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www.piper.de

ISBN 978-3-492-96943-7

Juli 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Ullstein Bild (Ehepaar Mann, Ehepaar Kafka), Corbis/Bettman (Ehepaar Werfel)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Die Frauen der Dichter

Ihr Leben als Muse, Mutter, Managerin

Eine alte Binsenweisheit lautet: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau. Heute, im 21. Jahrhundert, in dem die meisten Frauen selbst »ihren Mann stehen«, mag ein solcher Spruch veraltet und ein wenig lächerlich erscheinen. Für die Protagonistinnen dieses Buches aber hatte er durchaus seine Berechtigung. Die meisten von ihnen fanden es ganz selbstverständlich, ihren schreibenden Ehemännern oder Geliebten den Rücken freizuhalten, sich um Haushalt und Kinder zu kümmern und die eigenen Interessen hintanzustellen, ganz gleich, welche Bildung, Talente und Interessen sie selbst mitbrachten.

Bekanntestes Beispiel ist wohl Katia Pringsheim, immerhin eine der ersten Abiturientinnen Münchens. 50 Jahre lang war sie mit Thomas Mann verheiratet, der zum Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens wurde. Dass der Dichter überall – ob in München, Princeton, Los Angeles oder Küssnacht – das ideale Ambiente vorfand, ohne das er nicht hätte arbeiten können, war nur seiner Frau zu verdanken. Annemarie Böll wiederum arbeitete so lange als Lehrerin, bis ihr »Hein« endlich in der Lage war, seine wachsende Familie als Schriftsteller zu ernähren. Dankbar gab er selbst zu: »Ohne meine Frau wäre ich verloren.«

Verloren wäre möglicherweise auch Bertolt Brecht gewesen, hätte er nicht Helene Weigel an seiner Seite gehabt. Sie war nicht nur das »Mädchen für alles«, das den gesamten Alltag managte, als Schauspielerin verkörperte sie später auch die Rollen, die Brecht ihr auf den Leib geschrieben hatte. Wie groß ihre Bedeutung für das Werk ihres Mannes tatsächlich war, erkannte auch Schauspielkollege Ernst Geschonnek: »Ohne die Weigel hätte Brecht niemals die Kraft und den Ruf gehabt, das zu werden, was er dann geworden ist.«

Meist waren die Frauen der Dichter auch die wichtigsten Mitarbeiterinnen ihrer schreibenden Ehemänner. Sie lasen Korrektur, spendeten Lob oder übten Kritik und gaben wichtige Anregungen. Einige von ihnen griffen auch selbst zur Feder. Bettine von Arnim wurde jedoch nur nach dem Tod ihres Mannes literarisch tätig, und dass Veza Canetti eine talentierte Schriftstellerin gewesen war, erfuhr die Öffentlichkeit erst, als die Frau des Nobelpreisträgers Elias Canetti schon längst gestorben war.

Natürlich ergänzten sich nicht alle Dichterpaare auf diese ideale Weise. Die Ehe von Rainer Maria Rilke und Clara Westhoff scheiterte schon nach wenigen Monaten, weil der sensible Dichter das Leben mit Frau und Kind nicht ertragen konnte und die Einsamkeit bevorzugte. Aus Franz Kafka und seiner langjährigen Brieffreundin Felice Bauer wurde erst gar kein Ehepaar, obwohl sie sich zweimal verlobt hatten. Doch Kafka hatte Angst, dass sich die traute Zweisamkeit negativ auf seine literarische Produktivität auswirken würde. Und Alma Mahler-Werfel, die sich gerne als kunstsinnige Muse stilisierte, hat gleich in drei Ehen bewiesen, dass es ihr immer nur um eines ging, nämlich um sich selbst. Trotzdem waren die Männer verrückt nach ihr, vielleicht auch, weil sie in ihr die »treibende Kraft« erkannten, die sie künstlerisch inspirierte. Franz Werfel wurde erst zum erfolgreichen Autor, nachdem ihn Alma davon überzeugen konnte, nicht nur expressionistische Gedichte zu schreiben – selbst wenn sie hauptsächlich finanzielle Motive hatte.

Leicht war das Leben an der Seite der Dichter in keinem Fall. Doch gerade das zeigt, dass es tatsächlich starke Frauen gewesen sein müssen, die hinter ihren erfolgreichen Männern standen. Sie gingen mit ihnen durch dick und dünn, ertrugen ihre Launen und Eigenarten, teilten ihre Geldsorgen, fanden sich mit ihren Affären ab und folgten jenen bereitwillig ins Exil, die die Nationalsozialisten als missliebige Autoren verfolgten und aus Deutschland und Österreich vertrieben.

Katia Mann hat als alte Dame einmal beklagt, sie habe in ihrem Leben nie das tun können, was sie eigentlich hätte tun wollen. Tatsächlich aber gab es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur wenige Frauen, die wirklich ein selbstbestimmtes Leben führen konnten, auch wenn sie nicht mit einem berühmten Dichter verheiratet waren.

»Meine kleine Hausfreundin«

Christiane Vulpius (17651816) und Johann Wolfgang von Goethe

Es gehörte schon eine ordentliche Portion Mut dazu, den berühmten »Dichterfürsten« so einfach anzusprechen und mit einer Bitte zu behelligen. Doch für die couragierte Christiane Vulpius schien das die einzige Möglichkeit zu sein, ihrem Bruder endlich eine berufliche Perspektive zu verschaffen. Dabei hatte Christian August Vulpius (17621827) inzwischen mit seinem Jura-Studium aufgehört und durchaus die Möglichkeit, sich am Weimarer Hof um eine Anstellung zu bemühen. Aber der junge Mann verfolgte ganz andere Pläne. Er träumte von einer Karriere als Schriftsteller, hatte auch bereits mehrere Texte veröffentlicht, darunter den Roman »Die Abenteuer des Ritters Palmendos« sowie mehrere Gedichte, die auch Johann Wolfgang von Goethe bekannt gewesen sein dürften. Doch die mageren Einnahmen aus der schriftstellerischen Tätigkeit reichten weder zum Leben noch zum Sterben. Christiane Vulpius, trotz allem überzeugt vom Talent ihres Bruders, entschloss sich daher, bei Goethe vorzusprechen, der soeben von seinem knapp zweijährigen Italienaufenthalt nach Weimar zurückgekehrt war. Sie hoffte inständig, der berühmte Dichter würde seine guten Kontakte zu Verlegern und Zeitschriften spielen lassen, sodass der bislang erfolglose Christian August in absehbarer Zeit von seiner literarischen Arbeit leben konnte.

Die erste Begegnung von Christiane Vulpius und Johann Wolfgang von Goethe fand wahrscheinlich am 12. Juli 1788 statt. Der Ort des denkwürdigen Geschehens ist leider nicht bekannt. Lange Zeit hieß es, Christiane habe den Dichter im Gartenhaus in den Ilmwiesen aufgesucht und tatsächlich wäre diese idyllische Umgebung geradezu ideal für den Anfang einer jungen Liebe gewesen. Doch da Goethe erst seit Juni wieder in Weimar lebte, war das Gartenhaus zu diesem Zeitpunkt noch vermietet. Vermutlich wird Christiane Vulpius also am Frauenplan erschienen sein, um dort ihre Bitte vorzutragen. Johann Wolfgang von Goethe hörte sich geduldig an, was die junge Frau zu sagen hatte, und versprach anschließend, sein Bestes zu versuchen, um ihrem Bruder zu helfen.

Tatsächlich erwirkte er, dass Christian August Vulpius 1789 eine Anstellung als Sekretär bei dem Leipziger Buchhändler und Verleger Georg Joachim Göschen fand, sodass der noch unbekannte Dichter zumindest für seinen Lebensunterhalt sorgen konnte.1 Zu diesem Zeitpunkt waren Christiane Vulpius und Johann Wolfgang von Goethe schon längst ein Liebespaar und ganz Weimar zerriss sich das Maul darüber, was der Herr Geheimrat wohl an dieser einfachen »Magd«, die sich nicht auf höfischem Parkett bewegte, finden mochte. Denn dass Christiane ausgesprochen tüchtig war und schon in jungen Jahren viel für ihre Familie getan hatte, interessierte in der feinen Gesellschaft schließlich niemanden.

Vom Tode umgeben – Christianes Kindheit

Dabei hatte der Adel eigentlich gar keinen Grund, so verächtlich auf Goethes »Magd« hinabzublicken, denn Christiane Vulpius kam keineswegs aus einfachen Verhältnissen, auch wenn ihre bürgerliche Familie mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatte.

Weil das Geld schon damals knapp war, hatte Christianes Vater Johann Friedrich Vulpius (17251786) sein Jura-Studium vorzeitig beenden und sich eine Zeitlang mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen müssen. Er war schon 34 Jahre alt gewesen, als er 1759 endlich am Weimarer Fürstenhof unterkam, wo mehr als ein Viertel der rund 6000 Bewohner des Städtchens ihr Auskommen fanden. Zwar war das beschauliche Weimar an der Ilm Residenzstadt von Sachsen-Weimar-Eisenach, einem der ältesten und kleinsten Fürstentümer Thüringens, doch besonderer Wohlstand herrschte hier keineswegs. Die Gassen waren eng und winkelig, die meisten Häuser mit Stroh oder Holzschindeln gedeckt. Schmucke Bürgerhäuser suchte man damals noch vergebens.

1760 heiratete Johann Friedrich Vulpius die erst 18-jährige Christiane Margarethe Riehl (17421771), die allem Anschein nach eine größere Mitgift in die Ehe einbrachte. Hinzu kam eine monatliche Unterstützung durch die Riehls, sodass die junge Familie in den folgenden Jahren recht gut leben konnte. Man bezog eine Wohnung in der Jakobsgasse, nicht weit vom Weimarer Schloss entfernt. Nachdem 1762 das erste Kind zur Welt gekommen war, Sohn Christian August, dem ein weiterer, früh verstorbener Sohn folgte, wurde am 1. Juni 1765 Tochter Johanna Christiana Sophie, genannt Christiane, geboren und wenige Tage später in der Hofkirche – der heutigen Jakobskirche – evangelisch getauft.

Familie Vulpius wuchs weiter, doch auch der Tod schlug immer wieder zu. 1767 kam eine zweite Tochter zur Welt, die nach nur vier Monaten an den Pocken starb, 1769 wurde mit Johann Gottlieb Heinrich wieder ein Sohn geboren.

In diesem Jahr begann sich die finanzielle Situation der Familie dramatisch zu verschlechtern, denn mit dem Tod von Vater Riehl fiel die monatliche Unterstützung künftig weg und das schmale Einkommen, das Johann Friedrich Vulpius erhielt, reichte an allen Ecken und Enden nicht aus. Dann aber schlug das Schicksal erneut zu: Von der schweren Geburt ihres sechsten Kindes, das nur kurze Zeit später starb, erholte sich die junge Mutter nicht mehr und fand am 5. Mai 1771 im Alter von nur 29 Jahren selbst den Tod. Christiane, knapp sechs Jahre alt, und ihre beiden Brüder waren nun Halbwaisen. In dieser traurigen Situation konnte es wohl als Segen gelten, dass Juliana Augusta, die 37-jährige Schwester von Vater Vulpius, die schon vorher mit im Haushalt gelebt hatte, problemlos in ihre neue Rolle als Ersatzmutter hineinwuchs.

Über Christianes Kindheit ist kaum etwas bekannt, auch nicht, welche Schule sie besucht hat. Sie konnte zwar lesen und schreiben, verfügte aber offenbar über keine umfassende Bildung. Das freilich war für ein Mädchen damals keineswegs ungewöhnlich. Schon früh wird Christiane im Haushalt mit angepackt, Wasser vom Brunnen geholt und Tante Juliana Augusta bei der Gartenarbeit geholfen haben.

Nachdem Johann Friedrich Vulpius Weihnachten 1774 ein zweites Mal geheiratet hatte, die 1745 geborene Johanna Christiana Dorothea Weiland, kam nur zwei Monate später Christianes Halbschwester Ernestina Sophia Louisa (1775–?) zur Welt. Schon bald darauf musste die Familie wieder eines ihrer Kinder zu Grabe tragen: Christianes Bruder Johann Gottlieb Heinrich starb im Herbst 1776 im Alter von erst sieben Jahren. Man mag unwillkürlich an die alte Mahnung denken: Mitten im Leben sind wir vom Tode umgeben. Drei weitere Halbgeschwister, die im Laufe der nächsten Jahre zur Welt kamen, starben ebenfalls im Kindesalter.

Der ganze Stolz der Familie Vulpius war Sohn Christian August, der 1781 das Elternhaus verließ, um zum Jura-Studium nach Jena zu gehen. Finanziert wurde die Ausbildung durch ein herzogliches Stipendium, denn Vater Vulpius sah sich nicht in der Lage, den Sohn finanziell zu unterstützen. Im Gegenteil, bald war er selbst auf Hilfe angewiesen und die Familie musste von dem leben, was wir heute als Sozialhilfe bezeichnen. Wegen eines nicht näher bekannten Amtsvergehens verlor Johann Friedrich Vulpius 1782 seine Anstellung am Weimarer Hof, wurde zunächst suspendiert, schließlich sogar entlassen. Nur ein sogenanntes »Gnadengehalt« des Herzogs konnte die Familie jetzt noch vor dem Hungertod bewahren.

Arbeit als Putzmacherin

Christiane Vulpius, damals 17 Jahre alt, wollte nicht tatenlos zusehen, wie es mit ihrer Familie immer weiter bergab ging, zumal die Stiefmutter in letzter Zeit häufiger kränkelte. Und so traf die junge Frau eine außergewöhnliche Entscheidung: Sie wollte Geld verdienen, und zwar auf eine ausgesprochen ehrbare Art und Weise.

Christiane war nämlich nicht die einzige Bürgerstochter in Weimar, die etwas zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen wollte oder musste, selbst wenn in diesen Kreisen die Erwerbstätigkeit von Mädchen eigentlich ausgeschlossen war. Schließlich sollten sie die Familie nicht in Verruf bringen, indem sie zum Beispiel als Dienstmagd arbeiteten. Doch zum Glück hatten zwei Weimarer Schwestern für diese Notlage eine gute Lösung gefunden. Die Schwestern Caroline Bertuch und Auguste Slevoigt gründeten 1782 eine kleine Manufaktur, in der Dekorationsmaterial für Damenhüte hergestellt wurde. Bislang mussten die kunstvollen Stoffblumen, die die Kopfbedeckungen der modebewussten Damen zierten, für viel Geld aus Paris importiert werden. Nun erhielten handwerklich und künstlerisch talentierte Bürgermädchen vor Ort die Möglichkeit, sich zu Putzmacherinnen ausbilden zu lassen und die Stoffblumen in Weimar herzustellen. Im November 1783 waren in der Werkstatt, die von Auguste Slevoigt geleitet wurde, rund 20 junge Frauen beschäftigt, unter ihnen Christiane Vulpius. Zusammen saßen sie an langen Tischen und arbeiteten nach handgezeichneten Vorlagen von Knospen, Blüten und Blumenblättern. Der Umgang mit Seide, Plüsch, Samt und Taft, mit Draht, Schere und Nähnadel erforderte eine ganze Menge Geschick und große Professionalität. Schließlich ging es hier nicht um ein hübsches Hobby für gelangweilte Damen, im Gegenteil. Die Produkte, die in der Manufaktur hergestellt wurden, mussten höchsten Anforderungen entsprechen und mit den Pariser Stoffblumen in jeder Hinsicht konkurrieren können. Neben den künstlichen Blumen wurden noch andere Dinge angefertigt, zum Beispiel hübsch bestickte Beutel, Handarbeitskörbchen und Ähnliches mehr. Das Geschäft florierte und Christiane Vulpius fühlte sich in der freundlichen Atmosphäre des Hauses am Baumgarten ausgesprochen wohl. An sechs Tagen in der Woche arbeitete sie hier mehrere Jahre lang – bis sie im Juli 1788 Johann Wolfgang von Goethe begegnete.

Im Februar 1783 starb Christianes kranke Stiefmutter im Alter von 36 Jahren. Jetzt lebten im Haus nur noch der Vater und ihre achtjährige Halbschwester Ernestine sowie Tante Juliana Augusta, die den Haushalt versorgte. Mit dem Geld, das die Älteste verdiente, kam die Familie recht gut über die Runden.

Bei der Arbeit blühte Christiane regelrecht auf. Sie war nicht nur stolz auf ihre Kreativität und künstlerische Leistung, sie hatte auch viel Freude beim Zusammensein mit ihren Kolleginnen. Schließlich ist anzunehmen, dass sich die jungen Damen bei der Arbeit auch ausgiebig über den jüngsten Weimarer Klatsch und Tratsch unterhalten haben. Im April 1783 wird es hingegen ein ausgesprochen ernstes Thema gewesen sein, das die fleißigen Putzmacherinnen beschäftigte und über das in ganz Weimar gesprochen wurde: In ihrer Verzweiflung hatte Anna Catharina Höhn, eine ledige junge Frau, ihr neugeborenes Söhnchen getötet. Das Gericht verurteilte sie daraufhin zum Tode. Noch saß sie im Zuchthaus, bis das Urteil im November des Jahres vollstreckt wurde. Als Jurist war auch Johann Wolfgang von Goethe mit diesem Fall befasst. Er sprach sich ebenfalls für die Todesstrafe aus.2

Dichter und Geheimrat – Goethe in Weimar

Drei Jahre nach dem Tod ihrer Stiefmutter starb Christianes Vater im März 1786 im Alter von 61 Jahren. Das »Gnadengehalt«, das er von Herzog Karl August bezogen hatte, wurde jetzt in eine Waisenpension für Christiane und ihre Halbschwester Ernestine umgewandelt, sodass es im Hause Vulpius zunächst nicht zu spürbaren finanziellen Einschränkungen kam. Als jedoch Christian August Vulpius im Mai 1788 nach beendetem (oder vielleicht auch abgebrochenem) Studium und ohne Geld in der Tasche nach Weimar zurückkehrte, war die Haushaltskasse wohl schon nach kurzer Zeit wieder leer.

Daher fasste sich Christiane ein Herz und machte sich am 12. Juli 1788 auf den Weg zu Johann Wolfgang von Goethe, dem berühmten deutschen Dichter und »Star« des Weimarer Musenhofs.

Schließlich gab es in dessen Leben durchaus Parallelen zum Werdegang ihres Bruders, denn auch Goethe hatte seinerzeit Jura studiert, sich dann aber für die Dichtung entschieden.

Geboren wurde Goethe am 28. August 1749 in Frankfurt am Main als Sohn des kaiserlichen Rates Johann Caspar Goethe und seiner Frau Catharina Elisabeth. Vorgesehen war, dass er als Jurist eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte. Tatsächlich arbeitete er nach dem Studium eine Zeit lang als Anwalt, doch seine große Leidenschaft gehörte schon damals der Literatur. Immer wieder griff er zu Feder und Tinte und verfasste kleinere Stücke, bis ihm 1774 mit »Die Leiden des jungen Werther« der literarische Durchbruch gelang.

Mit Frauen hatte Goethe allerdings weniger Glück. Seine Verlobung mit der Frankfurter Kaufmannstochter Lili Schönemann hielt nur kurze Zeit und so stand er 1775 sowohl beruflich als auch privat an einem Scheideweg.

Nur wenig später aber sollte sich sein Leben grundlegend verändern. Noch im gleichen Jahr lernte Goethe den jungen Herzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (17571828) kennen, der soeben erst die Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Der 18-Jährige, unterwegs auf seiner »Kavalierstour« durch Deutschland, wollte aber nicht nur mit dem berühmten Autor des »Werther« zusammentreffen, er war auch auf der Suche nach klugen Ratgebern für seine neue Aufgabe. Und weil er einen staatspolitisch orientierten Juristen gut gebrauchen konnte, lud er Goethe kurzerhand ein, mit ihm nach Weimar zu kommen. Der zögerte nicht lange und machte sich noch im November 1775 auf den Weg nach Thüringen.

Der junge Herzog stellte ihm das heute berühmte Gartenhaus in den Ilmwiesen zur Verfügung, in dem Goethe in den nächsten sieben Jahren wohnte, bevor er in das repräsentative Haus am Frauenplan umzog. Im Juni 1776 wurde er zum Geheimen Legionsrat und damit zum Staatsbeamten ernannt. Die Zusammenarbeit mit Herzog Karl August funktionierte hervorragend, aber auch privat waren die beiden jungen Männer bald gute Freunde. Natürlich lag auch die Weimarer Damenwelt dem gut aussehenden Dichter zu Füßen, zumal es Goethe rasch gelernt hatte, den galanten Höfling zu geben. Er ging im Weimarer Schloss ein und aus und wurde schon bald zum Mittelpunkt des berühmten Musenhofes von Herzogin-Mutter Anna Amalia. Dabei handelte es sich um einen literarischen Salon, der in der Folgezeit etliche Dichter und Denker aus ganz Deutschland anzog, darunter auch Wieland, Herder und Schiller. Anna Amalia war damals die bedeutendste Förderin der deutschen Sprache und Literatur.

Doch die »Frau fürs Leben« fand Goethe auch hier nicht, wenngleich ihn eine ganz besondere Freundschaft mit der sieben Jahre älteren Charlotte von Stein verband, einer früheren Hofdame Anna Amalias. Von ihr schwärmte Goethe schon im Februar 1776: Eine herrliche Seele ist die Frau von Stein, an die ich so was man sagen mögte, geheftet und genistelt bin. Charlotte von Stein wurde zu Goethes Muse, seiner engsten Vertrauten und »Seelenfreundin«. Es ist nämlich kaum anzunehmen, dass diese Beziehung jemals die platonische Ebene verlassen hat. Schließlich war Charlotte von Stein verheiratet und Mutter von mehreren Kindern.

Nach gut zehn Jahren in Weimar verspürte Goethe wohl einen gewissen Überdruss am politischen Tagesgeschäft und dem immer gleich verlaufenden höfischen Leben. Er hatte eine unbändige Lust auf etwas Neues und machte sich deshalb auf den Weg nach Italien, wo er fast zwei Jahre lang blieb. Allem Anschein nach hat der Dichter hier, unter der wärmenden südlichen Sonne, nicht nur neue Anregungen erhalten, sondern auch die Sexualität für sich entdeckt. In erotischer Hinsicht war der Dichter ein Spätzünder. Bislang hatte sich Goethe nämlich durch eine auffallende Bindungsscheu ausgezeichnet und meist verheiratete Frauen bevorzugt, die er aus der Ferne anhimmeln konnte. Er scheute aber auch Kontakte mit Prostituierten, denn wie viele junge Männer seiner Zeit hatte Goethe eine panische Angst vor den verheerenden Folgen der Syphilis. Diese Angst scheint er erst während seines Italien-Aufenthalts überwunden zu haben …

Skandal in Weimar

Soeben zurück aus Italien war Goethe im Juli 1788 noch voll frischer Erinnerungen an seine amourösen Abenteuer, als er die 23-jährige Christiane Vulpius kennenlernte. Mit den schönen Römerinnen konnte die junge Weimarerin vermutlich nicht mithalten, doch irgendetwas muss ihn angezogen haben, wobei er zunächst vielleicht nur ein kurzes Abenteuer im Sinn hatte. Christiane aber war so ganz anders als die Damen der höfischen Gesellschaft, mit denen Goethe bislang in Weimar zu tun gehabt hatte. Wirklich hübsch war sie nicht, hatte wohl eher etwas herbe Gesichtszüge. Doch sie wirkte sehr reif und verantwortungsbewusst für ihr Alter, war mutig, lebenserfahren und eigenständig, kurz: eine durchaus interessante Persönlichkeit.

Und so begann im Juli 1788 eine stürmische Liebesaffäre, von der man in Weimar freilich noch nichts ahnte. Es fiel nur auf, dass sich Goethe bei Hof ziemlich rar machte, aber das konnte schließlich alle möglichen Gründe haben. Doch nach einem Dreivierteljahr platzte die Bombe: Allem Anschein nach wollte der 16-jährige Fritz von Stein im Frühjahr 1789 seinem Freund Goethe einen Besuch abstatten. Stattdessen traf er im Gartenhaus an der Ilm, das dem Dichter jetzt wieder zur Verfügung stand, auf Christiane! Natürlich erzählte der junge Mann alles brühwarm seiner Mutter weiter, die, wie nicht anders zu erwarten, aus allen Wolken fiel. Goethe sei sinnlich geworden, meinte sie pikiert; entsetzt, dass sich ihr »Seelenverwandter« mit einem liederlichen Frauenzimmer eingelassen hatte. Dass sich Charlotte von Stein beleidigt zurückzog und künftig kein gutes Haar an der armen Christiane ließ, muss wohl nicht extra erwähnt werden. Über Jahre sollen Goethe und Frau von Stein kein Wort miteinander gewechselt haben.

Der Tratsch über die »unmögliche« Liebesaffäre des Dichters ließ sich nun nicht mehr aufhalten. Schon am 8. März 1789 schrieb Caroline Herder an ihren Mann nach Rom: Ich habe nun das Geheimnis von der Stein selbst, warum sie mit Goethe nicht mehr recht gut sein will. Er hat die junge Vulpius zu seinem Clärchen u. läßt sie oft zu sich kommen.

Noch ahnte Christiane nichts von dem gehässigen Klatsch, der sich in Windeseile hinter ihrem Rücken verbreitete. Sie war scheinbar wirklich glücklich und verliebt, stolz, dass sich ein bedeutender Mann wie Goethe für sie interessierte. Zumindest in sexueller Hinsicht schienen sie einander auf ideale Weise zu ergänzen. Davon zeugen noch vorhandene Rechnungen des örtlichen Schreinermeisters Spangenberg, der mehrfach Goethes Bett reparieren musste: Bett beschlagen, sechs Paar zerbrochene Bänder dazu mit Nägeln … ein neu gebrochenes Bett beschlagen zum Unterschieben.

Doch gerade das hatte schwerwiegende Folgen, denn im April 1789 stellte Christiane fest, dass sie ein Kind erwartete. Was mag damals wohl in ihr vorgegangen sein? Freute sie sich darauf, Mutter zu werden? Glaubte sie, Goethe werde sie nun auch heiraten? Vermutlich. Immerhin stand eine ledige Schwangere mit einem Fuß im Gefängnis, denn offenkundig gewordene »Unzucht« stand damals noch unter Strafe. Dachte Christiane vielleicht auch an die unglückliche Anna Catharina Höhn, die ihr Kind aus lauter Verzweiflung getötet hatte? Auf jeden Fall muss es ein schlimmer Schock gewesen sein, als Christiane plötzlich bewusst wurde, dass Goethe nicht im Traum daran dachte, die Verbindung zu legitimieren. Er verteidigte die Weigerung mit seiner antikirchlichen Haltung: Ihm, dem Freigeist, sei es schließlich nicht zuzumuten, vor den Traualtar zu treten und vor einem Gott, an den er nicht glaubte, die Ehe zu schließen. Die Möglichkeit einer Ziviltrauung gab es damals noch nicht. Es wird Christiane wie Schuppen von den Augen gefallen sein, dass sie sich in einen hoffnungslosen Egozentriker verliebt hatte, der vielleicht wunderschöne Verse über die Liebe schreiben mochte, letzten Endes aber immer nur an sich selbst dachte und keine Verantwortung übernehmen wollte. Doch jetzt war es zu spät, es gab kein Zurück mehr. Von nun an war Christiane Vulpius auf Gedeih und Verderb auf Goethes Wohlwollen angewiesen, wollte sie als ledige Mutter nicht ganz am unteren Rand einer Gesellschaft landen, die für sie nur Verachtung übrig hatte. Wovon hätte sie sich und ihr Kind ernähren sollen?

Leben im Schatten des »Dichterfürsten«

Dank Goethes guter Verbindungen blieb es Christiane zumindest erspart, wegen »Unzucht« strafrechtlich belangt zu werden. Doch auch Goethes Freundschaft mit Herzog Ernst August konnte das Paar nicht vor Sanktionen bewahren: Als Christianes Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen war, mussten sie das komfortable Haus am Frauenplan – zumindest vorübergehend – verlassen und eine Wohnung vor den Toren der Stadt beziehen. Der an sich nicht sonderlich strenge Fürstenhof zeigte sich über die »wilde Ehe« des Poeten reichlich empört. Erst drei Jahre später durften Christiane und Goethe wieder in das alte Heim zurückkehren.

Nach dem unfreiwilligen Umzug verabschiedete sich Goethe zunächst einmal von der hochschwangeren Christiane und reiste im Spätherbst 1789 nach Jena, um sich mit den Angelegenheiten der Universität zu befassen, die er selbst mit aufgebaut hatte. Der Aufenthalt zog sich hin.

Christiane blieb in Weimar zurück und musste allein mit den verächtlichen Blicken und spöttischen Bemerkungen zurechtkommen, an denen die »braven Bürger« der Stadt keineswegs sparten. Und nicht nur das. Goethe war noch immer auf Reisen, als Christiane am 25. Dezember 1789 einen Sohn zur Welt brachte, der auf den Namen August getauft wurde. Obwohl ganz Weimar wusste, wer der Vater des Kindes von Mademoiselle Vulpius war, hielt es Goethe wohl nicht für erforderlich, sich offiziell zur Vaterschaft zu bekennen. Im Kirchenbuch ist sein Name zumindest nicht verzeichnet.

Als Goethe endlich nach Weimar zurückkehrte, freute er sich natürlich, dass die Geburt des Sohnes ohne größere Komplikationen verlaufen war. Doch lange hielt er es bei Frau und Kind nicht aus. Die Unruhe, die das Zusammenleben mit einem Säugling mit sich brachte, machte ihn nervös, vom Kindergeschrei ganz abgesehen. So schnell wie möglich kehrte er Weimar erneut den Rücken, reiste zunächst mit Herzogin-Mutter Anna Amalia nach Italien und unternahm anschließend in Begleitung seines Freundes Karl August eine längere Inspektionsreise durch Schlesien. Das schlechte Gewissen plagte ihn nicht, schließlich wusste er Christiane und den kleinen August in guten Händen. Mit im Haushalt lebten schließlich Christianes Tante Juliana Augusta und ihre Halbschwester Ernestine, die sich beide um die junge Mutter und das Baby kümmern konnten. Weimarer Freunde glaubten indessen, er habe sich wohl für immer verabschiedet: Man vermutet aber stark, dass er nicht mehr zurückkehren werde, schrieb Friedrich von Schiller am 26. März 1790. Doch natürlich kam er wieder. Auf seine Art und Weise hat er Christiane wohl tatsächlich geliebt.

Anfang Januar 1791 war Christiane erneut schwanger. Doch am 14. Oktober kam der zweite Sohn tot zur Welt. Es sollte nicht die letzte Schwangerschaft sein, die auf solch tragische Weise zu Ende ging.

Christiane musste nicht nur mit dem Schmerz und der Trauer um ihr totes Kind fertigwerden, sie litt ganz erheblich darunter, dass sich Goethe nicht wirklich zu ihr bekannte. Seit mehr als drei Jahren waren sie nun ein Paar, inzwischen auch Eltern eines knapp zweijährigen Sohnes, doch von Hochzeit war noch immer keine Rede. Offiziell galt Christiane in Weimar als »Goethes Magd«. Selbst die Mutter des Dichters, die nach wie vor in Frankfurt lebte, hatte keine Ahnung von der Existenz ihrer »Schwiegertochter«, geschweige denn davon, dass sie einen kleinen Enkel hatte. Goethe schrieb ihr zwar regelmäßig und berichtete von seinem Leben und der Arbeit in Weimar, doch Christiane und August erwähnte er mit keinem Wort. Fünf Jahre lang …

Inzwischen war Goethe bei Hof wieder rehabilitiert und speiste fast jeden Mittag zusammen mit der herzoglichen Familie. Man plauderte über dies und das, nur ein Thema war tabu: Christiane Vulpius. Auch wenn die feinen Herrschaften alle Bescheid wussten, so taten sie nach außen hin so, als hätten sie noch nie von der Lebensgefährtin des »Dichterfürsten« und seinem Sohn gehört. Wie sich Christiane dabei gefühlt hat, vermag man kaum zu ermessen. Sie muss über eine enorme innere Stärke verfügt haben, sonst wäre sie vermutlich an der offensichtlichen Missachtung zerbrochen. So aber nahm sie ihr Schicksal an und tat auch künftig ihr Bestes, um ihrer kleinen Familie das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Ihre Qualitäten als »brave Hausfrau« und Küchenschatz hat auch Goethe immer wieder lobend erwähnt. Als er Herzog Karl August im Herbst 1792 zum Feldzug nach Frankreich begleitete, schrieb er an Christiane: Mach nur, dass unser Häuschen recht ordentlich wird … Es wird mir aber noch besser schmecken, wenn mein lieber Küchenschatz die Speisen vorbereiten wird.

Küchenschatz und Bettschatz

Neben ihrer Funktion als fleißiger Küchenschatz war Christiane auch weiterhin Goethes Bettschatz. So nämlich bezeichnete die Mutter des Dichters sie, nachdem Catharina Goethe endlich von Christianes Existenz erfahren hatte. Trotzdem blieb Sohn August das einzige Kind des Paares. Nach der Totgeburt im Oktober 1791 kamen zwar noch drei weitere Kinder zur Welt (1793, 1795, 1802), doch auch sie starben kurz nach der Geburt.

Das Kind, das am 30. Oktober 1795 geboren wurde, war ein zarter Knabe, wie Goethe Friedrich von Schiller mitteilte, und so läge denn eine von meinen Sorgen in der Wiege. Doch trotz aller Sorgen um das Neugeborene reiste er wenige Tage später erneut nach Jena, ließ sich von Christiane aber auf dem Laufenden halten. Sie konnte ihm leider nichts Gutes berichten und schrieb am 10. November: Es tut mir leid, dass ich Dir nicht schreiben kann, dass wir beide wohl sind. Ich bin recht wohl, sodass ich außer Bette sein kann. Aber das Kleine ist seit zwei Tagen sehr matt und schläft den ganzen Tag. Und wenn es essen und trinken soll, so muss man es aufwecken. Und da ißt es auch nichts. Der Doctor und die Liebern trösten zwar gut, aber ich läugne es nicht, ich bin sehr ängstlich dabei. Ich wollte Dir, mein Lieber, erst nichts schreiben, aber es ist doch besser, Du weißt es, und deßhalb schicke ich Dir einen Boten, daß ich auch gleich ein Wort von Dir höre und etwas getröstet werde. Goethe entschloss sich daraufhin, unverzüglich nach Weimar zurückzukehren, doch dem Kind konnte niemand mehr helfen. Das Söhnchen starb am 16. November 1795. An Charlotte von Schiller schrieb Goethe: Der arme Kleine hat uns gestern schon wieder verlassen, und wir müssen nun suchen durch Leben und Bewegung, diese Lücke wieder auszufüllen.

Die Ursache für den frühen Tod der Säuglinge ist nicht bekannt, doch möglicherweise handelte es sich um eine Unverträglichkeit der Blutgruppen, bedingt durch einen unterschiedlichen Rhesus-Faktor, von dessen Existenz man erst seit 1940 weiß.

Wie so viele andere Mütter, die ihre Kinder damals vorzeitig zu Grabe tragen mussten, wird auch Christiane den Willen Gottes darin gesehen haben, dem man sich zu unterwerfen hatte. Vielleicht fand sie Trost in diesem Gedanken. Und Goethe? Für ihn ging das Leben weiter, wobei es ihm immer wieder wunderbar gelang, sich mit Arbeit von Kummer und Sorgen abzulenken.

Es hat nicht den Anschein, als habe Goethe jemals ernsthaft nach Christianes Bedürfnissen gefragt. Ahnte er nicht, wie sehr sie unter ihrem Schattendasein leiden musste? War er nicht in der Lage, mit ihr »auf Augenhöhe« zu kommunizieren? Abgesehen davon, dass er das Bett mit ihr teilte, behandelte er Christiane wie seine Dienstmagd. Auch Wieland sprach nur von Goethes Magd, während man am Weimarer Hof die Formulierung die von Goethische Haushälterin bevorzugte.

Im frisch renovierten Haus am Frauenplan versammelten sich zahlreiche illustre Gäste des Dichters, darunter auch Heinrich von Kleist, Hölderlin und Jean Paul. Allem Anschein nach hat keiner der Herren Christiane jemals zu Gesicht bekommen. Sie blieb unsichtbar, während sie still und unauffällig das Essen kochte, den Tisch deckte, Getränke und Nachspeise bereitstellte. Goethe allein fungierte als Gastgeber. Die Situation gestaltete sich besonders schizophren, wenn Besucher aus Weimar am Frauenplan zu Gast waren, die schließlich alle von Christiane wussten, sie regelmäßig auf der Straße sahen oder beobachten konnten, wie sie mit ihrem Sohn in Goethes Haus ein- und ausging. Trotzdem hielt es der Dichter für angebracht, die scheinheilige Fassade zu wahren. Warum? Christiane mochte vielleicht nicht mitreden können, wenn es um Poesie ging, aber das hätte auch niemand von der Lebensgefährtin eines Dichters erwartet. Friedrich Schiller (17591805), der seit 1790 mit Charlotte von Lengefeld verheiratet war, hielt es für völlig selbstverständlich, dass seine Frau mit am Tisch saß, wenn er Gäste hatte, und dass sie neben ihm als Gastgeberin fungierte. Mit geistigen Höhenflügen ihrerseits rechnete niemand. Fürchtete Goethe vielleicht, Christiane könnte ihn blamieren? Erkannte er nicht, dass sie andere Qualitäten hatte, problemlos den großen Haushalt »managte«, gut mit Geld umgehen konnte und sogar Kaufverträge aushandelte, wenn es um den Erwerb eines Grundstücks ging? Passagen in ihren Briefen lassen zudem vermuten, dass sie nicht nur einen Sinn für Humor besaß, sondern sich auch in Goethes Werk recht gut auskannte und zumindest seine Gedichte gelesen hatte. So schrieb sie noch am 15. Mai 1816 recht launig in einem ihrer letzten Briefe: Bei uns ist alles in Tumult, der Zauberlehrling ist in allen Zimmern eingekehrt; Deine Zimmer sind aber alle schon fertig …

Es fällt auf, dass Goethe seine Christiane vor allem dann zu loben pflegte, wenn er gerade nicht in Weimar war. Davon zeugt die umfassende Korrespondenz des Paares, auch wenn darin sehr deutlich wird, dass der Dichter auf seine Gefährtin ein wenig gönnerhaft hinabblickte. Trotzdem spiegeln die Briefe einen vergleichsweise normalen Umgang des Paares wider: Du bist ein recht liebes Kind, dass Du mir so viel schreibst, heißt es in Goethes Brief vom 5. Juli 1793, dagegen sollst Du auch wieder gleich einen Brief haben … Oder am 3. März 1795 aus Jena: Es geht mir, mein liebes Kind, hier recht gut, ich bin fleißig und mache meine Sachen weg. Bei schönem Wetter gehe ich spazieren, bei unfreundlichem bleibe ich zu Hause. Der Biskuit-Kuchen wird sonnabends anlangen, und ich wünsche, dass Du ihn vergnügt verzehren mögest. Ich habe Dich recht lieb und werde Dir etwas mitbringen. Grüße den Kleinen … Bisweilen kann man sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, der Adressat der Briefe sei tatsächlich ein Kind und keine erwachsene Frau.

Christiane Vulpius hingegen berichtete ausführlich von tagtäglichen Erlebnissen und ihrer Arbeit im Haushalt, so auch am 27. Februar 1796: Mit meiner Wäsche bin ich nunmehro in Ordnung, nun will ich künftige Woche scheuern und reine machen lassen, wenn es nicht so erbärmlich kalt ist. Es scheint, als wenn es noch wieder werden wollte, wir könnten beinahe hier auf dem Schlitten fahren … Heute will ich mit Bübchen in das »Käppchen« gehen. Es ist recht wohl und läßt sein liebes Väterchen schönstens grüßen …

»Im heiligen Stand der Ehe« – Christiane von Goethe

Sohn August wuchs heran und das Leben in Weimar nahm seinen gewohnten Lauf, bis die Bewohner des kleinen Residenzstädtchens im Herbst 1806 durch lauten Kanonendonner aufgeschreckt wurden. Napoleon Bonaparte schickte sich damals an, den ganzen Kontinent zu unterwerfen. Nachdem der Kaiser der Franzosen am 14. Oktober auch bei Jena und Auerstedt gesiegt hatte, drangen marodierende französische Soldaten am Folgetag bis nach Weimar vor, plünderten, brandschatzten und versetzten die Einwohner in Angst und Schrecken. Auch Goethe hatte eine unfreiwillige Begegnung mit den Soldaten jenes Mannes, den er im Grunde seines Herzens so sehr bewunderte. Noch in der gleichen Nacht notierte er in sein Tagebuch: Abends um fünf Uhr flogen die Kanonenkugeln durch die Dächer. Um 1/2 6 Uhr Einzug der Chasseurs. 7 Uhr Brand, Plünderung, schreckliche Nacht. Erhaltung unseres Hauses durch Standhaftigkeit und Glück. Das hieß freilich keineswegs, dass sich der Dichterfürst persönlich der räuberischen Rotte entgegengestellt hätte, auch wenn der Eintrag das vielleicht vermuten lässt. Nein, es war Christiane Vulpius, die den Soldaten mit Mut und Entschlossenheit klarmachte, dass es für sie im Haus am Frauenplan nichts zu holen gab. Tatsächlich zogen die französischen Soldaten unverrichteter Dinge ab und alle Bewohner kamen ungeschoren davon. Wie es heißt, soll Goethe seine »Langzeitbeziehung« wenige Tage später aus lauter Dankbarkeit geheiratet haben. Unter dem Datum des 16. Oktober steht zumindest in seinem Tagebuch: Ich will meine kleine Freundin, die so viel an mir getan und auch diese Stunden der Prüfung mit mir durchlebte, völlig und bürgerlich anerkennen als die Meine. Doch war das tatsächlich der wahre Grund – nach 18 Jahren »wilder Ehe« und der Geburt von fünf gemeinsamen Kindern? Inzwischen war Goethe 57 Jahre alt, Christiane 41. Fest steht, dass am 19. Oktober 1806 in der Sakristei der Weimarer Jakobskirche die Trauung des Dichters mit Demoiselle Vulpius vollzogen wurde. Vor den Altar wollte Goethe denn doch nicht treten. Am nächsten Tag schrieb er einem Vertrauten: Um diese traurigen Tage durch eine Festlichkeit zu erheitern, haben ich und meine kleine Hausfreundin gestern den Entschluss gefasst, in den heiligen Stand der Ehe förmlich einzutreten.

Dabei wird Christiane von Goethes plötzlichem Entschluss sicher nicht weniger überrascht gewesen sein als die Damen der Weimarer Gesellschaft: Während der Plünderung hat er sich mit seiner Mätresse öffentlich in der Kirche trauen lassen, notierte Frau von Stein, während Charlotte von Schiller vermutete, der Entscheidung müsse wohl ein panischer Schrecken zugrunde liegen. Hochzeit im Schockzustand, oder? Vermutlich wird es so gewesen sein, dass Goethe in besagter Schreckensnacht schlicht und einfach von dem hohen Ross stürzte, auf dem er jahrelang gesessen hatte. Er war der umschwärmte Dichterfürst, 1782 in den Adelsstand erhoben, ein enger Freund des Herzogs Karl August – doch das war nur die eine Seite seines privilegierten Daseins. Was würde geschehen, sollte der Herzog durch den Willen Napoleons seinen Thron verlieren? Dann müsste wohl auch Goethe das noble Haus am Frauenplan verlassen und stünde vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz. Wahrscheinlich wird ihm am 14. Oktober 1806 schlichtweg bewusst geworden sein, wie fragil sein komfortables Leben in Wirklichkeit war. Angesichts der unübersichtlichen Lage wirkte die Hochzeit wie ein Versuch, zumindest eine stabile Komponente in sein Leben zu bringen: die Ehe mit Christiane Vulpius.

»Leere und Totenstille« – Christianes früher Tod

Als Frau von Goethe hatte Christiane nun endlich den offiziellen Status einer Ehefrau. Geholfen hat es ihr kaum, im Gegenteil. Die Weimarer Gesellschaft bedauerte Goethe, weil er sich doch noch zur Hochzeit entschlossen hatte. Nur Frau von Stein meinte gehässig, damit habe wohl Goethes offensichtliche Mägdenatur endgültig gesiegt. Und Charlotte von Schiller bezeichnete Christiane auch weiter hochnäsig als ein Nichts von Leerheit und Plattheit.

Es gab aber auch Ausnahmen. Am Tag nach der Hochzeit durfte Christiane zum ersten Mal als Goethes offizielle Begleiterin in Erscheinung treten. Der Dichter nahm sie in den Salon der Johanna Schopenhauer mit, die erst unlängst nach Weimar gezogen war. Als Bürgerliche hatte die weltoffene Frau Schopenhauer offenbar weit weniger Berührungsängste als die aristokratische Gesellschaft. So schrieb sie am 20. Oktober 1806 an ihren Sohn, den späteren Philosophen Arthur Schopenhauer: Ich empfing sie, als ob ich nicht wüsste, wer sie vorher gewesen wäre. Ich denke, wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben. Ich sah deutlich, wie sehr mein Benehmen ihn freute … Goethe blieb fast zwei Stunden und war so gesprächig und freundlich, wie man ihn seit Jahren nicht gesehen hat. Er hat sie noch zu niemand als zu mir in Person geführt. Als Fremder und Großstädterin traut er mir zu, dass ich seine Frau so nehmen werde, als sie genommen werden muss. Sie war in der Tat sehr verlegen, aber ich half ihr bald durch. … Morgen will ich meine Gegenvisite machen.

Doch allzu viel änderte sich durch die Hochzeit nicht. Die Weimarer Gesellschaft blieb Christiane gegenüber auch weiterhin reserviert und Goethe lebte so, wie er immer gelebt hatte. Er nahm sich alle Freiheiten, die er brauchte, war ständig auf Reisen und nur selten daheim in Weimar.

Es hat den Anschein, als habe sich Christiane mit ihrem Leben, der bescheidenen Rolle, die Goethe ihr zugedacht hatte, und seiner häufigen Abwesenheit recht gut arrangiert. Sie unternahm kleine Ausflüge mit ihrem Sohn, gab Teegesellschaften, machte Landpartien oder reiste in die damals gängigen Kurbäder. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass sie in den letzten Jahren Trost im Alkohol gesucht und das ein oder andere Glas Wein mehr getrunken hat, als ihr guttat. Zumindest Charlotte von Stein schrieb süffisant: Seine Demoiselle, sagt man, betrinkt sich alle Tage, wird aber dick und fett. Der arme Goethe, der lauter edle Umgebungen haben wollte. Vielleicht aber handelte es sich dabei tatsächlich nur um ein böses Gerücht, das die tratschenden Weimarer Damen in die Welt gesetzt haben.

Abgesehen von kleineren Unpässlichkeiten war Christiane zeit ihres Lebens von robuster Gesundheit gewesen und schaffte es problemlos, den großen Haushalt zu bewältigen. Doch ab 1814 häuften sich die ernsthaften Beschwerden. In diesem Jahr erlitt Christiane offenbar einen Schlaganfall, von dessen Folgen sie sich aber wieder erholte und den sie offenbar nicht als ernstes Warnzeichen deutete. Sie hätte sich wohl etwas schonen müssen. Auch die eher ungesunde Ernährung mit dem mächtigen und viel zu fetten Essen war ihrer Gesundheit eher abträglich, zumal sie vermutlich unter hohem Blutdruck und Nierenproblemen litt. Aber von Schonung konnte keine Rede sein: Sie kochte, wusch die Wäsche, bügelte, erntete im Garten Obst und Gemüse. Am 30. April 1816 heißt es in ihrem Kalender: Im Garten den ersten Spargel gestochen. Und am 14. Mai: Das ganze Haus gereinigt und geputzt. Vier Tage später allerdings notierte sie: Wegen Unpässlichkeit zu Hause und allein. Ihrem Mann, der wenige Tage zuvor aus Weimar aufgebrochen war, verschwieg sie allerdings, dass es ihr nicht gut ging. Ein Brief vom 18. Mai 1816 ist daher in recht munterem Ton gehalten: Auch ich befinde mich leidlich; ich benutze jeden Sonnenblick, um in freie Luft zu kommen, die mir so wohl thut. Im Allgemeinen aber ist die gegenwärtige Witterung in unserm Thale nicht die angenehmste, es ist kühl, naß, windig, alles auf einmal. Dein Garten steht gegenwärtig in seiner größten Pracht … Die Äpfelbäume blühen in höchster Fülle, es steht Blüthe an Blüthe, die Rabatten vor Deinem Fenster schmücken die schönsten gefüllten Tulipanen, deren schöne Farben die stolzen Kaiserkronen verdunkeln, und trotz der geringen Wärme und den kühlen Nächten reift doch alles der Vollkommenheit entgegen. Möge Dich die schöne Blüthe in Jena für diese Entbehrung reichlichst entschädigen. Nichts schien darauf hinzudeuten, dass Christiane bereits todkrank war, auch wenn man die ausführliche Schilderung der Naturschönheit vielleicht als stilles Abschiednehmen deuten könnte. Kaum hatte sie diesen Brief abgeschickt, erlitt sie am folgenden Tag einen schweren Anfall: Um 8 Uhr plötzlich beym Ankleiden eine starke Ohnmacht, eine Art Blutschlag, der mich besinnungslos zu Boden warf. Ärztliche Hülfe …, Aderlaß, Spanische Fliege. Trotzdem blieb Christiane nur einen Tag lang im Bett, bevor sie den Haushalt wie gewohnt weiter versorgte.

Am 22. Mai 1816 setzte sie sich noch einmal an den Schreibtisch und verfasste einen letzten (erhaltenen) Brief an ihren Mann: Lieber Geheimrat! Ich habe Dich um Verzeihung zu bitten, dass ich Deinen gut gemeinten Rat wegen des Aderlasses nicht schleunig genug nachgekommen, wodurch höchst wahrscheinlich ich diesem Unfall entgangen wäre. Ich danke Gott, dass es so glücklich überstanden ist. Gegenwärtig befinde ich mich ziemlich wohl, der Kopf ist mir sehr leicht, alle Sinne sind frei und heiter, und nirgends ist mehr ein Druck oder betäubende Schwere zu bemerken. Nur die spanische Fliege incommodirt [stört] mich noch etwas. Leb nun wohl und gedenke mein.

Nur wenige Tage später verschlechterte sich Christianes Zustand auf dramatische Weise. Als Goethe umgehend aus Jena zurückkam, schien sich ihr Befinden vorübergehend zu bessern, doch schon bald war zu befürchten, dass es keine Hoffnung mehr gab: Meine Frau in äußerster Gefahr, lautet der Eintrag in Goethes Tagebuch am 5. Juni 1816, und nur einen Tag später, am 6. Juni, kurz vor ihrem 51. Geburtstag, starb Christiane von Goethe unter schrecklichen Schmerzen, die selbst durch Opium nicht gelindert werden konnten. Die genaue Todesursache ist unbekannt. Nahes Ende meiner Frau, notierte Goethe zunächst und dann: Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Totenstille in und außer mir. Wer in ihrer letzten Stunde bei der Sterbenden war, ist nicht bekannt. Goethe jedenfalls nicht, er konnte das schreckliche Leiden seiner Frau ohnehin kaum ertragen und verharrte stumm in einem Nebenzimmer. Auch an der Beisetzung nahm er nicht teil, als Christiane am 8. Juni 1816 auf dem Weimarer Jakobsfriedhof zur letzten Ruhe gebettet wurde.

Der Witwer Johann Wolfgang von Goethe überlebte nicht nur seine Christiane um 16 Jahre, sondern auch August, den einzigen Sohn. Dieser heiratete ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter Ottilie von Pogwisch, gründete mit ihr eine Familie und starb völlig überraschend im August 1830, als er sich gerade in Rom aufhielt. Mit dem Tod des ältesten Sohnes von August, des 1818 geborenen Walther Wolfgang, starb 1885 der letzte Nachfahre des deutschen Dichterfürsten und seiner Ehefrau Christiane.