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Elis Fischer

Die Tarotmeisterin

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Sonja Birkelbach – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4710-5

Widmung

Für meine Mutter Hedy Schweighofer

Kapitel 1

Tageskarte für Samstag, 12. September

Der Wagen

Der Wagen steht für Aufbruch und Neubeginn. Heute kommt etwas ins Rollen, die Fahrt kann beginnen. Vielleicht entstehen neue Verbindungen, oder Sie nehmen neue Aufgaben entschlossen und gezielt in Angriff. Aber jeder Wandel hat zwei Seiten. Sie müssen auch die Nachteile in Kauf nehmen, die Neuerungen mit sich bringen könnten.

»Frauennetzwerk?« Zweifelnd sah Thesi ihre Freundin an. »Meinst du das ernst?«

»Natürlich wäre mir ein Männernetzwerk auch lieber gewesen, aber die gründen seit Jahrtausenden nur geschlossene Vereine«, sagte Flora und drapierte Polster auf Thesis Gartensessel. »Wenn möglich, noch geheim. Ich sage nur Geheimbünde

»Stopp! Keine Geheimbünde. Nie mehr, verstanden?« Thesis letztes Abenteuer flammte in ihren Gedanken auf. Da hatte sie sich eingebildet, dass sämtliche Geheimgesellschaften Europas hinter ihr und ihrem Bild her gewesen wären.

»Verstanden.« Flora salutierte, schob ihre Sonnenbrille, die zur Bändigung der langen rotblonden Locken als Haarreifen gedient hatte, auf die Nase und schaute in den wolkenlosen Himmel. »Jetzt werden die Sommersprossen wieder sprießen. Aber was soll’s. Es sieht mich doch niemand an.«

»Was ist denn mit Robert?« Thesi stand auf, um noch zwei Schalen Kaffee zu holen.

»Sendepause«, rief ihr Flora hinterher. »Findest du auch noch was Süßes?«

»Wieso?«

»Weil ich Trost brauche.«

»Nein! Wieso ist Sendepause?«

»Hast du dich schon mal mit zwei pubertierenden Töchtern um einen Mann streiten müssen? Und dann ist da noch seine Exfrau!«

Thesi kam zurück. Sie stellte ein Tablett mit Kaffee und Croissants auf den Gartentisch. »Hier, frisch vom Bäcker. Das hilft«, sagte sie mitfühlend.

Flora nahm ein Croissant vom Teller. »Oh ja, wird schon besser.« Genussvoll biss sie in das Gebäck, und ein großer Tropfen Marmelade landete auf ihrer Wildlederjacke. »Verdammt, anscheinend ist mir gar nichts mehr vergönnt.«

»Warte, ich hole Geschirrspülmittel. Seit Dinos Geburt bin ich Fleck-weg-Expertin.«

Nachdem die Jacke gerettet war, schob Thesi ihren Gartensessel zu Flora und fragte: »Also erzähl, was haben Roberts Monster wieder angestellt?«

»Nichts, was ich nicht auch gemacht hätte – in ihrem Alter. Aber mein Vater hat mir seine Freundinnen glücklicherweise nie vorgestellt.« Flora überlegte. »Für die Beziehungspause gibt es keinen konkreten Auslöser. Nur die Summe aller verpfuschten Wochenenden der letzten drei Monate. Ich hatte es satt.«

»Verstehe.« Thesi drückte Floras Arm. Dabei war ihr Robert Kiesling in letzter Zeit fast ans Herz gewachsen. Ihr Kennenlernen war unter keinem guten Stern gestanden, denn er hatte Thesi des Mordes verdächtigt, aber inzwischen mochte sie ihn richtig gern. »Und wenn ihr euch nur während der Woche seht?«

»Da ist er doch ständig mit seiner Arbeit beschäftigt. Und ich will mich nicht immer nach den Gören richten. Wahrscheinlich müssen wir noch fünf Jahre warten, bis die Mädchen ihr eigenes Leben leben und nicht mehr das ihres Vaters steuern wollen.« Seufzend biss Flora in ihr Croissant, und Thesi war mit der Serviette in der Hand zum Sprung bereit.

Sie überlegte, was sie tun könnte, um den beiden zu helfen. Flora und Robert hatten sich nach ihrem ersten Treffen schon mal 15 Jahre aus den Augen verloren. Noch weitere fünf Jahre zu warten, das konnte nicht gut gehen. Ein Donnergrollen holte sie aus ihren Gedanken zurück – zum eigentlichen Grund von Floras Besuch.

»Und du willst nach solchen Erfahrungen gerade einem Frauennetzwerk beitreten? Da könntest du gleich bei Robert bleiben«, sagte Thesi und fing im letzten Moment einen weiteren Tropfen Marmelade auf.

»So schlimm kann es nicht werden. Sehen wir uns die Sache einfach mal an. Die Frauen dort sind Kleinstunternehmerinnen und helfen sich gegenseitig beruflich weiter.«

Thesi dachte an ihre nicht vorhandene Karriere. Ihre Zeichnungen, die keiner wollte, und wenn doch, kam in letzter Sekunde etwas dazwischen wie der Konkurs des Verlags, der ihr erstes Kinderbuch drucken wollte. Die einzige Einkommensquelle war eine Ratgeberseite, die sie für ein Monatsmagazin illustrierte. Ohne Leon würde sie verhungern!

»… sie brauchen sicher Fotos für Imagefolder, also eine Fotografin wie mich.« Flora stupste Thesi in die Seite. »Und du zeichnest ihre Kinder oder illustrierst ihre Prospekte. Ich schick dir den Link, wenn ich zu Hause bin. Hab vergessen, ihn aufzuschreiben.«

Ein Windstoß blies die Servietten vom Tisch. Thesi sah zum Himmel. Grauschwarze Wolken näherten sich von Osten und verdeckten langsam die Sonne. »Wir sollten den Kaffee drinnen trinken. Ich hoffe, Leon und Dino schaffen es noch rechtzeitig nach Hause.« Sie sah auf die Uhr. »Jetzt sind sie schon über zwei Stunden mit den Rädern unterwegs.«

»Ach mach dir keine Sorgen, du Glucke. Der Kleine schafft das schon.«

Sarah las die Mail ein zweites Mal. In ihrem Magen rumorte es. Ohne zu überlegen, tippte sie eine Antwort:

Wo ist die Höflichkeit geblieben? Bei anderen legst du doch so großen Wert auf Umgangsformen! Zu deinem unmöglichen Ton kommt noch, dass du sämtliche Vereinbarungen brichst. Aber jetzt ist Schluss! Ich steige aus dem Projekt aus und bitte – schau, es geht fast immer, dieses Wort zu verwenden – dich, alles selbst zu machen.

Viel Spaß. Ich hoffe, dass ich nie wieder von dir hören werde!

Sarah

Zitternd nahm sie einen Schluck Gin und wartete, was passieren würde. Noch bevor ihr Glas leer war, hatte sie eine Nachricht im Postfach. Aber nicht die, die sie erwartet hatte.

Von: Rosaria Rohrau

Datum: Samstag, 12. September, 15.20

An: Sarah Hofer

Betreff: Eso Folder Korrekturen

Liebe Sarah,

ich habe den Folder Korrektur gelesen. Leider sind so viele Fehler drinnen, dass ich eine befreundete Korrektorin gebeten habe, alles auf meine Kosten zu lesen, da ich meinen PR-Text in einem professionellen Umfeld positioniert haben möchte. Ich schicke die korrigierten Unterlagen per Boten zu dir.

Liebe Grüße

Rosaria

Sarah benötigte nur eine Minute, um zu antworten:

Liebe Rosaria!

Bitte schick alles an Isa. Ich hab mich aus dem Projekt zurückgezogen.

Sarah

Während sie auf Senden drückte, kam die nächste Mail.

Von: Irene Falk

Datum: Sonntag, 13. September, 15.25

An: Sarah Hofer

Betreff: Re:Re: Eso Folder Korrekturen

Liebe Sarah,

habe soeben mit Isa vereinbart, den Folder fertigzumachen.

Bitte mail mir alle Word-Texte und Inseratenvorlagen.

Danke!

Irene

»Na Isa, da hast du nicht lange gebraucht, um mich zu ersetzen, was?«, murmelte Sarah und hämmerte ihre Antwort in den Laptop.

Ich hab keine Zeit mehr, euch irgendetwas zu mailen. Holt euch die Unterlagen von den Netzwerkmitgliedern doch selbst. Isa hat eine Liste mit den Namen.

S.

Zufrieden füllte sie ihr leeres Glas auf, nahm einen Schluck und genoss das warme Gefühl, das sich in ihrem Körper ausbreitete. Währenddessen vibrierte das Handy am Tisch. Lächelnd drehte sie es ab und warf es in ihre Handtasche. Als sie sich wieder dem Computer zuwandte, blinkte die nächste Mail auf ihrem Bildschirm.

Von: Irene Falk

Datum: Samstag, 12. September, 16.25

An: Sarah Hofer

Betreff: Re:Re: Eso Folder Korrekturen

Liebe Sarah,

ich sehe nicht ein, dass wir leiden müssen, wenn du mit Isa Probleme hast. Es interessiert uns auch nicht. Wichtig ist, dass einige von uns Geld für den Folder bereitstellen und dafür eine Gegenleistung wollen. Wenn du diese Leistung nicht erbringst und ich diese Arbeit – übrigens völlig kostenlos – für dich übernehme, dann ist es das Mindeste, diese Dateien – die ja nicht dir gehören – herzugeben.

Ich erwarte, dass die Projektübergabe professionell über die Bühne geht und du dir jetzt fünf Minuten Zeit nimmst, mir die Daten zu schicken.

Liebe Grüße

Irene

Die begreift es wohl nicht, oder? Sarah fuhr sich durch die verfilzten Haare und überlegte. Irenes Intrigen kamen ihr ihn den Sinn und sie schrieb:

Ich sehe auch nicht ein, dass ICH umsonst arbeiten muss, denn ICH erhalte auch nichts. Ihr stellt Geld für die Druckkosten bereit, für MEINE Arbeit bleibt nichts übrig, da Isa ihre Versprechungen nicht eingehalten hat. Das soll Isa dem Netzwerk erklären. Sie hätte sich vorher überlegen müssen, wie sie mich behandelt. Ich bekomme nichts, also welche Verpflichtung habe ich? Dir, Isa oder dem Netzwerk gegenüber?

Du übernimmst keine Leistung für mich, sondern für Isa. Sie hat es wieder mal geschafft, jemanden gratis für sich schuften zu lassen. Viel Spaß.

Sarah

Diese dummen Gänse. Merkten die nicht, wie Isa sie ausnahm? Dem eben noch warmen Gefühl im Bauch folgten Übelkeit und Ekel.

Ständig manövrierte sie sich in solche unmöglichen Situationen. Sie wollte das alles nicht mehr. Wieso hatte sie so eine verdammt schlechte Menschenkenntnis?

Und er? War er der Richtige? Sollte sie wirklich seinetwegen ihr altes Leben aufgeben? Wieso meldete er sich nicht? Ein letzter Schluck, und ihr Glas war leer. Sie musste die Flasche vor Tom verstecken. Ihr Kopf wurde schwer, mühsam las sie die nächste Mail.

Von: Irene Falk

Datum: Samstag, 12. September, 16:41

An: Sarah Hofer

Betreff: Re:Re: Eso Folder Korrekturen

Ich erkläre es dir noch mal: Nicht Isa oder ich, sondern ein Netzwerk von rund 100 Frauen hat ein RECHT auf diese Unterlagen. Damit meine ich, dass diejenigen, die dir Texte und Bilder geschickt haben, RECHTE darauf haben und du jetzt auf Dingen sitzt, die NICHT DIR GEHÖREN.

Dein lächerliches Benehmen kann ich einfach nicht dulden, also schick jetzt endlich diese Texte. Du hast ja Zeit, blöde Mails zu verfassen, also wirst du auch Zeit haben, diese Texte in eine Mail zu stellen.

Irene

Sarah raffte sich ein letztes Mal auf und hämmerte, ein Auge zugekniffen, in den Computer:

Niemand hat ein Recht auf diesen Folder außer mir! Es ist mein Layout, ich habe alles redigiert, die Bilder bearbeitet. Ist dir wohl zu viel Arbeit, selbst die Netzwerkmitglieder zu kontaktieren? Sie müssten nur nochmals die Texte schicken, wo ist das Problem?

Euer Benehmen kann ICH nicht tolerieren. Was glaubt ihr denn, wer ihr seid? Und deine beschissenen Mails werden von mir ab sofort geblockt!

Sarah

P.S.: LMAA (Götzzitat, falls du es nicht weißt)

Regen trommelte an das Fenster des Arbeitszimmers. Sie überhörte fast die Eingangstür, die ins Schloss fiel. Hatte Tom einen früheren Flug bekommen? Nervös klappte sie ihren Laptop zu. Irgendwann würde sie ihm von allem erzählen, aber nicht heute. Sie stand auf, öffnete das Fenster und streckte den Kopf hinaus, dass die Tropfen schmerzhaft gegen ihre Wangen prasselten.

Der Vollmond ließ Thesi nicht zur Ruhe kommen. Sie starrte abwechselnd die Decke, die Wände und den leise schnarchenden Leon an. Dann schlich sie ins Wohnzimmer, setzte sich vor Leons Computer und rief ihre Mails ab. Floras Link war angekommen – WienerFrauen.com. Wiener Frauen – das war doch eine Operette von Franz Lehar. Thesi lächelte, das hätte Flora sich aber merken können. Sie tippte die Adresse ein, und die Seite baute sich auf. In der Mitte prangte ein Bild von lachenden Frauen in einer Blumenwiese. Rundherum blinkten viele bunte Banner. Thesi klickte ›Marias Kreativbox‹ an. Was sie da sah, war mehr als kreativ! Stellungen, die selbst im Kamasutra nicht vorkamen!

Flora, also wirklich, das kann nicht dein Ernst sein!

Sie beugte sich etwas weiter vor, um es genauer anzusehen. Konnte das wahr sein? Die Wiener Frauen als flotte Dominas? Jede für eine andere Spielart zuständig? Und war sie schon so alt, dass sie das schockierend fand?

Verwirrt surfte Thesi zurück zur Startseite und klickte die Biografien einiger Netzwerkmitglieder durch. Das sah nicht mehr nach Freudenhaus aus: Feng-Shui-Beraterin, Schamanin, Chi-Gong-Meisterin, I-Ging-Lehrerin oder Aura-Expertin. Alle sehr brav und sehr esoterisch. Hinter der ›Kreativbox‹ verbarg sich eine Absolventin der Kunstuniversität, die Bastelkurse mit Kindern veranstaltete. Also schien das Banner falsch verlinkt zu sein. Oder gab es Viren, die harmlose Webseiten pornofizierten?

Sie las eine weitere Seite über die Entstehungsgeschichte des Netzwerks und erfuhr, dass sich das Ganze aus einem Frauentauschkreis entwickelt hatte. Frauentausch? Das klang jetzt wieder nach Swingerclub. Thesi legte den Kopf schief. Sie sollte jetzt besser schlafen gehen, irgendwie hatte sie gerade zu viele schräge Gedanken. Das musste auch am Vollmond liegen. Als sie den Computer ausschalten wollte, fiel ihr Blick auf den Namen einer Schulkollegin, die mit ihr die Graphische Lehranstalt besucht hatte. Sarah. Sarah Hofer! Wahnsinn! Es musste Jahre, nein Jahrzehnte her sein, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. Jetzt gab es doch einen Grund, sich das Netzwerk näher anzusehen.

Da Thesi keine Informationen über das nächste Treffen fand, schrieb sie eine Mail mit der Bitte um Bekanntgabe des nächsten Termins und wies auf den Link-Irrtum hin. So konnte sie sich gleich mit einer guten Tat ins Netzwerk einführen, dachte Thesi, als sie ihre Nachricht abschickte.

Die Antwort samt Anmeldeformular kam umgehend.

Von: Isa Kapfinger

Datum: Samstag, 12.September, 23:45

An: Theresa Valier

Betreff: Link-Hinweis

Liebe Theresa!

Vielen Dank für deine hilfreiche Mail. Ja, da scheint ein zweideutiger Fehler unterlaufen zu sein. Wurde schon an die Webmasterin weitergeleitet und du kannst bald Marias »echte« Kreativbox besuchen. *verschämt grins*

Dein Interesse für die ›Wiener Frauen‹ freut mich. Wenn du selbstständig bist und dich uns anschließen willst, findest du die beigefügten Unterlagen im Anhang.

Sonnenstrahlen und Heiterkeit für deinen Tag! (Deine Nacht!)

Isa Kapfinger

P.S. Wir können uns gerne vorab mal treffen, um alles Weitere zu besprechen.

Kapitel 2

Tageskarte für Sonntag, 13. September

Der Ritter der Schwerter

Der Ritter der Schwerter steht für unangebrachte Aggression, Macht und Dominanz. Sie werden sich Ihrer Umgebung sehr temperamentvoll zeigen. Ein Konflikt, bei dem Sie im Recht sind und der Gegner im Unrecht, kann zu aggressivem Verhalten führen, welches nicht angemessen ist. Ihr Gegner rechnet nicht mit Gegenwehr, umso überraschter wird er sein. Weichen Sie der Kontroverse nicht aus, Sie gehen am Ende klüger daraus hervor.

»Was meinst du?« Thesi sah gespannt zu Leon, der ihr Auto am Stadionparkplatz vor der Prater Hauptallee in eine kleine Lücke manövrierte.

»Bei einer Sicherheitslücke im System kann ein Spoofer eindringen und Links umleiten. Wenn die Seite seriös wirkt, habe ich keine Bedenken. Nimm Flora als Verstärkung mit, dann kann dir nichts passieren«, sagte ihr Mann lächelnd und stieg aus. Er verknotete sein Stirnband, um die halblangen kastanienbraunen Haare beim Joggen aus dem Gesicht zu halten, zog eine Regenjacke über und startete seinen Achtkilometerlauf. Thesi holte Dinos Roller aus dem Kofferraum, Dino aus einer Wasserlache und folgte ihrem Mann in die Praterhauptallee.

Der Regen hatte seit dem Gewitter gestern Abend ein wenig nachgelassen, es tropfte beruhigend auf die mächtigen Kastanien, deren Blätterdach sich wie ein großer Schirm schützend über Thesi und Dino ausbreitete. Warmer Dampf, der nach frischen Kastanien und feuchtem Moos roch, stieg vom Boden auf. Thesi liebte den Prater, wenn es regnete. Das bedeutete endlos lange Spaziergänge in einer einsamen Landschaft. Sie schlenderte Richtung Lusthaus. Leon war ihrem Blickfeld längst entschwunden. Ihr Sohn Konstantin, dessen Kosename Dino war, seit er sich im Kindergarten so vorgestellt hatte, sauste mit dem Roller vor und zurück, fuhr zwischen den Kastanien Slalom und schien so wie Thesi ganz im Hier und Jetzt zu sein.

Da tauchte hinter ihnen ein älteres Ehepaar mit einem frei laufenden Schäferhund auf. Thesi seufzte und beugte sich schützend über ihren Sohn, der gerade wieder eine Runde um sie drehte.

Es war sinnlos, Hundebesitzer auf die Leinenpflicht aufmerksam zu machen, meist erhielt sie nur eine unfreundliche Antwort. Während Thesi darüber sinnierte, schoss der Schäferhund bellend auf Dino los.

»Hasso, hierher!«, schrie die Frau. Das Tier reagierte nicht. Thesi zerrte ihren Sohn blitzartig hoch und brüllte den Hund an. Der erstarrte, machte knurrend vor ihr Halt und zeigte seine Reißzähne.

Langsam kamen die Besitzer näher. Leine und Maulkorb noch immer lässig in der Hand. Thesi konnte es sich nicht verkneifen. »Würden Sie ihn bitte endlich anleinen!?«

»Hasso tut nix.« Der Mann sah sie abschätzend an.

Die Frau warf ein: »Sie hätten sich nicht so über Ihren Sohn beugen sollen, wahrscheinlich wollte Hasso ihn nur schützen.«

Thesi stieg vor Empörung alles Blut in den Kopf. »Jetzt bin auf einmal ich schuld?«, fauchte sie und drückte Dino noch fester an sich. Die aufgestellten Nackenhaare des Schäfers vibrierten.

In diesem Moment kam Leon von seiner ersten Praterrunde zurück. Er bremste sich ein und lief im Stand weiter. »Was ist denn los?«

»Ich bitte die Herrschaften gerade, die Gesetze zu befolgen«, antwortete Thesi und drückte Dino noch fester an sich.

»Es gibt einen Bereich im Pater, da können Hunde frei laufen.« Leon zeigte in die entgegengesetzte Richtung. »Auf dieser Seite der Hauptallee sind freilaufende Hunde verboten.«

»Das stimmt doch gar nicht. Hier darf jeder Hund frei laufen. Sogar Sie!«, blaffte der Alte. Thesi erstarrte, glaubte, sich verhört zu haben.

»Haben Sie die Tafeln mit den Regeln für Hunde auf der Hauptallee nicht gesehen? Für Analphabeten wie Sie sind sogar Piktogramme dabei«, sagte Leon und grinste den Mann herausfordernd an. Als die Frau endlich den Hund an die Leine genommen hatte, joggte er weiter.

»Sie unverschämter junger Rüpel, ich selbst habe die Schilder aufgestellt. Ich bin Polizeigeneral in Rente«, schrie ihm der Alte, dessen Gesicht zornrot angelaufen war, nach.

Thesi tat, als ob sie das alles nichts mehr anginge, und wechselte mit Dino auf die andere Alleeseite. Der Alte ließ nicht locker und schrie ihr nach: »Sie können diesem Herrn ausrichten, dass auf den Tafeln Folgendes …«

»Ich werde ihm überhaupt nichts ausrichten«, unterbrach Thesi und ging weiter. Dino drückte sich an sie und murmelte: »Ich hab Angst vor dem Mann, Mami. Größere als vor dem Hund. Gehen wir weg.«

»… aber auf den Tafeln steht, dass …«

»Das ist mir egal, ich rede nicht mit Ihnen«, brüllte sie ihm über die Schulter zu.

»Hören Sie mal!« Er stürmte ihr hinterher.

Thesi blieb so abrupt stehen, dass er fast in sie hinein gelaufen wäre. Sie drehte sich um, zischte ihn böse an: »Alter Patriarch was? Keinen Widerspruch dulden. Immer nur parieren, zack zack?«

»Sie … Sie sind typisch für diese junge Generation, die nur Demonstrieren im Sinn hat. Eine Schande sind Sie …« Er zeterte und tobte, beschimpfte und maßregelte. Thesi war nicht mehr in der Lage, sich zurückhalten und fuhr ihn an: »Halten Sie endlich den Mund, Sie Volltrottel!« Nun eskalierte die Situation. Fuchsteufelswild sprang der Polizeigeneral auf sie zu und hob die Hand zum Schlag. Dino schrie in Panik. Das schien den Mann zur Besinnung zu bringen, er drehte sich wortlos um und eilte zu seiner Frau zurück. Thesi streichelte den verstörten Dino über den Kopf und griff sich an die Stirn. Wie schnell eine Lappalie eskalieren konnte! Hoffentlich hatte der Typ seine Dienstwaffen abgeben müssen. Ein Choleriker wie der war eine tickende Zeitbombe. Dieses Verhalten konnte nicht nur am Vollmond liegen.

Sie sah sich um. Hoffentlich war Leon bald mit seiner zweiten Praterrunde fertig. Ein hagerer Läufer in einem grauen Trainingsgewand rannte an Thesi vorbei und nickte ihr zu. Sie meinte, Verständnis in seinen Augen zu sehen, und schaute ihm lange nach.

Anton Dorf hatte die Szene von Weitem gesehen. Wieder mal ein Hund, der nicht angeleint war. Wieder mal eine Mutter, die ihr Kind zu schützen versuchte. Das würde sich nie ändern.

Er selbst war schon dreimal gebissen worden. Wie oft ihn die Köter, die im Grunde nur ihren Instinkten und Trieben folgten, angesprungen oder nachgelaufen waren, zählte er schon nicht mehr. Schnaufend fühlte er seinen Puls. Rieb seinen schmerzenden Unterarm. Es wäre schön, wenn sich alle an die Regeln hielten, das Zusammenleben wäre viel einfacher.

Seit er sich zurückgezogen hatte und wie ein Eremit lebte, war einiges leichter geworden.

Er überholte das Paar mit dem Hund und warf einen flüchtigen Blick in das Gesicht des wütenden Mannes. Er erinnerte ihn an seinen Vater. Der Ärger in den funkelnden Augen, die Rechthaberei in den Mundwinkeln, die Zornesfalten auf der Stirn. Dorf beschleunigte seine Schritte, ihn durchströmte ein ungutes Gefühl. Als ob er bald wieder von seinem Vater hören würde. Mehr als ihm lieb war.

Ungeduldig sah Egon Kruger auf seine falsche Rolex und ging schnaufend am Stadionparkplatz auf und ab. Er wischte sich den Schweiß von den Schläfen, der sich mit den Regentropfen vermischte. Beides rann den Nacken entlang seinen Rücken hinunter.

Er spazierte ein paar Schritte zur Hauptallee, sie war leer. Dorf konnte doch nicht ewig laufen! Kruger zündete sich eine Zigarette an, sog gierig den samtenen Rauch ein und wartete. Um sich abzulenken, fischte er eine Packung Karten aus seiner Jackentasche und betrachtete die abgebildeten Figuren. Gerippe, Königinnen, brennende Türme und ein Kasper. Kindisch sah das aus, fand er. War es eine lohnende Story? Zahlte es sich aus, weiter nachzuforschen, oder würde er nur Zeit verplempern? Seine Intuition sagte, bleib dran. Außerdem brauchte er wieder mal einen Knüller, sonst würde er sich seine Extravaganzen bald nicht mehr erlauben können.

Diese Warterei nervte. Aber anders schien er nicht an ihn ranzukommen. Die Regentropfen prasselten stärker auf das Blätterdach der Kastanien. Kruger ging zu seinem Wagen und trat gegen die rostige Stoßstange, um zu prüfen, wie lange sie noch halten würde. Dann stieg er ein.

Endlich tauchte Leon wieder auf. Er schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, und sah Thesi fragend an.

»Mama hat ein superböses Wort gesagt«, verkündete Dino freudestrahlend, und Thesi erzählte die ganze Geschichte. Leon machte ein nachdenkliches Gesicht, hielt seinem Sohn die Ohren zu, als er antwortete: »Es tut mir leid, dass ich zu früh weitergelaufen war. Aber du hast richtig reagiert. Schimpfen ist gut für die Psychohygiene. Ich wette, der Alte ärgert sich länger als du. Das ist einer der Nachteile des Alters.« Dino entwand sich seinen Armen und motzte: »Das ist gemein, nie darf ich zuhören.«

»Nicht gerade beruhigend, wenn er ein Gedächtnis wie ein Elefant hat«, sagte Thesi gequält. »Ich denke da an seine Dienstwaffe.« Und sie dachte an ihr Auto auf dem Parkplatz und dass die Webadresse für Leons IT-Unternehmen auf dem Rückfenster klebte. Kein Problem also, herauszufinden, wie sie hießen und wo sie wohnten.

Zurück bei ihrem Wagen, sah sie sich unauffällig um. Da saß ein dicker schwitzender Kerl in einem schrottreifen Mercedes und tat, als ob er telefonierte. Beobachtete er sie? War er ein Polizei-Kollege, den der Polizeidingsda in Rente gleich angefordert hatte? Mit dem Auftrag: »Beobachten sie diese Demonstranten-Subjekte. Ein durchtrainierter, großer Typ im Laufgewand, eine kleine, schwarzhaarige rotzfreche Göre mit rotem Regenparka und einem Balg, das genauso aussieht wie die Mutter.«

»Schau mal, Mama, was ich gefunden habe!«, unterbrach Dino Thesis Paranoia. Vergnügt wedelte er mit einer bunten Karte.

»Du sollst doch keinen Mist vom Boden aufheben«, sagte Thesi und zog ihm die nasse Jacke aus, bevor sie ihn ins Auto setzte.

Beleidigt sah Dino auf. »Die ist aber da auf dem Auto gelegen.« Er drückte Thesi eine Spielkarte in die Hand. Darauf war ein Mann mit einem Hund, einem Wanderstock und einer Blume abgebildet. Der Narr stand darauf. Genau, den haben wir gerade getroffen, leider ohne Blume, dachte Thesi und erlaubte Dino, seinen Fund mit nach Hause zu nehmen. Er hatte eine kleine Kiste aus Holz, in der er seine Schätze hortete: Schneckenhäuser, goldgesprenkelte Murmeln, einsame Dominosteine und bunte Vogelfedern, lauter Dinge, die im Leben eines fast Sechsjährigen besonders wertvoll waren.

Thesi drehte sie sich noch einmal unauffällig nach dem Mann im Mercedes um. Sah er ihnen nach? Ja! Andererseits, warum nicht. Auf dem Parkplatz war sonst nichts anderes zu beobachten.

Mit leichtem Kribbeln meldete sich Thesis schlechtes Gewissen zurück, krauchte über den Rücken hinauf und flüsterte in ihr Ohr: »Du bist so was von unbeherrscht! Wie soll sich Dino da ein Beispiel nehmen?«

»Ach halt doch den Mund«, murmelte sie und schüttelte ihr Gewissen ab.

»Du denkst zu viel«, sagte Leon. »Steig lieber ein, wir warten.«

»Entschuldige.« Sie rutschte auf den Beifahrersitz, schnallte sich ungelenk an, während sie im Rückspiegel weiter den Dicken beobachtete. »Ich bin nur etwas nervös. Der Typ war so außer sich und – ich auch.«

»Erzähl mit mehr von diesen ›Wiener Frauen‹, das wird dich ablenken«, sagte Leon.

»Kann ich erst morgen, da treffen Flora und ich die Gründerin zu einer Art Beitrittsgespräch.«

Kapitel 3

London, Jänner 1938

»Ich werde diese Hexe zermalmen!« Aleister Crowley riss die Faust in die Höhe und schmetterte sie mit solcher Wucht auf sein Lesepult, dass es barst. Er betrachtete die Bruchstücke, legt den Kopf schief und flüsterte: »Genau so.« Mit dem Schlag schien all seine Energie den Körper verlassen zu haben, kraftlos sank er in einen fadenscheinigen Fauteuil.

Maggie, die den Ausbruch schweigend beobachtet hatte, ging zu ihm und strich beruhigend über seine Glatze. »Du wirst sie nie zurückerobern. Auch nicht mit den …«

»Ich will sie nicht zurück! Ich will sie auslöschen!« Unvermittelt sprang er auf und stieß den schweren Sessel um.

»Ach Aleister, du hast sie doch schon aus London vertrieben. Sie zeichnet nicht mehr, sondern leitet irgendwo in der Provinz ein Ferienheim. Für katholische Priester. Kannst du dir etwas Erbärmlicheres vorstellen?«

»Ich will diese kleine jamaikanische Voodoopriesterin im Dreck kriechen sehen!« Er streckte die Arme wie zum Segen zur Seite. Der weite Mantel öffnete sich, und das Kaminfeuer warf den bewegten Schatten eines großen Halbkreises an die Wand. Seine dunklen Augen leuchteten im flackernden Licht. »Und dann werde ich sie zertreten!«

»Sie ist keine Voodoopriesterin«, seufzte Maggie, doch er sprach unbeirrt weiter.

»Du und ich … wir beide entwerfen ein neues Kartendeck, das ihres bei Weitem übertreffen wird. Ich hatte wieder eine Eingebung von Thoth. Er hat mir gesagt, wie wir Pixie …« Er verstummte, ließ die Arme sinken, stellte den Sessel auf, dann hielt er mitten in der Bewegung inne, als erwachte er aus einer Hypnose. Suchend sah er sich um. Schließlich zog er einen Schaukelstuhl heran, setzte sich und wippte zusammengekauert vor und zurück.

»Du wirst nie über sie hinwegkommen.« Maggie begann, die Teile des zerbrochenen Pults einzusammeln. »Es ist so düster hier, wir brauchen Licht.« Sie ging zum Fenster und zog mit einem Ruck die dunkelgrünen Samtvorhänge zur Seite. Staub stieg auf. Die Sonne kämpfte sich durch die schmutzigen Fenster und fing sich in einem gigantischen silbernen Stern, der an der Wand hing. Das Metall reflektierte den Strahl und schickte Millionen kleiner Lichtkegel durch den Raum.

Crowley schloss stöhnend die Augen und massierte seine Schläfen.

Maggie bückte sich, um ein weiteres Holzstück aufzuheben, da fiel ihr Blick durch einen Spalt in sein Schlafzimmer. Dort saß doch jemand! Sie ging näher, schob die Tür vorsichtig etwas auf und erstarrte. Am Bett lehnte lebensgroß eine Puppe mit langem schwarzem Haar und mandelförmigen dunkelbraunen Augen. So wie Pixie sie hatte. Bandagen um den Puppenkörper erinnerten an eine Mumie aus dem British Museum. Die Füße steckten in juwelenbesetzten Pantoffeln, um die Schultern hing ein rubinroter Brokatmantel.

Sprachlos starrte Maggie den Fetisch an. Als Crowley sich ächzend erhob, erschrak sie und schloss die Tür.

»Was ist, Maggie? Du wirkst so blass.«

»Nichts. Nur die stickige Luft. Es wird schon besser.« Sie ging zurück zum Fenster und drehte sich dann abrupt zu ihm. »Lass uns endlich mit den Tarotkarten beginnen.«

Crowley schlurfte in die Bibliothek und griff sich auf seinen gebeugten Rücken: »Ich spüre die Kälte in jedem einzelnen Knochen. Wieso nur straft uns das Alter so.« Er nahm drei mächtige Folianten mit abgegriffenen Ledereinbänden aus dem Regal. Als Crowley sie vor Maggie, die ihm gefolgt war, auf den Tisch fallen ließ, erfüllte süßlich schwerer Moderduft die Luft.

Er schlug das oberste Buch auf. »Antoine Court de Gébelin, ein berühmter Okkultist und Freimaurer des 18. Jahrhunderts. Er interpretiert Tarot als ägyptische Geheimlehre.«

Maggie erinnerte sich, dass Crowley angeblich in Kairo ein ägyptischer Gott erschienen war, der ihm ein Buch diktiert hatte. Vorsichtig hob sie Gébelins Buch hoch und betrachtete die schwarz-weißen Abbildungen. Da drückte ihr Crowley schon den nächsten Band in die Hand.

»Hier. Auch mit der Kabbala wirst du dich auseinandersetzen müssen. Ohne hebräische Mystik werden die Karten keine holistische Bedeutung bekommen.« Er hustete lang und kehlig. Maggie legte die Bücher weg und öffnete noch ein Fenster. Kühle Luft strömte durch die Bibliothek.

Crowley rief: »Wir erfinden das Tarot neu! Lassen Pixies Deck vom Erdboden verschwinden. Niemals wieder wird jemand mit ihrem lächerlichen Narren die Zukunft befragen … ja, ich werde sie ausradieren, zerstören, vernichten …« Er stellte sich neben Maggie, umfasste ihre Hüfte und starrte wie in Trance in den Himmel, wo Vögel in V-Formation Richtung Süden zogen. »Ach, Ägypten!«

Stirnrunzelnd ging Maggie zum Tisch zurück. Crowley verlangte von ihr, das gesamte esoterische Wissen der letzten Jahrhunderte in seinem Tarot unterzubringen. Die Karten, die sie vor ein paar Jahren für die Freimaurer gezeichnet hatte, waren bei Weitem kein so aufwendiges Projekt gewesen.

Sie zweifelte. Sollte sie Crowley absagen? Auf der einen Seite war sie fasziniert von ihm, von seiner Lehre, dem Orden des Astrum Argenteum. Und – würde sie jemals wieder so einen Auftrag bekommen? Einmal wieder zeigen können, was in ihr steckte! Auf der anderen Seite machte ihr Crowley Angst. Seine Manie, Pixie zu zerstören und gleichzeitig eine lebensgroße Puppe von ihr zu besitzen, irritierte sie. Steckte dahinter Stärke oder Schwäche? Eine Leidenschaft, die sie selbst nicht kannte? Doch wenn Leidenschaft mit dem Verlust der Selbstkontrolle einherging, war es wohl besser, sie nicht erst zu erleben. Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken strich sie ihre Kostümjacke glatt und nahm das dritte Buch. Griechische und römische Mythologie. Ja, damit konnte sie etwas anfangen, das hatte sie in der Schule durchgenommen. Vor vielen, vielen Jahren – aber so weit wollte sie nicht zurückrechnen.

»Komm, Aleister, setzen wir uns, und du skizzierst kurz deine Vorstellungen, damit ich mir Gedanken machen kann. Ich habe heute nicht mehr viel Zeit. Nächste Woche werde ich die ersten Entwürfe zeichnen.«

Langsam drehte sich Crowley zu ihr. Mit müdem Blick sah er sie an. »Gut, beginnen wir das große Werk.« Sein langer Mantel schleifte über den Boden, als er den Tisch umrundete und sich mit einem weiteren Buch in der Hand setzte. »Das wirst du auch brauchen, meine letzte Arbeit: The equinox of …«

Er zuckte, griff sich an die Brust und stieß einen Schrei aus: »Ahh, sie hat es schon wieder getan!«

Entsetzt starrte ihn Maggie an. »Was, wer?«

»Die Voodoohexe! Eine Nadel! Ich spüre es. Auch sie will mich vernichten.« Er taumelte zu einem kleinen Beistelltisch, wo eine Schale mit Rosenweihrauch einen pudrig schweren Duft verströmte. Crowley warf eine Alraune auf die Glut und zischte: »Du wirst mich nicht töten, Pixie.« Er sog den aufsteigenden Dunst ein und schien sich zu beruhigen. »Mhh! Die magische Mandragora. Mein Schmerzmittel und der einzige Schutz gegen sie.« Stöhnend sank er in einen Sessel. »Ich habe es ausgependelt.«

Maggies Schreck wich Ungeduld. So würden sie nicht weiterkommen! Sie raffte die Bücher zusammen. »Ich muss aufbrechen. Benjamin wartet zu Hause.«

»Ja, geh nur zu deinem langweiligen Mann, Lady Margaret. Ich weiß nicht, was du an ihm findest.« Crowley, die Augen zu Schlitzen verengt, schnaubte. Dann griff er sich erneut ans Herz, als durchzuckte ihn neuerlich ein Schmerz.

Maggie ließ sich nicht beeindrucken. »Was ich an ihm finde? Jedenfalls keine Besessenheit.« Sie holte ihren Beutel aus der Garderobe und warf sich ihr Wollcape über.

»Lass mich nicht mit Pixie allein …« Crowley ächzte theatralisch, als Maggie die Tür zuwarf.