Buchinfo

Robbys ganze Leidenschaft gilt dem Surfen, und weil er zu den Besten gehört, fehlt es nie an Bewunderern. Doch was sich dann am Strand von Sylt ereignet, ist einzigartig: Ein Delfin taucht auf und genießt zusammen mit dem jungen Surfer das ungestüme Spiel der Wellen.

Und mehr: Das Tier lässt zu, dass Robby auf seinem Rücken reitet – wie auf einem Surfbrett.

Eine Sensation! Die Presse belagert die Insel, Wettkämpfe werden ausgetragen, Robby und Shark zu immer größerer Show angespornt. Doch sind Ruhm und Geld diesen Stress wert?

Zählen Nervenkitzel und Abenteuer mehr als die Freiheit des Tieres? Nicht nur Robbys Freundin Jule sieht das ganz anders …

Autorenvita

Bennemann

 

Markus Bennemann, geboren 1971, hat Geschichte und Englische Literatur studiert. Er war Redakteur bei einer Tageszeitung, hat Krimis fürs Fernsehen geschrieben und arbeitet heute als Autor, Übersetzer und freier Journalist in Wiesbaden.

HT

Ja, liebe Zuschauer, damit hätte niemand gerechnet: Robby Jensen, ein gerade mal 15-jähriger Newcomer aus dem kalten Deutschland, stiehlt allen die Show! Hier beim Billabong Pipeline Masters auf Hawaii, dem krönenden Abschluss der Saison, zeigt er der versammelten Weltelite des Wellenreitens, wo der Hammer hängt. Sehen Sie nur, wie gekonnt der junge Sylter da über die große grüne Wand aus Wasser kurvt! Kaum aus der Tube, ist er mit einem schnellen Cutback schon wieder an der Lippe, reißt die Nose herum und hängt an das perfekt ausgeführte Manöver noch einen Floater – den er steht! Absolute Balance, absolute Kontrolle über das Brett: obwohl die Welle jetzt schon vor ihm einzustürzen beginnt und er außerdem ein paar Fotografen ausweichen muss. Nun braucht er eigentlich nur noch einen halbwegs anständigen Abschluss hinzulegen, und der Sieg ist ihm sicher. Doch da, er lehnt sich zu weit in die letzte Kurve und kommt ins Schlingern! Das Brett rutscht ihm weg, er kann es nicht mehr steuern, über ihm die riesige Wand aus Wasser, unter ihm das messerscharfe Riff – und neinnn …

 

Das Tablett ging klirrend zu Boden. Eine Portion Matjes, eine Bockwurst und ein Eiskübel mit Champagner und Gläsern verteilten sich über die hölzernen Planken. Eins der in Sahnesoße eingelegten Fischfilets landete klatschend auf den teuren Lederslippern des eleganten älteren Herrn, der es eigentlich hatte essen wollen. Der Kartoffelsalat, der zu der Bockwurst gehörte, verfehlte um nur wenige Zentimeter die nackten Füße seiner Frau. Auch die anderen Gäste auf der Terrasse wichen vor den glitzernden Eiswürfeln zurück, als könnten sie sich daran verbrennen. Hättet ihr mir mal eben so viel Platz gemacht, dachte Robby betrübt – und noch bevor der Champagner schäumend in die Ritzen zwischen dem Holz eingezogen war, kam natürlich sein Chef nach draußen geschossen.

»Robby, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass das kein Surfbrett ist!«, fauchte er, während er wütend auf das gekenterte Tablett zeigte. »Surfen kannst du in deiner Pause, aber nur dann. Und damit du das endlich lernst, ziehe ich dir den Schaden diesmal vom Lohn ab.«

»Ja, Chef. Ist klar, Chef. Tut mir leid, Chef.«

Eike Sievers, der hier am Nordstrand von Kampen das beliebte Bistro Buhne 16 führte, war gebürtiger Insulaner wie Robby und für gewöhnlich eigentlich nicht so streng. Aber jetzt zum Ende der Sommerferien war in dem Laden immer noch jeden Tag die Hölle los und der auf ein gutes Saisonergebnis bedachte Bistrobetreiber entsprechend gestresst. Er schüttelte noch mal genervt den Kopf und verschwand dann wieder in dem containerartigen Flachbau, von dem die große, auf hohen Stelzen ruhende Holzterrasse der Buhne abging. Robby zuckte verlegen mit den Schultern und machte sich daran, die Schweinerei aufzuräumen, die er veranstaltet hatte.

»Lass doch, Junge«, sagte der weißhaarige alte Knabe, dem der Matjes auf den Fuß gehüpft war, aber Robby bestand darauf, seinen angefischten Slipper sorgfältig mit einer Serviette abzuwischen und dann sogar noch mit den letzten Tropfen Wasser aus dem Kübel drüberzugehen. Sein Vater hätte es wahrscheinlich gar nicht lustig gefunden, wenn er gesehen hätte, wie er den »Schickimickis« hier die Schuhe putzt. Doch Robby hatte die zwei tiefbraunen Alten mit ihren lässigen Sonnenbrillen schon öfter bedient und wusste, dass sie nett waren. Außerdem hatten sie ihm vor zwei Tagen zehn Euro Trinkgeld gegeben, und wenn es momentan einen Weg gab, ganz dicke Sympathiepunkte bei ihm zu sammeln, dann diesen.

Auch dass er sich vor den anderen Gästen mal wieder blamiert hatte, machte Robby nicht viel aus – bis ihm jemand den abgebrochenen Stiel eines Sektkelchs hinhielt. Als er den Kopf hob, blickte er mitten in ein leicht spitznäsiges Gesicht mit großen braunen Augen und strahlend weißem Lächeln, das er in den letzten Tagen bestimmt schon hundertmal heimlich aus der Ferne angesehen hatte.

»Hier, das lag noch dahinten.«

Das hübsche zierliche Mädchen, das inzwischen ebenfalls schon fast die Farbe einer Kaffeebohne angenommen hatte, war Anfang der Woche wie aus dem Nichts morgens am Strand aufgetaucht. Jeden Tag saß es bereits vor Robbys Dienstantritt mit einem Buch im Strandkorb und wackelte mit seinen dann noch in dicke geringelte Socken eingepackten Zehen. Aus der Nähe war es noch viel hübscher als von weit weg, sodass Robby ums Verrecken nichts einfallen wollte, was er auf die nette Geste antworten könnte.

»Komm, Jule, da vorn ist noch ein Platz frei«, sagte dafür Cornelius Wettering, der zu Robbys Verdruss die fremde Schöne seit ein paar Tagen belagerte. Er und sein Kumpel Enno Brumsen hatten den größten Teil der Sommerferien bei Cornelius’ Tante in L. A. verbracht und verwendeten jetzt die letzte Woche ihrer freien Zeit darauf, sich vor aller Welt damit zu brüsten. »Und du, Kleiner, bring uns zwei Bier und eine Coke«, fügte Cornelius herablassend hinzu, obwohl er gerade mal ein Jahr älter war als Robby und mit ihm sogar in dieselbe Klasse ging.

Blöder Angeber, dachte Robby und dann, jetzt plötzlich doch mächtig angeätzt von seinem Wipeout, ausgerechnet! So versuchte er erst gar nicht, noch mal ein Lächeln bei der Schönen zu landen, während Cornelius einmal mehr über all die Stars und Sternchen schwadronierte, die ihm angeblich über den Weg gelaufen waren, und trug mit grimmiger Miene sein Tablett von einem Tisch zum anderen.

Erst als es allmählich drei wurde und die meisten Gäste sich mit vollgeschlagenen Bäuchen in ihre Strandkörbe zurückgezogen hatten, besserte sich Robbys Laune wieder. Ein ganz passabler Swell war schon den ganzen Morgen reingekommen. Doch jetzt drehte wie durch ein Wunder der Wind, der sonst eigentlich immer nur vom Meer her wehte, und blähte die in der Sonne funkelnden Wogen auf, als seien sie aus Seide. Statt der salzigen Seebrise lag plötzlich der würzige Duft der Dünen über der Terrasse und die blauen Fahnen am Geländer zeigten geradewegs Richtung Brandung, von wo sanft und regelmäßig das Zischen der Schaumkronen zu hören war wie ein lockendes Flüstern. Robby hatte ein Gefühl im Bauch, als veranstaltete dort ein ganzes Geschwader Schmetterlinge seinen Kunstflugtag.

»Eigentlich sollte ich dir die Pause streichen, zur Bestrafung. Du bist ja schon wieder nicht richtig bei der Sache.«

Den Kopf Richtung Meer verdreht, trug Robby gerade Geschirr herein, als plötzlich erneut der Chef vor ihm stand. Seine Miene war so finster, dass Robby einen schrecklichen Moment lang fürchtete, er könnte seine Drohung ernst meinen. Doch dann schüttelte der gestresste Mittvierziger, der in ruhigeren Zeiten selbst gern mal aufs Brett stieg, nur lächelnd den Kopf und schickte ihn mit einer knappen Bewegung seines stoppeligen Kinns davon.

»Na los, geh schon. Den Rest können auch die anderen reinholen.«

Robby war jetzt so voller Vorfreude, dass er Angst hatte zu platzen. Trotzdem nahm er sich die Zeit, im hinteren Teil der Terrasse aufs Geländer zu steigen und ein Stück den langen Weg hinaufzublicken, der durch die Dünen führte – man konnte schließlich nie wissen. Dann rannte er die Treppe hinab, wo unter der großen Holzplattform die Surfboards gelagert wurden, zog sich rasch einen Neoprenanzug an, griff sich ein altes Longboard und eilte damit ins Meer.

Vorn im Weißwasser übte Hubi, der offizielle Surflehrer der Buhne, mit ein paar Anfängern. Robby warf sich aus vollem Lauf auf sein Board und hoffte, so schnell an der Gruppe vorbeipaddeln zu können, dass der kurz geschorene Muskelprotz ihn nicht bemerkte. Doch Hubi musste natürlich genau im falschen Moment eins der riesigen weißen Styroporbretter wieder einfangen, das von unter den Füßen eines Schülers Richtung Strand schoss.

»Robby!«, rief er entrüstet, als er ihn etwas weiter rechts durch die Brandung pflügen sah. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht direkt hier rausgehen!«

»Ja, aber ich hab nur eine halbe Stunde!«, rief Robby zurück, ohne mit den raschen Zügen seiner Arme innezuhalten. »Da lohnt es sich nicht, bis zum nächsten Break zu laufen!«

Außerdem lässt hier irgendeine neu angeschwemmte Sandbank die Wellen viel sauberer brechen, dachte Robby, während der Surflehrer ihm zornige Blicke hinterherschickte. Aber das würdest du ja nicht mal sehen, wenn ich’s dir aufmale.

Er hatte nichts gegen Hubi, schon weil er ihn die Boards der Schule mitbenutzen ließ, aber ein bisschen zu sehr auf seinen Ruf bedacht war ihm der hauptberufliche Snowboardlehrer doch manchmal. Vor jeder Stunde zeigte er seinen Schülern ausführlich, wie gut er selbst wellenreiten konnte; im Winter zog er auf den schneebedeckten Hängen der Alpen wahrscheinlich eine ähnliche Show ab. Gleich am Anfang von Robbys Zeit hier hatten die in Wetsuits und Plastikhelmen gekleideten Landratten aber plötzlich nicht mehr ihrem tollen Lehrer zugeschaut, sondern mit begeisterten Rufen weiter hinaus aufs Meer gezeigt, wo Robby gerade eine seiner ersten kleinen Pausensessions abhielt. Danach hatte ihn der jedes Jahr aus dem fernen München anreisende Surfcoach aufgefordert, gefälligst nicht mehr »seinen Unterricht zu stören«.

Ernsthaft verscherzen durfte Robby es sich jedoch nicht mit Hubi, sonst würde der ihm am Ende noch seine Brettmitbenutzungsrechte entziehen. Wie an der Schnur gezogen verwandelten sich die Wellen etwa hundert Meter vom Strand entfernt in Schaum, nicht viel mehr als hüfthoch und geradezu gemacht für alle möglichen Manöver. Doch um des lieben Friedens willen würde Robby sich zurückhalten und sie nur ganz gemütlich abreiten – als sei er selbst kaum weiter als die Gruppe wackliger Anfänger, die sich hinter ihm in unmittelbarer Nähe des Ufers tummelte.

Er war noch nicht richtig draußen, da rollte bereits der erste vom Wind aufgebauschte Wellenkamm auf ihn zu und sog ihn ein wie ein aufrecht übers Meer gleitender Strudel. Robby klemmte das Brett quer unter die sich wölbende Lippe, lehnte sich leicht nach vorn – und schon war er auf den Füßen und schoss seitlich den sich aufbäumenden grünen Buckel entlang.

Keine Worte mehr haben, stoked sein: So wurde das Gefühl in der Szene genannt. Obwohl Robby nun wirklich nicht gerade selten surfte, stellte es sich bei ihm immer noch jedes Mal ein, wenn er eine Welle nahm. Wie eine Einladung zu der besten Party, die man sich vorstellen konnte, zog sich die glitzernde, gleitende Wand vor ihm hin. Sanft rollte sie Richtung Strand, während er selbst in gemächlichen Schwüngen darauf entlangkurvte, von ihrer lebendigen Kraft getragen, ein Geschenk aus den Weiten des Ozeans. Die Schmetterlinge in seinem Bauch, die eben schon vor Aufregung bis in seinen Brustkorb hinaufgeflattert waren, schienen dort jetzt zu explodieren wie tausend kleine Feuerwerksraketen.

Vor lauter Begeisterung fing er schließlich an, seine guten Vorsätze zu vergessen. Nachdem er zweimal wieder rausgepaddelt war, zog er schon auf der dritten Welle das Board plötzlich nach hinten, bis in den schäumenden Rachen der Woge hinein, und nahm dann mit einer weiteren scharfen Wende wieder davor Reißaus. Auf der vierten Welle holte er von unten Schwung und wendete das lange Brett auf dem Kamm wie ein Skateboardfahrer in der Halfpipe. Auf der fünften machte er das gleiche Manöver gegen die Fahrtrichtung. Und auf der sechsten schließlich schob er das Longboard bereits der Welle bis zum Anschlag unter den Scheitel und stellte sich vorn auf die dahinsausende Spitze wie eine im Fahrtwind grinsende Kühlerfigur.

Er wusste, dass er mit dem Feuer spielte. Doch Sonne, Salz, das wie von selbst übers Wasser gleitende Fiberglas – es machte einfach zu viel Spaß. Erst zum Ende hin wurde er aus seiner Trance gerissen, als er in einer Welle kurz einen großen Schatten zu sehen glaubte, der quer durch die grüne Wand schwebte wie ein ausgleitender Torpedo. Aber seltsame Schatten sah man draußen auf dem Meer öfter mal, bei all dem Licht und den in tausend Fetzen vorbeiziehenden Wolken. Außerdem war seine Zeit sowieso um, die nächste Welle musste er bis zum Strand reinreiten, und so machte er sich über die Sache keine weiteren Gedanken.

Während er glücklich und ausgepowert die letzten Meter auf dem Bauch durchs Weißwasser glitt, wurde ihm jedoch klar, worüber er sich mehr Gedanken hätte machen sollen. Hubi zog ein Gesicht, als hätte Robby eben mit seinem kleinen Auftritt auf magische Weise dafür gesorgt, dass auf dem Oktoberfest kein Bier mehr ausgeschenkt wurde.

»Robby, komm doch mal kurz hier rüber!«, rief der Bayer in strengem Ton, während er seinen Schülern half, ihre gewaltigen Styroportanker an Land zu ziehen. »Ich muss mit dir reden.«

»Keine Zeit, Hubi, der Dienst ruft!«, gab Robby zurück. »Du weißt doch, dass der Chef es nicht mag, wenn man zu spät kommt.«

Rasch hob er sein eigenes Brett aus dem Wasser, das ebenfalls ziemlich groß war, und wollte damit das Weite suchen. Da rannte er jedoch beinah in das hübsche Mädchen mit den braunen Augen hinein, das vorhin mit Cornelius auf der Terrasse gesessen hatte. Jetzt war sie allein und strahlte ihn wieder mit einem Lächeln an, dass ihm auf der Stelle der Rest seiner eh schon knappen Luft wegblieb. Ihre Haare waren genauso braun wie ihre Haut, hatten aber überall vom Salzwasser ausgebleichte Strähnchen, die golden in der Sonne glänzten.

»Hi, ich bin Jule«, sagte sie und streckte die Hand aus, wodurch Robby gezwungen war, das große Brett in den Sand zu legen. »Ich habe dir beim Surfen zugesehen. Du kannst das ja echt super.«

Robby drehte sich schnell nach Hubi um, der jedoch zum Glück immer noch mit dem Anlanden der Übungsbretter beschäftigt war.

»Na ja, ich komm zurecht«, antwortete er. »Mein Vater war mal Windsurfprofi, und Wellenreiten kann er auch ziemlich gut. Er hat’s mir schon ganz früh beigebracht.«

Gab er gerade an? Versuchte er, sich aufzuspielen? Robby hatte von der ganzen Zeit auf dem Wasser sowieso eine ziemlich heiße Birne, aber jetzt schien sich seine Gesichtstemperatur schlagartig noch mal um zwei Grad zu erhöhen. Wenn er wirklich unwillkürlich versucht hatte, sich ein bisschen vor ihr aufzuplustern, so schien sich Jule daran allerdings nicht zu stören.

Knapp oberhalb ihres mit bunten Blumen bedruckten Bikinihöschens stemmte sie eine Hand in die Hüfte. Mit der anderen zeigte sie auf das verbeulte alte Surfbrett, das neben ihm auf dem Boden lag. »Ich würde das auch gern können«, sagte sie und lächelte wieder, wobei sich ihr spitzes Näschen lustig kräuselte. »Kannst du mir Unterricht geben?«

Robby zuckte zusammen und sah sich erneut ängstlich nach Hubi um – der bei dem Wort »Unterricht« auch tatsächlich sofort die Ohren zu spitzen schien. Demonstrativ schüttelte Robby den Kopf. »Ich? Unterricht? Nein!«, erwiderte er laut. »Das geht leider nicht! Dafür bin ich noch zu jung!«

Jule runzelte die Stirn. »Zu jung? Aber du surfst doch besser als jeder andere hier am Strand. Sogar noch besser als der Lehrer da, das sieht ja selbst ein Blinder.«

»Psst, bitte sag das nicht so laut.«

Wie nach jeder Stunde wurde Hubi zum Glück von seinen Landratten belagert, die ihm begeistert von den tollen Manövern berichteten, die sie vorn in den knöchelhohen Miniwellen hingelegt hatten. Diesmal folgte Jule Robbys besorgtem Blick und legte verwirrt den Kopf schief.

»Was? Wieso soll ich leise sein?«, fragte sie. »Habt ihr da irgend so ein komisches männliches Konkurrenzding laufen, oder wie?«

»Ja, so ähnlich. Das ist etwas kompliziert …«

Jule lächelte zwar immer noch, schaute ihn aber auch ein bisschen an, als sei er ein schräger Vogel. Wenn er es sich nicht gleich von Anfang an mit ihr verscherzen wollte, musste er sich was einfallen lassen.

»Also, wenn es so kompliziert ist, dann …«

Schon schien ein Schatten über ihr Gesicht zu fallen, und sie zuckte enttäuscht mit den Schultern. Robby gab sich einen Ruck, beugte sich nach vorn und flüsterte schnell und eindringlich auf sie ein.

»Also pass auf, wir machen es so …«

»Okay, schade!«, schrie die zierliche Schönheit anschließend förmlich in Hubis Richtung, während sie mit fröhlicher Miene zurück zu ihrem Strandkorb stapfte. »Dann gehe ich eben zu dem normalen Surflehrer!«

Robby trug sein Board zurück zum Bistro und schaffte es dabei ebenfalls nicht, das Grinsen aus seinem Gesicht zu kriegen. Seine halbe Stunde Pause, der Höhepunkt des Tages, war ja jetzt eigentlich vorbei. Trotzdem flatterte es in seinem Bauch, als wollten die Schmetterlinge dort eine Sonderschicht einlegen. War er immer noch stoked vom Surfen? Oder hatte das diesmal andere Gründe?

Gegen Abend waren die Wellen immer noch gut, und da der Wind jetzt abflaute, wurden sie noch glatter und glasiger. Robby trug einen letzten Teller mit den Überresten der selbst gefangenen Makrelen nach drinnen, die der neuste Renner der Buhne waren, und verabschiedete sich dann vom Rest der Crew. Wieder ging er in einen der großen Verschläge unter der Terrasse hinunter, in denen Surfboards, Lenkdrachen und andere Sportgeräte aufbewahrt wurden. Hubi war zum Glück nirgends zu sehen, hing auch nicht am Grill vor der Terrasse rum, und hatte das Abschließen den Leuten vom Bistro überlassen.

Robby knipste das Licht in dem hohen, nach Sand und Surfwachs riechenden Raum an und trat an den langen Kleiderständer in der Ecke, an dem die Wetsuits hingen. Nachdem er selbst wieder seinen verschlissenen Windsurfanzug angelegt hatte, warf er sich noch einen etwas kleineren Anzug über die Schulter und dazu ein Paar wärmende Füßlinge. Dann wechselte er auf die andere Seite des Raums, um ein Surfboard auszusuchen.

Von gepolsterten Stangen gestützt, lehnten die Bretter aufrecht an der Wand. Vorn standen die kleinen Boards, die für das Abreiten großer Wellen mit viel Power gebaut waren. Hinten ragten die drei Meter langen Anfängerbretter aus Styropor in die Höhe, die so viel Auftrieb hatten, dass man damit praktisch auch noch surfen konnte, wenn jemand eine halbwegs gelungene Arschbombe machte. Auf diesen riesigen Softboards hatten schon Hubis Landratten den ganzen Tag ihre ersten Versuche gemacht, und Robby hatte bereits eins der abgenutzten Übungsbretter gepackt, um es aus der Reihe zu ziehen. Da fiel sein Blick auf das nigelnagelneue Luxus-Longboard, das ganz hinten in der Reihe stand.

Glänzend rot wie ein alter amerikanischer Straßenkreuzer, mit einem verschlungenen Wirbelmuster auf der Oberseite, war es Hubis Sonntagsbrett, das er nur dann rausholte, wenn genug Leute am Strand waren, um ihn darauf zu bewundern. Robby hatte bisher nie gewagt, den eitlen Surflehrer zu fragen, ob er es mal benutzen durfte. Doch im Surfshop in Westerland, wo er jeden Abend nach der Arbeit mit dem Rad vorbeifuhr, wartete ein ganz ähnliches Board auf ihn – allerdings in Blau, weil ihm das große Prachtstück in der Farbe des Meeres irgendwie noch besser gefiel.

Dieses Longboard war der Grund, warum er hier die ganzen Sommerferien von morgens zehn bis abends sechs schuftete. Und obwohl die Dinge bei ihm zu Hause mittlerweile so weit gekommen waren, dass er immer öfter auf seinen Supermarktrechnungen sitzen blieb, hatte er es doch geschafft, genug beiseitezulegen, dass er die sage und schreibe 700 Euro für das edle Teil bald zusammenhatte. Unzählige Male war er schon in Versuchung gewesen, einfach ein billigeres Board zu kaufen, nur um endlich ein eigenes zu haben und nicht immer nur auf den abgeratzten alten Planken der Surfschule fahren zu müssen. Aber wenn schon, denn schon, hatte er sich im letzten Moment stets gesagt – und tatsächlich bis jetzt durchgehalten.

Robby schob den ramponierten Styroportanker zurück in die Reihe und zog stattdessen das rot glänzende Prachtboard hervor. Sein Herz pochte fast wie damals, als er mit seinem Kumpel Torge heimlich ein dickes »Hang Ten!« auf den Kampener Leuchtturm gesprayt hatte. Wenn das Ding auch nur einen Kratzer abkriegte, würde Hubi ihn unangespitzt in den Sand hauen. Aber er würde schon aufpassen, dass dem guten Stück nichts passierte.

Bereits den mächtigen Wellenkreuzer den Strand runterzuschleppen war allerdings ein ziemlicher Akt, sein eigenes wäre zum Glück ein ganzes Stück kürzer und leichter. Und als er dann mit dem zusätzlichen Anzug und Hubis teurem Angeberbrett unten am Wasser wartete, wollte Jule einfach nicht auftauchen.

Hatte er vielleicht zu leise geflüstert und sie die falsche Zeit verstanden? Der Strandkorb, in dem sie immer saß, war leer, wie fast alle Strandkörbe inzwischen, und während der letzten Stunde hatte Robby sie auch nirgendwo mehr rumlaufen sehen. War sie vielleicht längst nach Hause gegangen und hatte vergessen, ihm Bescheid zu geben? Oder hatte Cornelius ihr am Ende ein besseres Angebot gemacht und sie war mit ihm abgezogen, ohne sich weiter um ihre Verabredung zu kümmern?

Diese Möglichkeit fand Robby so deprimierend, dass er sich rasch wieder zum Meer umdrehte. Dort hing die Sonne inzwischen schon ziemlich niedrig am Horizont, doch die Wellen rollten immer noch so schön und gleichmäßig auf den Strand zu wie den ganzen Nachmittag schon.

Obwohl es auf Sylt gar nicht so wenige Leute gab, die gern Wellenreiten gingen, war niemand draußen zu sehen – was bei so guten Bedingungen eigentlich ein bisschen merkwürdig war. Vielleicht gab es an einem anderen Strand noch bessere Wellen, überlegte Robby mit gerunzelter Stirn, oder alle machten sich schon für die große Party im Roten Kliff fein, von der seit ein paar Tagen jeder redete.

Na klar, die Party!, fiel es ihm in diesem Moment wie Schuppen von den Augen. Cornelius kriegt da doch bestimmt wieder alle möglichen Freikarten von seinem superreichen Daddy!

Seit vorhin hatten die Schmetterlinge nie ganz aufgehört, in Robbys Bauch zu tanzen. Plötzlich jedoch war es, als würden sie von einer dicken Wolke Insektenspray getroffen und schwer wie Blei zu Boden plumpsen. Ein letztes Mal sah er sich am Strand um. Dann blickte er auf den leer daliegenden Surfanzug neben sich, die warmen Füßlinge, an die er extra gedacht hatte, das tolle Brett, für das er seinen Hals riskierte – und kam sich vor wie der letzte Trottel.

Klar, was habe ich mir auch eingebildet? Was kann so eine schon von mir wollen? Natürlich ist sie längst nach Hause, um sich schick zu machen und nachher mit Cornelius zu dieser blöden Feier zu gehen.

Traurig ließ Robby den Kopf hängen und gab einen tiefen Seufzer von sich. Dass die hübsche Fremde ihn versetzt hatte, ließ ihn an das denken, was vor ein paar Jahren bei ihm zu Hause passiert war, und das machte es irgendwie doppelt so schmerzlich. Plötzlich fühlte sich sein Herz an wie einer dieser Teerklumpen, die an den Strand geschwemmt wurden, wenn mal wieder ein Schiff draußen auf hoher See illegal Öl verklappt hatte – schwarz, unförmig und schwer. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen steigen wollten, ob vor Wut oder abgenutzter Sehnsucht, das wusste er nicht genau. Doch er kämpfte sie entschlossen nieder und hob den Blick stattdessen zurück zum Meer, von wo wieder das leise Flüstern der Wellen zu ihm drang, das ihn schon am Mittag gelockt hatte. Ein paar Sekunden sah er ihrem fröhlichen Spiel noch mit teilnahmsloser Miene zu, aber dann wanderten seine Augen wie von selbst zu Hubis Superboard, das neben ihm im Sand lag.

Ach, was soll’s, dachte er. Wenn ich das schwere Ding schon bis hier runtergeschleppt habe, kann ich’s ja auch mal ausprobieren …

 

Tatsächlich fuhr sich das Brett wie ein Traum. Schhhh, machte es, wenn Robby damit durchs tiefgrüne Wasser schnitt, schhh ein bisschen lauter, wenn er es ruckartig an der Lippe rumzog und ein funkelnder Tropfenregen in die Sonne schoss. Als er daran dachte, dass er selbst bald genauso ein großes, schönes Superbrett sein Eigen nennen durfte, wusste er plötzlich gar nicht mehr, warum er eben noch so schlecht drauf gewesen war.

Trotz seiner Größe war das Board erstaunlich wendig. Deshalb traute sich Robby schließlich sogar, darauf einen Trick auszuprobieren, den er noch nicht oft gestanden hatte. Er nannte sich »Helikopter«, weil man dabei das Brett auf der rollenden Welle einmal komplett um die eigene Achse drehen musste. Was bei so einer Riesenplanke allerdings dem Versuch gleichkam, mithilfe reiner Gewichtsverlagerung einen Flugzeugträger zu wenden.

Als die Sache trotzdem klappte, war Robby denn auch dermaßen baff, dass er sofort im Wasser landete. Während er in einem rauschenden Schleudergang aus Schaum und Blasen Purzelbäume schlug, legte er vorsichtshalber die Arme über den Kopf, damit ihm Hubis mit durchs Wasser wirbelnde Mini-Titanic nicht den Schädel zertrümmerte.

Komisch, dachte er, als er auftauchte und mit der langen Sicherheitsleine an seinem Bein das Board wieder zu sich zog. Hat’s mich eben wirklich nur gerissen? Oder bin ich irgendwo gegen gefahren?

Er war nur wenige Meter zurück Richtung Horizont gepaddelt, da hörte er plötzlich ein Schhh neben sich, das weder von ihm noch von einer Welle stammte. Rasch drehte er den Kopf und sah nicht weit entfernt eine schmale, längliche Schaumkrone zwischen zwei Wellenkämmen, die dort eigentlich nichts zu suchen hatte.

Was war das denn?, fragte er sich mit einem seltsamen Gefühl im Bauch. Er wusste, dass es hier draußen eigentlich nichts gab, wovor man Angst haben musste – er befand sich schließlich in der Nordsee. Trotzdem zog er kurz die Arme aufs Board und ließ mit angehaltenem Atem den Blick übers Wasser schweifen, das im schwindenden Licht des Abends inzwischen schon eher braun als grün wirkte.

Als er im selben Augenblick laute Schreie hörte, die vom Strand zu ihm rüberhallten, blieb ihm fast das Herz stehen. Mit wildem Blick fuhr er herum.

Doch am Strand stand nur Jule und winkte ihm fröhlich zu. »Bravo, bravo!«, rief sie lachend und klatschte begeistert in die Hände. »Cooler Trick – und fast hättest du ihn hinbekommen!«

 

Auch Jule selbst hatte erstaunlich schnell den Bogen raus. Vorn in den kleinen Weißwasserwellen, die unmittelbar am Strand einliefen, fuhren die meisten Anfänger nach dem Aufstehen höchstens ein paar Meter geradeaus und kippten dann zur Seite. Die zierliche braune Schönheit aber, der Anzug und Füßlinge wie angegossen passten, ritt die Wellen nach kurzer Einweisung sofort seitwärts ab, wozu Neueinsteiger normalerweise mindestens einen Tag Übung brauchten.

»Du hast das doch schon mal gemacht«, sagte Robby misstrauisch, als sie das Brett im bauchhohen Wasser wieder zu ihm rausschob.

»Ein- oder zweimal vielleicht«, erwiderte sie mit keckem Grinsen, wobei ihre hellbraunen Augen in der Sonne flüchtig golden aufblitzten.

Es ging ihr also gar nicht nur um den Unterricht, schoss es Robby durch den Kopf – und in seinem Bauch flog die Schmetterlingsstaffel einen Looping. »Na, dann können wir auch weiter rausgehen«, schlug er vor. »Komm, knie dich vorn aufs Board, ich paddel uns hin.«

Hubis Riesenbrett lag so stabil im Wasser, dass es sie tatsächlich auch zu zweit trug. Robby kam sich ein bisschen vor wie ein Pirat, der eine Meerjungfrau entführt. Sein Herz pochte derart heftig gegen das gewachste Fiberglas unter seiner Brust, dass er glatt Angst bekam, es könnte eine Delle reinhauen.

Auch die Wellen spielten mit, rollten jetzt kurz vor Sonnenuntergang so ruhig und rund an die Küste wie Walbuckel. Zu rund, fürchtete Robby kurz, denn wenn sie oben nicht mehr nach vorn überkippten und schäumend in sich zusammenbrachen, konnte man sie nicht mehr reiten. Dann sah er jedoch etwas weiter links eine Woge, die sich schon in die Höhe zu recken begann wie ein Mann, der in Zeitlupe einen Köpper macht. Plötzlich hatte er eine verrückte Idee und begann, wie ein Wilder darauf zuzupaddeln.

»Was machst du?«, fragte Jule und ging instinktiv auf alle viere, um mehr Halt zu haben. »Was hast du vor?«

»Bleib einfach so, und wenn die Welle uns hat, spring auf wie eben. Keine Angst, es ist genau dasselbe.«

Das Board war wirklich ein Wunderding. Robby lenkte es in sanftem Bogen auf den heranrollenden Buckel, und schon glitt es wie von selbst weiter. Trotz des doppelten Gewichts hielt es dabei so ruhig die Spur, dass Jule sich wirklich nach einem kurzen Moment traute, auf die Füße zu springen.

»Juhuu!«, jauchzte sie laut.

Robby fuhr noch ein Stück mit, sprang dann aber ab und ließ sie den Rest der Welle allein abreiten.

»Irre!«, sagte sie mit Augen, die wie kleine Golddublonen leuchteten, als sie wieder rausgepaddelt kam. »So eine große bin ich noch nie gesurft.«

»Jetzt kannst du’s auch ohne mich«, versicherte er ihr. »Hier, ich mach dir nur die Halteleine ans Bein, dann kann dir das Brett nicht abhauen. Selbst wenn du am Schluss nicht so profimäßig hinten aus der Welle fährst, wie du’s eben gemacht hast.«

Jule war zu sehr außer Atem, um mit mehr als einem Lächeln auf sein Kompliment zu antworten – aber das genügte Robby vollkommen. Er schwamm mit ihr an eine gute Stelle, sagte ihr, wann sie paddeln musste, schob sie ein wenig an, und schon schoss sie fröhlich kreischend auf ihrer nächsten Welle davon.

Robby beobachtete, wie Jules begeistertes Gesicht über dem Rücken der rauschenden Woge rasch dahinsauste und dann verschwand. Strampelnd reckte er sich etwas aus dem Wasser: Diesmal hatte sie es nicht mehr rechtzeitig aus der Welle geschafft und wurde wahrscheinlich ein bisschen von ihr in die Mangel genommen. Im selben Moment spürte Robby jedoch selbst eine sanfte Druckwelle im Rücken, als sei dort etwas ziemlich nah vorbeigeschwommen, und drehte sich überrascht um.

Was zum Henker?!

Er dachte an den wie mit Kreide auf eine dunkelgrüne Tafel gemalten Schaumstrich, den er vorhin gesehen hatte, dann an den großen Schatten in der Welle, der ihm in der Mittagspause aufgefallen war, und bekam jetzt doch ein komisches Kribbeln im Bauch. Das Wasser war bereits so düster, dass er nicht mal mehr seine Füße unter sich sehen konnte – geschweige denn irgendetwas anderes, was dort rumschwamm.

Pass auf, dass dich der Riesenhai nicht kriegt!

Früher, als noch alles im Lot gewesen war, hatten seine Eltern das manchmal aus Spaß gesagt – doch den Hai gab es wirklich in der Nordsee. Seine Mutter hatte ihm das graue Monstrum mal in einem Buch gezeigt: Es war so lang wie ein Bus und konnte sein Maul so weit aufsperren wie ein Scheunentor.

Ja, genau, und was frisst es mit seinem zahnlosen Riesenmaul? Nichts als kleine Krebse und Plankton!

Nein, da eben hinter seinem Rücken war bestimmt nur ein großer Seehund vorbeigehuscht, die konnten neugierig sein wie junge Katzen. Bevor ihn Jule also noch dabei erwischte, wie er hier nach Ungeheuern Ausschau hielt, drehte er sich schnell wieder um. Sie hatte sich nach dem Sturz anscheinend recht schnell zurück aufs Brett gekämpft und kam mit raschen Zügen auf ihn zugepaddelt. Ihre Haare hingen ihr in wilden Strähnen ins Gesicht und sie spuckte immer noch hustend die letzten Reste des vielen Wassers aus, das sie geschluckt hatte. Doch kaum war sie wieder bei ihm, wollte sie sofort noch eine Welle nehmen.

»Mach nur, aber pass ein bisschen auf, dass du sie nicht zu weit zum Strand reitest«, warnte Robby. »Hier hinten hat die Flut das Meer ruhiger gemacht. Aber da vorn türmen sich die Wellen jetzt direkt am Ufer auf und schlagen dann mit voller Wucht auf den Sand. Da kannst du dir ganz schön wehtun, wenn du nicht rechtzeitig absteigst.«

… und außerdem Hubis Brett verbeulen, dachte er besorgt.

Nach drei weiteren Ritten war Jule jedoch sowieso zu erschöpft, um weiterzumachen. Mit leisem Stöhnen setzte sie sich auf und versuchte lächelnd, wieder zu Atem zu kommen.

»Weißt du, wie du aussiehst?«, fragte Robby, während er sich in der sanften Dünung an dem großen Brett festhielt. »Total stoked.«

»Wie bitte? Was heißt das: sto-ukt? Ist das irgendwie Plattdeutsch?«

»Nein, Englisch: Das sagt man unter Surfern, wenn man so gut drauf ist, dass man nur noch dämlich vor sich hingrinst.«

»Ja, stimmt, das bin ich«, erwiderte Jule und ließ wieder die kleinen Golddublonen in ihren Augen aufblitzen. »Und vielen Dank auch für das tolle Kompliment. Dämlich grinsen – welche Frau kriegt das nicht gern gesagt, nachdem sie gerade zum dritten Mal fast ertrunken wäre.«

Robby merkte, wie trotz des kalten Wassers sein Gesicht wieder zu glühen begann.

»Wenn du willst, kannst du gleich noch eine nehmen«, schlug er vor, nur um irgendwas zu sagen. »Aber danach sollten wir besser zurück zum Strand. Es wird langsam dunkel.«

»Nein, für noch eine Welle bin ich zu schlapp«, erwiderte Jule und schüttelte lächelnd den Kopf. Dann wurde ihre Miene plötzlich ernst. »Aber wenn du nichts dagegen hast, würde ich mir gern von hier draußen noch ansehen, wie die Sonne untergeht. Komm doch zu mir aufs Brett, dann musst du dich nicht da unten abstrampeln.«

Sie rückte ein wenig nach hinten und Robby setzte sich rittlings vor sie auf das lange Board. Gemeinsam ließen sie die Beine im Wasser baumeln – als würden sie zusammen auf die nächste Welle warten.

Die sinkende Sonne hatte schon den leeren Strand und die struppigen Dünen dahinter in glühendes Licht getaucht. Draußen auf dem Meer setzte sie den Himmel in Brand wie eins der riesigen Biikefeuer, die hier am Ende des Winters immer am Ufer angezündet wurden.

Normalerweise machte sich Robby nicht wirklich viel aus Sonnenuntergängen (und auch die Biikefeuer waren nicht mehr dasselbe, seit sich seine Eltern bei einem mal fürchterlich gestritten hatten). Doch jetzt mit Jule fand er das Ganze eigentlich gar nicht so schlecht.

»Du zitterst ja«, sagte sie. »Klar, du hast ja auch die ganze Zeit im kalten Wasser gehockt. Warte, ich wärme dich ein wenig.«

Bevor Robby wusste, wie ihm geschah, rückte Jule nach vorn, schlang von hinten die Arme um seinen Bauch und drückte sich an ihn. Er erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Um nicht zu wirken, als würde er so was nicht ständig erleben, fragte er sie, was sie eigentlich auf der Insel machte.

»Ich seh dich jeden Morgen schon um halb zehn in deinem Strandkorb sitzen. Bist du mit deinen Eltern hier?«

Jule zögerte einen Moment. »Ja, mit meiner Mutter«, sagte sie dann. »Wir machen hier Urlaub. Sie fährt aber lieber Rad, als faul am Strand rumzuhängen, deswegen setzt sie mich morgens immer hier ab. Und du? Bist du von hier? Ein echter Sylter?«

Irgendetwas daran, wie Jule von ihrer Mutter sprach, kam Robby komisch vor, und am liebsten hätte er sich umgedreht, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Aber dafür war ihre Stimme zu nah an seinem Ohr. So nah, dass es ihm schwerfiel, sich richtig zu konzentrieren.

»Ich bin hier geboren, ja«, antwortete er. »Und mein Vater kommt auch von hier. Wir leben aber auf der anderen Seite der Insel. Am Watt.«

»Nur du und dein Vater?«

»Ja, ähm, also, ja: nur mein Vater und ich. Meine Mutter ist vor drei Jahren von uns weg. Sie, ähm … sie lebt jetzt mit einem anderen zusammen.«

Robby kam sich immer blöd vor, wenn er das erzählte. Aber es nicht zu erzählen, fand er auch blöd. Wieder hätte er gern den Kopf gedreht, um Jules Reaktion sehen zu können. Aber so leise und sanft, wie sie plötzlich in sein Ohr sprach, musste er das gar nicht.

»Ja, bei mir zu Hause ist es so ähnlich«, murmelte sie. »Mein Vater ist aber schon vor längerer Zeit weg, und meine Mutter schlägt sich so durch. Sie … ach, na ja, sie …«

Im Rücken spürte Robby, wie sich Jules Brustkorb leicht hob und senkte. Jetzt kommt etwas Wichtiges, schoss es ihm unwillkürlich in den Kopf. Doch genau in dem Moment stieß etwas so heftig von unten gegen das Brett, dass die Spitze ein Stück aus dem Wasser gehoben wurde.

»Hilfe, was war das denn?«, rief Jule, während sie ihn losließ und erschrocken ein Stück nach hinten rutschte. Robby war noch so im Bann ihrer Stimme, dass er zuerst gar nicht richtig kapierte, was los war. Dann zerriss jedoch keine zehn Meter entfernt ein heftiger Flossenschlag die Wasseroberfläche – und er war ruckartig in der Realität zurück.

»Was war das?«, fragte Jule erneut, den Blick ängstlich auf die Stelle gerichtet, wo die Flosse eben verschwunden war. »Was hat da gegen das Board gestoßen?«

»Nur ein Seehund wahrscheinlich«, antwortete Robby so ruhig wie möglich, obwohl auch sein Herz ziemlich pochte. »Oder ein Schweinswal. Die haben hier ihre Brutgebiete.«

»Ein Wal? Das war ein Wal, der uns eben gerammt hat?«

»Ja, aber keiner, wie du ihn dir vorstellst. Schweinswale sehen aus wie kleine Delfine und werden höchstens einen Meter fünfzig lang. Die schwimmen hier öfter mal rum.«

»Ein kleiner Delfin?«, fragte Jule und sah sich auf dem Wasser um. Plötzlich konnte sie wieder lächeln. »Wie süß. Schade, dass er weg ist.«

»Vielleicht haben wir ja Glück und er schaut noch mal vorbei«, sagte Robby und merkte, wie auch er sich wieder beruhigte. Der Stoß, der Flossenschlag: Eigentlich hatte er immer noch das Gefühl, es müsse sich um ein ziemlich großes Tier handeln – und Schweinswale waren wirklich eher klein. Aber dann war es eben ausnahmsweise mal ein etwas größeres Exemplar gewesen oder wirklich ein Seehund oder irgendein anderes harmloses Tier, das hier in der braven deutschen Nordsee rumschwamm. Alles kein Problem.

»Cool, was es hier so gibt«, sagte Jule. »Bei uns in Hamburg ist vor ein paar Jahren mal ein Wal aus der Elbe gefischt worden, also ein richtiger, aber der war schon tot. Wurde von einem Schiff angefahren und den ganzen Fluss hochgeschoben. Eigentlich ziemlich traurig.«

Durch den Stoß waren sie ein ganzes Stück auseinandergerückt, was natürlich etwas schade war, aber Robby wenigstens erlaubte, Jule beim Sprechen anzusehen. Kaum hatte er das gedacht, musterte sie ihn kurz und runzelte die Brauen.

»Ist dir eigentlich noch kalt?«, fragte sie. »Soll ich dich wieder wärmen?«

»Na ja, so richtig kalt ist mir eigentlich nicht mehr«, erwiderte er, bevor er richtig über seine Antwort nachgedacht hatte. »Aber wenn du willst, klar, gern, dann …«

Wie am Mittag legte Jule den Kopf schief. »Was heißt hier ›gern‹?«, fragte sie. »Glaubst du, ich mache das zum Spaß, oder wie?«

»Ich? Nein! Ich dachte nur … also wenn …«

Jetzt kam sich Robby erst recht vor wie ein Trottel. Doch plötzlich lächelte Jule wieder und rutschte zu ihm vor.

»Na gut, dann will ich mal nicht so sein«, sagte sie, während sie erneut die Arme um ihn schlang und sich zaghaft von hinten an ihn schmiegte. »Oh – aber den Sonnenuntergang haben wir jetzt verpasst, wie es aussieht.«

Ja, verdammt, der dämliche rote Ball hatte sich tatsächlich schon komplett hinter den Horizont verzogen! War ja klar, dachte Robby. Da kann man das blöde Ding einmal richtig brauchen …

»Schade«, hauchte dann aber Jule so leise in sein Ohr, dass er sich unwillkürlich wieder umdrehte. »Ich fand’s gerade so schön hier draußen.«

Sie sahen sich an – und als Robby später an den Ausdruck in ihren Augen dachte, glaubte er, sie waren beide ein bisschen erschrocken, wie schnell die Dinge sich entwickelten. Dass die Sache auf Knutschen hinauslief, war jedoch klar. Nur stieß in diesem Augenblick wieder etwas gegen das Brett, und zwar viel fester als zuvor. Das Board kippte um, und sie landeten beide im Wasser.

Als Jule neben ihm auftauchte, sagte sie nichts, sondern sah ihn nur mit großen Augen an. Das Meer war jetzt so schwarz wie Tinte, überhaupt wirkte auf einmal alles, als habe jemand das Licht gedimmt. Wieder zischte es – und direkt neben ihnen schnitt schäumend eine große Flosse durch die Dämmerung.