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Grau ist alle Theorie – entscheidend is auf’m Platz.

Adi Preißler

Für meine Familie, die mich immer auf allen meinen Wegen großartig unterstützt

Mein Dank gilt allen Helfern dieser traumhaften Tour.

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PROLOG

Iserlohn – Kap Lindesnes

Hei Marie,

ich bin es leid, immer im Konjunktiv zu leben und auf irgendwelche Chancen zu warten oder sie zu verpassen. Ich möchte nicht hinter irgendwas hertrauern und mich ärgern, weil ich es nicht gemacht habe. Ich will mit mir zufrieden sein und das Leben mit dem großen Löffel kosten. Das hört sich in deinen Ohren vielleicht ziemlich romantisch und kitschig an, doch offensichtlich haben die Reisen der letzten zwei Jahre in mir etwas in Bewegung gesetzt. Wenn man nur herumsitzt und darauf wartet, dass etwas passiert, wird nie etwas passieren. Wenn ich darüber nachdenke, einen Norwegischkurs zu machen, dann mache ich das einfach, auch wenn im Kurs vielleicht nur komische Leute sind oder ich es nicht packe. Wenigstens hab ich es dann probiert.

Das ist genau wie mit dem Reisen: Wenn man nur wartet, dass jemand mitkommt, kommt man nie raus. Ich möchte nicht mehr warten, sondern notfalls einfach allein losziehen. Man lernt dabei ja auch immer wieder interessante Menschen kennen. Wie den betrunkenen Iren, der mich im Bus fünf Stunden lang mit seiner Vorliebe für Frankfurter Würstchen nervte, oder auch die Leute vom Outdoorstammtisch, die mir viele schöne Momente und Reisen ermöglichten; oder aber jene aus Norwegen, deren Verwandte ich plötzlich im Fernsehen einen Biathlonwettkampf gewinnen sah. Und natürlich Menschen wie dich, bei denen scheinbar noch mehr passt, besser, als man es sich je erdacht und in einem VHS-Kurs vermutet hätte.

Ich will das Leben genießen, so wie es ist und so lange es geht. Es kann ja schnell zu Ende sein, ein Unfall oder eine Krankheit, zack, das war’s! Ich möchte nicht mit siebzig in einer Kammer hocken und irgendwelchen Dingen nachtrauern, die ich nie probiert habe.

Die besten Momente in diesem Jahr waren wohl die Wochen in Norwegen, als ich auf mich allein angewiesen war. Die totale Erschöpfung und auch das Wissen, es geht immer weiter und man kann fast alles schaffen, wenn man nur will, waren ein unbeschreibliches Gefühl. Der Kopf ist leer, alles sortiert, und man ist mit sich im Reinen. Selbst wenn man bis zum Bauch im Matsch steht und keinen Bock mehr hat, es geht immer weiter, auch wenn es manchmal nervt 

Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, dir all das zu schreiben; mir scheint es jedenfalls zu helfen.

Liebe Grüße

Simon

Als ich diese E-Mail schrieb, hatte mich das Thema schon lange beschäftigt, meine Gefühle fuhren Achterbahn, und ich grübelte oft vor mich hin. Damals hatte ich, nachdem ich zweimal in Norwegen gewesen war, doch tatsächlich begonnen, in der Volkshochschule von Dortmund Norwegisch zu lernen. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, mich auch sprachlich diesem besonderen Land zu nähern, das bei mir so einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Die traumhafte Natur, die netten Menschen und die hilfsbereite Art der Norweger hatten mich in ihren Bann geschlagen.

Aber ich hatte mich nicht nur in Norwegen und seine Menschen verguckt, auch im Norwegischkurs saß neben mir eine Frau, in die ich mich unsterblich verliebt hatte. Ich konnte kaum glauben, dass ich freiwillig begonnen hatte, eine fremde Sprache zu lernen, und dann anscheinend auch noch die Frau traf, auf die ich immer gewartet hatte. Am Ende war die Sache mit ihr jedenfalls nicht ganz so einfach, wie ich es mir erhofft hatte – ein Happy End mit uns gab es leider nicht. Allerdings brachte mich unsere Begegnung sehr zum Nachdenken, und mein lang gehegter Traum geriet wieder in den Vordergrund: einmal das machen, worauf ich wirklich Lust hatte – ohne groß über die Konsequenzen nachzudenken, ohne Wenn und Aber und ohne zu wissen, was danach kommt. Ich schrieb also diese E-Mail, um meine Gedanken festzuhalten und mit jemandem zu teilen. Es war Weihnachten 2011, und sie wurde zum Grundstein meines »Norge på langs«-Abenteuers.

Der Gedanke daran spukte schon lange in meinem Kopf herum. Um genau zu sein, seitdem ich meinen Kumpel Ulrich bei einem Stammtisch des Outdoorforums www.outdoorseiten.net getroffen hatte. Wir teilten beide die Begeisterung und Passion für Norwegen, das war schnell klar. Ulrich erzählte mir zum ersten Mal von »Norge på langs«, und ich war sofort Feuer und Flamme.

Die Idee, vom südlichsten zum nördlichsten Punkt des Landes zu laufen, war faszinierend. Eine Wanderung von etwa 2500 bis 3000 Kilometer Länge, zu der es keinen einzigen Reiseführer und keine vorgegebene Route gibt. Jeder, der sich an dieses Abenteuer wagt, kann die Tour ganz nach seinem Gusto gestalten. Man startet üblicherweise am südlichsten Festlandpunkt, dem Kap Lindesnes, oder in Halden, dem südlichsten Grenzpunkt Norwegens. Das Ziel sucht man sich ebenfalls selbst aus: zum Beispiel das berühmte Nordkap oder der auf derselben Insel etwas nördlicher gelegene Felsen Knivskjellodden. Einige Wanderer laufen auch nach Kinnarodden, dem nördlichsten Festlandpunkt Europas, oder bis nach Grense Jakobselv, dem nördlichsten Ort Norwegens entlang der Grenze zu Russland direkt an der Barentssee. Die Route dazwischen kann man frei wählen, es gibt keine Regeln für die jeweilige Wanderung oder gar einen Wanderpass, den man abstempeln lassen muss. Man macht es einfach so, wie man es für richtig hält. Für mich jedenfalls stand schnell fest, dass ich gerne am Kap Lindesnes starten und dann zum Nordkap laufen wollte, denn es muss ein unbeschreibliches Gefühl sein, zu Fuß dort anzukommen, zwischen all den staunenden Wohnmobilisten und Kreuzfahrern.

Zu meiner Faszination, Norwegen der Länge nach zu durchqueren, kam außerdem noch meine wachsende Begeisterung für das friluftsliv der Norweger hinzu, also das »Leben unter freiem Himmel«. Damit ist alles gemeint, was man draußen machen kann. Sei es Wandern, Skifahren, Jagen oder einfach nur eine gute Zeit an der frischen Luft zu haben. Es ist ein Lebensgefühl, bei dem man die Natur erleben soll, ganz ohne Konkurrenzdenken und ohne ihr dabei zu schaden. Das friluftsliv ist tief im norwegischen Alltag verwurzelt und ein selbstverständlicher Teil der hiesigen Kultur.

Für das Abenteuer »Norge på langs« habe ich mich aber erst ein gutes halbes Jahr vor der Tour endgültig entschieden. Im Mai 2012 gab ich meinen Bürojob auf, und es ergab sich für mich die Möglichkeit, in Norwegen eine fünfwöchige Wandertour zu machen. Ich wollte diese Tour als eine Art Generalprobe nutzen und meine Ausrüstung auf Herz und Nieren prüfen. Wenn ich diese Zeit ohne körperliche Probleme, Heimweh oder zu viel Einsamkeit überstehen sollte, würde mir die Tour von Kap Lindesnes bis zum Nordkap tatsächlich machbar erscheinen. Der Traum fing an, Realität zu werden. Die fünf Wochen in Norwegen vergingen wie im Flug, alles klappte wie am Schnürchen, und mein Entschluss stand fest, fester als je zu vor.

Am 19. Mai 2013 saß ich dann schließlich mit meinen Eltern im Auto Richtung Norwegen. Ich wollte ihnen eine Woche lang das Land zeigen, durch das ich wandern würde und das mich so sehr begeisterte. Wir planten eine Rundfahrt durch den Süden Norwegens, an deren Ende sie mich am Kap Lindesnes absetzen würden. Bei herrlichstem Frühlingswetter fuhren wir in den Norden Dänemarks und nahmen die Fähre nach Norwegen. Es gab unterwegs nur ein festes Ziel: Ich wollte nach Fagernes zu Julia fahren, einer Bekannten von mir, die ich über Ulrich kennengelernt hatte und die mich während meiner langen Wanderung durch Norwegen mit Paketen voller Landkarten und Essen versorgen wollte.

Von Fagernes fuhren wir unter anderem über den Sognefjellsveien, die höchstgelegene Passstraße in Nordeuropa. Sie führt hinauf bis auf über 1400 Meter, und es lagen hoch oben in den Bergen noch bis zu zwei Meter Schnee. Unten an den Fjorden in Geiranger oder Årdal wurde es bereits grün, der Frühling stand unmittelbar vor der Tür. Die steilen und kurvenreichen Straßen boten viele spektakuläre Aussichten. Nur meine Mutter war nicht ganz so angetan von diesen Abschnitten, hatte sie doch oft Angst, dass wir irgendwann in den steilen Abgrund rasen würden. Wer schon einmal mit einem Bus oder auch dem eigenen Auto durchs norwegische Gebirge gefahren ist, wird dieses Gefühl sehr gut nachvollziehen können.

Wir fuhren bis hinauf nach Ålesund und über Bergen und Stavanger die Küste hinab in Richtung Kap Lindesnes. Am Abend des 25. Mai fieberten wir dann in einer Bar in Stavanger mit dem BVB, der in London gegen die Bayern um die Krone des europäischen Vereinsfußballs kämpfte. Mit Trikot und Schal bewaffnet, nützte leider alles Daumendrücken nichts – der BVB verlor das Spiel. Aber nichtsdestotrotz, das schwarz-gelbe Trikot würde mich durch ganz Norwegen bis hinauf zum Nordkap begleiten.

AUFBRUCH INS UNGEWISSE

Kap Lindesnes – Dølemo

Ich wache mit einem komischen Gefühl nach einer unruhigen Nacht auf. Es ist der 27. Mai, der Tag meines Aufbruchs. Vorfreude und Angst ergeben an diesem Morgen eine verwirrende Mischung. So lange habe ich diesem Tag entgegengefiebert, auf diesen Tag hingearbeitet. Alle Vorbereitungen sind erledigt und alle Hürden bis hierher überwunden. Gleich fahren wir das kurze Stück vom Campingplatz zum Leuchtturm am Kap Lindesnes. Dort möchte ich mich gerne mit dem Leuchtturmwärter treffen und mich in das große »Norge på langs«-Buch eintragen, das dort für alle Wanderer ausliegt, die wie ich vom südlichsten bis zum nördlichsten Punkt von Norwegen laufen wollen. Ich habe schon so viel von dem Buch gehört und freue mich wie ein kleines Kind darauf, mich nun ebenfalls darin verewigen zu dürfen. Das goldene Buch der Wanderung, der feierliche Start der Tour!

Bereits am Vorabend habe ich mich im Besucherzentrum angemeldet. »Natürlich wird morgen früh jemand da sein, mit dir ein kurzes Interview für unsere Internetseite führen und dir dann das große Buch zeigen!«, versprach die junge Frau am Eingang und gab mir noch die Telefonnummer des Leuchtturmwärters. »Für alle Fälle«, sagte sie.

Um neun Uhr bin ich am Besucherzentrum – niemand da. Ich rufe die Nummer des Leuchtturmwärters an. Der will von dem Termin plötzlich nichts mehr wissen und meint, es gebe einfach zu viele Leute, die die Tour »Norge på langs« laufen wollen, sich in das Buch eintragen und dann mit Bus, Bahn oder wie auch immer abkürzen. Ich diskutiere mit ihm und bitte ihn, ein Einsehen zu haben, allerdings ohne Erfolg. Ich solle mich nach der Tour melden, wenn ich es tatsächlich geschafft hätte. Für mich bricht eine Welt zusammen. Ich habe mich so sehr auf diesen Moment gefreut, und nun das.

Flüche, böse Worte und Gedanken kommen mir in den Sinn – noch bevor es überhaupt richtig losgegangen ist. Aber es nützt nichts, der Mann lässt einfach nicht mit sich reden. Zudem müssen meine Eltern langsam nach Kristiansand aufbrechen, um rechtzeitig die Fähre zurück nach Dänemark zu erreichen. Also geht es mit gehörigem Groll zum Straßenschild »Nordkapp – 2518 km«, um wenigstens ein anständiges Startfoto zu schießen. Doch als wäre das alles nicht schon genug, herrscht auch noch Schmuddelwetter. Es nieselt, und der Wind bläst mir um die Ohren.

Ich posiere vor dem Schild mit meinem riesigen unförmigen Rucksack, und wir machen schnell einige Fotos. Der große Startmoment könnte unromantischer und ernüchternder nicht sein. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? Gefühlschaos und Panik machen sich in mir breit. Ich versuche den Abschied möglichst kurz zu halten, doch schon bald fließen die ersten Tränen. Ich wende mich ab, und meine Eltern steigen in ihr Auto. Ihnen ist anzusehen, wie schwer es ihnen fällt, mich gehen zu lassen. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir uns erst Ende September wiedersehen – also in vier Monaten. Die Strapazen und Gefahren, die mich in der nächsten Zeit erwarten, kann keiner von uns richtig abschätzen. Für meine Eltern ist es sichtlich schwer, sich vorzustellen, was ich demnächst wohl zu meistern haben werde. Von ihnen habe ich jedenfalls nicht den Drang, die Welt wandernd zu entdecken. Ich kann mich als Kind nur an einen richtigen Wanderurlaub im Schwarzwald erinnern, damals haben wir zusammen mit meiner jüngeren Schwester das beschauliche Örtchen Ottenhöfen und dessen Umgebung zu Fuß erkundet. Uns zog es allerdings schon immer in den Norden, oft fuhren wir bis zu dreimal im Jahr nach Dänemark, verbrachten den Urlaub in gemütlichen Ferienhäusern und lernten so die skandinavische Lebensart kennen.

Langsam setze ich mich in Bewegung. Das Auto meiner Eltern verschwindet schnell um eine Kurve. Beim Anblick der Rücklichter komme ich mir vor wie ein ausgesetzter Hund. Meine Emotionen stehen kopf. Fühlt sich so der große Traum an? Aber gut, ich habe es ja so gewollt, und da muss ich jetzt durch. Etwas widerwillig trotte ich an einem Straßenschild vorbei: 27 Kilometer sind es bis nach Vigeland, wo ich die erste Nacht verbringen möchte. Die Aussicht auf die endlosen Kilometer Straße hebt nicht gerade meine Stimmung, ganz im Gegenteil.

Die ersten beiden Stunden vergehen mit vielen Tränen und unkontrollierten Gedanken. Die reinste Achterbahn. Ich habe es tatsächlich geschafft, meinen großen Traum wahr werden zu lassen, aber im Moment bin ich nur unendlich einsam und traurig, hier allein zu sein. So habe ich das bisher noch nicht erlebt, auch wenn ich schon häufiger allein auf Tour war. Denn meist hatte niemand Zeit oder Lust, mit mir zusammen den Rucksack zu packen, da bin ich dann oft allein losgezogen. Es gibt allerdings einen ziemlich großen Unterschied zwischen zwei Wochen Urlaub und vier Monaten Abenteuer mit offenem Ausgang – das wird mir gerade sehr schmerzlich bewusst.

Die hügelige Straße führt mich immer wieder an einzelnen bunten Häusern aus Holz vorbei, die mit ihren großen Gärten und Blumen vor der Tür so typisch für Norwegen sind. Verlief sie anfangs noch parallel zur Küstenlinie der Lindesnes-Halbinsel, kann ich das Meer mittlerweile nicht mehr sehen. Auf meinem Weg komme ich an einer großen Fabrik für Kontrastmittel, die beim Röntgen eingesetzt werden, vorbei – in der idyllischen Landschaft so weitab vom Schuss wirkt sie seltsam deplatziert. Als ich Spangereid, den ersten Ort meiner Reise, endlich erreiche, regnet es immer noch. Also entschließe ich mich, in einer Tankstelle Zuflucht zu suchen und eine Pause einzulegen. Ich kaufe eine Solo-Limonade, die norwegische Variante der Fanta, und setze mich an einen der Tische. Draußen fährt ein Pick-up vor, und ein Handwerker kommt herein, um seine Mittagspause zu machen. Mit einer großen Mahlzeit nähert er sich einem der Tische neben mir. Der Mann ist so um die fünfzig, trägt eine Hose mit verstärkten Knien und ein Flanellhemd, das mit Mörtel besprenkelt ist. Er sieht meinen Rucksack mit dem BVB-Aufnäher und fragt mich, sichtlich erstaunt, auf Deutsch: »Was machst du denn hier bei dem Wetter?«

»Ich laufe zum Nordkap«, antworte ich, selbst etwas über mich und mein Vorhaben verwundert.

»Mensch, du hast ja Humor! Wie kommt man denn auf so eine Schnapsidee?«

Eine durchaus gute Frage! Schnell komme ich mit dem Deutschen ins Gespräch, der vor ein paar Jahren nach Norwegen ausgewandert ist und hier als Fliesenleger arbeitet. Seine Geschichte interessiert mich, ich träume auch immer mal wieder davon, nach Norwegen auszuwandern. Die Natur und die gelassene Art der Norweger haben es mir angetan. Außerdem liefert mir unsere Unterhaltung eine gute Ausrede, um bei dem Wetter – es regnet mittlerweile Bindfäden – meine Pause zu verlängern.

Jürgen schwärmt mir von den Arbeitsbedingungen, dem Lohn und den Sozialleistungen in Norwegen vor. Für ihn scheint das Land das Paradies auf Erden zu sein. Ursprünglich stammt er aus der ehemaligen DDR. Nach der Wende hat er zweimal mit vielen Hundert unbezahlten Überstunden seinen Job verloren. Da hat er seinen Mut zusammengenommen und in Norwegen einen Neuanfang gewagt, zunächst ohne Familie, die erst später nachkam. Am Anfang dachte er, die Kollegen würden ihn foppen, wenn sie früh Feierabend machten oder begonnene Arbeiten einfach am nächsten oder übernächsten Tag vollendeten. Mittlerweile besitzt Jürgen hier ein schmuckes Eigenheim, spricht fließend Norwegisch und hat viele neue Freunde gefunden, seine Familie fühlt sich wohl. Er bereut es, den Schritt nicht schon viel früher gemacht zu haben.

Unsere Pause ist nun schon sehr viel länger ausgefallen als geplant. Wir verabschieden uns herzlich, und Jürgen wiederholt kopfschüttelnd: »Mensch Junge, viel Glück, du hast echt Humor!« Schon ist er weg, und ich stehe wieder im Regen. Ich folge weiter der Landstraße, mache unzählige Pausen und passiere eine große Straßenbaustelle. Auch hier fragen mich die Arbeiter, warum ich so schwer bepackt zwischen den Baggern und Kippern herumlaufe. »Ich laufe zum NORDKAP!«, brülle ich durch den Lärm und ernte erst Kopfschütteln und dann nach oben gereckte Daumen. Ich kann mir schon vorstellen, was die sich denken. Aber was soll’s, die Jungs müssen arbeiten, und ich versuche gerade, meinen Lebenstraum zu verwirklichen. Schon irgendwie merkwürdig.

Am späten Nachmittag erreiche ich völlig fertig und mit schmerzenden Füßen den Ort Vigeland. Das erste Etappenziel wird mit einer eiskalten Cola gefeiert. Ich sitze auf dem Boden vor dem Kiwi-Supermarkt und bin echt froh, es bis hierher geschafft zu haben. Nur eine Unterkunft für heute fehlt mir noch. Der Campingplatz kommt nicht infrage, der liegt ein paar Kilometer außerhalb und würde einen Umweg bedeuten. Ich kaufe noch kurz für das Abendessen ein und begebe mich dann wieder auf die Straße. Ich hoffe, auf irgendeiner Viehweide oder bei einem Bauern auf der Wiese übernachten zu können. Doch leichter gesagt als getan.

Nach einer Stunde, in der die Verzweiflung immer größer wird, finde ich im Vorgarten einer jungen Familie ein Plätzchen, wo ich mein Zelt aufstellen darf. Mein tolles neues Zelt, das ziemlich leicht ist und das ich mir extra für diese Tour zugelegt habe, bietet mir einen grandiosen Ausblick auf die Garagen des Hauses, malerisch untermalt vom Brausen der vorbeirasenden Lkw. Sauber, lebe deinen Traum, denke ich mir so, nur noch 119 weitere Tage! Aber hey, ich habe den ersten Tag mit ungefähr dreißig gewanderten Kilometern geschafft, und auch das Improvisieren scheint ganz gut zu klappen.

Nachdem ich meinen Kocher aufgebaut habe, bereite ich die wohl ekeligsten Nudeln der gesamten Reise zu. Die Soße aus Käsepulver hat die Konsistenz von Tapetenkleister, und der Geschmack nach alten Socken ist kaum zu ertragen! Das Zeug kann man nur mit viel Chilipulver in etwas einigermaßen Genießbares verwandeln. Was habe ich mir nur beim Kauf dieser Nudeln für läppische acht Norwegische Kronen gedacht? Nie wieder! Diese Lektion habe ich gelernt!

Eine weitere Lektion gibt es dann am nächsten Morgen. Bis zum Fjell, so nennt man in Skandinavien die in der Regel baumlosen Gebirgsregionen, also bis ich die Berge erreicht habe, muss ich noch mindestens fünf Tage lang auf Straßen und Schotterpisten laufen. Da werden wohl oder übel vor allem Durchhaltevermögen, Geduld und Schmerztoleranz von mir gefragt sein. In Dølemo werde ich dann – nach etwa 120 Kilometern – endlich den Einstieg in die Berge und das Wegenetz des Norwegischen Wandervereins finden.

Aber erst mal geht es über Schotterpisten durch die Wälder. Nieselregen und einsam gelegene Häuser begleiten mich bis nach Marnardal. Die Leute leben hier weitab vom Schuss. Ohne Auto geht da gar nichts. Es gibt einige große Bauernhöfe und Schrottplätze, und die Spuren in den Kurven deuten darauf hin, dass hier gerne Rallyes gefahren werden. Wenig später muss ich an einer unübersichtlichen Stelle plötzlich zur Seite springen, weil mich ein driftendes Auto fast von der Straße fegt. Ich bin jedenfalls froh, als ich völlig erschöpft und mit schmerzenden Füßen vor einem kleinen Joker-Supermarkt stehe. Eine kurze Pause kommt jetzt gerade recht, und das Vordach bietet Schutz vor dem Nieselregen. Ich habe Lust, mich für die heutige Leistung wieder mit einer Cola zu belohnen, also betrete ich den Supermarkt. An der Kasse frage ich die Verkäuferin nach dem Campingplatz im Ort. Leider sei der im Moment geschlossen, sagt sie. Aber im Nachbarort gebe es einen, versichert sie mir. Also muss ich noch ein gutes Stück laufen, bevor ich in Mjåland dann endlich Unterschlupf in einem Campingwagen auf dem dazugehörigen Campingplatz finde. Die Blasen an meinen Füßen sind nicht gerade erbaulich. Aber ich freue mich über einen weiteren geschafften Tag.

Die Tage auf der Landstraße sind hart. Ich zähle die Kilometermarkierungen und habe das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Die Blasen an den Füßen verstärken diesen Eindruck mit einem ständigen dumpfen Schmerz, der sich besonders nach den vielen langen Pausen immer wieder in den Vordergrund drängt. Schmerz müsse man genießen, oder so ähnlich, sagte mir mal ein Mitspieler während der ungeliebten Laufeinheiten zur Saisonvorbereitung, als ich noch beim SC Hennen Fußball gespielt habe. Der ständige Regen macht es jedoch nicht einfacher. So fühlt sich der große Traum also an. Gut zu wissen.

Heute haben meine Schwester und mein Kumpel Kai Geburtstag. In Gedanken bin ich bei ihnen in der Heimat. Seitdem ich Kai von meinen Plänen erzählt habe, ist er mit Feuereifer dabei, spricht mir Mut zu und kann es noch immer nicht fassen. So eine lange Reise zu Fuß ist für ihn unvorstellbar. Ich kann mich an eine gemeinsame Wanderung erinnern, da hatte er bereits nach fünf Kilometern Blasen an den Fersen, die so groß waren wie Zweieurostücke. Wir kennen uns schon lange, sind seit Kindesbeinen an zusammen in der katholischen Kolpingjugend – bezeichnenderweise heißt Kais Gruppe »Die Bären« und meine »Die Wikinger« –, haben uns oft beim Pöhlen, wie man im Ruhrpott sagt, auf dem Bolzplatz beharkt und auch schon das ein oder andere Bier zusammen getrunken. Vor der Tour standen wir bei meiner Abschiedsfeier vor einer großen Norwegenkarte und haben gewettet: Wenn ich mich bis zum Nordkap nicht rasiere, kommt er mit dem Flieger hochgeflogen und nimmt mich am Nordkap mit einer Kiste Bier in Empfang – sein Meilenkonto gibt das problemlos her. Ich schlug ein, die Wette gilt.

Als ich mit meinen Eltern schon fast im Auto Richtung Norden saß, bekam ich auch noch eine E-Mail von Kai, die nun ausgedruckt in meinem Reisetagebuch im Rucksack steckt:

Hei Simon,

ich wünsche euch eine sichere und gute Fahrt nach Norge und dann dort oben noch ein paar schöne Urlaubstage. Falls du irgendetwas vergessen hast, musst du halt ein bisschen improvisieren, aber das wird schon klappen! Lass dich unterwegs nicht unterkriegen. Wenn du mal ein Tief hast, musst du einfach nur weiterlaufen, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass die guten Momente überwiegen und du wahnsinnig tolle Erfahrungen und Eindrücke auf deinem Weg einsammeln kannst. Ich drücke dir alle Daumen, dass du dein Ziel erreichst!

Ach so, noch was: Falls es ein Grizzlybär bis nach Norge geschafft hat und dir über den Weg läuft, such dir einen Baum, die können nicht klettern. Krokodile können auch an Land sehr schnell werden, und wenn du einen hungrigen Löwen triffst, opfere dein Beef Jerky! Also in diesem Sinne noch mal: God tur und komm heil wieder!

Gruß Kai

Jetzt stehe ich mitten im dicksten Regen in Norwegen auf einer abgelegenen Landstraße. Meine Hose ist völlig durchnässt und klebt mir an den Beinen. Wasser läuft mir in die Schuhe. Frust macht sich breit. Aber ausgerechnet in diesem Moment piept irgendwo hinten im Rucksack mein Handy. Dank des Klingeltons weiß ich, dass mir jemand eine SMS geschickt hat. Es ist die Antwort von Kai auf meine Geburtstagswünsche: »Danke für die Glückwünsche! Hau rein, und wehe, du ziehst das nicht durch! Ich habe allen meinen Arbeitskollegen von dir erzählt und von deiner Wanderung vorgeschwärmt! Ich will da jetzt nicht als Trottel dastehen!« Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Genau so eine Antwort habe ich von Kai erwartet. Meine unterschwellige schlechte Laune war ihm natürlich in meiner Geburtstags-SMS nicht entgangen. Die Nachricht motiviert mich, und ich bringe den Tag zu Ende. Selbst Autofahrer, die im starken Regen anhalten und mir eine Mitfahrgelegenheit anbieten, können mich nicht umstimmen. Ich laufe einfach weiter und ernte von ihnen einerseits Unverständnis, aber andererseits auch Anerkennung – »Norge på langs« zählt in Norwegen eben etwas. Die Leute wissen einfach, wie lang ihr Land ist.

Weil ich keine Alternative sehe, schlage ich heute mein Zelt in dem wunderschönen Garten eines Ferienhauses auf. Die direkte Aussicht auf einen See und der Rollrasen gefallen mir ganz gut. Eigentlich macht man das ja nicht. Zu Hause möchte ich auch nicht, dass bei mir im Garten plötzlich jemand Wildfremdes zeltet. Aber für heute schiebe ich meine Bedenken beiseite und setze mich auf die Terrasse, um mein Abendessen zu verdrücken. Gott sei Dank kommt niemand. Die Hütte ist ziemlich feudal und neu, wer weiß, wie die hier ihr Eigentum schützen und überwachen. Vielleicht beobachten mich die Besitzer in diesem Moment per Videokamera von Oslo aus über ihren Tablet-PC und bekommen auf ihrem Sofa gerade einen Herzanfall, weil sie einen Landstreicher auf ihrer Terrasse sehen.

Am nächsten Morgen muss ich mich wirklich zusammenreißen. Bereits beim Losgehen sind die Schmerzen fast unerträglich, und ich quäle mich die paar Kilometer bis zum nächsten Supermarkt in Hægeland. Vor dem Eingang komme ich mit einem Jungen und seiner Lehrerin ins Gespräch, die sich gerade mit Fahrrädern auf Klassenfahrt befinden. Erst in einfachstem Norwegisch, dann auf Englisch erzähle ich ihnen von meinem »Norge på langs«-Plan. Ungläubig schaut der wohlgenährte Grundschüler in Jogginghose und Gummistiefeln – Bewegung scheint nicht sein größtes Hobby zu sein – von seiner Chipstüte auf und fragt mich: »Warum?«

»Hä?«, ist alles, was mir darauf einfällt.

»Ja, warum machst du das?«

»Weil es Spaß macht und ich Norwegen toll finde.«

»Zieh doch hierher, dann musst du zum Wandern nicht immer nach hier oben reisen und brauchst dir jetzt nicht so einen Stress zu machen!«

»Das wäre aber nicht dasselbe, ich will ja gerade diese extrem lange Tour wandern, mich verausgaben, die Anstrengung erleben. Darin besteht doch der Reiz!«

»Es ist toll, wenn man sich große Ziele steckt und diese dann auch versucht zu erreichen. Umso größer ist am Ende der Stolz auf das Erreichte!«, pflichtet mir die Lehrerin bei.

Der Junge ist sichtlich irritiert, nimmt die Finger aus der Chipstüte und wischt sie sich langsam an der Jogginghose ab. Offenbar ist der amerikanische Einfluss auf die junge Generation hier größer, als ich erwartet hatte. Vor allem Fast Food wird in Norwegen immer beliebter. In jungen Familien gibt es am Freitag oft Tacos, den sogenannten Taco Friday, und in den Supermärkten findet man ganze Regale voller Taco-Zutaten – die Kinder lieben es. Auch der Schüler würde vermutlich gerne die Tacos der Fahrradtour vorziehen. Und irgendwie kann ich es ihm gerade nicht verdenken 

Auf dem Weg Richtung Dølemo machen mir heute und auch in den nächsten Tagen nach den Regengüssen Hitze und das Laufen auf dem Asphalt zu schaffen. An der RV 9, die durch das bei Touristen beliebte Setesdal führt, brausen Lkw und Wohnmobile mit einem Affenzahn im Sekundentakt dicht an mir vorbei. Ich sehe auch mein erstes wildes Tier: einen Biber. Allerdings fiel er dem Verkehr zum Opfer und sieht nicht mehr ganz so possierlich dort am Straßenrand aus. Alle fünf Kilometer mache ich Pause, ziehe die Schuhe aus, massiere meine Füße und fluche wie ein Rohrspatz über die Straße, die Kilometerschilder, das Wetter, einfach über alles.

Als ich am Abend endlich in Evje auf dem Odden-Campingplatz ankomme, gehe ich auf dem Zahnfleisch. Ich entschließe mich, nach vier Tagen einen ersten Ruhetag einzulegen. Noch mal zum Mitschreiben: nach vier Tagen! Die Blasen an den Füßen weisen mich vehement darauf hin, dass diese dringend eine Pause brauchen. Und so füge ich mich. Der Odden-Campingplatz ist ziemlich groß und ziemlich modern. Es gibt drahtloses Internet und heiße Duschen. Der Supermarkt ist in zweihundert Metern zu erreichen, was nicht ganz unwichtig in meiner Situation ist. So verbringe ich also meinen ersten Ruhetag ausschließlich mit Schlafen und Essen im Zelt.

Der Weg nach Vegusdal am darauffolgenden Tag bietet viel Abwechslung in Form von Hitze, Gewitter und einem satten Regenguss. Ich bin nass bis auf die Knochen und wechsle erst dann zur Regenhose, als die Sonne wieder herauskommt. Wie in einem Bratenschlauch koche ich jetzt in meinem eigenen Saft – ein unbezahlbarer Moment dieser langen Wanderung. Genauso wie der Moment, als auf offener Straße plötzlich ein Jeep neben mir hält, die Scheibe heruntergekurbelt wird und ein cooler Norweger mit Sonnenbrille und einem Dreitagebart mir ein eiskaltes Dosenbier entgegenstreckt. Er ist sichtlich amüsiert über mein verdutztes Gesicht. Ich zögere kurz und freue mich dann wie Bolle über diese Überraschung. »Bin im selben Business wie du«, antwortet der Norweger, nachdem ich ihm berichtet habe, warum ich in diesem Aufzug auf der Landstraße stehe. Er sei auch gerne in der Natur unterwegs und gerade drei Stunden von seiner Hütte im Wald abgestiegen, um sich einen Sechserpack Bier im Supermarkt zu holen. Gleich läuft er wieder drei Stunden hoch zur Hütte – allerdings mit einem Bier weniger. Und schon sehe ich nur noch die Rücklichter seines Jeeps.

Bei der nächsten Rast ist das Bier fällig. Was für eine Wohltat! Mir ist völlig egal, dass noch nicht mal Mittag ist. Als das kalte Bier meine Kehle herunterrinnt, zählt nur der Moment. Wahnsinn, wie gut das schmeckt! Die Stimmung steigt wieder etwas. Leider auch das Thermometer. Aber dank der Kombination aus getrunkenem Bier und steigenden Temperaturen laufe ich jetzt etwas beschwingter. Trotzdem zwingen mich die Blasen zu unzähligen Pausen am Straßenrand. Immerhin kommt die Natur jetzt so richtig in Fahrt. Riesige Wiesen mit Wildblumen bringen Abwechslung in die schier endlosen Wälder Südnorwegens. Und so liege ich öfter mal im Schatten am Rand einer Wiese und nicke kurz ein. Ich genieße diese kleinen Pausen. Zu Hause käme mir das nicht in den Sinn, aber gerade gibt es nichts Schöneres, als die Augen für ein paar Minuten zu schließen, die Erschöpfung und den Moment trotz der Schmerzen in den Füßen zu genießen. Bis es dann weitergeht und alles wieder von vorn beginnt – bis zur nächsten Pause, die schon bald, nach weiteren fünf Kilometern, folgen wird. Das weiß ich so genau, weil es an den Straßen hier alle fünfhundert Meter ein kleines Schild mit der genauen Kilometerangabe gibt. So zähle ich Schild für Schild und sammle Kilometer für Kilometer, bis ich mich wieder im Schatten erholen kann.

Irgendwann gelange ich völlig fertig nach Vegusdal, wo es außer einer Kreuzung, ein paar Häusern und einem Friedhof nicht viel gibt. An Letzterem erhalte ich wie fast überall auf Friedhöfen trinkbares Leitungswasser aus dem Hahn. Eine ältere Frau nähert sich dem Parkplatz, und ich spreche sie einfach an, denn einen besseren Plan, um an eine Unterkunft für die Nacht zu kommen, habe ich gerade nicht. Sie selbst kann mich nicht beherbergen, aber ich soll es mal bei einem Bauernhof zweihundert Meter die Straße zurück probieren, da würde ich sicher Unterschlupf finden. Da ich zu kaputt für weitere Überlegungen bin, laufe ich dorthin. Ich klopfe an die Tür des großen weißen Hauses, und ein Mann Mitte vierzig in Karohemd und Jeans öffnet mir. Ich trage mein Anliegen vor, erzähle, dass ich »Norge på langs« laufe und eine Unterkunft suche. Er runzelt die Stirn, überlegt kurz und bittet mich, ihm zu folgen. Neben dem Bauernhaus und einer großen Scheune gibt es hier in einem Blockhaus auch noch eine Art Gruppenunterkunft.

Ole Morten Vegusdal erzählt mir, dass dies hier auch eine Therapieunterkunft für Jugendliche und junge Erwachsene sei, die im Leben nicht zurechtkommen, die Drogen nehmen oder psychische Probleme haben. Sie finden hier einen ruhigen Ort, um sich da wieder herauszukämpfen, eine Therapie zu machen und sich im Alltag auf dem Bauernhof einzubringen. Ich bin überrascht, hier auf so eine Einrichtung zu treffen. Etwas weiter den Weg hinauf steht noch eine weitere Hütte, die meine Unterkunft für die Nacht werden soll. Perfekt: mit Küche und Bad. Zwar etwas renovierungsbedürftig und eher vorgestern geputzt, aber für mich und für eine Nacht genau das Richtige. Besonders als später am Abend Regen einsetzt, bin ich froh, ein festes Dach über dem Kopf zu haben.

Auch am folgenden Abend bin ich wieder mit unverschämtem Glück gesegnet. Nach endlosen Kilometern auf der Straße – heute allerdings mit toller Fernsicht – komme ich endlich in Dølemo an. Hier werde ich morgen in das Wanderwegnetz des Norwegischen Wandervereins (DNT, Den Norske Turistforening) einsteigen. Und hier gibt es den letzten Supermarkt, bevor es für eine Woche in die Berge geht. Oder besser gesagt, gab es. Während der Reiseplanung hatte der Supermarkt noch geöffnet, jetzt stehe ich vor verriegelten Türen. Wie ich später erfahre, hat er vor Kurzem für immer geschlossen. Also laufe ich intuitiv zum Dorfgemeindehaus am großen Sportplatz. Viele Autos stehen vor dem Gebäude und wecken meine Neugier. Ich trete ein und platze mitten in einen Bingonachmittag. Alle Augen mustern mich, und ich frage mich schließlich bis zum Vereinsvorsitzenden durch, einem Kerl Mitte vierzig, der hier alles im Griff zu haben scheint. Nach einem kurzen Plausch bekomme ich Kaffee, Kuchen und Getränke serviert. Man wird später die Tür offen lassen, und ich darf die Duschen benutzen sowie am Sportplatz mein Zelt aufschlagen. Langsam versöhne ich mich mit den endlosen Straßenkilometern, und ich freue mich unglaublich darauf, dass das richtige Wandern in den Bergen am nächsten Tag losgehen wird.

ENDLICH INS FJELL

Dølemo – Hovden

Heute geht es endlich weg von der Straße, schießt es mir beim Aufwachen durch den Kopf. Ein Abschied, der mir leichtfällt. In der Natur kann ich die Monotonie der endlosen Landstraße endlich hinter mir lassen. Auch die Vorfreude auf die erste DNT-Hütte steigt. Darin möchte ich heute unbedingt übernachten, denn ich mag diese gemütlichen und gepflegten Hütten, die immer an besonders malerischen Flecken mitten in der Natur zu finden sind. Auf früheren Touren in Norwegen habe ich hier die Abende bei Kerzenschein sehr zu schätzen gelernt.

Der Zustieg zum Wanderweg ist im Dorf schnell gefunden. Ein rotes »T« markiert die Wanderwege des DNT. Die Freude über den Anblick ist riesig. Die Häuser von Dølemo verschwinden hinter mir, und ich folge einem sandigen Weg durch einen lichten Nadelwald. Es riecht nach blühenden Bäumen und nach gutem Wetter. Sieben Wanderstunden gibt der DNT für die heutige Tour an. Das ist viel, aber gut machbar. Strahlender Sonnenschein und blauer Himmel begleiten mich. Es geht durch den Wald bergan, und bei den warmen Temperaturen komme ich bald ins Schwitzen. Richtig fit und eingelaufen bin ich nach den paar Tagen auf der Landstraße noch nicht, aber das wird sich hoffentlich bald ändern.

Nach zwei Stunden Aufstieg ins Fjell mache ich die erste Pause im Schatten einer Birke. Den Kopf auf dem Rucksack, lege ich mich rücklings auf eine große Felsplatte. Langsam schwant mir, dass das heute doch anstrengender wird als gedacht. Beim Blick in den wolkenlosen Himmel verliere ich mich in Gedanken, und für einen kurzen Moment dämmere ich weg. Als ich wenig später hochschrecke, beschließe ich, zügig weiterzulaufen, bevor ich noch ganz einschlafe.

Von nun an geht es ständig auf und ab. Immer wieder passiere ich kleinere Seen und Gruppen von Birken, die bereits das erste Grün tragen. Die Wege im offenen Gelände sind allerdings eher begehbare Sümpfe, bedeckt von kniehohen Gräsern und niedrigen Sträuchern. Bei bestem Wanderwetter quäle ich mich da durch, und das Schmatzen der Stiefel wird zum Soundtrack des Tages. Das wird eine harte Zeit, falls die Wege allesamt bis Hovden so sind. Neun Tage durch diese Schlammhölle können ziemlich zäh werden. Willkommen in der Zeit kurz nach der Schneeschmelze! Davor haben mich alle gewarnt, und davor hatte ich schon vor der Tour mächtigen Respekt.

Es gibt berechtigte Gründe, warum kein Norweger so früh im Jahr ins Fjell gehen würde. Mit etwas Pech gerät man nämlich noch mitten hinein in die Schneeschmelze. Viele Gegenden im Süden Norwegens sind dann nahezu unpassierbar, und man muss große Umwege in Kauf nehmen. In der Hardangervidda zum Beispiel – sie ist das größte Hochplateau Europas – werden einige Flussbrücken erst Ende Juni beziehungsweise Anfang Juli aufgebaut, weil das Wasser sonst die Brücken mit sich reißen würde. Und ohne Brücken kann die Überquerung dieser Flüsse schnell lebensgefährlich werden, besonders wenn man allein wandert. Dass ich hier trotzdem schon so früh durchlaufe, liegt allerdings nicht daran, dass mich die Todessehnsucht antreibt, ganz im Gegenteil! Aber wenn man für so eine lange Tour, wie ich sie vorhabe, zu spät startet, kann es stattdessen zum Ende hin sehr ungemütlich werden. Der Winter beginnt ganz im Norden schon früh, und dann wird es bald unmöglich, ohne Skier ans Ziel zu gelangen.

Die Entscheidung, wann man für »Norge på langs« am besten losgeht, ist also eine schwierige Gratwanderung. Ich habe mich an meinen Vorgängern orientiert und schließlich Ende Mai als Starttermin gewählt. Alles andere ergab in meinen Augen auch keinen Sinn. Ich konnte nur hoffen, dass sich der Schnee in Grenzen hält und die große Schneeschmelze schon überstanden ist. Trotz der sumpfigen Strecke scheine ich bis jetzt durchaus Glück gehabt zu haben – auch wenn die Folgen der Schneeschmelze an einigen Stellen deutlich zu spüren sind.

Und dann muss ich mir zu allem Übel auch noch eingestehen, dass ich heute zu wenig gefrühstückt habe: Ein einzelnes Snickers ist eben kein richtiges Frühstück. Die Anstrengung saugt mir langsam die Kraft aus dem Körper, ich schwitze unglaublich und werde von der Sonne ordentlich in die Mangel genommen. Vor Jahren habe ich einmal bei der Tour de France gesehen, wie Jan Ullrich auf einer Bergetappe mit einem Hungerast fast vom Fahrrad gefallen ist. Genau das Gleiche passiert mir gerade, ich bekomme einen Hungerast vom Allerfeinsten: Nachdem ich heute bisher nur den Schokoriegel gegessen habe, ist mein Blutzuckerspiegel nun so weit unten, dass mir zwar noch nicht ständig schwarz vor Augen wird, ich mich aber nur noch unkonzentriert und müde vorwärtsschleppen kann. Leider läuft niemand wie Udo Bölts, der ehemalige Radrennfahrer und Teamkollege von Jan Ullrich, neben mir her, der mich motivierend anschreit und mir dauernd »Quäl dich, du Sau!« ins Ohr brüllt, so wie er es bei der Tour de France mit Ullrich gemacht hat, als der am Berg schwächelte. Das muss ich jetzt wohl oder übel selbst übernehmen – leichter gesagt als getan. Willkommen in der schönen Welt des Solo-Weitwanderns!

Bevor ich allerdings auch nur einen Meter weitergehe und es irgendwann tatsächlich zu spät ist, beschließe ich, an einem netten kleinen See eine Pause einzulegen und erst mal eins meiner Fertiggerichte zu essen. Ganz raus aus der Sonne komme ich leider nicht, denn Bäume sind hier Mangelware. Doch das Essen bringt mich wieder einigermaßen in die Spur. Und so kann es bald weitergehen durch die Sümpfe des Grauens.

Was für ein fieser Tag! Ich habe mich so sehr darauf gefreut, aber jetzt sehne ich mich tatsächlich nach der ungeliebten Straße! Ein Königreich für einen schönen, trocknen Wanderweg! Was tue ich mir hier bloß an? Die Gedanken kreisen nur noch ums Ankommen. Wann erreiche ich endlich diese verfluchte Hütte? Ich will einfach nur raus aus der sengenden Sonne und eine Dose mit köstlichen Ananasscheiben in mich hineinschaufeln. Pause an Pause reiht sich aneinander. Für die weitläufige Landschaft und die tolle Fernsicht habe ich keinen Blick mehr.

Schließlich kommt der See Skarsvatnet in Sicht. Die Hütte liegt irgendwo genau auf der anderen Seite. Ich höre nur noch Stimmen in meinem Kopf: »Quäl dich, du Sau! Stell dich nicht so an!«, und das in schneller Wiederholung, Heavy Rotation wie früher auf MTV. »Einfach ankommen!« und »Quäl dich!« werden zu meinen Mantras. Dann torkele ich Richtung Hütte.

Endlich die Erlösung: Es ist 19.15 Uhr, als ich eintrete. Da niemand anders hier ist, habe ich die Hütte ganz für mich allein. Der erste Weg führt mich direkt in die Speisekammer, wo ich mir eine große Dose mit Ananasscheiben greife. Die Stiefel fliegen in die Ecke, und mehr liegend als sitzend löffele ich im Schatten des Eingangs kraftlos den Inhalt der Dose in mich hinein. Es ist der höchste Genuss, den ich mir in diesem Moment vorstellen kann. Das Zuckerwasser, die Süße der Frucht! Es ist unbeschreiblich, wie gut das schmeckt.

Später mache ich mir noch eine riesige Portion Spaghetti mit Makrelen aus der Dose. Da ich mein Limit heute deutlich überschritten habe – statt sieben war ich über neun Stunden unterwegs –, will ich danach nur noch ins Bett, wo ich sofort in einen komatösen Tiefschlaf falle.

Am nächsten Morgen fühle ich mich einigermaßen erholt. Nach der Lehre von gestern frühstücke ich eine große Portion Porridge. Dann geht es weiter: Sechs Stunden sind für heute am Wegweiser ausgewiesen. Das Wetter ist zwar ganz gut, und es ist schön, endlich in der Natur unterwegs zu sein, aber der nasse Untergrund bleibt eine echte Herausforderung.

Die Setesdals-Austheiane ist ein tolles Wandergebiet, das viel zu wenig Beachtung findet. Man ist hier auf einer Höhe zwischen fünfhundert und tausend Metern unterwegs, wo sich weite offene Flächen mit lichtem Birkenwald abwechseln. Mal ist man weit oben und hat grandiose Aussichten, dann geht es wieder hinab in den Wald. Es gibt unendlich viele kleine Seen und glasklare Bäche. An manchen Stellen fühlt man sich wie in einem kleinen Urwald: moosbewachsene Bäume und Felsen, viel Farn, und an jeder Ecke vermutet man einen Elch, der einen über den Haufen rennen könnte. Biber haben ihre Spuren an den Bäumen hinterlassen. Man taucht richtig ab in die vermeintliche Wildnis.

Einen Nachteil hat diese Landschaft allerdings zu dieser Jahreszeit. Es sieht hier oft ziemlich gleich aus, und viele Wegmarkierungen sind an Bäumen angebracht, die durch den Winter in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Bäume sind umgeknickt, morsch und zerbrochen, oder die Rinde mit der Markierung hat sich abgeschält. So erkenne ich manche rote Markierung nicht sofort und verlaufe mich ein paarmal. Hat man hier den Weg verloren, fällt die Orientierung wirklich schwer. Verloren gehen ohne Kompass, Karte oder GPS möchte ich hier jedenfalls nicht. Der Umgang mit diesen Hilfsmitteln zählt zwar nicht zu meinen Stärken, aber mein Ziel erreiche ich doch immer. Um ehrlich zu sein, reicht ein einfacher Kompass meist schon aus, um zumindest die richtige Richtung einzuschlagen. Ein GPS-Gerät mit aufgespielter topografischer Karte ist dagegen eher Luxus. Per Zufall konnte ich mir so ein Gerät von einem Kumpel borgen. Mit der Vielzahl an Funktionen, die dieses schicke Teil hat, bin ich allerdings eher überfordert. Nur im äußersten Notfall wird es zum Einsatz kommen, um mich wieder auf den nächsten Wanderweg zurückzuleiten.

An der höchsten Stelle auf dem Weg zur Granbustøyl-Hütte zieht ein Gewitter auf. Das ist in so exponiertem Gelände nicht nur ziemlich gefährlich, die düstere Kulisse und das dumpfe Grollen machen es auch zu einem Angst einflößenden Erlebnis, auf das ich nach Möglichkeit gerne verzichten würde. Außerdem sind die Wege ohnehin schon Bäche und Schlammbäder. Und meine Wanderstiefel, die bereits von vorherigen Touren viele Kilometer auf dem Buckel haben, werden langsam undicht. Nasse Füße sind nun neben dem ewigen Schmatzen des Matsches meine unliebsamen Begleiter.

Am späten Nachmittag erreiche ich schließlich die Hütte in Granbustøyl. Das Gewitter hat mir zum Glück nur die Krallen gezeigt und mich vor großen Sturzbächen von oben verschont. Die vom Matsch völlig durchnässten Stiefel stelle ich, wie es sich gehört, in die Ecke des Vorraumes. Die Klinke knarzt ordentlich, als ich die Tür zum Wohnraum öffne und eine gemütlich eingerichtete Hütte vorfinde. Es ist niemand da, und auch den ganzen Tag über habe ich keine Menschenseele getroffen. Diese Hütten des Norwegischen Wandervereins sind einzigartig auf der Welt. Insgesamt gibt es ungefähr fünfhundert von ihnen, die über das ganze Land verteilt sind. Sie stehen jedem zur Verfügung und werden in drei Kategorien eingeteilt:

Unbediente Hütten, in denen Gas und Feuerholz vorrätig sind

Selbstbediente Hütten, in denen sich neben Gas und Feuerholz auch eine Vorratskammer oder ein Regal mit Vorräten wie Konserven befindet, die man gegen Bezahlung verbrauchen kann

Bediente Hütten, die denen des Deutschen Alpenvereins ähneln. Sie sind im Sommer und zu bestimmten Zeiten im Winter bewirtschaftet und bieten neben der Unterkunft auch Mahlzeiten an, bei deren Zubereitung viel Wert auf lokale Produkte gelegt wird.

Die Hütten liegen oft so weitab vom Schuss, dass sie nur per Hubschrauber oder im Winter per Snowscooter versorgt werden können. Dementsprechend teuer ist der Transport von Holz, Gas und Lebensmitteln. Die Unterkünfte werden von lokalen DNT-Sektionen betrieben und unterhalten, sodass sich die angebotenen Lebensmittel zuweilen etwas unterscheiden können. Viele der Hütten sind mit einem einheitlichen Messingschloss gesichert, den passenden Standardschlüssel für all diese Hütten bekommt man beim DNT gegen eine Kaution. Nutzt man eine der selbst- oder unbedienten Häuser, so trägt man sich in ein Hüttenprotokoll ein und findet ein separates Formular vor, in das man seinen Namen sowie die entstandenen Kosten für die Übernachtung und verbrauchten Vorräten einträgt. Eine entsprechende Preisliste liegt aus, die Preise unterscheiden sich etwas für Mitglieder und Nichtmitglieder des DNT. Meistens kann man ganz bequem per Kreditkarte bezahlen, wofür man einfach nur die Daten seiner Kreditkarte eintragen muss, und wenn man die Hütte verlässt, wirft man das engangsfullmakt genannte Formular in einen dafür vorgesehenen Tresor oder gesicherten Kasten, der von Zeit zu Zeit geleert wird.

Das ganze System dieser Hütten basiert auf gegenseitigem Vertrauen, und ich kann nur an jeden appellieren, dieses nicht zu missbrauchen. Ich habe selbst schon erlebt, wie Gäste einer solchen Hütte dieses Vertrauensprinzip umgangen und unter dem Vorwand, zu kaputt zum Ausfüllen zu sein, diese Formalität auf den nächsten Morgen vertagt haben. Bevor ich wach war, waren sie verschwunden, hatten sich nicht ins Protokoll eingetragen, aber dennoch Gas, Feuerholz und Lebensmittel verbraucht. Am liebsten wäre ich hinterhergelaufen und hätte sie zur Rede gestellt. Wer dieses wunderbare System ausnutzt, sollte lieber gleich daheim bleiben, ansonsten wird es das irgendwann nicht mehr geben.

Die kleine Speisekammer direkt neben dem Vorraum ist randvoll mit Lebensmitteln, und auch meine geliebten Ananasscheiben gibt es noch – das ist nicht selbstverständlich, die eingelegten süßen Früchte sind bei den Wanderern immer sehr begehrt. Der Wandertag hat mich so sehr ausgezehrt, dass ich sofort den Ofen anheize. Ich zittere richtig. Ist das ein Hitzschlag, oder bin ich einfach nur kaputt? Bald schon bollert der große gusseiserne Jøtul-Ofen, der so typisch für die Hütten und Häuser in Norwegen ist, und die klitschnassen Socken sowie die total verschlammte Hose hängen zum Trocknen auf dem Gestell darüber. Ich mache mir mit einer großen Portion Spaghetti in Corned-Beef-Tomatensoße, die ich in der randvoll gefüllten Vorratskammer gefunden habe, einen gemütlichen Abend vor dem warmen Ofen.