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Impressum

Die Handlung, sämtliche Orte und Personen in diesem Roman sind absolut fiktiver Natur, Übereinstimmungen mit der vermeintlichen Realität daher rein zufällig.

Das Buch konnte 2007 durch ein Schriftstellerstipendium der Stiftung Preußische Seehandlung seinen Anfang nehmen. Die Autorin dankt für die freundliche Unterstützung.

Das Zitat von Laura Esquivel ist dem Roman „Malinche“ entnommen und wurde von Corinna Waffender aus dem Spanischen übersetzt.

Erste Auflage der Printausgabe September 2010

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos iStockphoto (Bells of carillon. © Vitalina Rybakova).

ISBN 978-3-89656-513-6

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Widmung

Das Leben bietet uns immer zwei Möglichkeiten:

den Tag oder die Nacht, den Adler oder die Schlange,

das Erschaffen oder die Zerstörung,

die Strafe oder die Vergebung,

aber immer gibt es eine dritte, verborgene Möglichkeit,

die beide verbindet: Entdecke sie.

Laura Esquivel

Berlin, 2003 Montagabend

Die Hitze drang durch das kühle Gemäuer, zwängte sich durch hölzerne Ritzen und steinerne Spalten, ließ die bunten Fenster bedrohlich satt erstrahlen. Blutrot der Umhang des Verräters an der Seite des Herrn, das Leid des Sohns tiefblau.

Sie blieb vor dem Altar stehen. Ließ ihren Blick schweifen und überprüfte, ob alles für den Gottesdienst am nächsten Morgen bereitstand. Eine von Güllners Ideen – Kirche für Arbeitslose jeden Dienstag mit anschließendem Frühstück.

„Damit sie nicht nur kommen, um sich mittwochs beim Mittagsmahl die Lebensmittel abzuholen! Zweimal die Woche einen festen Termin zu haben, ist wichtig für die Leute.“

Und er hatte Recht. Tatsächlich bevölkerte seit Anfang des Jahres jeden Dienstagmorgen um zehn ein Grüppchen von etwa zwanzig bis dreißig Männern und Frauen die Stille des Gotteshauses. Oft blieben sie beim Frühstück zum Plaudern sitzen, fast alle kamen am nächsten Tag zur Essensausgabe wieder und einige wenige – wenngleich wohl mehr aus schlechtem Gewissen denn aus Demut – am Sonntagmorgen auch ohne Gaumenfreuden zur Predigt. Immerhin. Ihr Studienkollege machte wenigstens noch Kirche von unten, während sie im besseren Viertel Berlins träge geworden war. Auch deshalb hatte sie Hartmuts Vertretung ohne Zögern übernommen.

Wie nicht anders erwartet, war alles an seinem richtigen Platz und bereit für den „Himmlischen Dienstag“, wie ihr Kollege sein Projekt genannt hatte, das inzwischen über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt war und sich aus zum Teil großzügigen Spenden finanzierte. Die Kaffeetassen standen verkehrt herum auf den vier Tischen, die bistroähnlich im Eingangsbereich angeordnet waren, die Gesangsbücher waren auf der Ablage der letzten Bank gestapelt, erhobener Zeigefinger, dass, nur wer singt, auch Brötchen verdient. Die wiederum würde bis morgen Agnes Walter belegt haben und kurz vor Ende des Gottesdienstes auf die Tische stellen. Auch die Kerzenhalter waren bestückt, frische Blumen schmückten den Altar – nichts fehlte, es war vollkommen unnötig gewesen, herzukommen. Sie konnte sich blind auf die Gemeindehelferin verlassen, die sämtliche Angelegenheiten der Kreuzkirche besser im Auge hatte als sie selbst.

Wenn Erika Mangold ehrlich war, war sie nicht hier, um nachzusehen, ob in der Kirche alles in Ordnung wäre, sondern weil sie wusste, dass bei ihr zu Hause das Gegenteil der Fall war. Seit Wochen stritten Ingo und sie ohne Pause, sie konnte sich noch so viel Mühe geben – jedes Gespräch endete in einer mittleren Katastrophe. Ihm nach einem anstrengenden Arbeitstag arglos zu Hause begegnen zu wollen, war in etwa so eine gute Idee wie barfuß über ein Tretminenfeld zu spazieren.

Deshalb wartete sie neuerdings, bis sie sicher sein konnte, dass eines der Kinder nach Hause gekommen war, manchmal holte sie Sara vom Hockeytraining ab. Ingo riss sich immer noch ein wenig zusammen, wenn sie nicht allein waren. Dass man ihn hörte, ihnen beiden lauschte, hatte ihn noch nie gestört, aber er wollte nicht dabei gesehen werden. Doch bald, da war sie sicher, würde er auch ungeachtet Dritter die Kontrolle verlieren. Oder aber zuvor dem Horror ein Ende setzen. Insgeheim und ohne den Gedanken jemals zu Ende zu denken, wünschte sie, dass es so käme. Eines Morgens erwachen und seinen Abschiedsbrief finden. Nichts unternehmen, nur abwarten. Trotz der Liebe, die es zwischen ihnen einmal gegeben hatte, trotz des Glaubens an einen Gott, von dem sie nicht wusste, ob er ihr jemals verzeihen würde.

Erika Mangold war so sehr in Gedanken, dass sie den leichten Luftzug an ihren Fesseln nicht bemerkte. Sie stand mit dem Rücken zur Tür des kleinen Raums neben dem Altar, der wie ein Arbeitszimmer eingerichtet war. Hellbraune Regale aus Holzimitat voller Bücher und Ordner, ein Schrank, in dem unter anderem das Silber weggeschlossen war, ein kleiner Tisch, auf dem ordentlich nebeneinander ein altes, graues Telefon, eine Ablage, ein Stifthalter und ein Locher standen, davor ein abgenutzter Schreibtischstuhl und schließlich die Liege, die sie in den letzten Wochen magisch angezogen hatte: sich einfach hinlegen und schlafen, stundenlang, wochenlang, monatelang, am Leben vorbei – davon träumte sie. In letzter Zeit hatte sie wieder öfter darüber nachgedacht, warum sie damals eigentlich nicht in ein Kloster gegangen war und ihre Sache direkt mit Gott ausgemacht hatte. Stattdessen wollte sie Trost und Sühne in der Liebe zu den Menschen finden. Wieso war sie so sicher gewesen, dass sie dazu überhaupt in der Lage wäre?

Da spürte sie es.

Jede Pore ihrer Haut signalisierte es an ihr Gehirn: Es war noch jemand im Raum. Langsam, als wollte sie dem Unsichtbaren Gelegenheit geben zu verschwinden, drehte sie sich um.

Was sie dann sah, übertraf all ihre Ängste, all ihre Erwartungen. Sie starrte von dem Gesicht, das keinerlei Gefühlsregung zeigte, zur Mündung der auf sie gerichteten Waffe und begriff sofort. Der Moment, den sie eine Ewigkeit gefürchtet hatte und doch so lange schon herbeisehnte, war gekommen. Nun würde der Kreis sich schließen, ihr blieb nur noch das Flehen um Absolution. Ohne sich von der Stelle zu bewegen und dem Blick, der sie nicht aus den Augen ließ, auszuweichen, sagte sie mit fester Stimme:

„Es tut mir leid.“ Sie räusperte sich. „Unendlich leid. Ich …“

Die Bitte um Vergebung brach jäh ab.

Niemand hörte den ersten Schuss, der exakt mit dem zweiten Glockenschlag zur vollen Stunde zusammenfiel, und auch nicht den zweiten, einen Takt später. Keiner sah die Gestalt, die ihn abgefeuert hatte, die Kirche durch den Hinterausgang verlassen und sich auf eine der Holzbänke davor setzen.

Eine Stunde später würde der Rufton des Handys in der Handtasche der Toten ungehört verklingen, weil Sara Mangold nach dem Hockeytraining vor der Turnhalle vergeblich auf ihre Mutter wartete.

Noch bevor Hauptkommissarin Inge Nowak frisch geduscht der abendlichen Stadt entgegentrat, standen ihr bereits winzige Schweißperlen auf der Stirn. Die Schritte aus dem kühlen Flur in die warme Nacht taten ihr Übriges, um sie mit aller Wucht an Michaela zu erinnern – wer zum Teufel hatte sich bloß ausgedacht, klimatischen Zuständen Namen zu geben? Und noch dazu solche, die in ihr die schlimmsten Erinnerungen an ihre Jugendzeit wachriefen? Ausgerechnet Michaela Hess hatte ihr Heiko Roettgen weggeschnappt. Dabei war die Klassensprecherin aus der Parallelklasse alles andere als heiß gewesen: In der Anzahl ihrer mit bräunlichen Abdeckstiften überpinselten Pickel und im Verstecken von Babyspeck hatte sie der pubertierenden Inge in nichts nachgestanden. Doch die Rivalin wartete mit einer Geheimwaffe auf, die keine der anderen Halbwüchsigen in der Tasche hatte: Sie nahm die Pille. Oder zumindest behauptete sie es, was nicht nur die Jungs aus der Parallelklasse in kamikazehafter Sicherheit wiegte und sie zu Hess’scher Beute machten. Heiko Roettgen jedenfalls war ihr zum Opfer gefallen, und nachdem Inge die beiden knutschend hinter der Scheune erwischt hatte, war der Name Michaela zu einem Synonym für das fleischgewordene Übel geworden und lange geblieben. Ganz neutralisiert hatte sich der Klang des Namens nie, doch dass Michaela nach über dreißig Jahren so penetrant wiederkehren musste, ja sogar Tote und Verletzte forderte, empfand Inge Nowak als persönlichen Affront.

Die Pfarrerin in der Kirche war allerdings mit ziemlicher Sicherheit nicht an einem Hitzschlag gestorben.

„Oder?“

Der Pathologe schüttelte den Kopf. „Erschossen aus nächster Nähe.“

„Tatwaffe?“

„Haben wir bisher nicht gefunden.“ Dr. Breitkreuz deutete auf die Einschüsse in der Brust und im Hals der Frau. Die Leiche und der Boden waren über und über mit Blut bedeckt.

„Heißt?“

„Noch gar nichts.“

Berger betrat den Raum und hob zum Gruß die Hand in die Runde. „Wissen wir sonst schon etwas?“

Seine Kollegin deutete auf das inzwischen mit einem Tuch bedeckte Opfer.

„Erika Mangold, vierzig Jahre alt, evangelische Pfarrerin. War offenbar nur als Urlaubsvertretung hier.“

„Passt doch gut: Wir sind ja auch nur vertretungsweise hier.“ Berger spielte darauf an, dass sie für einen anderen Bezirk angefordert worden waren. Die Kriminaldirektion 4 war wegen Sommergrippe und Ferienzeit bei gleichzeitigem Anstieg der Gewaltdelikte heillos unterbesetzt und Kriminaldirektor Helmut Frickel hatte sein bestes Team aus Mitte quasi an die Kollegen ausgeliehen. Dafür war ihm vermutlich weit mehr als nur ein Abendessen mit dem Polizeipräsidenten sicher, und die Proteste der Nowak’schen Mordkommission erschienen ihm von nachrangiger Bedeutung.

„Also mir persönlich ist egal, ob wir für Mitte oder Charlottenburg ermitteln, solange wir noch Zeit dazu haben, dazwischen zu essen oder zu schlafen. So profane Dinge wie ins Kino gehen erwarte ich ja schon gar nicht mehr!“ Sie sah Berger stirnrunzelnd an. „Hattest du schon mal eine geistliche Leiche?“

„Ich glaube nicht. Wieso?“ Er machte einen Schritt zur Seite, damit Breitkreuz in dem engen Raum mit seinem Koffer an ihm vorbeikam.

„Keine Angst, die stehen genauso wenig wieder auf wie alle anderen“, mischte sich der Pathologe ein, bevor er den beiden Männern an der Trage ein Zeichen gab, Erika Mangold auf ihre vorletzte Reise, in die Gerichtsmedizin, zu schicken.

Auch Nowak und Berger hatten vorerst genug gesehen und überließen die Feinarbeit der Spurensicherung.

„Wer hat sie gefunden?“, wollte Berger wissen.

„Ihr Mann, Ingo Mangold.“

„Und?“

„Mach dir selbst ein Bild.“ Die Hauptkommissarin deutete auf die geschlossene Tür hinter ihrem Kollegen. Berger nickte, drehte sich um und drückte langsam die schwere Klinke aus Messing hinunter.

In der ersten Reihe der hölzernen Kirchenbänke ganz außen, den Blick starr auf den Altar gerichtet, saß ein dünner Mann, hielt sich mit der linken Hand den rechten Arm und schluchzte. Er rührte sich auch dann nicht, als Wolfram Berger direkt neben ihm stand.

„Herr Mangold?“

Müde drehte der Angesprochene den Kopf und blickte auf. Er sah fürchterlich aus. Grau und knochig sein Gesicht, seine Augen lagen in tiefen Höhlen und schienen auf seltsame Weise erloschen.

Er sieht aus wie ein Toter, schoss es Berger durch den Kopf und die Frage, die er ihm hatte stellen wollen, verschwand in den Windungen seines Gehirns. Stattdessen sahen sich die beiden Männer sekundenlang an, und Berger hatte das Gefühl, er blickte in ein tiefes schwarzes Loch, das ihn magisch anzog und ihm die Sprache verschlug. Für einen winzigen Augenblick atmete er die kühle Luft, die von dort heraufzog, und spürte bleiern und schwer die immense Dunkelheit, die jedes Licht im Keim erstickte.

„Wir würden uns gerne noch mit Ihnen unterhalten, Herr Mangold“, schnitt Inge Nowak ein wenig zu scharf in die Stille. Sie hatte den Mann vom ersten Augenblick an nicht gemocht, und die Tatsache, dass er seit ihrem Eintreffen jede Art von Kooperation verweigerte, trug nicht dazu bei, diese Antipathie zu verringern.

Statt einer Antwort ließ Mangold Berger nicht aus den Augen und fragte: „Glauben Sie, dass das Schicksal eines Menschen unabänderlich ist?“

„Nein“, antwortete der Hauptkommissar kurz und stieg abrupt aus der augenscheinlichen Verbündung aus, indem er sich neben den Mann setzte und zu der Jesusfigur hinauf sah, die freischwebend über dem Altar angebracht war. Dann wechselte er das Thema.

„Sie haben also Ihre Frau tot aufgefunden?“, fragte er so mitfühlend wie möglich.

„Das wissen Sie doch bereits.“ Ingo Mangold antwortete ihm mit einem bitteren Unterton in der Stimme und fuhr nicht weniger unfreundlich fort: „Hätte ja auch nicht anders sein können.“

„Wie meinen Sie das?“

„Dass mir auch gar nichts erspart bleibt.“

Was für eine Egonummer, dachte Inge Nowak. Zu Hause warten zwei Teenager, die gerade ihre Mutter verloren haben, auf ihn, und er bemitleidet sich selbst.

„Was hätte Ihnen denn sonst noch erspart bleiben können?“, fragte Berger ungerührt zurück.

„Meinen Kindern sagen zu müssen, dass sie bald statt Halbwaisen Vollwaisen sind.“ Er fuhr sich durch die dünnen Haare und fügte tonlos hinzu: „Ich habe Krebs im Endstadium. Eine Frage von Wochen oder Monaten.“

Krank, dachte Inge Nowak, natürlich. Der Mann ist todkrank! Entweder ist er wirklich davon geschockt, von einem Moment auf den Nächsten vom Sterbenden zum Überlebenden geworden zu sein, oder er ist ein brillanter Schauspieler.

Der vielleicht nicht das erste, nicht das einzige Opfer hatte sein wollen, überlegte ihr Kollege, der den gleichen Gedanken durchgespielt hatte.

„Sollen wir Sie vielleicht nach Hause bringen lassen?“, fragte die Hauptkommissarin verständnisvoller. „Wir können morgen früh zu Ihnen kommen und die Befragung dort fortsetzen.“

„Ist mir egal“, murmelte Mangold und erhob sich. „Ich habe einen eigenen Wagen.“

Nowak und Berger wechselten einen kurzen Blick.

„Dann schauen wir morgen bei Ihnen vorbei. Ist Ihnen gegen zehn Uhr recht?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Dann um zehn“, entschied sie kurzerhand. „Und bitten Sie ihre Kinder ebenfalls, sich für eine Befragung bereitzuhalten.“

„Lassen Sie meine Kinder aus dem Spiel“, brauste Mangold plötzlich auf, mit einer Energie, die ihm die Kommissarin nicht zugetraut hatte, „Sara und Ben haben doch überhaupt nichts damit zu tun.“

„Davon gehen wir auch aus“, beschwichtigte ihn Berger, bevor seine Chefin zurückschießen konnte. „Reine Routine, das muss leider sein.“

Ingo Mangold fuhr sich über die Augen und winkte halbherzig ab. Was er dachte, sprach er nicht aus. Dann verließ er grußlos die Kirche durch den Raum, in dem noch bis vor wenigen Minuten seine tote Frau gelegen hatte. Berger und Nowak hätten ihn daran hindern müssen, da die Spurensicherung noch nicht abgeschlossen war. Aber weder er noch sie rührten sich vom Fleck, beide sahen dem schmächtigen Mann, der ein wenig gebeugt und mit kleinen Schritten über die Steinplatten schlurfte, schweigend nach.

Eins

Was man vergessen will, quält sich beharrlich in die Gedanken. Was man behalten will, spielt im Kopf mit der Erinnerung Versteck. Deshalb schreibe ich meine Geschichte auf. Für die, die nach einer Wahrheit suchen, die zur Wirklichkeit passt. Sie nimmt ihren Lauf zu einem Zeitpunkt, als die Toten noch nicht einmal geboren waren.

Ich war gerade zurückgekehrt. Wenn man die Tatsache, ein Erbe anzutreten, als Rückkehr bezeichnen will. Als es klingelte, hatte ich ein Kinderlied im Kopf:

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Knie, einen Zettel im Schnabel, von der Mutter einen Brief.

Dabei hat meine Mutter immer den Schnabel gehalten und Briefe hat sie überhaupt keine geschrieben.

„Was ich zu sagen habe, sage ich frei heraus“, das waren ihre Worte und deshalb hat sie ein Leben lang den Mund gehalten. Als ich ging und als ich fort war und als ich wiedergekommen bin. Da war die Mutter schon kalt, kälter noch als zu Lebzeiten. Und der Vogel ist mit gestutzten Flügeln zu mir gekommen an einem Wintertag. Ohne Brief, nur mit einem Paket.

„Ich soll das hier abgeben“, hat er gesagt, und der Wind hob die verklebten dünnen Haare von seinem Kopf wie kleine Zweige ohne Blätter. Gerne hätte ich ihm die Last abgenommen, die er zwischen seinen langen Krallen hielt, aber mir schickte kein Mensch etwas, und Pakete für Verstorbene nehme ich nicht mehr an.

Ob er bei der Post arbeite, habe ich ihn gefragt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Das macht immer Eindruck. Das provoziert.

Wie Wenger. Seine Stimme habe ich auch nie vergessen.

„Was machst du Schlampe mit deinen dreckigen Fingern, dass du sie verstecken musst?“

Dabei gab es doch damals gar nichts zu verstecken, nichts hätten wir halten können, wo wir uns doch selbst kaum mehr ertrugen. Und das war es, was er sah, dass wir uns noch an so etwas Leichtfertiges wie eine Seele klammerten.

Der Paketvogel, fast vierzig Jahre später an meiner Tür, hielt sich an einem blauen Karton fest, schüttelte den Kopf. War scheu und schaute kaum auf: „Meine Mutter schickt mich.“

Ich schluckte die Aufschrift mit den Augen und begriff. Seine Mutter war die Katalogfrau. Meine Mutter unter der Erde bekam ein Paket vom Otto-Versand.

„Das will ich nicht“, sagte ich.

„Was soll ich denn jetzt machen mit dem Päckchen?“

„Behalt es.“

„Das darf ich nicht.“

„Ich erlaub es dir doch.“

„Das ist nicht dasselbe.“

Er war nicht dumm, und deshalb ließ ich ihn herein. Einem normalen Menschen hätte ich niemals die Tür geöffnet, aber dieser Junge war aus dem Nest gefallen.

„Wie heißt du?“, habe ich ihn gefragt.

„Hannes. Wieso?“

Ich schlitzte mit den Fingernägeln den Deckel auf, aber Styropor blutet nicht. Darunter, knisternd und bügelfrei, ein hellgelber Morgenmantel für die Ewigkeit.

„Nylonträume eines Feiglings“, erklärte ich.

Hannes erwiderte trocken: „Wieso? Gehört doch Mut dazu, so etwas zu bestellen!“

Es war lange her, dass ich gelacht hatte. So lange, dass sich der ungewohnte Ton aus meiner Kehle gurgeln musste und ich mich verschluckte.

Rühr mich nicht an, das musste ich dem Vogel nicht sagen. Er hätte mich niemals angefasst, und wenn ich daran erstickt wäre.

Seit diesem Tag ließ ich ihn herein, wenn er an meinem Fenster vorbeiflog.

Und manchmal hielt ich nach ihm Ausschau.

Dienstagmorgen

„Würdest du hier wohnen wollen?“ Berger deutete aus dem Fenster auf die Dächer der villenähnlichen Einfamilienhäuser, deren Eingänge, Balkone und Fenster blickdicht hinter hohen Büschen und Bäumen verschwanden.

„Im Leben nicht! Ist bestimmt stockdunkel, eng, und nach hinten raus drängeln sich Angebergärten.“ Inge Nowak schüttelte energisch den Kopf. „Ich kenne Leute, die hier in einer Seitenstraße wohnen. Entweder sind deine Nachbarn nach rechts mutierte, akademisch arrivierte Altachtundsechziger, alter Adel oder Schönheitschirurgen.“

Berger parkte vor einem kleineren Haus, dessen Grundstück sowenig einsehbar war wie die übrigen in der kopfsteingepflasterten Straße. „Hier ist es.“

„Wie bezahlen die das?“

„Sie ist bei der Kirche angestellt gewesen, und er immerhin Staatsdiener“, erwiderte Berger. Und fügte hinzu: „An der richtigen Stelle.“

„Wo genau befindet sich die, und woher weißt du das schon wieder?“

„Erkner war so freundlich, im weltweiten Internet zu recherchieren. Ingo Mangold arbeitete bis zu seiner Erkrankung als Referatsleiter im Auswärtigen Amt. Abteilung Entwicklungshilfe, Schwerpunkt Lateinamerika. Seit drei Monaten ist er krankgeschrieben.“

„Und das steht alles im Internet?“, fragte seine Chefin erstaunt, bevor sie auf die Klingel neben dem schmiedeeisernen Gartentor drückte.

„Nein. Letzteres habe ich im Ministerium erfragt.“ Und bevor sie nachsetzen konnte: „Heute Morgen, telefonisch bei der Personalstelle, da gibt es tatsächlich noch Menschen, die dafür bezahlt werden, Auskünfte zu erteilen.“

Das Summen des Türöffners verhinderte Nowaks Kommentar, und beide betraten nacheinander einen von hohem Bambusgras zugewachsenen schmalen Weg, der zur Haustür der Familie Mangold führte, wie auf einem aus Salzteig gebackenen Schild zu lesen war. Die Kommissarin erinnerte sich mit Schaudern daran, wie vor vielen Jahren ihre inzwischen erwachsene Tochter mit einem brezelähnlichen Ungeheuer aus der Schule gekommen war, auf dem ihr Name gestanden und für das sie im Kunstunterricht eine schlechte Note kassiert hatte. Es hatte sie sämtliches mütterliches Aufmunterungsgeschick gekostet, Marit davon zu überzeugen, dass sie keine zwei linken Hände hatte und eine Vier in Kunst kein Weltuntergang war.

Auf der obersten Treppenstufe, in der Haustür der Mangolds an den Türrahmen gelehnt, stand eine vielleicht Fünfzehnjährige mit verweintem Gesicht. Der Schrecken des Todes war diesem Mädchen bereits in die Glieder gefahren, zuckte an den Fingern, die nervös an den Schnüren der ausgebeulten Jogginghose zupften, und stand in den hellen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt haben musste.

„Hallo“, sagte sie und es klang ein wenig trotzig. „Ich bin Sara.“

„Hallo, Sara. Mein Name ist Inge. Inge Nowak.“ Sie gab dem Mädchen die Hand und drückte sie leicht. „Ich bin Hauptkommissarin und das ist mein Kollege Wolfram Berger. Wir wollen …“

„… herausfinden, wer es war. Ich weiß.“ Sara schluckte und Inge Nowak hätte sie am liebsten spontan in den Arm genommen, ihr über das locker mit einem Gummi zusammengehaltene schulterlange Haar gestrichen und sie für einen Moment einfach festgehalten. Aber das kam nicht in Frage. Selbst ein Teenager war als potenzieller Täter denkbar und sie durfte zu keinem Zeitpunkt die professionelle Distanz zu grundsätzlich Verdächtigen verlieren.

Erst jetzt sah Nowak Ingo Mangold hinter seiner Tochter stehen. Er trug eine helle Leinenhose und trotz der Temperatur eine dünne Strickjacke, die ihm früher einmal gepasst haben mochten, nun aber an seinem Körper herunterhingen, als steckte er in den Kleidern eines Riesen. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben und seine Miene zeigte auch an diesem Morgen keinerlei Bereitschaft zur Zusammenarbeit.

Zu seiner Tochter gewandt sagte er jedoch sanft: „Lass uns hier unten mal allein, Sara, wir haben ernste Dinge zu besprechen.“

„Ich möchte dabei sein“, erklärte Sara mit überraschend fester Stimme.

„Das geht nicht, Mäuschen … “

„Nenn mich nicht Mäuschen, Papa. Du hast doch selbst gesagt, Ben und ich müssten jetzt sehr erwachsen sein.“

In dem Gesicht des Mannes ging etwas vor, das Berger nicht deuten konnte. Aber er hielt es für angebracht, einzuschreiten.

„Wir müssen mit allen Familienmitgliedern einzeln sprechen. Das ist Vorschrift“, erklärte er sachlich. „Nachdem wir uns mit Ihrem Vater unterhalten haben, würden wir Sie gerne um ein Gespräch bitten.“

Die Tatsache, dass er das Mädchen gesiezt hatte, und die Art, wie er sie dabei angesehen hatte, wirkten Wunder.

„Okay“, willigte sie weniger abweisend ein. „Ich bin oben in meinem Zimmer.“ Damit verschwand sie in Richtung Treppe und Berger betrat vor Inge Nowak unaufgefordert das Haus.

Ingo Mangold ging nicht weiter auf das Zwischenspiel mit seiner Tochter ein und bat den Besuch in ein Wohnzimmer, das auf eine Terrasse hinausführte. Der Raum glich einem Krankenzimmer und dementsprechend roch es: Eine Mischung aus Antiseptikum und verbrauchter Luft, aufgeheizt von der Außentemperatur, die mit Sicherheit bereits auf über fünfundzwanzig Grad geklettert war, verschlug Inge Nowak beim Betreten fast den Atem. Zu gerne wäre sie auf die Terrasse in den Garten hinausgetreten, aber Ingo Mangold bot ihnen drinnen einen Platz auf dem Sofa an. Gegenüber stand ein frisch bezogenes, mobiles Krankenbett auf Rollen. Der Raum war penibel aufgeräumt, verschiedene Medikamentenschachteln lagerten auf einer Kommode, vor der ein Infusionsständer stand, und die Anordnung der Möbel im Raum deutete darauf hin, dass hier gegessen, geschlafen und ferngesehen wurde.

„Mein Reich“, erklärte Ingo Mangold mit einer kurzen ausladenden Geste. „Letzte Ruhestätte vor dem Freiburger Friedhof.“

„Sie kommen aus Freiburg?“

„Nein. Ich ende in Freiburg. Die einzige Stadt in meinem Leben, in der ich halbwegs glücklich gewesen bin.“ Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster.

„Und wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt?“, fragte sie nach.

„Dort. Bei einer Entwicklungshilfekonferenz. Vor neunzehn Jahren.“

Die Kommissarin rechnete kurz nach. Dann war Erika Mangold dabei sehr wahrscheinlich schwanger geworden.

„Eine Liebesheirat?“, fragte sie nach.

„Finden Sie, das geht Sie etwas an?“ Er wirkte nicht wirklich aggressiv, eher gleichgültig.

„Mich geht alles etwas an, Herr Mangold. Ich ermittle in einem Mordfall.“

„Dann tun Sie das auch und verplempern Sie Ihre Zeit nicht damit, einen todkranken Witwer in seiner Trauer zu stören.“ Noch immer passte sein lakonischer Tonfall nicht zu dem, was er sagte.

Berger und Nowak tauschten einen kurzen Blick.

„Wie Sie meinen.“ Die Kommissarin lächelte. „Warum sind Sie gestern Abend zu Ihrer Frau in die Kirche gefahren?“

Erschöpft fuhr sich Ingo Mangold mit der Hand über die Augen. „Meine Tochter hat mich angerufen. Erika hatte sie nicht wie verabredet abgeholt. Daraufhin habe ich versucht, meine Frau telefonisch zu erreichen, aber sie ist nicht an ihr Handy gegangen.“ Er nahm einen kleinen Schluck Wasser aus dem Glas, das auf dem Tisch vor ihm stand. „Erika war sehr zuverlässig. Sie hätte Sara nicht einfach warten lassen, ohne sich zu melden. Da habe ich mir Sorgen gemacht.“

„Woher wussten Sie denn, wo Sie war?“

„Ich wusste es nicht, ich dachte es mir.“

„Und Ihre Tochter“, wollte Erkner wissen, „wie ist die nach Hause gekommen?“

„Mit den Eltern einer Freundin aus dem Hockeyverein. Sie haben sie nach Hause gebracht.“ Mangold schloss die Augen. „Sonst noch irgendetwas?“

„Wenn Sie noch so freundlich wären, Ihre Tochter zu holen. Und halten Sie sich später bitte noch einen Augenblick bereit, damit wir Ihre Fingerabdrücke abnehmen können.“

Überrascht öffnete Ingo Mangold die Augen wieder und für einen Moment schien es, als wollte er etwas sagen. Dann aber stand er auf, um gebeugt und mit langsamen, kleinen Schritten das Zimmer zu verlassen.

„Kluger Zug“, bemerkte Berger und stellte sich an die Schwelle der Terrassentür, um frische Luft zu schnappen. Der Garten machte einen wilden und doch gepflegten Eindruck. Hier wurde regelmäßig gegossen, und auch die Rosen würden nicht mehr blühen, hätte sie niemand zurückgeschnitten. Bunte Sommerblumen und Stauden wucherten auf kleinen Inseln in einer länger nicht gemähten Wiese, in deren Mitte Berger einen kleinen Teich ausmachte. Es summte und flatterte, die bunten Blätter und das Wasser zogen alle Arten von Insekten an, die auch vor der Terrasse und Berger nicht Halt machten. Ein Nachteil der Natur, wie er fand.

Kurz darauf erschien Sara im Wohnzimmer und setzte sich an die Stelle auf das Sofa, wo zuvor ihr Vater gesessen hatte.

„Kannst du uns etwas über deine Mutter erzählen?“, fragte Inge Nowak behutsam.

„Sie meinen: über meine Eltern. Ob ich meinem Vater zutraue, dass er sie umgebracht hat?“ Das Mädchen sah sie herausfordernd an, und Inge Nowak war erstaunt über die Wut in ihrem Blick.

„Wenn du willst, auch das.“

Sara kaute an ihren Fingernägeln. „Sie haben sich immer gestritten, wenn sie alleine waren. Nach dem Essen, im Urlaub am Strand, sonntagnachmittags. Über alles und nichts, über meinen Bruder und mich, über den Garten, über Oma und Opa. Bevor Papa krank wurde, haben sie andauernd über Scheidung geredet. Wer das Sorgerecht für uns bekommt, wer das Haus behält. Mama hat gesagt, ohne ihre Kinder geht sie nirgends hin, und Papa hat gesagt, er tut uns keine Rabenmutter an. Danach sind sie zu uns gekommen und haben abwechselnd bei Ben und mir Schönwetter gemacht.“

„Und zu wem hast du gehalten?“

Inge Nowak schaute ihren Kollegen überrascht an. So eine Frage konnte auch nur ein Mensch stellen, der keine Kinder hatte. Doch zu ihrer Verwunderung sagte Sara ohne Zögern: „Zu Mama, natürlich.“

„Warum?“

Sara stiegen Tränen in die Augen. „Weil sie okay war.“ Sie sah von Nowak zu Berger und wieder zurück. „Ich glaub… “ Bevor sie aussprechen konnte, was sie gedacht hatte, wurde sie von einem heftigen Schluchzen ergriffen, das ihren ganzen Körper erfasste. Inge Nowak gab nun doch einer Art mütterlichem Impuls nach, setzte sich neben Sara und umfasste ihre Schultern.

„Ist ja gut, beruhige dich …“

Statt sich zu beruhigen, sprang das Mädchen auf und schlug den Arm der Kommissarin weg.

„Gar nichts ist gut!“, schrie sie. „Verstehen Sie denn überhaupt nichts? Ein Scheißdreck ist gut!“

Dann rannte sie durch die geöffnete Balkontür über die Terrasse in den Garten und war verschwunden.

Inge Nowak atmete tief durch.

Sie hätte es besser machen müssen.

Ben Mangold war das Gegenteil seiner Schwester. Beherrscht und ruhig stand der Neunzehnjährige Rede und Antwort.

„Seit mein Vater krank ist, ist er ein anderer Mensch. Verbittert, oft nicht mehr ansprechbar. Daran sind die Medikamente schuld.“ Die Worte kamen gut gewählt über seine Lippen, als hätte er sie zuvor im Stillen eingeübt.

„Sara behauptet, eure Eltern hätten oft Streit gehabt?“

Er nickte. „Fast immer.“

„Warum haben sie sich nicht getrennt?“

„Unsretwegen. Dabei hätten wir es in Ordnung gefunden. Sara wäre bei meiner Mutter geblieben und ich bei meinem Vater.“

„Warum?“

„Weil er mich braucht.“

„Wegen seiner Krankheit?“

„Nein.“

Die Kommissarin beschloss, nicht weiter zu bohren, sondern das Thema zu wechseln.

„Weshalb haben deine Eltern denn so viel gestritten?“

„Sie konnten nicht anders.“ Sein Mund verzog sich zu etwas wie einem Lächeln.

„Wieso glaubst du das?“

„Weil sie immer schon so waren. Sie hatten Streit, solange ich zurückdenken kann. Haben sich angeschrien, Sachen an die Wand geworfen, Türen geknallt – Hauptsache laut. Am Ende haben sie sich immer wieder eingekriegt. Ich glaube, dass keiner von beiden es lange ohne den anderen ausgehalten hätte. Sie waren ein eingespieltes Team, irgendwie.“

Der junge Mann schob sich mit dem Zeigefinger die modische Hornbrille ein wenig höher. Anders als seine Schwester hatte er sehr dunkle Augen, die nicht nervös umherwanderten, sondern ruhig auf die Kommissarin gerichtet waren. Fast war ihr sein Blick ein wenig unheimlich.

„Sie denken, Papa war’s, stimmt’s?“

„Wir denken noch gar nichts. Wir stehen erst ganz am Anfang unserer Ermittlungen.“ Sie musterte ihn eindringlich. „Aber wieso kommst du darauf?“

„Jeder weiß, dass er ein Choleriker ist.“ Ben legte den Kopf schief. „Und alle denken, dass er sich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle hat.“

„Und das ist nicht wahr?“

Ben sah Inge Nowak an, als bemitleidete er sie für die Frage. „Er stirbt, Frau Kommissarin. Langsam und elend. Reicht das nicht, um auszuflippen?“

Sie ignorierte die Frage und wechselte das Thema. „Wann hast du deine Mutter eigentlich das letzte Mal gesehen?“

„Gestern morgen beim Frühstück.“

„Wirkte sie da irgendwie nervös?“

Ben schüttelte den Kopf. „Nein, sie war wie immer: gut gelaunt und in Eile.“ Nun sah man ihm an, dass hinter der erwachsener Fassade ein großer Junge steckte, der mit seiner Fassung rang.

„Falls dir noch irgendetwas einfällt, was von Bedeutung sein könnte, auch wenn es dir noch so unwichtig vorkommt, etwas, was deine Mutter gesagt hat, oder jemand, mit dem du sie gesehen hast, der nach ihr gefragt hat – rufst du mich an, ja?“

Ben Mangold nahm Nowaks Visitenkarte entgegen und nickte. „Natürlich.“ Er hatte sich wieder unter Kontrolle.

Ingo Mangold saß aufrecht auf dem Küchenstuhl und lauschte angestrengt den Worten seines Sohnes. Niemals hatte er sich einem Menschen verbundener gefühlt als diesem Jungen. Und deshalb hatte er diesen einen Fehler nicht begangen: Nähe zu ihm aufzubauen. All die Jahre hatte er versucht, eine gesunde Distanz zu Ben zu halten, es reichte, wenn er seiner Mutter verfallen war. Sara dagegen berührte ihn kaum. Sie war das Ergebnis einer gezähmten Liebe, und vielleicht war es das, was er ihr nicht verzeihen konnte: dass sie Erika und ihn zu einem ganz normalen Ehepaar gemacht hatte. Er bemühte sich, Sara den diffusen Unmut, den er gegen sie hegte, nicht spüren zu lassen. Ihr schien seine Abgewandtheit nicht viel auszumachen, vielleicht waren alle Väter so, und die Töchter hielten sich an ihre Mütter. Er selbst war derjenige, der am meisten unter seiner Gefühllosigkeit litt, gerade als Sara noch klein gewesen war und er in sich keinerlei Empfindung für sie ausmachen konnte.

„Ein Monster“, dachte er dann, wenn er sie verstohlen betrachtete, „ich bin ein emotionsloses Ungeheuer, das nicht in der Lage ist, seine eigene Tochter zu lieben.“

Mit Ben war es etwas anderes. Von Anfang an hatte er den Jungen gewollt.

„Bist du dir sicher?“, hatte Erika ihn auf dem Weg zum Standesamt gefragt und war zögernd stehen geblieben.

„Ganz sicher“, hatte er geantwortet und sie hatten sich mitten auf der Straße geküsst.

Seine Eifersucht war grenzenlos, es war ihm nicht geheuer gewesen, dass sie ihn wollte. Er hatte ihr nicht getraut, sich gewehrt, ihr das Schlimmste von sich erzählt. Sie war geblieben und hatte das Wunder vollbracht, ihn zu beruhigen, Farbe in seine trüben Gedanken zu zaubern. Auf sonderbare Weise hatte sie ihn zusammengehalten, die Stimmen in ihm gebändigt und ihn besänftigt. Jedenfalls eine Weile. Aber das war lange her. So lange, dass es ihm manchmal wie ein Traum vorkam.

Zuerst war die Ernüchterung gekommen, dann die Starre und später die Krankheit. Jahrelang hatte ihn die Wut zusammengehalten. Doch seit er von den vernichtenden Blutwerten wusste, fiel er mehr und mehr auseinander. Die Panik hielt ihn eisern im Griff und das einzige Mittel dagegen war der endgültige Rückzug von seiner Familie. Erika wollte ihm die sture Einsamkeit nicht zugestehen. Den Zustand, an ihm nicht teilzuhaben, hielt sie nicht aus, die Wahrheit ertrug sie nicht.

„Es muss ein Mittel geben. Spezialisten. Wir dürfen nicht aufgeben!“

Wir. In solchen Momenten konnte er sich am allerwenigsten damit abfinden, dass er dieses Wir, an dem er sich beinahe zwei Jahrzehnte abgearbeitet hatte, nicht mehr fühlen konnte. Wenn er es überhaupt jemals gefühlt hatte. Das Du hatte er gespürt und es haben wollen, vom ersten Augenblick an. Heirat als Verzweiflungstat. Die Angst, sie zu verlieren, bevor er sie jemals besessen hätte, hatte ihn verrückt gemacht. Unnahbar war sie gewesen, verschlossen und ernst. Mit einem Gott an der Hand, den sie enttäuscht für alles verantwortlich machte, was ihr Gerechtigkeitsempfinden störte. In einem hellhörigen Seminarhaus hatten sie sich das erste Mal lautlos in einem viel zu kleinen Bett geliebt. Schon da wusste er, er würde bei ihr bleiben, um jeden Preis. Vom ersten Moment an, waren sie einander ausgeliefert, dieselbe Macht, die ihre Körper leidenschaftlich in die Tiefe zog, wenn sie einander berührten, schleuderte sie im nächsten Moment aufeinander, ihre Herzen zu zerreißen mit einem Schlag. Er hatte sich damals die Frage sowenig überlegt wie sie die Antwort: „Ja, ich will.“

Im Nebenzimmer hörte er, wie sein Sohn sich bereitwillig Fingerabdrücke abnehmen ließ. Auch er würde sich gleich behandeln lassen müssen wie einen Verbrecher.

Zwei

Hannes pickte nur. Von Hunger verstand er nichts. Und doch fragte er zwischen den Kuchenkrümeln danach.

„Die Leute sagen, du warst im KZ.“ Er sah mich an und seine Augen flatterten.

Zwei Buchstaben, die niemand mehr kleinschreibt, wenn sie alleingelassen hintereinander stehen. Unzertrennlich, wie zwei, die der Zufall in einen Zug gesetzt hat, der an den Pforten der Hölle endete. Man nimmt eine an die Hand, weil sie da und nicht dort steht, weil es Schläge gibt für das aus der Reihe tanzen auf dem Weg zur Baracke. Noch in eigenen Schuhen, noch mit Namen, noch voller Hoffnung, drinnen könnte es menschlicher sein als draußen.

Das wollte ich Hannes nicht erzählen.

„Was fällt dir ein?“, presste ich hervor, zwischen den Zähnen keinen Spielraum, um zu lügen.

Er schob die Reste auf dem Teller hin und her.

„Wir haben das in der Schule durchgenommen. Filme gesehen. Über die Gaskammern und die Berge voller Zahngold und Brillen.“

Wie er dasaß, mit den kurzen Armen an den Schultern, an denen nervös die Finger kreisten, in seinem Kopf ein Kampf auf engstem Raum.

„Wenn ich damals schon auf der Welt gewesen wäre – mich hätten sie auch abgeholt.“ Einatmen, ausatmen. „Oder?“

Die Antwort sah er jeden Tag im Spiegel.

Nach all den Jahren reden, statt die fahrigen Gedanken zu verscheuchen wie unliebsame Fliegen. Meine Stimme stolperte durch die stumme Erinnerung.

„Wenn man gewusst hätte, wozu sie fähig waren, hätte man vielleicht fortlaufen können. Aber das Herz hält sich an einem Gefühl fest, das Zuhause heißt. Auch wenn die Erde, auf der es steht, längst bebt. Im Krieg muss man glauben, man käme davon, weißt du? Ich hatte keine Angst und was noch viel schlimmer war – ich hatte keine Ahnung. Mit zweiundzwanzig ist man federleicht, man denkt sich nicht vogelfrei. Das tun nur die Fänger. Stiefel bis zum Knie und darüber quollen die strammen Hosen, dass du dachtest, ihr Fleisch ist aus Eisen. Sie kamen im Morgengrauen, zu dritt, und sie ließen mir keine Zeit, das Glück zurückzulassen.Ich nahm alles mit: den Geschmack salziger Haut, den Duft nach warmem Haar, die Schmetterlinge im Bauch. Nach ein paar Stunden hatte ich alles herausgewürgt und sie ließen es mich wieder und wieder schlucken.“

Die Suppe auslöffeln, die du dir eingebrockt hast.

Hannes hörte zu, ich dachte: Bewege ich überhaupt die Lippen?