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Schwere Zeiten für die Krimiautorin Nora: die Mutter gestorben, der Lebensgefährte auf und davon. Da kommt ihr die Einladung in ein Cottage an der Küste Cornwalls gerade recht. Endlich alles hinter sich lassen, Spaziergänge durch leuchtend bunte Blumenwiesen, Sonnenuntergänge am Strand und in Ruhe schreiben – wunderbare Aussichten! Doch wieder einmal macht das Leben ihr einen Strich durch die Rechnung. Ein kleiner Kater, den sie von einer Klippe rettet, weicht ihr fortan nicht mehr von der Seite. Immer wieder schmuggelt er sich heimlich ins Haus und wirbelt ihren Alltag durcheinander. Mit dem neuen Manuskript geht es auch nicht wie erhofft voran. Es ist zum Verzweifeln!

 Aber da ist noch Phil, der nette, gutaussehende Nachbar, der immer wieder seine Hilfe anbietet …

 

Hermien Stellmacher, geboren 1959, wuchs in Amsterdam auf. Im Alter von 15 Jahren zog sie nach Deutschland. Sie illustrierte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher. Seit einigen Jahren schreibt sie hauptsächlich für Erwachsene, zum Teil unter dem Pseudonym Fanny Wagner. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katern in einem kleinen Dorf in der Fränkischen Schweiz.

 www.hermien-stellmacher.de

 

 

HERMIEN STELLMACHER

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ROMAN

Insel Verlag

 

 

Für meinen besten Freund Joachim.
 
In Gedanken an Rie van Lochem

 

 

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4388.

Originalausgabe

© Insel Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlag: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: Jon Boyes/Corbis; FinePic*

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-458-74129-9

www.insel-verlag.de

Cottage mit Kater

 

Die besten Dinge im Leben passieren dann, wenn man nicht das bekommt, was man sich vorstellt.

 

Michel de Montaigne

1

Noch zwei Meilen bis Cadgwith. Als ich den Wegweiser entdeckte, war meine Erschöpfung wie weggeblasen. Ich setzte den Blinker und bog ab auf die New Road.

Neue Straße, neues Glück. Zwei Monate Cornwall, zwei Monate für mich. Die Beine hochlegen und aufs Meer gucken, bis ich es nicht mehr sehen wollte.

Doch erst einmal musste ich hinkommen, und ich betete, dass mir auf dieser engen Straße keiner entgegenkommen würde. Ich langte mit der rechten Hand in die Tasche auf dem Beifahrersitz. Doch was ich auch zu fassen bekam, es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem A4-Blatt in einer Klarsichthülle.

Verdammt. Ich hielt an einer Parkbucht und nahm die Tasche auf den Schoß. Ich wühlte den Inhalt ein weiteres Mal gründlich durch, aber die Wegbeschreibung zum Haus kam nicht zum Vorschein. Der Gedanke, dass mein Neuanfang auf der Zielgeraden zu scheitern drohte, brachte mich zur Verzweiflung.

Ich schaute auf die Uhr. Mir blieb noch eine halbe Stunde, um Pauls Hausschlüssel bei seinem Nachbarn abzuholen. Spätestens um sechs würde der Mann sich ins Auto setzen und für mehrere Tage verreisen. Leider war ich zum allerersten Mal hier und hatte keine Ahnung, wo sich sein Haus befand. Und somit auch nicht, wo der Nachbar auf mich wartete.

Ruhig, Nora. Du hast in den letzten Jahren schon andere Katastrophen bewältigt. Abgesehen davon verdienst du dein Geld mit bedrohlichen Ereignissen und überraschenden Wendungen. Denk nach!

Die Strategie ging auf: Ich erinnerte mich daran, dass Paul öfter von einem netten Pub am Hafen berichtet hatte. In der Hoffnung, dass man dort wusste, wo ihr Stammgast wohnte, fuhr ich über eine steile Straße nach Cadgwith hinunter.

Ich parkte am kleinen Hafen und stieg aus. Der strahlende Sonnenschein täuschte. Ein kalter Wind blies mir um die Ohren. Es sah so aus, als wäre ich am Ende der Welt gelandet: Kleine, weiß getünchte Cottages schmiegten sich den grünen Hang hinauf, bunte Fischerkutter standen nebeneinander auf dem Kiesstrand, und ein Hund jagte übermütig ein paar schreienden Möwen hinterher.

Auf einem umgedrehten Ruderboot saßen drei alte Männer. Ihre Köpfe bewegten sich synchron in meine Richtung, sechs Augen musterten mich interessiert.

Nach einer Weile beugte sich der Mittlere, ein kleiner Mann mit knubbeliger Nase, vor. »Any problems, lady?«

Ich nickte. Wo war bloß mein englischer Wortschatz geblieben? Nicht, dass er sonst in Topform war, aber im Augenblick war in meinem Kopf genauso Ebbe wie am Strand.

»Ich suche ein bestimmtes Haus«, begann ich. »Das Haus eines Freundes …«

O Herr, lass Hirn vom Himmel regnen. Wenn möglich, englischsprachiges.

»Ja?« Wie auf Kommando rutschten die drei vom Boot herunter und sahen mich erwartungsvoll an.

»Cove View.« Da es in meinen Ohren verdächtig nach einem Müller-Meier-Schmitt-Name für Cottages klang, ergänzte ich die Angabe. »Der Besitzer heißt Paul Brooks!«

Der Mittlere nickte, die beiden links und rechts von ihm schüttelten den Kopf. Es folgte eine leidenschaftliche Diskussion, von der ich kein Wort verstand. Jeder der drei deutete in eine andere Richtung, und ich wurde unruhig. Noch fünfzehn Minuten. Doch während ich schon überlegte, ihnen den Hinweis zu geben, dass mein Freund graue Locken hatte und eine Nerd-Brille trug, schienen sie sich geeinigt zu haben. Jedenfalls nickten sie wie Wackeldackel.

»No problem, lady!«, kam es wie aus einem Mund. Der Mann links zog einen zerknitterten Zettel aus der Tasche, der Mittlere steuerte einen Bleistift bei, während der Dritte mich heranwinkte.

»Sie fahren die Straße weiter, am Pub vorbei und dann den Berg hoch …« Knubbelnase zeichnete eine geschlängelte Linie von der unteren Blattmitte nach oben rechts. »Und oben, an der Linkskurve, bei einer großen Zeder …« Ein fettes Kreuz wurde umkringelt. »… biegen Sie links auf eine unbefestigte Straße ab. Cove View!« Er drückte mir das Papier in die Hand und zwinkerte mir zu. »Good luck, dear!«

Dann nahmen die Herren ihre Plätze wieder ein, zündeten sich Zigaretten an und schauten auf die Straße. Bereit für ihren nächsten Einsatz.

 

Die Skizze war so einfach wie hilfreich, und bald stand ich an einer langgezogenen Einfahrt, die zu einem Haus hinunter führte. Fehlte nur noch der Schlüssel. Ich stellte mein Auto auf dem kleinen Parkplatz ab und ging zum Haus.

Dort entdeckte ich einen direkten Weg zum Nachbargrundstück. Doch was verheißungsvoll begann, endete in einem Dickicht aus Schlingpflanzen. Während ich überlegte, ob ich es mit dem Gestrüpp aufnehmen sollte, hörte ich, wie in nächster Nähe ein Wagen gestartet wurde. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass das nur der Nachbar sein konnte. Ich kämpfte mich zurück und rannte die Einfahrt hinauf. In Gedanken den Text wiederholend, den ich mir zurechtgelegt hatte.

Der Schlüsselhüter hatte sein Auto direkt neben meinem geparkt und die trommelnden Finger im Fenster ließen keinen Zweifel daran, dass es um seine Geduld nicht zum Besten bestellt war.

»I'm so sorry!« Außer Atem lehnte ich mich an die Fahrertür und sah durch das offene Fenster hinein.

Ein hübsches, aber mürrisches Gesicht. »Nora?«

Ich nickte.

»Noch mal Glück gehabt.« Ein braungebrannter Mann mit dunklen kurzen Haaren und einem Dreitagebart stieg aus. Ich schätzte ihn auf etwa fünfzig, ein paar Jahre älter als ich. Er war groß und hatte eine beeindruckende Bassstimme. »Ich bin Phil Benning.«

»Nora Beck.« Ich schüttelte ihm die ebenso große Hand. »Tut mir leid, ich habe die Wegbeschreibung verloren. Daher musste ich mich erst im Dorf unten erkundigen.«

»Ich hatte schon befürchtet, du bist Landstraße gefahren«, brummte Phil. »Solche Experten gibt es immer wieder. Die trauen sich wegen des Linksverkehrs nicht auf die Autobahn und wundern sich dann, wie lange sie bis hierher brauchen.«

Ich lächelte tapfer. Fest entschlossen, ihm niemals zu erzählen, dass auch ich dieser Gruppe angehörte.

»Du sprichst ja toll deutsch«, wechselte ich das Thema. »Kein bisschen englischen Akzent.«

»Hat kaum einer aus Bochum.« Phil drückte mir ein Schlüsselmäppchen in die Hand. »Der Runde ist für die Haustür, der Kleine für den Briefkasten und der Viereckige für das Schloss am Schuppen. Paul hat mich gebeten, ein paar Sachen für dich einzukaufen. Die habe ich in den Kühlschrank gestellt. Brot liegt im Kasten.« Er stieg ein und startete den Kombi. »Zugangsdaten zum Internet findest du auf dem Zettel beim Telefon. Wenn ich wieder da bin, schau ich mal vorbei.«

Ich wollte mich bedanken, doch dazu gab Phil mir keine Gelegenheit. Er legte den Gang ein und fuhr so schnell los, dass ich zur Seite springen musste.

»Trottel!«, brummte ich. »Lass dir ruhig Zeit, wo immer du hinfährst!«

 

Als ich Pauls Haus betrat, dankte ich dem Universum, dass unsere Wege sich vor Jahren gekreuzt hatten. Wir waren auf einer Vernissage miteinander ins Gespräch gekommen und hatten festgestellt, dass wir beide ein Faible für Skulpturen von Botero haben und gerne wandern.

Im Lauf der Zeit war unsere Freundschaft immer inniger geworden. Daran änderte sich auch nichts, als er nach der Trennung von seinem Freund nach England zurückkehrte. Als mein Leben aus den Fugen geriet, rief Paul mich regelmäßig an und stand mir zur Seite.

Doch auch die dunkelsten Zeiten sind irgendwann zu Ende. Und als er mir erzählte, dass er für ein Jahr nach Kanada gehen wolle und mir den Vorschlag unterbreitete, für eine Weile sein Haus zu hüten, hatte ich nicht lange überlegen müssen.

Ich schloss die Tür hinter mir und fühlte mich gleich wie zu Hause. Ein kleiner Vorraum mit Garderobe, dann ein von Buchregalen gesäumter Flur, der in ein gemütliches Wohnzimmer führte. Ein antiker Schrank, ein dunkelrotes Sofa, zwei alte Ohrensessel aus Leder vor einem offenen Kamin und dicke Teppiche auf dem Holzfußboden. Vor dem Kamin lag ein alter Kauknochen von Gromit. Ein Glück, dass Paul seinen Terrier bei einem Freund hatte unterbringen können, denn vom Haustierhüten hatte ich die Nase gestrichen voll.

In den Regalen, die bis unter die Deckenbalken reichten, stand ein weiterer Teil von Pauls Büchersammlung. Ich fuhr mit dem Finger über die Buchrücken und begegnete einigen Lieblingen: Don Winslow, Fred Vargas und Ian Rankin standen Seite an Seite mit Romanen, Biografien und Reiseführern. Lesestoff für Monate, wenn nicht für Jahre. Zwischen den Regalen hingen Rahmen mit Schwarz-Weiß-Fotos. Stimmungsbilder, die an der Küste und am Hafen aufgenommen worden waren, und ein paar Schnappschüsse von Freunden. Auf einem der Bilder entdeckte ich Dominik, mit dem Paul in Berlin liiert gewesen war, ein anderes zeigte Paul und Nachbar Phil. Die Arme um die Schultern gelegt, die Köpfe aneinander, prosteten sie dem Betrachter lachend zu.

Ich hatte diese Info gerade unter der Rubrik hilfreich verbucht, als ich das Foto einer Katze entdeckte. Im selben Moment nehme ich den beißenden Gestank wahr. Nicht schon wieder. Dieses verdammte Mistvieh hat wieder wohin gepisst! Na warte. Mit großen Schritten gehe ich zum Sofa und reiße die Kissen einzeln von der Sitzfläche. Vorsichtig rieche ich daran. Nichts!

»Aruscha!?« Ich öffne die Schranktüren und hole tief Luft. Auch hier nichts. Ich bin schon auf dem Weg zurück in den Flur, als ich plötzlich begreife, dass mein Unterbewusstsein mir einen Streich spielt.

Verwirrt setzte ich mich in einen der Ledersessel und versuchte, die Erinnerungen an die hochgezüchtete Siamkatze, die ich zwangsweise hatte hüten müssen, zu vertreiben. Aruscha. Hinter diesem eleganten Namen steckte ein Monster, das mich von Anfang an gehasst hatte. Nachdem sie das erste Mal in meiner Berliner Wohnung aufs Sofa gepisst hatte, beruhte dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit.

»Aber das ist zum Glück alles vorbei!« Ich versuchte, die Erinnerung auszublenden, und sah, dass es noch einen weiteren Raum gab. Als ich die Schiebetür öffnete, kam mir ein Schwall abgestandene Luft entgegen.

Es war ein sonnendurchfluteter Wintergarten mit einer breiten Fensterbank, die sich über die gesamte Länge erstreckte. Rechts neben der Verbindungstür rankte sich eine riesige Passionsblume an der Wand empor. Sie war über und über mit handtellergroßen Blüten bestückt, und erste Äste hatten bereits die Decke erreicht.

Hier würde ich meinen Arbeitsplatz einrichten! Mit Aussicht auf den Garten, den Hafen und das Meer. Hier würde ich meinen Krimi zu Ende schreiben.

Ich kippte ein paar Fenster, schob das Zweisitzersofa neben den Korbstuhl und den Holztisch von der Ecke an die verglaste Front. Perfekt. Dann öffnete ich die Tür und trat hinaus in den Garten.

Eine Balustrade aus verwitterten Terrakotta-Elementen, bestückt mit großen Blumentöpfen, trennte den Kiesweg vom Rasen. Mitten auf dem satten Grün stand eine Säule mit einer Büste von Sokrates. Paul hatte mir erzählt, dass er den alten Philosophen vor Jahren auf einem Flohmarkt gerettet und ihm hier eine neue Heimat gegeben hatte. Um seine Aussicht konnte man ihn beneiden. Zwischen zwei Palmen hindurch blickte er direkt hinunter auf die Bucht. Untermalt wurde dieser Blick vom Gezwitscher der vielen Vögel, die in den dichten Sträuchern und Bäumen am Rand des Gartens lebten.

Ich atmete die würzige Seeluft tief ein und fühlte mich zuversichtlich wie schon lange nicht mehr.

 

Nachdem ich überall gelüftet und meine Habseligkeiten im Haus verteilt hatte, ging ich in die Küche. Ein kleiner, gemütlicher Raum mit Terrakotta-Fliesen und einem schönen Holztisch. Auch von hier hatte man einen Postkartenblick auf die Bucht, und ich konnte mir vorstellen, dass ich vor lauter Aussicht Gefahr lief, das Essen anbrennen zu lassen.

Ich bereitete mir ein paar belegte Brote zu, schenkte ein Glas Bordeaux ein und machte es mir im Wintergarten gemütlich. Die Felsen des kleinen Naturhafens ragten steil aus dem Wasser auf, als wollten sie den kleinen Ort beschützen. Viele waren von schwefelgelben Flechten überzogen und glühten im schwindenden Tageslicht. Während ich beobachtete, wie die Farbe des Meeres immer dunkler wurde, spürte ich, wie die Anspannung der langen Fahrt allmählich wich.

Als ich den größten Hunger gestillt hatte, nahm ich mein Schreibtagebuch vom Tisch und schlug es auf. Bereits vor Wochen hatte ich eine Seite mit den Worten Vorsätze für Cornwall überschrieben. Darunter notierte ich drei Punkte:

1. Keine Verantwortung für irgendwas oder irgendwen.
Und schon gar nicht für eine Katze!

2. Ein fertiges Manuskript.

3. Ruhe.

An sich keine weltbewegenden Wünsche, doch nach den vergangenen Jahren waren sie für mich von größter Bedeutung. Ich wollte mein eigenes Leben zurück.

2

Als ich am nächsten Morgen vom Gesang einer Amsel geweckt wurde, glaubte ich zuerst in Berlin zu sein. Bis ich die Augen aufschlug und das Bild neben mir an der Wand sah.

Es war eine alte gerahmte Landkarte von der Halbinsel, »The Lizard«, auf der ich mich hier befand. Ich stopfte das Kissen unter meinem Kopf zurecht und las leise die geheimnisvoll klingenden Namen vor.

Housel Bay, Bass Point, Bumble Rock, the Devil's frying Pan.

Namen, die in einer alt anmutenden Handschrift rund um Englands südlichste Spitze platziert waren. Namen, die neugierig machten.

Die Amsel verstummte, und damit war auch Schluss mit den Parallelen zu Berlin. Musste ich dort nun das Schlafzimmerfenster schließen, um den anschwellenden Verkehrslärm auszusperren, begann hier die Schicht der Möwen. Neugierig, ob es einen bestimmten Anlass für ihr Gekreische gab, stellte ich mich ans offene Fenster und beobachtete die Vögel. Doch das Geschrei schien eher einem lockeren Austausch von Neuigkeiten zu entsprechen, wie es in Firmen in der Kaffeeküche üblich war.

Damit war das Stichwort gefallen. Ich machte mir einen starken Kaffee, setzte mich mit der Tasse und einem Marmeladentoast in den bequemen Korbstuhl im Wintergarten und sah zu, wie die Sonne höher und höher stieg.

Heute würde ich mich von der Fahrt erholen. Lesen, aus dem Fenster schauen und mich über die Tatsache freuen, dass das Telefon im Flur keine alarmierenden Nachrichten verbreiten konnte. Niemand hatte die Nummer.

 

Trotz Phils Einkäufen und Pauls ausdrücklicher Aufforderung, mich in seiner Speisekammer zu bedienen, beschloss ich, dem kleinen Laden oben an der Straße einen Besuch abzustatten. Wie die meisten Läden in England hatte das Geschäft auch sonntags geöffnet, und ich war gespannt, was es dort so alles gab. Außerdem wollte ich meinem eingerosteten Wortschatz mit Hilfe englischer Zeitungen auf die Sprünge helfen.

Die Straße im Dorf war gesäumt von Cottages mit bunten Gärten. Gab es in Deutschland Margeriten in armseligen Töpfchen zu kaufen, wuchsen die Pflanzen hier als große Sträucher, neben riesigen Fuchsien, die ihre Blütenkaskaden über die Natursteinmauern hängen ließen.

Ich war von den Farben so fasziniert, dass ich mein Ziel fast verpasst hätte. Was sicher auch daran lag, dass der Laden von außen wie ein normales Wohnhaus aussah. Das kleine Schaufenster war vollgepackt mit Teddybären, bunten Fähnchen und Kinderzeichnungen, davor stand eine Bank. Lediglich eine Schiefertafel informierte darüber, dass es hier hot pasties, wahlweise mit einer Fleisch- oder einer Käse-Zwiebelfüllung gab. Sonst wurde nicht verraten, was mich im Inneren erwartete.

Als ich durch die Tür trat, wusste ich auch warum: Für diese Mischung gab es keinen passenden Ausdruck. Die ersten Meter entsprachen in etwa dem, was in solchen Geschäften üblich ist: eine kleine Kühltheke mit Käse und Wurst und Kisten mit Obst und Gemüse. Daneben stapelten sich Körbe mit Weißbrot. Doch dann wurde es kreativ: Kerzenständer und Vasen wechselten sich mit Fischkonserven und Hobbygemälden ab, Marshmallows, Schokoriegel und Whiskeyflaschen teilten sich das Regal mit Katzenfutter, Landkarten und Sonnenschutzmittel. Strandspielsachen und hausgemachte Marmeladen waren neben verschiedenen Sorten Kartoffelpüree und Chips platziert. Von der Decke hing ein großes Fischernetz, auf dem aufblasbare Plastikungeheuer drapiert waren.

Unwillkürlich sah ich mich nach einem Schild um, das darauf hinwies, dass bereits jemand hier seine Doktorarbeit zum Thema »Die friedliche Co-Existenz verschiedenster Warengruppen und ihre Auswirkung auf das Kaufverhalten« verfasst hatte.

»May I help you, dear?« Eine Frau mit Lockenwicklern im Haar stand an der Kasse und beobachtete mich.

»Ich hätte gerne eine Zeitung«, sagte ich.

»Gleich um die Ecke!« Sie machte eine Drehbewegung mit der Hand und ging mir munter plappernd voraus. »Ich habe auch noch Zeitschriften, aber nicht allzu viele, denn wie Sie sehen, ist es hier ziemlich eng, Sie machen hier wohl Urlaub, hoffentlich hält das Wetter noch, gegen Abend wird es regnen, auch wenn der Wetterbericht etwas anderes vorhersagt.«

Während ich mühsam versuchte, diese Flut an Informationen zu verarbeiten, hatten wir unser Ziel erreicht.

»There we are!« Stolz präsentierte sie mir das Gestell mit den Tageszeitungen, das sich in trauter Gesellschaft mit Postkarten, Ketchup, Brown Sauce und Barometer befand. »Wenn Sie mich brauchen, ich bin vorne an der Kasse, gleich kommt die frische Pasty-Lieferung, und ich muss ein paar für Mr Parker zur Seite legen, wo wohnen Sie denn?«

»Im Cove View«, sagte ich. Was einen Rattenschwanz an lobenden Bemerkungen über Paul nach sich zog, bis wir unterbrochen wurden. An der Tür rief jemand nach Mrs Ashe, und sie ließ mich allein.

Als ich glaubte, alle Mysterien dieses Ladens entdeckt zu haben, wurde ich kurz vor der Kasse eines Besseren belehrt. Ich stieß auf eine beeindruckende Auswahl von Wasserpistolen. Vom Kleinkaliber bis hin zur Riesenpumpgun war alles dabei. Daneben hing ein vergilbter Zettel mit dem Hinweis: »Die Weihnachtsbeleuchtung wird vom 8. Dezember bis zum 5. Januar eingeschaltet. Sofern sie nicht vorher weggepustet wird.«

Ich ließ mir eines der duftenden Pastys einpacken, zahlte und versprach Mrs Ashe, bald wiederzukommen. Dann ging ich nach Hause, grübelnd, welchen Zusammenhang es zwischen den Pistolen und dieser Nachricht geben könnte.

 

Nachdem ich den restlichen Tag mit Lesen und Dösen verbracht hatte, breitete ich meine Arbeitsunterlagen auf dem neuen Schreibtisch aus und schloss mein Laptop an. Kurz darauf war ich mit der Welt verbunden und hatte eine Mail von meiner Freundin Alex auf dem Schirm:

 

Liebe Nora,

bist Du gut am Ende der Welt gelandet? Fühlst Du Dich wohl in Pauls Haus? Und ist Cornwall so schön, wie es alle erzählen? Lass mal kurz hören.

Wir haben uns letzte Woche doch über »Fallhöhen im Roman« unterhalten, erinnerst Du Dich? Jetzt bin ich über einen interessanten Artikel gestolpert, ich hänge Dir den Link dran. Vielleicht ist er interessant für Dich.

Hier im Büro geht die Post ab, aber das ist ja nichts Neues. Wundere Dich also nicht, wenn ich Dir nicht immer sofort antworte. Bin sehr viel unterwegs und abends oft nicht mehr in der Lage, mich im ABC zurechtzufinden … Bin froh, wenn mein Chef im nächsten Monat in Urlaub fährt, dann komme ich wenigstens mal zu den Sachen, die hier erledigt werden müssen. Pass auf Dich auf!

Alles Liebe, Deine Alex

 

Ich antwortete ihr rasch, dann überflog ich den Artikel. Anhand verschiedener Beispiele wurde aufgezeigt, wie man geschickt mit den Emotionen von Lesern spielen kann. Und zwar, indem man nach und nach die dunkle Seite einer Figur ans Licht bringt, die anfangs eine durchweg positive Rolle gespielt hat.

»Vielleicht ist das was für Walter Millar«, sagte ich, während ich mein Laptop zuklappte. »Aber das hat Zeit bis morgen.«

Gelesen hatte ich vorerst genug. Zeit, ein Stück an der Küste entlangzugehen. Ich zog Wanderschuhe und Fleecejacke an, wickelte mir ein langes Tuch um den Hals und trat vor die Tür.

Die Straße zum Hafen schlängelte sich steil nach unten. Auch hier reihte sich Cottage an Cottage, deren Reetdächer wie dicke Decken tief über die strahlend weißen Außenmauern hingen. Rosen und Clematis rankten sich an den blau und dunkelrot gestrichenen Türen empor.

Die Kommunikationslust der Möwen hatte nachgelassen. Nur wenige flogen noch schreiend herum. Die meisten saßen in langen Reihen nebeneinander auf den Dächern und bewegten die Köpfe hin und her, als würden sie ein Tennisspiel verfolgen.

Es war kaum jemand unterwegs. Vielleicht weil die Sonne, die am Tag tapfer die Stellung gehalten hatte, hinter dicken Wolken verschwunden war. Ich wickelte den Schal fester um den Hals und folgte dem Wegweiser zum Coast Path, einem Wanderweg, der an der Küste entlangführte.

Der Weg stieg steil an, und mit jedem Schritt wurde ich daran erinnert, wie schlecht meine Kondition geworden war. Doch die Aussicht, die sich mir während den Verschnaufpausen bot, war berauschend.

Sobald ich die letzten Häuser hinter mir gelassen hatte, wurde der Weg schmal und schlängelte sich bergauf, bergab am Meer entlang. Mal wurde er von blühenden Hecken gesäumt, mal gab er den Blick auf das Meer frei, um im nächsten Augenblick wieder in einen grünen Tunnel zu verschwinden. Einige der großen Steine, die aus dem Boden ragten, glänzten wie poliert, und ich fragte mich, wie viele Füße wohl schon über sie hinweggegangen waren. Mit jedem Meter, den ich zurücklegte, konnte ich freier und tiefer durchatmen. Keine Spur vom Asthma, mit dem ich in den vergangenen Jahren immer wieder zu kämpfen hatte.

Je höher ich den Weg hinaufstieg, umso leiser wurden die Wellen. Dafür war ich umringt von summenden Insekten und zwitschernden Vögeln, die in den dichten Hecken lebten. Auch die Gerüche änderten sich immer wieder. Mal wehte mir der Duft von blühendem Geißblatt in die Nase, mal roch ich die salzigen Algen auf den Felsen weit unter mir.

Der Wind nahm zu, und die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Sofort schillerte das Meer in leuchtenden Türkistönen. Davor purpurfarbener Fingerhut und Kuckucksnelken in Pink. Ein Kontrast, der schöner nicht sein konnte.

Nachdem ich eine Weile oben auf einem Plateau entlanggelaufen war, ging es steil bergab, und ich kam zu einer einsamen Bucht. Es war Ebbe, und die runden Kiesel an der Flutlinie schimmerten smaragdfarben. In einem Tümpel, der sich direkt dahinter gebildet hatte, bewegten See-Anemonen ihre Tentakel. Gelb-rötliche Überlebenskünstler, die auf die nächste Flut warteten. Vorsichtig kletterte ich an von Algen überzogenen Steinen vorbei und setzte mich auf einen der schwarzen Felsbrocken. Die Wände, die senkrecht ins Wasser abfielen, waren übersät von kleinen, fest verschlossenen Muscheln. Ich schaute auf das Glitzern der leise kabbelnden Wellen und spürte die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut.

Mein persönlicher Winter war kalt gewesen. Lang und kalt. Doch jetzt konnte ich endlich wieder loslaufen, ohne daran zu denken, mein Handy einstecken zu müssen oder jemandem Bescheid zu geben. Ich konnte kommen und gehen, wie es mir gefiel, und verstand plötzlich, wie Menschen sich fühlen mussten, wenn sie nach langer Inhaftierung wieder auf freien Fuß gesetzt wurden.

Der Wind frischte auf, und ich sah, dass die Wetterprognose von Mrs Ashe stimmte: Schwarze Wolken zogen heran. Zeit, umzukehren.

Kurz bevor ich Cadgwith wieder erreicht hatte, hörte ich aufgeregtes Möwengeschrei. Als die dichte Hecke zu Ende war, sah ich, dass sie sich zu Hunderten auf einem kleinen Felsen versammelt hatten, der direkt vor der Küste aus dem Meer ragte.

Ich wollte schon weitergehen, als ich ein anderes Schreien hörte. Es war wesentlich höher als das der Vögel. Ich blieb stehen und lauschte. Es kam direkt vom Hang unter mir. Ich sah hinunter, konnte aber nichts entdecken. Nur schroffe Klippen und schaumgekrönte Wellen, die immer höher wurden.

Ich ging ein paar Schritte weiter. Wieder dieser hohe Schrei. Ich kniete mich hin, beugte mich vorsichtig über die Kante und sah, dass hier jemand den Begriff Fallhöhe auf eine andere Art kennengelernt hatte. Einige Meter unterhalb des Weges kauerte eine kleine Katze auf einem winzigen Vorsprung und versuchte verzweifelt, nach oben zu klettern.

Mein erster Impuls war: Weitergehen. Katzen hatten schließlich sieben Leben, sie würde sich schon retten können. Doch dann dachte ich daran, wie klein sie war. Der Hang war sehr steil, und wenn sie es nicht schaffen würde, hinaufzuklettern, wäre sie verloren.

Wieder kniete ich mich hin und sah, dass ihre Todesangst berechtigt war. Bei jeder Bewegung, die sie machte, lösten sich kleine Erdbrocken, und der Platz, auf dem sie saß, wurde kleiner und kleiner. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf die Felsen stürzen und im Meer ertrinken würde.

»Ganz ruhig, Katze.« Ich beugte mich weiter vor und schaute, ob es einen Weg gab, das Tier zu retten. Rechts von ihr ragten nur ein paar abgestorbene Stechginsterbüsche aus dem Gras, daran würde sie sich höchstens verletzen.

Ich legte mich auf den Bauch und streckte den Arm hinunter. Viel zu kurz. Doch kam mir eine Idee. Ich wickelte meinen Schal vom Hals und beugte mich über die Kante. Die Katze beobachtete mich aufmerksam.

Langsam ließ ich den Stoff hinunter. »Wenn der Schal vor deiner Nase hängt, krallst du dich fest. Ich ziehe dich dann hinauf. Kapiert?«

Ich könnte schwören, sie hatte es verstanden. Konzentriert verfolgte sie, wie der Schal immer näher kam. Als er sie fast erreicht hatte, sprang sie hoch – und wäre um ein Haar abgerutscht. Wieder ein verzweifelter Schrei. Mit klopfendem Herzen versuchte ich es ein zweites Mal. »Los! Krall dich fest! Jetzt oder nie!«

Erneut machte die Katze einen Satz. Und während die letzten Reste ihres Platzes in die Tiefe brachen, gelang es mir, sie in Sicherheit zu bringen. Sofort rannte sie davon und duckte sich im hohen Gras.

Ich setzte mich auf einen Felsbrocken und betrachtete sie. Sie sah aus, als hätte sie jemand mit Farbe übergossen. Rücken, Kopf und Schwanz waren schwarz, Nase, Schnauze und die großen Tatzen weiß. Ein kleiner Klecks war ihr seitlich auf die Nase getropft, die Unterlippe war schwarz. Damit sah sie aus, als würde sie eine Schnute ziehen.

Nachdem das Kätzchen mich eine Weile angestarrt hatte, verließ es sein Versteck und kam zögernd auf mich zu. Dann fasste es Vertrauen und strich mir um die Beine.

»Da hast du großes Glück gehabt!« Ich kraulte es hinter den ungewöhnlich großen Ohren. »Das hätte auch anders ausgehen können.«

»Mau!« Schnurrend beobachtete es mich.

»Genau«, sagte ich. »Jetzt aber schnell wieder nach Hause. Deine Leute machen sich bestimmt schon Sorgen!« Ich stand auf und strich ihm ein letztes Mal über den weichen Kopf. »Und pass in Zukunft besser auf! Das Leben hält eine Menge Überraschungen bereit. Doch auf manche kann man gut verzichten.«

 

Ich wickelte mir den Schal wieder um den Hals, stemmte mich gegen den Wind und ging weiter. Alles, wonach mir der Sinn stand, war eine Lasagne aus Pauls Tiefkühltruhe, ein Glas Wein und ein seichter Roman.

Kurz vor dem Dorf blieb ich stehen, um den Blick auf den kleinen Hafen zu genießen. Letzte Boote kamen zurück und wurden auf den Kiesstrand gezogen und befestigt. »Mein Gott, ist das schön hier«, sagte ich leise. Die bestätigende Antwort kam sofort und lautete »Mau!« Die Katze war mir gefolgt.

»O nein, das kommt gar nicht in die Tüte!« Ich ging in die Hocke, was sie sofort als Einladung auffasste, näher zu kommen. Schnurrend setzte sie sich vor mich.

»Pass mal gut auf«, sagte ich streng. »Ich habe von Katzen die Nase voll. Geh nach Hause.«

Ohne mich ein weiteres Mal umzudrehen, setzte ich meinen Heimweg fort. Um vor der Haustür festzustellen, dass meine Rede nicht die gewünschte Wirkung gehabt hatte: Die Katze saß neben mir auf der Treppenstufe und sah mich erwartungsvoll an.

Ein leichter Nieselregen setzte ein. Ich schloss die Haustür auf, und bevor ich bis drei zählen konnte, war die Katze schon im Flur. Mit hochgestrecktem Schwanz ging sie mir voraus in die Küche, so als würde sie das Haus lange kennen. Und maunzte fordernd.

Ich ließ mich auf einen der Küchenstühle fallen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.

»Jetzt hör mir gut zu: Ich will keine Katze.« Ich wiederholte den Satz für alle Fälle auf Englisch. Vielleicht verstand sie ja kein Deutsch. Maunzten englische Katzen anders als deutsche? Egal, ich wollte es gar nicht herausfinden.

»Deine Anwesenheit verstößt gegen Punkt 1«, sagte ich bestimmt. »Und daran gibt es nichts zu rütteln.«

Es war dem Tier anzusehen, dass ihm meine Prioritätenliste herzlich egal war.

»Ich mache dir einen Vorschlag.« Ich ging in die Speisekammer und nahm eine Dose Thunfisch aus dem Regal. »Wir gehen in den Schuppen. Dort bekommst du etwas zu fressen und danach gehst du nach Hause. Okay?«

Die Katze schien einverstanden und folgte mir begeistert durch den Regen in den Garten. Ich schloss den Schuppen auf und stellte ihr den Teller mit Fisch auf den Boden. Während sie sich schmatzend über das Essen hermachte, sah ich mich im Halbdunkel um. In einer der Ecken lagen ein paar Liegestuhlpolster. Sollte das Wetter schlechter werden, konnte sie hier bequem übernachten.

Dann schlich ich mich an ihr vorbei, rannte ins Haus zurück und verriegelte im Erdgeschoss sämtliche Türen und Fenster.