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Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn leiden konnte. Seine ganze überspannte Familie, die vor allem sich selbst im Kopf hatte. Der Abend strotzte nur so vor Geistlosigkeit, und Leska verkniff sich ein Gähnen. Ihr Blick glitt vom festlich weiß gedeckten Tisch durch die großen Fenster auf den See, der kleine Schaumkronen trug und am gegenüberliegenden Ufer von sanft aufsteigenden Bergen begrenzt wurde. Rot-weiß gestreifte Fahnen flatterten im Wind, ansonsten rührte sich auf der üppig mit Blumen geschmückten Terrasse nichts. Sie war menschenleer. Leska fragte sich, wo sie jetzt lieber wäre. Aber es fiel ihr nichts ein, sie musste ja froh sein, dass sie hier sein durfte, reichlich zu essen bekam und vielleicht heute Nacht ein Dach über dem Kopf hatte. Ein leichtes Unbehagen signalisierte ihr, dass sie beobachtet wurde. Sie sah nach rechts und begegnete Valentins Blick. Er hatte sie am Nachmittag in Zell am See aufgegabelt. Einfach so. Zwischen all den urlaubenden verschleierten Frauen aus muslimischen Ländern war sie vielleicht die Einzige gewesen, deren Gesicht er sehen konnte, anders war es nicht zu erklären, denn besonders hübsch fand sie sich im Moment nicht. Eher ausgelaugt, müde, traurig. Sie hielt seinem intensiven Blick stand. Die Tiefe seiner dunkelbraunen Augen, sein offenes Gesicht, sein sanftes Lächeln schienen ihr im Moment das Einzige zu sein, was Halt versprach. Und sein Alter. Sie lagen nur drei Monate auseinander, sie Zwilling, er Löwe, beide 23. Sie hatten sich zwischen all dem Wahnsinn knatternder Oldtimer, enthusiastischer Fans, fachsimpelnder Fahrer auf dem Platz vor dem Congress Center gefunden. Das heißt, dachte Leska, sie war da ja nur durch Zufall hingeraten, mehr oder weniger auf der Durchreise. Aber da hatte Valentin schon quasi vor ihr gekniet, mit einer Startnummer in der Hand, die er nach den ausführlichen Anweisungen eines Mannes auf die Seitentür eines roten Auto kleben sollte: »Pass auf, dass es keine Blasen gibt!« Und: »Schau, dass es nicht schräg hängt!« Und: »Sie sollten auf beiden Türen in etwa auf der gleichen Stelle sein!« Und: »Pass auf den Lack auf!« In dem Moment trafen sich ihre Blicke. Er in der Hocke, sie stehend, abwartend, fasziniert von dem, was wichtig sein könnte. Ihr waren völlig andere Dinge wichtig, wo sie ihre nächste Mahlzeit herbekam, zum Beispiel. Oder wo sie schlafen konnte. Oder überhaupt, wie ihr Leben weitergehen sollte. Und da saß einer und jonglierte mit einer auf Kunststoff gedruckten schwarzen Nummer, als ob das das Wichtigste auf der Welt sei.

»Kannst du mal prüfen, ob die Nummer auf beiden Seiten gleich hoch ist?«, fragte er sie, als ob sie dazugehörte. Leska überlegte kurz, dann nickte sie und ging vor dem Auto hin und her, um beide Türen sehen zu können. »Etwas höher«, wies sie ihn an. »Und etwas weiter nach vorn!« Schließlich: »Ja, so passt es!«

Der Mann wandte sich ihr zu. Sein rotes Polohemd spannte über dem Bauch, und seine welligen weißen Haare fielen füllig in den Kragen. »Und zu wem gehörst du?«

»Zu wem?« Leska reckte sich. »Zunächst mal zu mir selbst.«

»Er meint, zu welchem Team«, erklärte Valentin und stand auf. Er war größer, als sie gedacht hatte. Und die Lässigkeit seiner Kleidung war wohlüberlegt. Ein reicher Schnösel, schoss es Leska durch den Kopf. Nichts für mich.

Und jetzt saß sie hier. Mit Valentins Vater, der sich zum Dinner umgezogen hatte und einen weißen Leinenanzug über einem giftgrünen Hemd trug, und mit seiner Mutter, die sich in ein schwarzes Kleid gezwängt hatte, das kein Atmen mehr zuließ. Und mit der weiteren Familie, dem Onkel und dessen Frau. Ihr war langweilig, die Gespräche waren langweilig, und alles, was es zu essen gab, mochte sie nicht. Sie wollte weder Austern noch Hummer und beruhigte ihren hungrigen Bauch mit viel Brot und Beilagen. Valentin blinzelte ihr zu, und sie fragte sich, was sie hier eigentlich suchte.

»Wollen wir mal kurz raus?«, fragte er. »An die frische Luft?«

»Gleich kommt der dritte Gang«, mahnte seine Mutter.

»Bis dahin sind wir wieder zurück!«

Leska stand auf. Sie hatte ein leichtes schwarzes Kleid an, das nach Seide aussah, aber aus Polyester war. Dazu trug sie schwarze Ballerinas. Und was die Kleidung nicht hergab, wurde durch ihre Jugend ausgeglichen, das wusste sie, als sie die prüfenden Blicke der Tischgesellschaft auf sich spürte. Sie lächelte und ging bewusst aufrecht neben Valentin hinaus.

»Und so ein Zweierzelt mit deiner Freundin, ist das die Erfüllung?«

Sie standen an der weißen Balustrade und sahen auf den See hinaus. Langsam wurde es dunkel, und Leska spürte so etwas wie Romantik aufkommen. So ein Gefühl hatte sie lange nicht mehr gehabt. Jetzt fehlen nur noch Kerzen und Eros Ramazzotti, dachte sie ironisch.

»Es ist mal etwas ganz anderes«, sagte sie. »Back to the roots, zurück zu den Wurzeln, haben wir uns gesagt. Das ist erdverbunden, nah dran, anders.«

»Sehr erdverbunden, stelle ich mir vor …«

»Man hat eine Plane dazwischen …« Sie lächelte. »Und darüber eine Isomatte.«

»Hört sich hart und steinig an!«

»Kann auch schön sein!«

»Ich könnte dir ein weiches Bett bieten.«

Er sah sie an. Leska machte keinen einzigen Schritt auf ihn zu. Selbst wenn sie ihren Arm ausgestreckt hätte, hätte sie ihn nicht berühren können. »Natürlich ohne Wurzeln«, fügte er an.

»Zwei Tannenwurzeln groß und alt / Unterhalten sich im Wald. / Was droben in den Wipfeln rauscht, / Das wird hier unten ausgetauscht. / Ein altes Eichhorn sitzt dabei / Und strickt wohl Strümpfe für die zwei. / Die eine sagt: knig. Die andre sagt: knag. / Das ist genug für einen Tag.«

Es war kurz still. Valentin legte den Kopf schief. »Und was ist jetzt das?«

»Nicht was, sondern wer: Christian Morgenstern. Ist mir spontan eingefallen.«

»Ist dir spontan eingefallen«, wiederholte er.

»Und du?«, fragte sie. »Was machst du so im Leben?«

»Ich kann jedenfalls kein einziges Gedicht auswendig. Ich muss Zahlen studieren.«

»Ich habe heute Abend nur Zahlen gehört.«

»Ja, mein Vater redet gern übers Geschäft. Und sein Bruder auch.«

»Sie sehen sich überhaupt nicht ähnlich.«

»Sie wollen sich auch nicht ähnlich sein.«

»Und warum nicht?«

Valentin überlegte. »Mein Onkel ist der Bonvivant, sagt mein Vater. Ständig unterwegs, schöne Autos, junge Frauen, dicke Jacht, ein Leben auf großem Fuß.«

»Er ist doch verheiratet?«

Valentin verzog kurz den Mund. »Ja, mit sich.«

Leska dachte an ihre Eltern. Aber den Gedanken verbot sie sich sofort wieder. Mit dem Thema hatte sie abgeschlossen. Wenn etwas immer nur schmerzt, muss man es von sich fernhalten, sonst killt es einen.

»Und was macht deine Mutter?«

»Meine Mutter?«

Leska betrachtete Valentin. Er sah sensibel aus. Der geschwungene Mund, die schmale Nase mit den geblähten Nasenflügeln, das Kinn, nichts war grob an seinem Gesicht, alles eher fein geschnitten. Dazu passten auch seine dunkelbraunen Haare, die ihm jetzt in die Stirn fielen.

»Ja, deine Mutter.«

»Sie schaut, dass der Laden läuft.«

»Der Laden?«

»Na ja, dass das Haus läuft, die Angestellten funktionieren, die Fahrer und Piloten an Ort und Stelle sind, dass mein Studium und das Drumherum rechtzeitig bezahlt werden, die ständigen Erledigungen eben.«

»Dann leben deine Eltern doch auch auf ziemlich großem Fuß?«

»Schon. Aber mein Vater ist der Geschäftsmann, der kümmert sich ums Verdienen. Und meine Mutter sorgt dafür, dass die internen Dinge funktionieren.«

»Das hört sich ziemlich stressig an …«

Er antwortete nicht, sondern sah sie nur an.

»Leska, du bist ein sonderbares Mädchen.«

»Valentin, du bist ein sonderbarer Junge.«

Und dann küssten sie sich.

Sein Angebot, bei ihm im Hotel zu schlafen, lehnte sie ab. Obwohl sie gern mal wieder in einem richtigen Bett geschlafen hätte, erschien es ihr falsch. Ihr Bauch sagte ihr, dass sie ihre Geschichte durchziehen musste, egal wie. So nahm sie nach dem Dessert und einem väterlichen Monolog über die Vorzüge des Grappa aus der Distilleria Levi Serafino, sprich des Grappa-Papstes Romano Levi, Reißaus. Dieser Grappa sei so exklusiv, dass Kenner Hunderte von Euro für eine einzige Flasche zahlten, erklärte er so inbrünstig, als redete er über ein Heilmittel gegen eine grassierende Seuche. Leska wusste, dass sie entweder bald ausfällig werden würde, oder auf der Stelle gehen musste. Valentin zuliebe entschied sie sich für Letzteres. Er begleitete sie hinaus und wollte sie unbedingt zu ihrem Campingplatz fahren. Sie lehnte ab. »Lass nur, die Luft tut mir gut, ich kann ein bisschen Bewegung gebrauchen.«

»Dann gehe ich mit.«

»Ich möchte allein sein. Das brauch ich jetzt.« Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. »Das ist nichts gegen dich. Das ist etwas für mich.«

Er beugte sich für einen Kuss zu ihr hinab, aber auch den kürzte sie ab. »Du hast meine Handynummer«, sagte sie schnell. Er nickte und sah ihr nach, wie sie die Treppen des Grand Hotels hinunterging und über den Bahnsteig in Richtung Innenstadt verschwand. Sie drehte sich nicht um. Erst, als sie wusste, dass er verschwunden war, ging sie zurück und bat an der Rezeption um ihren Rucksack.

Die Nacht war lau, und Leska versuchte, einen Fußweg entlang des Sees zu finden. Irgendwo würde eine Parkbank auftauchen, das lehrte die Erfahrung. Doch die erste war besetzt und das Pärchen sichtlich erschrocken, als sie so unvermittelt auftauchte. Sie tat, als hätte sie nichts gesehen, und schnürte so schnell und leise wie ein Fuchs vorbei. Ein paar Hundert Meter weiter fand sie einen guten Platz: windgeschützt hinter einer mannshohen Hecke in einem Garten. War es ein Privatgrundstück? Ein privater Park? Sie war durch ein Loch in der Hecke hineingeschlüpft und sah sich um, aber ein Haus konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen. Egal, wenn sie früh aufstand, war sie weg, bevor Zell am See erwachte. Sie kramte ihren dicken Jogginganzug aus ihrem Rucksack, füllte einen Becher aus der Mineralwasserflasche, putzte sich die Zähne und überlegte, ob sie noch in den See sollte. Weit konnte er nicht sein, sie meinte sogar, ihn riechen zu können. Zumindest aber hörte sie die Wellen ans Ufer schlagen. Dann verschob sie den Plan auf den Morgen, legte sich ihr kleines Kissen und den dünnen Schlafsack zurecht und schlüpfte hinein. Gibt es etwas Schöneres, als unter freiem Himmel zu schlafen?, dachte sie mit offenen Augen. Der Sternenhimmel über ihr war grandios. Und zum Greifen nah. Als eine Sternschnuppe vorbeisauste, überlegte sie, was sie sich wünschen sollte. Aber es gab im Moment so vieles, was in ihrem Leben nicht stimmte, dass sie den Überblick verlor. Über diesen Gedanken schlief sie ein.

Ihr Handy weckte sie. Die Sonne war schon aufgegangen, aber Morgennebel verschleierten sie noch, es musste verdammt früh sein. Leskas Kreuz schmerzte, und der Schlafsack war klamm vom Tau, auch innen. Der Herbst kam, das war unwiderruflich. Sie nahm das Gespräch an. Valentin. Was konnte er um diese Zeit wollen?

»Psst, du weckst meine Freundin«, mahnte sie als Erstes. Er senkte sofort seine Stimme. »Mein Vater kotzt sich die Seele aus dem Leib«, flüsterte er.

Kann ja nicht viel sein, dachte Leska. Sie sah sich um. Der Frühnebel benetzte nicht nur ihren Schlafsack, sondern überzog auch Bäume, Büsche und das hohe Gras mit einem lichtgrauen Schleier. Alles war wie in Milch getaucht. Ein Haus konnte sie auch jetzt nicht entdecken, es drohte keine Gefahr.

»Meine Approbation steht noch aus«, sagte sie.

»Du sollst ihn nicht behandeln, du sollst mitfahren«, entgegnete er.

»Interessant.« Sie gab sich Mühe, nicht mit den Zähnen zu klappern, denn jetzt fror sie wirklich. Die feuchte Kälte hatte sie fest umschlungen. Wann wärmt diese müde Sonne endlich?, dachte sie und rieb sich den Oberarm.

»Ist was?«, wollte Valentin wissen.

»Ich winke nur gerade dem Zimmerservice fürs Frühstück ans Bett.«

»Dem kannst du wieder abwinken, dafür haben wir keine Zeit mehr, wir müssen gleich los.«

»Los? Wohin?«

»Auf den Berg. Ich hol dich ab. Wo ist dieser verflixte Campingplatz?«

»Hättest du ein gütiges Wort der Erklärung?«

»Mein Vater fällt aus. Ich fahre seine Karre beim Rennen. Gleicher Nachname, kleine Ummeldung, kein Problem. Meine Mutter fällt auch aus, sie muss sich um meinen Vater kümmern. Also musst du mit. Ich brauche einen Kopiloten.«

»Einen was?«

»Beifahrer. Eine Beifahrerin. Dich!«

»Das ist nicht dein Ernst!« Leska begann, sich aus dem Schlafsack herauszuwinden.

»Ich habe deinen Namen schon angegeben, das musste schnell gehen.«

»Wie konntest du …«

»Leska von Lauwitz, ich dachte, das hört sich gut an.«

»Bist du … so heiße ich doch gar nicht!«

»Ist doch egal. Wird sowieso nicht mehr gedruckt, dafür ist es zu spät. Und wenn ich dich jetzt nicht gleich abholen kann, kommen wir zu spät.«

Leska fischte mit einer Hand in ihrem Rucksack nach einer Jeans, einem T-Shirt und frischer Wäsche. »Besorg noch irgendwas zum Frühstück. Aber nichts Fischiges. Ich bin in einer Viertelstunde da.«

Sie hörte ihn, bevor sie ihn sah. Der Wagen machte einen Höllenlärm. Als Leska um die Ecke zum Hoteleingang bog, fuhr Valentin ihr schon entgegen.

»Ja, Wahnsinn!«, sagte sie, als sie ihren Rucksack hinten auf die lederne Ablage warf und auf den Beifahrersitz glitt. »Die Hotelgäste werden dich verklagen!«

»Die meisten sind schon auf dem Weg zur Strecke.« Er legte ihr ein perfekt belegtes Frühstücksbrötchen in den Schoß. »Kaffee gibt es erst am Start, das war zu kompliziert!«

Sie nickte und blickte in sein leicht gerötetes Gesicht. Offensichtlich war er aufgeregt. Ihretwegen oder wegen des Rennens? Dann betrachtete sie das ultradünne Holzlenkrad, den schlanken Schalthebel, die spärlich konturierten Sportsitze und schüttelte den Kopf.

»Was ist denn das überhaupt für eine Mühle?«

»Ein Ferrari.«

»Nicht gerade bequem.« Sie tippte auf die Sitze.

Valentin lachte und fuhr los. »Jetzt müssen wir nur noch den Großglockner finden«, sagte er und warf ihr einen Blick zu. »Du siehst übrigens gut aus. So frisch, als hättest du im Kühlhaus übernachtet.«

»Danke.« Sie gab seinen Blick zurück und deutete dann auf die verchromten Anzeigen, die vor ihr in das rot lackierte Armaturenbrett eingelassen waren. »Muss ich da als Kopilotin irgendwas beachten?«

»Olio, acqua, benzina und eine Uhr«, er grinste. »Das Radio fehlt. Du könntest vielleicht für ein paar Nachrichten sorgen. Und Musik – natürlich!«

»Soll ich singen?«

»So hatte ich mir das eigentlich gedacht …«

»Wer singen und lachen kann, der erschreckt sein Unglück!«

Er sah zu ihr hinüber. »Wo hast du das nun wieder her?«

Sie zuckte die Achseln, »Deutsches Sprichwort«, und biss herzhaft in ihr Brötchen.

»Hast du noch mehr davon auf Lager?«

Sie nuschelte etwas mit vollem Mund.

»Vielleicht so, dass ich es auch verstehen kann?«

Leska nickte, kaute in aller Ruhe, griff nach der Wasserflasche und dozierte mit erhobenem Zeigefinger: »Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden!«

Valentin lachte. »Darf ich raten?«

»Jetzt bin ich gespannt!«

»Heinz Erhardt?«

Leska schüttelte den Kopf. »Wilhelm Busch.« Dann wies sie mit dem Daumen zum Fenster hinaus. »Fällt dir auf, wie sie uns alle hinterherschauen? Als ob sie noch nie ein Auto gesehen hätten …«

»Na ja.« Valentin zog die Augenbrauen hoch. »Alle Tage sieht man den auch nicht.«

»Immerhin lässt dein Vater dich fahren.«

»Er vertraut mir eben.«

»Weiß er, dass ich dabei bin?«

»Er war nicht wirklich ansprechbar …«

»Weiß er überhaupt, dass du fährst?«

Valentin musste lachen. Das war der Moment, da Leska ihn zum ersten Mal wirklich mochte. Er lachte aus tiefer Seele, seine Augen glitzerten, und sein geschwungener Mund war zum Anbeißen schön. Er legte seine Hand auf ihr Knie. »Also, ich erlaube mir ja einiges, aber das wäre dann doch too much! Selbst für meine Eltern.«

Leska nickte. Sie fuhren durch einen Tunnel, und sie war sich nicht sicher, ob die Richtung stimmte, aber an einem Kreisverkehr stand der Großglockner angeschrieben, und sie atmete auf. Zumindest ankommen sollten sie doch. »Wann geht es denn los, dass wir so früh aufbrechen mussten?«, wollte sie wissen.

»Ab 8 Uhr 30 können wir uns die Strecke mal anschauen, offiziell heißt das Training.«

»Und was mache ich da?«

»Du merkst dir am besten die Streckenführung, die Kurven und die Zeit.«

»Perfekt. Wie lang ist denn die Strecke?«

»Über 14 Kilometer, 92 Kurven, 14 Kehren und Steigungen von 4 bis 12 Grad, ungefähr 1.200 Meter Höhenunterschied.«

»Ach, ja«, sagte Leska und biss in ihr Brötchen, »wenn es sonst nichts ist.«

Im Fahrerlager standen schon etliche Fahrzeuge nebeneinander aufgereiht, Valentin wurde neben einem Maserati eingewiesen, den er als besonders edles Stück bezeichnete. »Ein 8CM von 1933. Spitze! Und das ist Jochen Mass«, meinte er und wies mit dem Daumen zu einem Mann in weißer Sportjacke, der mit jemand anderem im Gespräch war. »Und das ist Klaus Ludwig, auch ein bekannter Rennfahrer.«

»Sagt mir beides nichts«, beschied Leska und zeigte mit ihrem Brötchen zu einem silbergrauen Wagen, der eben langsam an ihnen vorbeifuhr. »Der gefällt mir!«

»Kein Wunder«, Valentin nickte, »das ist der legendäre Silberpfeil. Den sieht man eher im Automuseum als auf einer Rennstrecke!«

»Den Fahrer auch«, meinte Leska lakonisch. »Überhaupt sind hier alle erheblich älter als wir. So was zwischen vierzig und achtzig.«

Valentin lachte. »Manche sehen aber auch nur so aus, weil sie ihre Kleidung dem Baujahr ihrer Autos angepasst haben.«

»Wie alt sind wir denn dann?«

»Geburtsjahr 1962.«

»Auweia!« Leska steckte sich den letzten Happen in den Mund. »Also bereits scheintot …«

Sie schlenderten durch die Reihen der Autos, und Valentin wurde von vielen begrüßt, war es aber bald leid, die Fragen nach seinem Vater zu beantworten, und setzte sich mit Leska ins Restaurant, um noch schnell einen Kaffee zu trinken. Während er zwei Löffel Zucker in seinen »Kleinen Schwarzen«, wie er ihn nannte, rührte, spürte er Leskas prüfenden Blick. »Was ist?«, fragte er und hob die Augenbrauen.

»Ich werde nicht so richtig schlau daraus, was ich hier mache.«

»Was du hier machst?«

Sie nickte. Er betrachtete sie. Das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die grünen Augen mit kleinen hellbraunen Sprenkeln, den Kirschmund. Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre langen, dichten Haare fielen ihr über die Schultern und ins Gesicht, und sie strich sie mit einer lässigen Handbewegung nach hinten. Automatisch. Es war dieser Handbewegung anzusehen, dass sie sie schon tausendfach wiederholt hatte. Leska erwiderte seinen Blick.

»Ich weiß es auch nicht«, sagte er dann.

Leska musste lachen und zeigte ihre weißen Vorderzähne mit den beiden etwas schräg stehenden Eckzähnen. Sie hatte ein interessantes Gesicht, dachte Valentin. Selbst ungewaschen in aller Frühe und überhaupt nicht zurechtgemacht, war sie eine eigenwillige Schönheit. Wie musste sie erst wirken, wenn sie super gestylt war? Er dachte an seine Mutter und verwarf den Gedanken sofort wieder.

»Vielleicht, weil ich in dir eine perfekte Kopilotin vermute?«, sagte er dann.

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Du vermutest falsch. Mein Leben hat sich sehr selten in Autos abgespielt. Ich bin ein«, sie zögerte, »Draußenkind.«

»Dann ist es die geheimnisvolle Aura, die dich umgibt …«

Das kann schon sein, dachte sie.

»Was interessiert dich an mir?«, wollte er mit schräg gelegtem Kopf wissen.

Leska betrachtete ihn. Alles an ihm verriet, dass er aus einem guten Elternhaus kam, sich noch nie Gedanken über sein Leben hatte machen müssen. Er wirkte satt von den Zehen bis zu den Spitzen seiner gut geschnittenen braunen Haare.

»Vielleicht, dass du den Mut hattest, mich einfach so mitzunehmen?«

»Mitzunehmen?«

»Na ja, gestern Abend zum Abendessen deiner Eltern.«

»Ohne dich wäre es stinklangweilig geworden, das ist ein zu simpler Grund.«

»Möglicherweise deine athletische Figur, deine gepflegte Ausstrahlung, die trotzdem das Wilde unter der Oberfläche ahnen lässt, die hohe Stirn, die Intelligenz verrät, dein energisches Kinn, das sich nicht nach hinten versteckt, und deine Ohrläppchen, die nicht angewachsen sind.«

»Meine Ohrläppchen, die was …?« Dann blickte er kurz auf: »Oh! Kurt!«

Leska folgte seinem Blick. Valentins Onkel war hereingekommen, gefolgt von seiner Frau, die hinter seiner breiten Gestalt fast verschwand. Er entdeckte Valentin sofort und steuerte mit einer kurzen Handbewegung ihren Tisch an.

»Ja, wen haben wir denn da?«, sagte er zu Leska, bevor er sich schwungvoll neben sie setzte. Seine Frau rutschte zu Valentin auf die Bank.

»Mich!«, entgegnete Leska nur.

»Mein Bruder ist echt ’ne Pfeife«, fuhr er an Valentin gerichtet fort, ohne Leska weiter zu beachten. »Ich hab ihm gleich gesagt, dass diese Jakobsmuscheln irgendwie schwammig schmecken. Lass die Finger weg, hab ich ihm gesagt. Was tut er? Gerade aus Trotz hat er sie alle verschlungen. Und jetzt hat er den Salat.«

Valentin nickte. »Ich habe die Dinger auch nicht angerührt.«

»Klar, wir alle nicht! Aber er …« Kurt drehte sich zu Leska.

»Ja, nun habt ihr die Chance, richtig durchzustarten.« Er grinste. »Am besten gleich nach Italien in die Stadt der Liebe.«

»Ich dachte, das sei Paris«, sagte Leska, während sie etwas von ihm abrückte. Seine massige Gestalt war erdrückend.

»Ich war früher mit jedem meiner Mädchen in Venedig. Ein Katzensprung von hier aus. Man kann ja fast bis auf die Insel fahren. Im Parkhaus den Wagen abgeben und rein in die Stadt! Und alles Weitere …«, er blinzelte Valentin zu, »ist berauschend.«

Valentin reagierte nicht, stattdessen sah er seine Tante an. »Beate, soll ich euch auch einen Kaffee bestellen?«

Kurt ließ seine breite Hand auf den Tisch donnern. »Es hätte längst jemand kommen müssen!« Er sah sich um. »Misswirtschaft!«

»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte Valentin. »Ihr habt euch ja eben erst hingesetzt.« Er wandte sich an seine Tante. »Hast du diesen Hund eigentlich aufgenommen, von dem du mir neulich erzählt hast?«

»Noch so ein nutzloses Vieh«, schimpfte Kurt und winkte zum Tresen.

»Ja, hab ich.« Beate lächelte zaghaft. »Er ist so dankbar, man hat fast das Gefühl, er bedankt sich ständig mit seiner Liebe.«

Kurt warf ihr einen kurzen Blick zu.

»Beate ist in einer Tierorganisation. Toll, was sie schon alles gerettet und gut weitervermittelt hat, egal ob aus Spanien, Rumänien oder sonst woher«, erklärte Valentin und nickte seiner Tante zu. »Ich jedenfalls finde das großartig!«

»Du musst ja auch nicht damit leben«, schnaubte Kurt.

»Und diesen Potenco aus der spanischen Todeszelle, den behältst du?«

»Er folgt mir wie ein Schatten. Ich könnte ihn gar nicht mehr hergeben …«

»Und wo ist er jetzt?«, wollte Leska wissen.

»Na, endlich!« Kurt drehte sich nach dem Kellner um, der herantrat. »Zwei Kaffee und zwei Croissants. Und … wir haben es eilig!«

Beate lächelte, und Leska betrachtete sie. Sie war sicher einmal sehr hübsch gewesen, dachte sie. Ihr Lächeln zog sich vom Mund bis zu den Augen und verlieh ihrem Gesicht eine warme Ausstrahlung. »Er ist bei unserer Nachbarin. Sie hat einen Mischling aus dem Tierheim, und die beiden verstehen sich gut.«

»Schön, dass Sie so etwas machen«, sagte Leska und war fast versucht, nach ihrer Hand zu greifen.

»Na ja«, tönte Kurt, »wenn man schon keine Kinder kriegt, dann hat man wenigstens Hunde.«

Valentin verzog kurz das Gesicht. »Kinder retten auch nicht alles«, sagte er und sah kurz auf seine Uhr. »Wir müssen los!«

»Welche Startnummer?«, wollte Kurt wissen.

»86.«

»Na dann, glüht schon mal vor. Wir sind etwas abgebrühter …« Er nickte seiner Frau zu. »Und älter, stimmt’s?«

Leska war froh, als sie draußen waren und zu dem Platz zurückgingen.

»Deine Tante kann einem richtig leidtun. Weshalb wehrt sie sich nicht?«

»Sie wehrt sich natürlich. Aber nicht öffentlich.«

»Mir kommt sie vor wie eine zarte Blume im Schatten eines knorrigen Baumes.«

Valentin legte ihr den Arm um die Schulter. »Da ist was dran. Aber so komisch es klingt, ich glaube, sie liebt ihn ganz einfach.«

»Liebe geht seltsame Wege.«

Er drückte sie kurz an sich. »Ich jedenfalls mag meine Tante lieber als meine eigene Mutter. Das ist doch auch seltsam, oder nicht?«

Leska zuckte die Achseln. Sie hatte sogar die Frau am Kiosk lieber gemocht als ihre eigene Mutter. Die hatte ihr früher stets Süßigkeiten zugesteckt und immer ein liebes Wort gefunden.

Inzwischen hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden. Leute in Radlerhosen und ganz normale Autofahrer, die für die nächste halbe Stunde nicht weiterkommen würden, weil der Pass für das Rennen gesperrt worden war.

»Ich sehe das Auto gar nicht mehr«, sagte Leska. »Wo haben wir es denn abgestellt?«

»Dort!« Valentin wies nach vorn. »Immer da, wo die größte Menschenmenge ist.«

»Du lieber Himmel!« Leska runzelte die Stirn. »Wieso das denn?«

Valentin zuckte mit den Schultern, und sie bahnten sich einen Weg zum Auto.

»So junge Leute«, hörte Leska einige der Zuschauer murmeln, als sei das ein Weltwunder.

Sie setzten sich in ihre Sitze, Valentin reichte ihr einen Helm, sie gurteten sich an, und er startete den Motor. Leska betrachtete die Autos um sie herum, während sich Valentin zwischen den Nummern 85 und 87, einem silbernen Mercedes und einem blauen Porsche, einreihte. »Und was muss ich jetzt tun?«, fragte Leska.

»Hier, nimm die Stoppuhr. Die drückst du, sobald wir über die Startlinie fahren. Und oben am Ziel dann wieder. Und zwischendurch schreibst du dir an bestimmten Kehren, also etwa Kehre 4, 9 und 12, die Zwischenzeiten auf. Am Ziel drückst du Stopp.«

»Deswegen heißt sie wahrscheinlich Stoppuhr.« Aber Valentin war zu fokussiert, um noch auf ihre Ironie einzugehen.

Die lange Schlange der Autos schob sich langsam zu den Mautstellen, an denen man normalerweise für die Überquerung des Passes bezahlte. Rechts und links standen die Menschen in Dreierreihen hinter den Absperrungen. Leska hätte sich das nie so vorgestellt. Wie konnte man sich so dermaßen für alte Autos interessieren? Die waren doch einfach nur alt, und sicher ging ständig etwas kaputt, das kannte sie aus ihrer eigenen Familie. Immer gab es Knatsch wegen der Mühle. Sie rückten näher an die Startlinie heran. Ein Wagen nach dem anderen wurde von einem Sprecher über Mikrofon vorgestellt.

»Und hier ein Ferrari 250 GT Berlinetta SWB Competizione von 1962, mit zwölf Zylindern und Hinterradantrieb, ein ganz seltenes Exemplar, erfolgreich auf vielen großen Rennstrecken dieser Welt, heute pilotiert von Valentin Wahl. Seine Kopilotin ist Leska …« Er ließ den Satz in der Luft hängen, weil er wohl noch nach dem Nachnamen suchte, aber der Beifall übertönte den peinlichen Augenblick.

Leska hatte die Stoppuhr in der Hand und drückte, nachdem sich die Startflagge für sie gesenkt, Valentin beschleunigt und beim Durchfahren der Lichtschranke »Jetzt« gebrüllt hatte, die Krone. Doch als sie auf die erste Rechtskurve zurasten, fragte sie sich, ob sie von allen guten Geistern verlassen war. Aber da sie sich das in ihrem kurzen Leben schon so oft gefragt hatte, wischte sie den Gedanken beiseite, genauso wie die Frage, wie gut Valentin überhaupt Auto fuhr. Bisher waren sie ja nur ganz gemächlich irgendwelche Landstraßen entlanggetuckert. Sie nahm den Blick von der Straße und beobachtete von der Seite sein Gesicht. Seine Gesichtszüge hatten sich verändert, mit zusammengekniffenen Augen sah er nach vorn, schätzte ab, was da auf ihn zukam, seine Kiefermuskeln spannten und lockerten sich, während er die Gänge runter- und nach den Kurven wieder hochschaltete, der ganze Kerl war eine einzige Konzentration. Unwillkürlich kam ihr ein Gedicht in den Sinn, das sie irgendwann einmal gehört hatte. »Es ist ein fröhlich Ding«, fing sie an, »um aller Menschen Sterben: / Es freuen sich darauf die gerne reichen Erben, / Die Priester freuen sich, das Opfer zu genießen, / Die Würmer freuen sich an einem guten Bissen, / Die Engel freuen sich, die Seelen heimzuführen, / Der Teufel freuet sich, im Fall sie ihm gebühren.«

Valentin sah kurz zu ihr hin. »Was?«, fragte er. »Achtung, Kehre 4. Welche Zeit? Notierst du?« Und dann: »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein höchst seltsames Wesen bist?«

»Ich habe dir einfach nur mitteilen wollen, dass du ziemlich schnell fährst.«

»Das ist der Sinn der Übung. Hast du die Zeit?«

»Ich würde jetzt lieber mit dir ins Bett!«

»Mach mich nicht … okay, an der 4 sind wir jetzt durch. Zu spät. Gleich kommt die 5.«

»Witzig, wie die hier alle heißen, die Kehren. Das war eben die Pfiffalm. Und ab der 9 kommt die Hexenküche.«

»Was?«

Er hatte einen Gang heruntergeschaltet, und der Ferrari röhrte, dass sie ihr eigenes Wort nicht mehr verstand.

Die Landschaft rauschte vorbei, es ging steil nach oben, das Panorama war grandios, aber wegen der vielen Haarnadelkurven hätte es einem auch einfach nur übel werden können, vor allem wenn man auf einen solch kleinen Kurvenplan achten musste wie sie, und erst recht wenn man nichts davon verstand.

»Die 5!«, mahnte Valentin. Leska beschloss, sich jetzt ganz auf ihre Stoppuhr zu konzentrieren. Es war eben ganz genau wie im wirklichen Leben, man bekam nichts geschenkt.

Als sie endlich oben und durchs Ziel gefahren waren, eröffnete ihr Valentin, dass dies nur das Training gewesen sei und ihre Zeit somit eine Richtzeit. Das eigentliche Rennen, die Setzzeit für die beiden Durchläufe am Samstag, ginge erst im Anschluss los.

Für Leska machte das alles keinen Unterschied. Ein Rennen war ein Rennen.

»Wie heißt das hier eigentlich?«, wollte sie aber doch wissen.

»Das ist der Internationale Großglockner Grand Prix, der Große Bergpreis.«

»Okay. Und was ist der Preis?«

»Dass du gewonnen hast.«

Leska sah ihn fragend an. »Und was ist so toll daran?«

»Dass es ein alter Römerweg ist, der schon damals über Österreichs höchsten Berg geführt hat. Immerhin bis 3.798 Meter.«

»Wieso weißt du das so genau?«

»Mit Zahlen kenne ich mich aus.«

Sie grinste. »Daran zweifele ich nicht.«

»Na ja«, sagte er, »und 1935 wurde die Hochalpenstraße fertiggestellt. Und dann mit einem internationalen Rennen eröffnet. Damals! Stell dir vor! Das ist die Faszination an diesem Rennen.«

»Aha.«

»Und übrigens war damals in einem der Rennen der Silberpfeil am Start, der dir vorhin so gefallen hat.«

»Ja, der ist beeindruckend.«

»Und er hat auch gewonnen. 1939. Mit Hermann Lang.«

»Sagt mir nichts.«

»Ein Jahr zuvor haben noch Huschke von Hanstein und Hans Stuck gewonnen.«

»Okay, von mir aus«, sagte Leska. »Aber heute ist heute, und da gewinnen wir!«

Valentin grinste. »Und jetzt würde ich gern mit dir ins Bett!«

Beim zweiten Start, der Setzzeit, sah Leska alles schon viel lockerer. Die Zeit, die sie jetzt herausfuhren, mussten sie morgen beim ersten und zweiten Durchlauf möglichst genau wiederholen. Darauf kam es an und nicht, wer wie ein Bekloppter durch die Gegend raste. Nach dem Ziel parkten sie ihren Oldie nach Anweisung neben all den anderen, die vor ihnen gestartet waren, auf dem Parkplatz Fuscher Törl, setzten sich in das höher gelegene Restaurant, genossen den gewaltigen Ausblick und warteten auf das Startsignal zur Rückführung aller Fahrzeuge. Danach wurde der Pass wieder für alle Fahrzeuge und Radfahrer geöffnet.

Leska hatte einen windgeschützten Platz gesucht, sie nippten an ihren Apfelschorlen, beobachteten die vielen Schaulustigen und die anderen Fahrer, die einander schon lange kannten und sich viel zu erzählen hatten.

»Machen die so was oft?«, wollte Leska wissen.

»Ständig.«

»Muss doch stinklangweilig sein.«

»Die finden das prickelnd.«

»Und du?«

»Ich fände es prickelnd, mit dir jetzt nach Italien zu fahren und irgendwo am Meer ein Glas Rotwein zu trinken. Und eine Pizza zu essen.«

Sie sahen einander in die Augen.

»Hat Kurt dich inspiriert?«

»Die Idee ist doch nicht schlecht …«

»Und das Rennen morgen?«

»Beginnt um neun Uhr. Da sind wir zurück. Direkt aus Italien.«

Keiner von beiden blinzelte, noch hielten sie gegenseitig ihren Blicken stand.

Dann schob Leska ihren Stuhl zurück. »Worauf warten wir noch?«

Einige der Teilnehmer hatten die Zeit genutzt und waren weitergefahren, um sich die Berggipfel und den Pasterzengletscher anzusehen, oder auch nur, um sich die Langeweile zu vertreiben. Auf der Fahrt nach Heiligenblut begegneten sie noch einigen versprengten Oldtimer-Fahrern, die sie grüßten, dann wurden es immer weniger.

»Warum gerade Heiligenblut?«, wollte Leska wissen.

»Weil das der Weg nach Kärnten ist. Und damit irgendwie auch nach Italien.«

»Und wie genau?«

Valentin zuckte die Achseln. »Lassen wir uns überraschen.«

Leska lächelte. Dass sie so schnell nach Italien kommen würde, hätte sie gestern noch nicht zu träumen gewagt. Hauptsache weit weg von Deutschland.

»Deine Tante ist nett«, sagte sie.

»Ja, mit ihr habe ich als Kind auf dem Fußballplatz herumgebolzt.«

»Mit deiner Tante? Ich glaub’s nicht.«

»Doch!« Er grinste. »Und einmal sogar im Anzug, weil ich anschließend mit meinen Eltern zu einer Veranstaltung sollte. Klar hab ich mir das Knie aufgehauen, die Hose war futsch, und sie hat mir schnell einen ähnlichen Anzug gekauft. Ist keinem aufgefallen …«

»Solche Dinge verbinden.«

»Ganz genau!« Er sah zu ihr hinüber. »So wie unser kleiner Ausreißer. Nach Italien.«

Die Straße zog sich in sanften Kurven den Berg hinunter. Rechts zeigte sich zerklüftetes Bergmassiv, links stiegen die Hänge sanft an. »Das ist wie im Leben«, sagte Leska und zeigte nach vorn. »Mal geht es ruppig zu, und dann fühlt man sich wieder wie auf Daunen gebettet.«

»Das werden wir heute Nacht sein, hoffe ich«, gab Valentin zur Antwort.

»Hast du überhaupt Geld dabei?«, fragte Leska. »Irgendwann ist der Tank leer.«

»Mein Vater fährt nie ohne Geld irgendwohin.«

»Dein Vater, ja. Der ist aber nicht dabei …«

»Er hat den Wagen aber präpariert!« Valentin fuhr mit einer Hand unter den niedrigen Sportsitz und tastete herum, gleich darauf gab es ein kratzendes Geräusch, und Valentin zog eine flache, kleine Ledertasche in der Farbe der Autositze hervor. »Er hat da ein raffiniertes Klebeverschluss-System. Hat noch keiner je gefunden.«