stücken Einförmigkeit herrscht. Die Engländer hingegen wachsen, im moralischen Sinne, wie wilde Eichen empor. Sie sind zwar alle von einem Stamme; aber dabei alle verschieden.«

Tatsächlich waren Untertanengeist und Leibeigenschaft in Großbritannien längst beseitigt, als es auf dem Kontinent noch Bauernkriege gab und als Stein und Hardenberg Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen ihre Reformen durchsetzen konnten. Seit der Bauernrevolte 1381 gab es in England zwar soziales Unrecht und Elend genug, aber keine direkte Abhängigkeit mehr. Das System der Arbeitsgruppen, von den Bergleuten in Cornwall eingeführt, sorgte auch in industriellen Bereichen für individuelle Freiheit und Unabhängigkeit: Man arbeitete in Teams und verdingte sich bei den Unternehmern, die am meisten boten, eine frühe Vorstufe der Gewerkschaften.

Fünfzig Jahre später, Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, fuhr man dann eher nach Schottland. Zum ersten fand sich dort noch ursprüngliches Landleben in unverdorbener Natur, und zum zweiten sorgte der Bestseller aller bestsellernden Autoren, Sir Walter Scott, mit seinen Romanen für eine weltweite Reisewerbung.

Aber ob England oder Schottland: Besucht wurde das Vereinigte Königreich, dessen Sauberkeit, Effizienz und Individualismus man schätzte und zum Vorbild nahm; das wuchs, blühte, gedieh, ohne jenen Kadavergehorsam zu verlangen, den die Obrigkeit selbst in Ländern alter Kultur und Zivilisation – Frankreich, Deutschland, Rußland – von seinen Untertanen fordern zu müssen glaubte.

Kadavergehorsam wird man noch heute in England schwerlich auftreiben. Aber seit, wie der Politiker und Autor Jeffrey Archer in seinem Roman Es ist nicht alles Gold, was glänzt den amerikanischen Geschäftsmann Harvey sagen läßt, die Engländer nach dem Zweiten Weltkrieg sich aus ihrem Weltreich in einer Weise abgesetzt haben, »wie es keinem amerikanischen Geschäftsmann einfallen würde, sich aus seinem Vorzimmer zurückzuziehen«, läßt auch die Effizienz zu wünschen übrig. »Harvey hatte oft überlegt, daß die Briten, brächten sie nur etwas frischen Wind in ihre Vorstandszimmer und etwas Ordnung in ihre Steuerstruktur, die reichste Nation der Welt sein könnten – und nicht, wie der ›Economist‹ einmal schrieb, eine Nation, die von den Arabern mit dem Ertrag aus zwei Monaten Ölförderung aufgekauft werden könnte. Die Briten erlaubten sich den Luxus, mit dem Sozialismus zu flirten und gleichzeitig an ihrer folie de grandeur festzuhalten, während es doch ganz danach aussah, als ob sie dazu verurteilt seien, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken.«

Obwohl dieses Urteil einem amerikanischen Geschäftsmann in den Mund gelegt wird, hat es doch ein Engländer geschrieben, der weiß, was er sagt. Der Anglozentrismus hat gelitten.

Und auch die einst – unter anderem von Fürst Pückler und Schinkel – so hochgepriesene Reinlichkeit scheint mit dem Empire dahin. Was England betrifft, so kommt einem heute eher das Adjektiv »schlampig« in den Sinn. Selbst beim Besuch feinster Speiselokale sei geraten, nicht allzu genau auf die Sauberkeit des Fußbodens, der Tische, Teller und Bestecke zu achten. Auch hapert es zuweilen empfindlich an jener soliden Handwerklichkeit, für die das Land einst berühmt war und die für die erste industrielle Revolution sorgte. Mrs. Romberg, die deutsche Ehefrau eines englischen Richters, erzählte mir, daß sie nach Inspektion einer Wohnung, die sie in Bath erwerben wollten, gefragt habe: »Das Bad ist französischer Herkunft, der Fußbodenbelag stammt aus Deutschland, die Tapeten kommen aus Taiwan. Was ist hier englisch?« Die Antwort habe gelautet: The craftsmanship. – »Worauf ich nun gern verzichtet hätte«, wie Mrs. Romberg, durch langjährige Erfahrung geschult, seufzend hinzufügte.

Aber ein bißchen ist das wie mit dem englischen Wetter und dem englischen Essen. Beide sind besser als ihr Ruf. Für den Frühling in Cornwall und ein full English breakfast gebe ich alle Jahreszeiten, Gegenden und Gerichte der Welt hin, ebenso für einen kurzen, heißen Sommer im schottischen Hochland oder einen frisch gefangenen Kabeljau, in Milch gesotten. Und selbst die obligaten fish & chips, die ein Engländer notfalls zu jeder Mahlzeit verzehrt, schmecken mir besser und verraten mehr kulinarische Delikatesse als unsere Currywurst oder Hackfleischbulette.

Das gilt auch für die scheinbaren Makel, die wir erwähnt haben. Sie sind, wie alles auf der Welt, Kehrseiten einer Medaille, deren andere Fläche sich als makellos blankgeputzt erweisen kann. Erhalten haben sich die Engländer jedenfalls ihr Wertvollstes, die von Herrn Karamsin so hochgeschätzte absolute Individualität.

England ist überhaupt ein Land der Gegensätze. Man lebt hier zuweilen noch im 19. Jahrhundert, greift aber gleichzeitig gern ins übernächste Jahrhundert voraus. Man gibt sich altmodisch, reagiert aber immer wieder erstaunlich modern. Man trifft – auch heute noch – auf das allerbeste Benehmen, selbst bei jenen Bevölkerungsschichten, die man früher als »gering« bezeichnete, aber man kann auf das rüdeste und allerschlechteste Benehmen stoßen, das überhaupt denkbar ist (zum Beispiel beim Fußballspielen). Was Theater, Kunst, Tanz, Musik betrifft, so geht es kultiviert zu nach feinster altenglischer Art. Doch dann achten Sie einmal auf die Witze des Conférenciers beim Vaudeville in einem Strandbad. Entertainment kann in England zum Synonym werden für Geschmacklosigkeit; unvorstellbar, worüber die Leute lachen (wenn man das Unglück hat, alles genau zu verstehen). Selbst in einer pantomime, die nichts mit unserer Pantomime zu tun hat, sondern etwa unserem Weihnachtsmärchen entspricht, habe ich mich nicht getraut, meiner Schwiegermutter gewisse Witze zu übersetzen, die in der nachmittäglichen Kindervorstellung gerissen wurden.

Nobody is perfect. Denken Sie immer daran, wenn Sie nach England fahren! Der Engländer hat sogar Angst vor der Perfektion, die wir so gern anstreben und im Grunde unseres Herzens als alleinigen Maßstab betrachten. Effizienz ist möglich, sogar notwendig, und – wahrhaftig – der Engländer kann leistungsfähig sein (wenn er will, auch in punkto craftsmanship). Sollte Ihnen jedoch ein englischer Handwerker oder Geschäftsmann folgendes sagen, nehmen Sie es für eine glatte, endgültige Absage: It will be in in a fortnight (In 14 Tagen habe ich es da), It’s on its way (Ist schon unterwegs) oder We don’t have it in stock but we can order it for you (Wir haben es nicht auf Lager, können es aber bestellen). Es wird nie kommen. Perfektion gilt nun einmal als unfein.

Immer, wenn mein Freund Peter englische Freunde oder Bekannte in sein Haus in Worthing führt, das tipptopp gehalten wird, von den Gardinen bis zum blankpolierten Fußboden, weist er bedauernd und entschuldigend auf die übergroße Ordnung und Sauberkeit hin: »Tut mir leid, ich bin mit einer Deutschen verheiratet.«

Gemäßigt und ernüchtert hat sich ein wenig Anglozentrismus durchaus erhalten. Und das ist erfreulich: Anglozentrismus gehört zum Charme der Engländer, ohne den sie zu simplen Europäern herabgestuft werden müßten. Der Kontinent bleibt Kontinent, und – dreimal gegen Holz geklopft oder touch wood! – England bleibt England.

Linksverkehr

Das Bestreben Englands, England zu bleiben, sollte man unterstützen, auf die Gefahr hin, gerade dasjenige zu fördern, das uns trennt. Was uns vielleicht am empfindlichsten trennt, sind zwei Dinge: das allgemeine Benehmen und der Linksverkehr.

Im Gegensatz zu anderen Ländern, die dem Äquator näher liegen, erfreuen sich die Deutschen in Großbritannien eines erstaunlich guten Rufs. Und zwar weil, wie man immer wieder hört, wir uns, Jugendgruppen eingeschlossen, besser zu benehmen wüßten als andere Ausländer. Benehmen wird in England im übrigen danach eingeschätzt, wie weit man sich nach englischen Maßstäben richtet. Und das tun wir wohl. Mich wundert das sehr, denn wenn ich an meinen Landsleuten positive Züge finden sollte, so würde ich auf übermäßig gutes Benehmen wohl zu allerletzt stoßen.

Aber vielleicht hängt das sogar mit dem Linksverkehr zusammen. Viele Deutsche scheuen ihn, und die ihn nicht scheuen, lernen, sich auf den Straßen unterordnend, sofort und instinktiv etwas von englischer Höflichkeit, Gefälligkeit, Selbstdisziplin. Diese drei Eigenschaften, auch nicht eben Erztugenden hierzulande, werden dort am meisten geschätzt, und wenn man sie beherzigt, wird und muß man den Engländern gefallen.

Zwar hat es meine Nichte noch sehr gekränkt, als sie, auf Schüleraustausch, in der Schule mit schallendem »Heil Hitler!« begrüßt wurde, aber der Krieg, der »Blitz«, der London fast zerstört hätte, die heimtückischen V 2-Raketen, das Dritte Reich haben sich in der Erinnerung rascher abgeschliffen als bei anderen Nationen. Zu Massenmorden wie in Polen, der Tschechoslowakei, den Niederlanden und anderen besetzten Ländern, zu Judenverschleppungen, Konzentrationslagern, Quislingen, Geiselerschießungen, Todeslagern, rassischen Ausschreitungen ist es in Großbritannien selbst ja gottlob nicht gekommen. Nicht selten stößt man dort sogar (Give us back our bad old world) auf nostalgisch gestimmte Empfindungen, auf die Sehnsucht nach den Tagen des Zweiten Weltkriegs, als das Empire noch bestand und es – mehr als das – zeitweilig ganz allein ein Bollwerk gegen Hitler bildete, der nahezu den gesamten Kontinent besetzt hielt. Der Tapferkeit und dem Zusammenhalt von damals weinen Ältere verstohlene Tränen nach, vor allem angesichts der tagtäglichen Fernsehreportagen aus Nordirland, der Ausschreitungen bei Streiks und der wachsenden Brutalität im Umkreis von Fußballspielen. Die große Eintracht unter Winston Churchill erscheint manchen als die letzte große Zeit, die England erlebt hat.

Das heißt aber nicht, daß die Hitler-Zeit vergessen ist. Sie wird immer wieder durch das britische Fernsehen, sicher nicht ganz zu Unrecht, im Gedächtnis gehalten. Kaum ein Fernsehabend, an dem nicht der »häßliche Deutsche« in Person eines SS- oder Gestapo-Mannes auftritt. Andererseits sind, wie gesagt, besonders junge Deutsche keinesfalls unbeliebt. Und das besiegte Deutschland war, zumindest unter den englischen Soldaten, die bis zur Wiedervereinigung der beiden Deutschlands in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder dem britischen Sektor des ehemaligen West-Berlins Dienst taten, sehr populär. In Salisbury im Busbahnhof trafen wir eine ältere Dame, mit der wir ins Gespräch kamen. Sie fragte nach unserem Reiseziel, und wir nannten ihr Cornwall, eine der schönsten Landschaften Englands, wenn nicht der Welt. Sie, Mutter eines in Westfalen stationierten Offiziers, konnte nicht verstehen, warum wir den englischen Westen unserem eigenen Vaterland vorzogen. I don’t want to see the West, erklärte sie uns, I would rather go to Paderborn.

Die Deutschen, die man als Touristen in Großbritannien – nicht unbedingt in London – trifft, sind aber auch fast ausnahmslos eine Klasse für sich, haben wir oft gefunden. Sie rücken in vielem das TV-Image wieder zurecht, das den Deutschen als fortwährenden Gegner, nicht immer der fairsten Art, darstellt. Die deutschen Englandreisenden sagen sorry oder pardon me, wenn sie durch Zufall im Gedränge angestoßen werden (weil es sonst dem Anstoßenden peinlich sein könnte), und ordnen sich an Bushaltestellen, Schaltern, in Banken und auf Bahnhöfen ganz selbstverständlich in jene queue (Schlange) ein, die sich sofort bildet (diese Art des Wartens ist übersichtlicher, gerechter und ermöglicht zudem eine viel schnellere Abfertigung). Sie beachten – oft sehr bewußt – diese urenglischen Tugenden, obwohl es einem auch in England mittlerweile schon passieren kann, daß jemand, den man aus Versehen anstößt, nicht entschuldigend reagiert, sondern einem ein unanständiges four letter word entgegenschleudert, oder daß ein besonders Eiliger sich in der queue – Todsünde! – vorzudrängeln versucht.

Wer sich nicht mit seinem Auto nach England traut und sich dort auch keines zu mieten wagt, weil der Verkehr in England auf der für ihn falschen Seite der Landstraße vonstatten geht, ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, also auf Eisenbahn und/oder Omnibus.

 tempora mutantur