Ihre Mutter hat sie Eva genannt, damit sie Lust aufs Leben habe; und weil ihr Vater, ein Indio mit gelben Augen, zum Stamm der Söhne des Mondes gehörte, heißt sie Eva Luna. Ihr Lebensweg führt sie aus dem Haus des exzentrischen Ausländers Professor Jones in die Unter- und Halbwelt einer lateinamerikanischen Hauptstadt an der Karibikküste. Turbulente Ereignisse katapultieren das junge Mädchen in ein entlegenes Nest in tropischer Stille, wo sie Frieden, bald aber auch sinnliche Unruhe erlebt. Obwohl sie sich, neben der Liebe, eigentlich nur zum Geschichtenerzählen berufen fühlt, wird sie schließlich lebhaft hineingezogen mitten in die Sphäre politischer Gewalt.

»Eva Luna ist ein faszinierendes Feuerwerk aus Erlebtem und Erfundenem, eine farbenprächtige Mischung, genannt ›magischer Realismus‹, nach dem wir so süchtig sind.« stern

Isabel Allende, 1942 in Chile geboren, ging nach Pinochets Militärputsch 1973 ins Exil. Die Erinnerungen ihrer Familie, die untrennbar mit der Geschichte ihres Landes verwoben sind, verarbeitete sie in dem Weltbestseller Das Geisterhaus. Allende zählt zu den meistgelesenen Autorinnen weltweit, ihr gesamtes Werk erscheint auf deutsch im Suhrkamp Verlag.

Isabel Allende

Eva Luna

Roman

Aus dem Spanischen von
Lieselotte Kolanoske

Suhrkamp

Titel der 1987 bei Plaza & Jánes, Barcelona, erschienenen Originalausgabe: Eva Luna

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 14. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 1897.

© Isabel Allende 1987

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1988

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74357-7

www.suhrkamp.de

Und sie sprach zu Scheherazade: »Ich bitte dich bei Allah, o Schwester, erzähle uns eine Geschichte, durch die wir uns die wachen Stunden dieser Nacht verkürzen können!«

(aus Tausendundeine Nacht)

Eins

Ich heiße Eva, das bedeutet Leben, wie in einem Buch zu lesen war, in dem meine Mutter nach einem Namen für mich suchte. Ich wurde geboren im hintersten Zimmer eines düsteren Hauses und wuchs auf zwischen alten Möbeln, lateinischen Büchern und menschlichen Mumien, aber das alles konnte mich nicht schwermütig machen, denn ich kam zur Welt mit einem Hauch Urwald in der Erinnerung. Mein Vater, ein Indio mit gelben Augen, war an jenem Ort zu Hause, wo hundert Flüsse zusammenfließen, er roch nach Wald und blickte nie hinauf in den Himmel, denn er war unter der Kuppel der Bäume groß geworden, und das Licht dünkte ihn schamlos. Consuelo, meine Mutter, verbrachte ihre Kindheit in einer verzauberten Region, wo Abenteurer durch die Jahrhunderte hin die Stadt aus purem Gold gesucht hatten – die Konquistadoren hatten sie erblickt, als sie sich über die Abgründe ihrer eigenen Gier gebeugt hatten. Sie war von der Landschaft geprägt, und es gelang ihr, dieses Prägemal auf mich zu übertragen.

Die Missionare lasen sie auf, als sie noch nicht laufen konnte, ein nacktes Tierchen, mit Dreck und Kot besudelt, das über die Anlegestelle kroch wie ein winziger Jonas, den ein Süßwasserwal ausgespien hatte. Als sie es badeten, entdeckten sie, daß dies zweifellos ein Mädchen war, was sie in einige Verwirrung gestürzt haben muß, aber nun war es einmal da, und es in den Fluß zu werfen ging nicht an, also wickelten sie es in eine Windel, um seine Blöße zu bedecken, träufelten ihm Zitronensaft in die eitrig verklebten Augen, um die Infektion zu heilen, und tauften es auf den ersten weiblichen Namen, der ihnen einfiel. Sie nahmen sich seiner Erziehung ohne viel Aufhebens an und suchten nicht lange nach Erklärungen für seine Herkunft, denn sie waren sicher, daß die göttliche Vorsehung, die es am Leben erhalten hatte, bis sie es fanden, auch weiterhin über seine körperliche und geistige Unversehrtheit wachen und es schlimmstenfalls zu anderen Unschuldigen in den Himmel hinaufholen würde.

Consuelo wuchs auf ohne einen festen Platz in der strengen Hierarchie der Mission. Sie war nicht eigentlich Dienstmagd, stand auch nicht auf derselben Stufe wie die Indios in der Schule, und wenn sie fragte, welcher der Ordensbrüder ihr Papa sei, bekam sie für ihre Unverschämtheit eine Ohrfeige. Mir erzählte sie, ein holländischer Seefahrer hätte sie in einem Boot ausgesetzt, aber das ist sicherlich ein Märchen, das sie später erfand, wenn meine bohrenden Fragen ihr lästig wurden. Ich glaube, daß sie in Wirklichkeit nicht wußte, woher sie stammte und auf welche Weise sie an jenen Ort geraten war.

Die Mission war eine kleine Oase inmitten einer üppigen Vegetation, die in sich verflochten und verstrickt bis zum Fuß gewaltiger, wie Irrtümer Gottes in den Himmel ragender geologischer Türme wuchert. Hier hat sich die Zeit in sich selbst gedreht, und die Entfernungen täuschen das Auge und verführen den Reisenden dazu, im Kreis zu gehen. Die dichte, feuchte Luft riecht nach Blumen, modrigem Laub, menschlichem Schweiß und tierischer Ausdünstung. Die Hitze ist drückend, keine lindernde Brise weht, die Steine glühen, und das Blut kocht in den Adern.

Gegen Abend wimmelt die Luft von phosphoreszierenden Moskitos, deren Stiche einem noch lange zu schaffen machen, und in den Nächten hört man das Schilpen der Vögel, das Kreischen der Affen und das ferne Donnern der Wasserfälle, die hoch oben in den Bergen entspringen und mit kriegerischem Gedröhn herabstürzen. Das bescheidene Missionsgebäude aus Stroh und Lehm mit einem hölzernen Turm aus kreuzweise übereinandergefügten Balken und einer Glocke, die zur Messe rief, balancierte wie alle Hütten ringsum auf Pfählen, eingegraben in den Schlamm eines Flusses mit schillernden Wassern, die sich im blendenden Widerschein des Sonnenlichts ins Grenzenlose verloren.

Es muß leicht gewesen sein, Consuelo schon von weitem zu erkennen, mit ihrem langen Haar, rot wie ein Leuchtzeichen in dem ewigen Grün dieser Welt. Ihre Spielkameraden waren ein paar kleine Indios mit vorstehenden Bäuchen, ein frecher Papagei, der das Vaterunser aufsagen konnte, in das er unanständige Schimpfworte mischte, und ein Affe, der an ein Tischbein gekettet war. Hin und wieder band sie ihn los, damit er sich im Wald eine Gefährtin suchte, aber er kam stets zurück, um sich an seinem angestammten Platz die Flöhe aus dem Fell zu pflücken. Zu der Zeit zogen schon die Protestanten im Urwald umher, verteilten Bibeln, predigten gegen den Vatikan und schleppten durch Sonne und Regen auf Karren ihre Klaviere mit, damit die Bekehrten bei Gottesdiensten unter freiem Himmel dazu singen konnten. Diese Konkurrenz verlangte von den Brüdern volle Aufmerksamkeit, sie kümmerten sich kaum noch um Consuelo, die dennoch am Leben blieb, von der Sonne verbrannt, mit Maniok und Fisch kümmerlich ernährt, von Parasiten befallen, von Moskitos zerstochen, frei wie ein Vogel. Zwar mußte sie bei den häuslichen Verrichtungen helfen, sich zu den Messen einfinden und ein paar Stunden Unterricht in Lesen, Rechnen und Katechismus absitzen, aber sonst hatte sie keine Pflichten, und so streifte sie umher, spürte unbekannte Pflanzen auf und jagte den Tieren nach, den Kopf voll von Bildern, Düften, Farben und von Geschichten, die vom jenseitigen Ufer mitgebracht wurden, und von Märchen und Mythen, die der Fluß herbeitrug.

Sie war zwölf Jahre alt, als sie den Hühnermann kennenlernte, einen in Unwettern gedörrten Portugiesen, nach außen hart und trocken, innen aber voller Lachen. Seine Hühner verschlangen marodierend jedes glitzernde Ding, das ihnen vor die Füße kam, und ihr Herr schnitt ihnen später mit dem Messer den Kropf auf und erntete ein paar Goldkörner, nicht genug, um ihn reich zu machen, aber genug, um seine Illusionen zu nähren. Eines Morgens entdeckte der Portugiese das Mädchen mit der weißen Haut und dem Feuerbrand auf dem Kopf, das, den Rock hochgeschürzt, mit den Beinen im Wasser stand, und er glaubte, ihn hätte wieder das Wechselfieber gepackt. Vor Verblüffung stieß er einen Pfiff aus, als wollte er ein Pferd herbeirufen. Sie hörte den Pfiff, hob den Kopf, ihre Blicke trafen sich, und beide lächelten sich zu. Von diesem Tag an kamen sie oft zusammen, er, um sie entzückt anzustarren, und sie, um portugiesische Lieder zu lernen.

»Komm, wir gehen Gold ernten«, sagte er eines Tages.

Sie drangen in den Wald ein, bis sie den Glockenturm der Mission aus den Augen verloren, schlugen sich durch das Dickicht auf Wegen, die nur er sah. Den ganzen Tag suchten sie die Hühner zusammen, lockten sie krähend wie Hähne und erwischten sie am Gefieder, wenn es durch das Laubwerk schimmerte. Während Consuelo sie zwischen den Knien festhielt, öffnete er ihnen mit einem präzisen Schnitt den Kropf und klaubte die Körnchen heraus. Die Tiere, die nicht daran starben, wurden mit Nadel und Faden wieder zugenäht, damit sie ihrem Herrn weiterhin dienen konnten, die übrigen stopften sie in einen Sack, um sie im Dorf zu verkaufen oder als Fischköder zu benutzen, und aus den Federn machten sie ein Scheiterhäufchen, weil die sonst Unglück brachten und den Pips übertrugen. Als es Abend wurde, kehrte Consuelo heim, das Haar zerzaust, über und über mit Blut bespritzt und höchst zufrieden mit dem Tag. Sie verabschiedete sich von dem Freund, kletterte vom Boot die Hängeleiter hinauf zur Plattform des Missionshauses und stieß mit der Nase auf die vier schmutzigen Sandalen von zwei Mönchen aus Estremadura, die sie schon erwarteten, die Arme über der Brust gekreuzt, die Gesichter zu einer Grimasse des Abscheus verzogen.

»Höchste Zeit, daß du in die Stadt kommst!« sagten sie.

Alles Betteln half nichts. Sie erlaubten ihr auch nicht, den Affen oder den Papagei mitzunehmen: zwei ganz und gar unpassende Gefährten für das neue Leben, das ihrer harrte.

Sie brachten sie zusammen mit fünf Eingeborenenmädchen fort, alle waren an den Fußknöcheln gefesselt, damit sie nicht aus der Piroge sprangen und im Fluß verschwanden. Der Portugiese nahm mit einem langen Blick von Consuelo Abschied, ohne sie zu berühren, und gab ihr zur Erinnerung ein Klümpchen Gold, das wie ein Zahn geformt war und durch das er eine Schnur gezogen hatte. – Sie würde es fast ihr Leben lang tragen, bis sie einem begegnete, dem sie es als Liebespfand schenkte. – Er sah sie zum letzten Mal, als sie ihm Lebewohl winkte, in ihrer Schürze aus verschossenem Perkal, einen Strohhut tief bis über die Ohren gezogen, barfuß und traurig.

Die Reise begann im Kanu über die Nebenarme des Flusses durch eine ungeheuerliche Landschaft, dann ging es auf Maultieren weiter über schroffe Bergrücken, wo nachts die Gedanken vor Kälte erstarrten, und schließlich im Lastwagen durch feuchte Ebenen, durch Wälder mit wilden Bananenstauden und Zwergananas, über salzige und sandige Wege, aber nichts konnte das Kind überraschen, denn wer in der sinnenverwirrendsten Gegend dieser Erde zum erstenmal die Augen geöffnet hat, verliert die Fähigkeit zu staunen. Auf dieser langen Fahrt weinte sie alle Tränen, die ihr Inneres hergab, ohne einen Vorrat für kommenden Kummer zu lassen. Als der Tränenbrunnen endlich versiegt war, kniff sie den Mund fest zu, entschlossen, ihn künftig nur noch aufzumachen, um das unumgänglich Nötige zu antworten.

Endlich kamen sie in der Hauptstadt an, und die Mönche brachten die verstörten Mädchen zum Kloster der Barmherzigen Schwestern, wo eine Nonne die eiserne Tür mit einem Kerkermeisterschlüssel öffnete. Sie führte sie in einen weiten, schattigen, von Bogengängen umgebenen Innenhof, in dessen Mitte sich ein mit bemalten Fliesen verzierter Springbrunnen erhob, an dem Tauben, Drosseln und Kolibris tranken. Eine Gruppe junger Mädchen saß im Schatten, sie nähten mit gebogenen Nadeln Matratzenbezüge oder flochten Weidenkörbe.

»Im Gebet und in der Mühsal werden sie Linderung für ihre Sünden finden. Ich bin nicht gekommen, die Gesunden zu heilen, sondern mich der Kranken anzunehmen. Mehr freut sich der Hirt über das verlorene Schaf, das er wiederfindet, als über seine ganze versammelte Herde. Worte Gottes, gepriesen sei sein Name, Amen«, dieses oder ähnliches schnurrte die Nonne herunter, die Hände in den Falten des Gewandes verborgen.

Consuelo verstand den Sinn dieser rednerischen Darbietung nicht, sie hörte auch gar nicht hin, sie war erschöpft, und das Gefühl, eingeschlossen zu sein, drückte sie nieder. Noch nie war sie zwischen Mauern eingesperrt gewesen, und als sie nach oben blickte und den Himmel zu einem Viereck zusammengeschrumpft sah, glaubte sie zu ersticken. Als sie von ihren Reisegefährtinnen getrennt und in das Arbeitszimmer der Mutter Oberin gebracht wurde, ahnte sie nicht, daß dies ihrer Haut und ihrer hellen Augen wegen geschah. Die Nonnen hatten ein Kind wie sie seit vielen Jahren nicht bei sich gesehen, nur dunkelhäutige Mischlinge, die aus den Armenvierteln kamen, oder von den Missionaren mit Gewalt herbeigeschaffte Indiomädchen.

»Wer sind deine Eltern?«

»Weiß ich nicht.«

»Wann bist du geboren?«

»Im Jahr des Kometen.«

Damals schon ersetzte Consuelo durch poetische Umwege, was ihr an Wissen fehlte. Als sie zum erstenmal von dem Kometen reden hörte, hatte sie sofort beschlossen, ihn sich für ihr Geburtsdatum anzueignen. In ihrer frühesten Kindheit hatte ihr jemand erzählt, damals hätten die Menschen das himmlische Wunder voller Angst und Entsetzen erwartet. Sie glaubten, der Komet würde wie ein feuriger Drachen emporsteigen, und bei der Berührung mit der Erdatmosphäre würde sein Schweif den Planeten in eine riesige Wolke giftiger Gase hüllen und mit Lavaglut allem Leben ein Ende setzen. Viele begingen Selbstmord, um nicht zu Tode geröstet zu werden, andere zogen es vor, sich in Freßorgien und Saufgelagen und sexuellen Ausschweifungen zu betäuben. Selbst der Große Wohltäter wurde mitgerissen und sah schon den Himmel grün gefärbt und ließ sich belehren, daß unter dem Einfluß des Kometen sich das Kräuselhaar der Mulatten glätten und das glatte Haar der Chinesen kräuseln würde, und er befahl, einige seiner Gegner freizulassen, die bereits so lange gefangensaßen, daß sie das Sonnenlicht vergessen hatten, wenn auch der eine oder andere den Keim der Revolution unversehrt bewahrte, um ihn an künftige Generationen weiterzugeben. Consuelo gefiel der Gedanke, inmitten von so viel Grausen geboren zu sein, obwohl es hieß, daß damals alle Neugeborenen abschreckend häßlich auf die Welt gekommen und es auch geblieben wären, Jahre, nachdem der Komet, eine Kugel aus Eis und Sternenstaub, im Weltall verschwunden war.

»Zuallererst muß dieser Satansschwanz ab«, sagte die Mutter Oberin und wog in beiden Händen den rotkupfernen Zopf der neuen Klosterschülerin. Sie gab Anweisung, ihn abzuschneiden und den Kopf mit einer Mischung aus Waschlauge und Aureolina Onirem zu waschen, um die Läuse zu beseitigen und die unverschämte Farbe zu mildern. Damit fiel die Mähne, und das verbliebene Haar nahm einen lehmigen Ton an, der dem Temperament und den Zielen der religiösen Anstalt angemessener war als der flammende Schopf.

An diesem Ort verbrachte Consuelo drei Jahre, frierend an Leib und Seele, verschlossen und einsam, und konnte nicht glauben, daß die bleiche Patiosonne dieselbe Sonne war, die daheim auf den Urwald herabbrannte. Dorthin war der profane Stadtlärm nicht gedrungen, und auch der neue nationale Wohlstand tat es nicht, der begründet wurde, als jemand einen Brunnen grub und statt Wasser ein schwarzer, dicker, stinkender Schwall hochschoß wie Dinosaurierunflat. Das Vaterland saß in einem Erdölmeer. Die schläfrige Diktatur wachte auf, denn das Vermögen des Tyrannen und seiner Sippe vermehrte sich plötzlich in solchem Maße, daß sogar etwas für die übrigen abfiel. In den Städten zog hier und da ein wenig Fortschritt ein, auf den Ölfeldern erschienen stämmige Vorarbeiter aus dem Norden, und die Begegnung mit ihnen brachte alte Traditionen ins Wanken, eine frische Brise wehte Modisches herbei und hob die Röcke der Frauen an, im Kloster der Barmherzigen Schwestern jedoch blieb all das ohne Bedeutung. Das Leben begann um vier Uhr früh mit den ersten Gebeten, der Tag verlief in unwandelbarer Ordnung und endete mit dem Glockengeläut um sechs Uhr abends, das die Stunde der Buße verkündete, in der man den Geist zu reinigen und sich auf die Möglichkeit des Sterbens vorzubereiten hatte, denn schon die Nacht konnte die Reise ohne Wiederkehr bringen. Lange Schweigestunden, Flure mit blankgescheuerten Fliesen, Geruch nach Weihrauch und Lilien, Gemurmel von Gebeten, Bänke aus dunklem Holz, weiße, schmucklose Wände. Gott war alles umfassende Gegenwart.

Außer den Nonnen und einem Dienerpaar lebten in dem weiträumigen Ziegelbau siebzehn Mädchen, zum größten Teil Waisen und Ausgesetzte, die hier lernten, Schuhe zu tragen, mit der Gabel zu essen und einige einfache Arbeiten zu bewältigen, damit sie sich später als Dienstmädchen verdingen konnten, denn anderes traute man ihnen nicht zu. Consuelos Aussehen hob sie aus der Gruppe heraus, und die Nonnen, überzeugt, daß es kein Zufall sei, sondern vielmehr ein Zeichen göttlichen Wohlwollens, hofften fromm und beharrlich, daß sie sich entschließen würde, in den Orden einzutreten und der Kirche zu dienen, doch all ihre Anstrengungen scheiterten an der instinktiven Abwehr des Mädchens. Sosehr sie sich bemühte, es gelang ihr nicht, diesen tyrannischen Gott anzuerkennen, sie wollte lieber eine Gottheit haben, die fröhlicher, mitfühlender und mütterlicher war.

»Das ist die Allerheiligste Jungfrau Maria«, erklärten sie ihr.

»Und sie ist Gott?«

»Nein, sie ist die Mutter Gottes!«

»Ja, aber wer hat im Himmel mehr zu sagen, Gott oder seine Mama?«

»Schweig still, törichtes Ding, schweig still und bete! Bitte den Herrn, daß er dich erleuchten möge!« ermahnten sie sie streng.

Consuelo setzte sich in die Kapelle, betrachtete den Altar, den ein furchterregender naturalistischer Christus krönte, und versuchte den Rosenkranz abzubeten, aber bald schon verlor sie sich in Träume voll endloser Abenteuer, in denen die Erinnerungen an den Urwald abwechselten mit den Gestalten aus der biblischen Geschichte, deren jede ihre Last an Leidenschaften, Rachetaten, Martyrien und Wundern trug. Sie nahm alles begierig in sich auf, die rituellen Worte der Messe, die sonntäglichen Predigten, die frommen Lesungen, die Geräusche der Nacht, wenn der Wind um die Säulen des Ganges strich, den einfältigen Gesichtsausdruck der Heiligen und Anachoreten in ihren Nischen. Sie lernte es, sich brav und still zu verhalten, und hütete ihren unermeßlichen Reichtum an Geschichten wie einen geheimen Schatz, bis sie ihn vor mir ausbreiten konnte und die Worte wie ein Strom flossen.

Consuelo verbrachte so viel Zeit in unverrückter Gelassenheit mit gefalteten Händen in der Kapelle, daß im Kloster das Gerede umging, sie sei gesegnet und habe himmlische Visionen. Aber die Mutter Oberin, eine nüchterne Katalanin und weniger geneigt, an Wunder zu glauben als die übrigen Nonnen ihres Ordens, begriff recht gut, daß es sich hier nicht um heilige Entrücktheit, sondern vielmehr um unheilbare Zerstreutheit handelte. Da das Mädchen auch keinerlei Begeisterung für das Matratzennähen, Hostienanfertigen oder Körbeflechten zeigte, betrachtete sie ihre Ausbildung als abgeschlossen und brachte sie als Dienstmädchen bei einem ausländischen Arzt, dem Professor Jones, unter. Sie führte sie an der Hand zu seinem Haus, das, ein wenig altersschwach, aber immer noch prächtig in seiner französischen Bauweise, am Stadtrand stand, am Fuß eines Hügels, den die Behörden inzwischen in einen Nationalpark umgewandelt haben.

Der erste Eindruck, den Consuelo von Professor Jones bekam, war so nachhaltig, daß sie monatelang die Angst vor ihm nicht verlor. Er trat ins Zimmer in einer Fleischerschürze und mit einem seltsamen metallenen Instrument in der Hand, er grüßte nicht, verabschiedete die Nonne mit ein paar unverständlichen Sätzen, und sie selbst schickte er mit einem Knurren in die Küche, ohne einen Blick an sie zu verschwenden, weil seine Gedanken völlig von seiner Arbeit in Anspruch genommen waren. Consuelo dagegen betrachtete ihn genau und voller Scheu, denn sie hatte noch nie ein derart bedrohliches Wesen gesehen, das dabei jedoch schön war wie ein goldenes Christusbild, und sein blondes Haar war das eines Prinzen, und die Augen leuchteten in einer unbeschreiblichen Farbe.

Der einzige Dienstherr, den Consuelo in ihrem Leben haben sollte, hatte Jahre daran gewandt, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem er Tote konservieren konnte – ein Geheimnis, das er am Ende mit ins Grab nahm, zum Wohle der Menschheit. Er arbeitete auch an einer Heilmethode gegen den Krebs, denn er hatte beobachtet, daß in den von Malaria heimgesuchten Zonen diese Krankheit nicht sehr häufig auftritt, und schloß daraus, daß er die Krebsleidenden kurieren könne, wenn er sie den Stichen der Sumpfmoskitos aussetzte. Von der gleichen Logik geleitet, experimentierte er mit Schwachsinnigen, denen er kräftige Schläge auf den Kopf versetzte, denn er hatte in einer medizinischen Zeitschrift gelesen, daß ein Mann sich dank einer Gehirnverletzung in ein Genie verwandelt hatte. Er war ein entschiedener Antisozialist, er hatte ausgerechnet, wenn man die Reichtümer der Welt aufteilte, würde jeder Bewohner dieser Erde fünfunddreißig Centavos bekommen, folglich waren Revolutionen sinnlos. Er sah strahlend gesund und kräftig aus, litt an ständiger schlechter Laune und verfügte über die Kenntnisse eines Gelehrten und die Kniffe eines Sakristans.

Sein Balsamierungsverfahren war von bewundernswerter Einfachheit, wie fast alle großen Erfindungen. Kein Eingeweideherauszerren, kein Hirnschaleauskratzen, kein Einlegen in Formaldehyd und Füllen mit Pech und Werg, damit die Leiche zum Schluß runzlig wie eine Dörrpflaume aussah und mit bemalten Glasaugen betreten ins Leere starrte. Er entzog lediglich dem noch warmen Leichnam das Blut und ersetzte es durch eine Flüssigkeit, die den Toten wie lebend bewahrte. Die Haut, wiewohl bleich und kalt, zerfiel nicht, das Haar blieb fest, und in einigen Fällen lösten sich nicht einmal die Nägel ab und wuchsen sogar weiter. Einzig unangenehm war vielleicht ein gewisser scharfer, durchdringender Geruch, an den sich die Angehörigen aber nach und nach gewöhnten.

Leider gaben sich nur wenige Patienten freiwillig dazu her, von heilkräftigen Insekten gestochen oder zwecks Erhöhung der Intelligenz mit dem Knüppel auf den Kopf geschlagen zu werden, aber Professor Jones’ Ruf als Einbalsamierer war über den Ozean geflogen, und häufig besuchten ihn europäische Wissenschaftler oder nordamerikanische Geschäftsleute, die darauf brannten, ihm sein Verfahren abzujagen. Immer gingen sie mit leeren Händen. Der bekannteste Fall, der seinen Ruhm über die ganze Welt verbreitete, war der eines renommierten Anwalts der Stadt, der liberale Neigungen zeigte, weshalb der Wohltäter befahl, ihn am Schluß der Premiere der Zarzuela »La Paloma« im Stadttheater zu erschießen. Dem Professor wurde der noch warme Leichnam gebracht, von Kugeln durchlöchert, aber mit unverletztem Gesicht. Obwohl er das Opfer als ideologischen Feind betrachtete – denn er selbst war ein Anhänger autoritärer Regime und traute der Demokratie nicht über den Weg, sie schien ihm vulgär und dem Sozialismus allzu ähnlich –, trotzdem also machte er sich an die Aufgabe, den Körper zu konservieren. Die Arbeit gelang ihm so gut, daß die Familie den Toten, bekleidet mit seinem besten Anzug und mit einem Federhalter in der rechten Hand, in die Bibliothek setzte und ihn jahrzehntelang gegen Motten und Staub verteidigte, als ein Mahnmal gegen die Grausamkeit des Diktators, der nicht einzugreifen wagte, denn sich mit den Lebenden anlegen ist eine Sache, aber über die Toten herfallen eine ganz andere.

Nachdem Consuelo ihre anfängliche Furcht erst einmal überwunden hatte und als sie begriff, daß die Schlächterschürze und der Grabgeruch ihres Patróns für sie nebensächlich waren, denn in Wirklichkeit war leicht mit ihm umzugehen, er war durchaus ansprechbar und gelegentlich sogar freundlich – da also begann sie sich wohl zu fühlen in diesem Haus, das ihr im Vergleich zum Kloster wie das Paradies vorkam. Hier stand niemand in aller Frühe auf, um zum Heile der Menschheit den Rosenkranz zu beten, hier mußte sie sich nicht auf eine Handvoll Erbsen knien, um mit den eigenen Schmerzen die Schuld anderer abzubüßen. Wie in dem alten Bau der Barmherzigen Schwestern gingen auch in diesem Haus stille Spukgestalten um, deren Gegenwart jeder spürte, nur nicht Professor Jones, der sie hartnäckig leugnete, da Gespenster jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrten. Obwohl Consuelo schwere Arbeit zu leisten hatte, fand sie noch Zeit für ihre Träume, und niemand belästigte sie damit, in ihr Schweigen wundersame Tugenden hineinzudeuten. Sie war ein kräftiges Mädchen, beklagte sich nie und gehorchte, ohne zu fragen, wie die Nonnen es sie gelehrt hatten. Sie karrte den Unrat fort, wusch und bügelte, reinigte die Aborte, nahm das Eis für die Kühlkisten an, das täglich auf Eselsrücken gebracht wurde, sie half Professor Jones, die Wunderlösung in große Apothekengläser zu füllen, versorgte die Leichen, säuberte sie von Staub und Schmutz, kleidete sie an, kämmte sie und bemalte ihnen die Wangen mit Karminrot. Der Gelehrte war sehr zufrieden mit seinem Dienstmädchen. Bevor sie zu ihm kam, hatte er allein und unter strikter Geheimhaltung gearbeitet, aber mit der Zeit gewöhnte er sich an Consuelo und erlaubte ihr, ihm im Laboratorium zu helfen, denn er war sicher, daß von diesem schweigsamen Mädchen keine Gefahr drohte. Sie war immer in der Nähe, wenn er sie brauchte, er konnte Jackett und Hut einfach fallen lassen, ohne sich umzusehen – sie fing sie in der Luft auf. Er vertraute ihr schließlich blind, und so kam es, daß außer dem Erfinder Consuelo der einzige Mensch war, der die Wunderformel kannte, aber diese Kenntnis war an sie verschwendet, denn der Gedanke, ihren Patrón zu verraten und sein Geheimnis zu Geld zu machen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Sie haßte es, Leichen herzurichten, und verstand nicht, weshalb man sie einbalsamieren mußte; wenn das einen Sinn hätte, würde die Natur das vorgesehen und nicht zugelassen haben, daß sie verfaulten, dachte sie.

Viele Jahre vergingen für Consuelo ohne besondere Ereignisse. Was an Neuem in ihrer Umgebung geschah, nahm sie nicht wahr, denn das Haus von Professor Jones war nicht weniger klösterlich abgeschieden als das der Barmherzigen Schwestern. Hier gab es zwar ein Radio, aus dem man die Nachrichten empfangen konnte, aber es wurde selten eingeschaltet, ihr Patrón hörte sich lieber die Opernplatten an, die er auf seinem erstklassigen Grammophon abspielte. Auch Tageszeitungen kamen nicht ins Haus, nur wissenschaftliche Zeitschriften, denn den Gelehrten interessierte nicht, was im Lande und in der Welt vor sich ging – Forschung, Statistiken, Prognosen einer hypothetischen Zukunft reizten ihn weit mehr als die trivialen Vorkommnisse der Gegenwart. Das Haus war ein riesiges Bücherlabyrinth. In den Regalen, die sich an den Wänden entlangzogen, waren vom Fußboden bis zur Decke die Bände angehäuft, dunkel eingebunden, nach Leder riechend, glatt und knisternd, wenn man mit der Hand darüberfuhr, mit ihrem Goldschnitt, ihrem feinen, durchscheinenden Papier, ihrem erlesenen Druck. Das kostbarste Gedankengut aus aller Welt fand sich in diesen Fächern, ohne ersichtliche Ordnung aufgereiht, aber der Professor erinnerte sich genau, wo er jedes einzelne Buch zu suchen hatte. Shakespeares Werke ruhten an der Seite des »Kapitals«, die Lebensregeln des Konfuzius standen gleich neben dem »Leben der Robben«, die Karten alter Seefahrer lagen neben nordischen Dichtungen und indischer Poesie. Consuelo verbrachte mehrere Stunden am Tag damit, die Bände abzustauben. Wenn sie mit dem letzten Regal fertig war, mußte sie mit dem ersten wieder beginnen, aber dies war ihr die liebste Arbeit. Sie nahm die Bücher behutsam in die Hand, klopfte wie liebkosend den Staub ab und blätterte in den Seiten, um sich ein paar Minuten in die eigene Welt eines jeden zu versenken. Sie lernte sie zu unterscheiden und in den Fächern wiederzufinden. Niemals wagte sie zu bitten, ob sie sich eines ausleihen dürfe, also zog sie sie heimlich heraus, trug sie in ihr Zimmer, las sie des Nachts und stellte sie am Tag darauf wieder an ihren Platz.

Von den politischen Umwälzungen, Katastrophen oder Fortschritten ihrer Zeit wußte Consuelo nicht das geringste, aber von den Studentenunruhen im Land erfuhr sie alles bis ins kleinste, denn sie ereigneten sich, als Professor Jones durch das Stadtviertel spazierte und die berittenen Polizisten ihn beinahe umgebracht hätten. Sie hatte danach zu tun, ihm Pflaster auf die Wunden zu kleben und ihn mit Suppe und Bier aus einer Babyflasche zu füttern, bis seine losen Zähne sich wieder gefestigt hatten. Der Professor war ausgegangen, um einige für seine Experimente notwendige Chemikalien zu besorgen, ohne daran zu denken, daß Karneval war, ein ausschweifendes Fest, das jedes Jahr seine Strecke an Toten und Verletzten zurückließ, wenn auch diesmal die Schlägereien zwischen Betrunkenen untergingen in Zusammenstößen anderer Art, deren Widerhall die dösenden Gewissen aufschreckte. Jones überquerte gerade die Straße, als der Tumult losbrach. In Wirklichkeit hatten die Probleme schon zwei Tage früher begonnen, als die Studenten in der ersten demokratischen Abstimmung des Landes eine Schönheitskönigin wählten. Nachdem die jungen Leute sie gekrönt und wunderhübsche Reden gehalten hatten, in denen einige mit plötzlich gelöster Zunge von Freiheit und Unabhängigkeit sprachen, beschlossen sie, auf die Straße zu gehen. Niemals zuvor hatte man derartiges erlebt. Die Polizei zögerte achtundvierzig Stunden einzugreifen und tat das dann just in dem Augenblick, als Professor Jones mit seinen Fläschchen und Pülverchen aus der Apotheke getreten war. Er sah die Polizisten mit aufgepflanztem Bajonett herangaloppieren, aber er wich weder vom Wege ab, noch beschleunigte er den Schritt, denn er war in Gedanken mit einer seiner chemischen Formeln beschäftigt und fand den ganzen Lärm nur reichlich geschmacklos. Er kam auf einer Tragbahre wieder zu sich, deren Träger Kurs auf das Armenhospital nahmen. Er schaffte es, ihnen seine Adresse zuzuflüstern, wobei er die Zähne mit der Hand festhalten mußte, damit sie ihm nicht auf die Straße rollten.

Während er sich, in seine Kissen vergraben, von dem Ungemach erholte, nahm die Polizei die Anführer des Aufruhrs fest und steckte sie ins Gefängnis, aber sie wurden nicht geschlagen, denn unter ihnen befanden sich Kinder aus angesehensten Familien. Ihre Verhaftung löste eine Woge der Solidarität aus, und am folgenden Tag erschienen Dutzende von jungen Leuten in den Gefängnissen und Polizeikasernen und boten sich als freiwillige Häftlinge an. Sie wurden eingesperrt, wie sie kamen, aber wenige Tage später mußten sie wieder freigelassen werden, denn in den Zellen war kein Platz mehr, und das Wehgeschrei der Mütter begann die Verdauung des Wohltäters zu beeinträchtigen.

Monate später, als die Zähne von Professor Jones endlich wieder fest saßen und er die moralischen Wunden allmählich verwand, empörten sich die Studenten abermals, diesmal unter Mitwirkung einiger junger Offiziere. Der Kriegsminister schlug den Aufstand binnen sieben Stunden nieder, und die Aufrührer, die sich retten konnten, gingen ins Exil. Dort blieben sie sieben Jahre, bis zum Tode des Großen Wohltäters, der sich den Luxus leistete, im Bett zu sterben statt bei den Hoden aufgehängt an einem Laternenpfahl, wie seine Feinde wünschten und der nordamerikanische Botschafter befürchtete.

Mit dem Tode des alten Caudillo ging jene lange Diktatur zu Ende, und Professor Jones war drauf und dran, sich wieder nach Europa einzuschiffen, denn er war wie viele andere überzeugt, daß das Land nun unabwendbar im Chaos versinken werde. Die Staatsminister ihrerseits, in bleicher Furcht vor einem möglichen Volksaufstand, traten in aller Eile zusammen, und einer von ihnen schlug vor, Professor Jones zu rufen, denn er dachte, wenn der Cid Campeador als Leichnam auf seinem Streitroß festgebunden die Mauren hatte bekriegen können, sei nicht einzusehen, weshalb der Lebenslängliche Präsident nicht einbalsamiert auf seinem Tyrannenthron weiterregieren sollte.

Professor Jones folgte der Aufforderung, begleitet von Consuelo, die seine Tasche trug und gleichmütig die Häuser mit den roten Dächern, die Straßenbahnen, die Männer in Strohhüten und zweifarbigen Schuhen betrachtete und sich im Palast über die Mischung aus Luxus und Schlampigkeit wunderte. In den Monaten, da der Diktator schon bettlägerig gewesen war, hatten sich die strengen Sicherheitsvorkehrungen gelockert, und in diesen Stunden, die auf seinen Tod folgten, herrschte die äußerste Verwirrung, und so hielt niemand den Besucher und seine Gehilfin auf. Sie gingen durch zahllose Korridore, Salons, Kabinette und traten endlich in das Zimmer, wo der mächtige Mann ruhte – der Vater eines guten Hunderts von Bastarden, Herrscher über Leben und Tod seiner Untertanen, Besitzer eines ungeheuren Vermögens lag in Nachthemd und Glacéhandschuhen in seinem eigenen Urin. Draußen zitterten die Herren seines Gefolges und ein paar Konkubinen, während die Minister schwankten: sollten sie ins Ausland fliehen oder bleiben und abwarten, ob die Mumie des Wohltäters auch weiterhin die Geschicke des Landes leiten konnte?

Professor Jones stellte sich neben den Leichnam und betrachtete ihn mit dem Interesse eines Entomologen.

»Stimmt es, daß Sie Tote konservieren können, Doktor?« fragte ihn ein fetter Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart, der dem des Diktators ähnelte.

»Hmm …«

»Dann rate ich Ihnen, es nicht zu tun, denn jetzt regiere ich, und ich bin sein Bruder, vom selben Schrot und Korn«, sagte der Fette drohend und deutete auf ein riesiges Schießeisen, das hinter seinem Gürtel steckte.

In diesem Augenblick erschien der Kriegsminister, nahm den Gelehrten am Arm und führte ihn beiseite.

»Sie werden doch wohl nicht daran denken, uns den Präsidenten einzubalsamieren …«

»Hmmm …«

»Besser für Sie, wenn Sie sich da raushalten, denn jetzt befehle ich, und ich habe das Heer fest in der Hand!« Verblüfft verließ der Professor, von Consuelo gefolgt, den Palast. Niemals erfuhr er, wer ihn gerufen hatte noch wozu. Ärgerlich murmelte er vor sich hin, diese tropischen Völker zu verstehen sei einfach unmöglich, und das beste wäre, in seine geliebte Heimatstadt zurückzukehren, wo die Gesetze der Logik und des zivilen Umgangs noch Gültigkeit hätten und von wo er nie hätte fortgehen sollen.

Der Kriegsminister übernahm die Regierungsgeschäfte, ohne genau zu wissen, wie er sie handhaben sollte, denn er hatte immer unter der Fuchtel des Wohltäters gestanden und konnte sich nicht erinnern, während seiner ganzen Laufbahn auch nur einmal aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben. Im Land herrschte Unsicherheit, denn das Volk weigerte sich zu glauben, daß der Lebenslängliche Präsident wirklich tot war, und dachte, der Greis, der da in dem Pharaonensarkophag aufgebahrt war, könnte nur Teil eines Zauberkunststücks sein, ein weiterer Trick des großen Hexenmeisters, seine Verleumder an der Nase zu führen. Die Leute schlossen sich in ihre Wohnungen ein und wagten nicht, den Fuß vor die Tür zu setzen, bis die Polizei sie aus den Häusern herausprügelte und gewaltsam in die Trauerschlange steckte, damit sie dem Gebieter die letzte Ehre erwiesen, der zwischen den Wachskerzen und den eigens aus Florida eingeflogenen Lilien schon zu stinken begann.

Als das Volk die prächtigen Beisetzungsfeierlichkeiten sah, denen hohe kirchliche Würdenträger in ihren Galaornaten vorstanden, da ließ es sich endlich überzeugen, daß dem Tyrannen die Unsterblichkeit fehlgeschlagen war, und nun begann es zu feiern. Das Land erwachte aus einem langen Schlaf, und Trübsinn und Müdigkeit, die es zu erdrücken schienen, waren in wenigen Stunden abgeschüttelt. Die Leute begannen von einer bescheidenen Freiheit zu träumen. Sie schrien, sie tanzten, sie warfen Fenster ein und plünderten sogar ein paar Häuser von Günstlingen des Präsidenten und steckten den großen schwarzen Packard mit dem unverwechselbaren Signalhorn in Brand, in dem der Wohltäter spazierenzufahren pflegte und Angst verbreitete, wo er sich sehen ließ.

Da erbarmte sich der Kriegsminister der allgemeinen Verwirrung, setzte sich in den Präsidentensessel, gab Befehl, die Gemüter mit Schüssen abzukühlen, und wandte sich dann über den Rundfunk an das Volk und verkündete eine neue Ordnung. Nach und nach kehrte wieder Ruhe ein. Die politischen Gefangenen wurden entlassen, um in den Kerkern Platz zu schaffen für andere, die hineinkamen, und eine fortschrittlichere Regierung versprach, die Nation in das zwanzigste Jahrhundert einzugliedern, was gar nicht so unsinnig war, wenn man bedenkt, daß dessen Beginn um mehr als dreißig Jahre zurücklag. In diesem politischen Ödland entstanden die ersten Parteien, ein Parlament wurde gebildet, und Ideen und Pläne erlebten eine neue Blüte.

An dem Tag, an dem der Anwalt begraben wurde, des Professors Lieblingsmumie, was auf dringendes Ansuchen der Behörden geschah, die keine sichtbaren Toten des vergangenen Regimes mitschleppen wollten, übermannte den Gelehrten ein Wutanfall, der in einem Gehirnschlag gipfelte. Die Familienangehörigen richteten dem berühmten Märtyrer der Tyrannei ein glanzvolles Leichenbegängnis aus, wenn es auch schien, als begrüben sie einen Lebenden, denn er hielt sich immer noch in gutem Zustand. Professor Jones versuchte mit allen Mitteln zu verhindern, daß sein Kunstwerk in einem Mausoleum verschwand, aber alles war vergebens. Er stellte sich mit ausgebreiteten Armen in das Friedhofstor, um den Leichenwagen aufzuhalten, der den silberbeschlagenen Mahagonisarg trug, aber der Kutscher fuhr ungerührt weiter – wäre der Professor nicht beiseite gesprungen, hätte er ihn ohne eine Spur von Respekt plattgewalzt. Als sie die Grabkammer schlossen, stürzte der Balsamierungsexperte, von der Empörung gefällt, zu Boden: der Schlag hatte ihn getroffen. Eine Hälfte seines Körpers war gelähmt, die andere zuckte in Krämpfen. Mit dieser Beisetzung verschwand der überzeugendste Beweis, daß die Wunderformel des Wissenschaftlers imstande war, der Verwesung auf unbegrenzte Zeit hinaus zu trotzen, für immer hinter einem Marmorstein.

Dieses waren die einzigen bedeutenden Ereignisse in den Jahren, in denen Consuelo im Hause von Professor Jones diente. Für sie bestand der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie darin, daß sie nun ab und zu ins Kino ging, um sich die Filme mit Carlos Gardel anzusehen, die früher für Mädchen und unverheiratete Frauen verboten waren, und daß sie ihren Patrón, der seit seinem Wutanfall invalide war, pflegen mußte wie ein kleines Kind. In ihrem Tagesablauf änderte sich wenig, bis zu jenem Morgen im Juli, als der Gärtner von einer Schlange gebissen wurde. Er war ein hochgewachsener, kräftiger Indio mit sanften Gesichtszügen, aber verschlossen und schweigsam, sie hatte noch nicht mehr als zehn Sätze mit ihm gewechselt, obwohl er ihr bei den Leichen, den Krebskranken und den Schwachsinnigen zur Hand ging. Er hob die Patienten hoch wie Federballen, schwang sie sich über die Schulter und stieg mit großen Schritten die Treppe zum Laboratorium hinauf, ohne für das Tun des Professors die geringste Neugier zu zeigen.

»Den Gärtner hat eine Surucucú gebissen!« meldete Consuelo atemlos.

»Wenn er stirbt, bringst du ihn mir her!« wies der Wissenschaftler sie mit seinen verzerrten Lippen an und bereitete sich in Gedanken schon darauf vor, eine Eingeborenenmumie in Gestalt eines Gärtners zu schaffen, der die Sträucher beschnitt, und sie in seinem Garten aufzustellen. Er war inzwischen schon recht alt geworden und hatte die ersten Künstlerdelirien, er träumte davon, mit seinen Mumien alle Berufe darzustellen und so sein eigenes Museum menschlicher Standbilder aufzubauen. Zum erstenmal in ihrem stillen Dasein mißachtete Consuelo einen Befehl und handelte aus eigenem Antrieb. Mit Hilfe der Köchin schleppte sie den Indio in ihr Zimmer im obersten Stockwerk und bettete ihn auf ihren Strohsack. Sie war entschlossen, ihn zu retten, denn es schien ihr ein Jammer, ihn in ein Stück Dekoration verwandelt zu sehen, nur um eine Laune des Patróns zu befriedigen. Zudem hatte sie hin und wieder eine unerklärliche Unruhe verspürt, wenn sie die Hände dieses Mannes angesehen hatte, große, braune, starke Hände, die überaus zart mit den Pflanzen umgingen. Sie reinigte die Wunde mit Wasser und Seife, machte zwei tiefe Schnitte mit dem Küchenmesser und begann das Blut auszusaugen, das sie in einen Topf spuckte. Zwischendurch spülte sie sich jedesmal den Mund mit Essig aus, um nicht auch zu sterben. Danach wickelte sie ihn in Tücher, die mit Terpentinöl getränkt waren, flößte ihm Kräuteraufgüsse zum Abführen ein, legte Spinnweben auf die Wunde und erlaubte der Köchin, Kerzen für die Heiligen anzuzünden, obwohl sie selbst nicht an dieses Heilmittel glaubte. Als der Kranke rot urinierte, holte sie ohne zu fragen die Sandelholztinktur aus dem Arbeitszimmer des Professors, weil sie gut war für die Harnwege, aber so sehr sie sich auch mühte, das Bein schwoll an, und der Mann schien im Sterben zu liegen, bei vollem Bewußtsein und ohne ein Wort der Klage.

Consuelo bemerkte, daß der Gärtner keine Todesangst zeigte, Atemnot und Schmerzen nicht beachtete, sondern höchst angeregt darauf ansprach, wenn sie ihm den Körper abrieb oder ihm Kräuterumschläge machte. Diese unerwartete Erektion rührte ihr Herz, und als er einen Arm um sie legte und sie bittend ansah, begriff sie, daß der Augenblick gekommen war, ihrem Namen gerecht zu werden und den Mann über sein großes Unglück hinwegzutrösten. Zudem bedachte sie, daß sie in den dreißig und mehr Jahren ihres Lebens dieses Vergnügen nicht gekannt und nicht gesucht hatte, sie war überzeugt gewesen, so etwas wäre den Filmschauspielern vorbehalten. Sie beschloß, sich die Freude zu gönnen und sie zugleich auch dem Kranken zu bereiten, vielleicht würde er dann zufriedener in die andere Welt hinübergehen.

Ich habe meine Mutter so bis ins kleinste gekannt, daß ich mir das nun Folgende gut vorstellen kann, obwohl sie mir nicht die Einzelheiten erzählte. Sie kannte keine unnötige Scham und beantwortete alle meine Fragen so klar wie möglich, aber immer, wenn sie von diesem Indio sprach, verstummte sie plötzlich und verlor sich in ihre guten Erinnerungen. Sie zog ihren Baumwollrock, den Unterrock und die Leinenhose aus und löste den Haarknoten im Nacken, den sie auf Anordnung ihres Patróns trug. Ihr langes Haar fiel herab, und so, nur mit ihrem größten Schönheitsmerkmal bekleidet, setzte sie sich auf den Sterbenden, sehr behutsam, um seinen Todeskampf nicht zu verschlimmern. Sie wußte nicht genau, wie sie sich anstellen mußte, denn sie hatte keinerlei Erfahrung in diesen Dingen, aber was ihr an Kenntnis fehlte, schenkten ihr Instinkt und guter Wille. Unter der dunklen Haut des Mannes spannten sich die Muskeln, und sie hatte das Gefühl, auf einem großen, wilden Pferd zu reiten. Während sie ihm frisch erfundene Worte zuflüsterte und ihm mit einem Tuch den Schweiß abtrocknete, ließ sie sich an den rechten Ort hinuntergleiten und bewegte sich dann vorsichtig wie eine Ehefrau, die gewohnt ist, sich mit einem alten Ehemann zu lieben. Plötzlich warf er sie herum und umarmte sie mit der Hast, die ihm die Nähe des Todes aufzwang, und das kurze Glück der beiden beunruhigte die Gespensterschatten in den Winkeln. So wurde ich gezeugt, im Sterbebett meines Vaters.

Jedoch, der Gärtner starb nicht, wie Professor Jones und die Franzosen im Institut für Schlangenforschung gehofft hatten, die seinen Körper für ihre Experimente haben wollten. Wider alle Logik besserte sich sein Zustand, das Fieber sank, sein Atem ging wieder ruhig, und er verlangte zu essen. Consuelo begriff, daß sie, ohne es zu ahnen, ein Gegenmittel gegen Schlangenbisse entdeckt hatte, und verabfolgte es ihm zärtlich und entzückt, sooft er danach verlangte, bis der Patient aufstehen konnte.

Bald danach nahm der Indio Abschied, und sie versuchte nicht, ihn zurückzuhalten. Sie hielten sich ein, zwei Minuten bei den Händen, küßten sich ein wenig traurig, und dann band sie das Goldklümpchen ab, dessen Schnur vom vielen Tragen schon recht abgenützt war, und hängte es ihrem einzigen Geliebten um den Hals, zur Erinnerung an gemeinsame Freuden. Er ging dankbar und fast völlig gesund. Meine Mutter sagte, er sei lächelnd gegangen.

Consuelo zeigte keine Gemütsbewegung. Sie arbeitete weiter wie immer, achtete nicht auf die Übelkeiten, die Schwere der Beine oder die farbigen Punkte, die ihr vor den Augen tanzten, und erwähnte nie die außergewöhnliche Medizin, mit der sie den Sterbenden gerettet hatte. Sie sagte nichts, weder als ihr Bauch mehr und mehr anschwoll, noch als Professor Jones ihr ein Abführmittel verordnete, weil er überzeugt war, daß diese Aufblähung auf Verdauungsbeschwerden zurückzuführen sei, und sie sagte auch nichts, als ihre Zeit gekommen war.

Dreizehn Stunden lang hielt sie die Schmerzen aus, ohne mit der Arbeit aufzuhören, und als sie es nicht mehr ertragen konnte, ging sie in ihr Zimmer, bereit, das Kommende voll zu erleben, als den wichtigsten Teil ihres Daseins. Sie bürstete sich das Haar, flocht es straff und knüpfte ein neues Band um den Zopf. Sie zog sich aus und wusch sich von Kopf bis Fuß, dann legte sie ein sauberes Laken auf den Fußboden und hockte sich darauf, wie sie es in einem Buch über die Sitten der Eskimos gesehen hatte. Schweißüberströmt, mit einem Tuch im Mund, um das Stöhnen zu ersticken, begann sie zu pressen, um dieses Geschöpf zur Welt zu bringen, das sich so hartnäckig in ihr festklammerte. Sie war nicht mehr jung, und es war keine leichte Arbeit, aber die Gewohnheit, kniend Böden zu scheuern, Lasten treppauf zu schleppen und bis Mitternacht Wäsche zu waschen, hatte ihr kräftige Muskeln gegeben, die ihr halfen, endlich zu gebären. Als erstes sah sie zwei winzige Füße hervorkommen, die sich unbeholfen ein wenig bewegten, als wollten sie den ersten Schritt auf einem beschwerlichen Weg tun. Sie atmete tief ein, und mit einem letzten Ächzen spürte sie, wie sich etwas aus der Tiefe ihres Leibes losriß und zwischen ihre Schenkel glitt. Eine ungeheure Erleichterung erschütterte sie bis ins Innerste. Da war ich, von einem blauen Strang umwickelt, den sie sorgsam von meinem Hals löste, um mir zum Leben zu verhelfen.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und die Köchin trat ein, die erraten hatte, was vor sich ging, und die ihr beistehen wollte. Sie fand sie nackt und mich auf ihrem Leib ruhend, beide noch vereint durch ein pulsendes Band.

»Schlecht, es ist ein Mädchen«, sagte die selbsternannte Hebamme, als sie die Nabelschnur verknotet und durchgeschnitten hatte und mich auf den Armen hielt.

»Sie ist mit den Füßen voran geboren, das ist ein Glückszeichen«, flüsterte lächelnd meine Mutter.

»Sie scheint kräftig zu sein, und ein ordentlicher Schreihals ist sie auch. Wenn Sie wollen, kann ich ihre Patentante sein.«

»Ich wollte sie gar nicht taufen lassen«, antwortete Consuelo, aber als die Köchin sich entsetzt bekreuzigte, lenkte sie ein, um sie nicht zu kränken.

»Nun gut, ein bißchen geweihtes Wasser kann ihr nicht schaden, und vielleicht ist es ihr ja sogar von Nutzen. Sie soll Eva heißen, damit sie Lust aufs Leben hat.«

»Und der Nachname?«

»Kein Nachname. Der ist nicht wichtig.«

»Menschen müssen einen Nachnamen haben! Nur Hunde können ohne herumlaufen.«

»Ihr Vater gehörte zum Stamm der Söhne des Mondes. Also soll sie Eva Luna heißen. Geben Sie sie mir bitte, ich will sehen, ob sie ganz in Ordnung ist.« In der Lache ihrer Niederkunft sitzend, schweißnaß und mit matten Gliedern, suchte Consuelo nach einem unheilvollen Merkmal des Giftes, aber als sie nichts Ungewöhnliches entdeckte, seufzte sie zufrieden.