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Das Menschenbild bei Marx

(Marx’s Concept of Man
With a Translation of Marx’s Economic and Philosophical Manuscripts
by T.B. Bottomore)

Erich Fromm
(1961b)

Aus dem Amerikanischen von Renate Müller-Isenburg und C. Barry Hyams
überarbeitet von Rainer Funk

Erstveröffentlichung 1961 unter dem Titel Marx’s Concept of Man. With a Translation of Marx’s Economic and Philosophical Manuscripts by T.B. Bottomore in der Reihe Milestones of Thought in the History of Ideas in New York bei Frederick Ungar Publishing Co. Eine erste deutsche Übersetzung, besorgt von Renate Müller-Isenburg und C. Barry Hyams, erschien 1963 bei der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt am Main unter dem Titel Das Menschenbild bei Marx. Diese Übersetzung wurde von Rainer Funk für die Veröffentlichung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden 1980 überarbeitet.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 335-393.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1961 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Vorwort

Die Philosophie von Marx ist wie existenzialistisches Denken ein Protest gegen die Entfremdung des Menschen, gegen den Verlust seiner selbst und seine Verwandlung in ein Ding.[1] Diesen Protest erhebt sie gegen die Dehumanisierung und Automatisierung des Menschen, die mit der Entwicklung des westlichen Industrialismus verbunden ist. Marx’ Philosophie übt radikale Kritik an allen jenen „Antworten“, die das Problem der menschlichen Existenz zu lösen suchen, indem sie die in ihr beschlossenen Widersprüche leugnen oder verschleiern. Sie wurzelt in der humanistischen philosophischen Tradition des Westens, die von Spinoza über die französische und deutsche Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts bis zu Goethe und Hegel reicht, und deren innerstes Wesen die Sorge um den Menschen und um die Verwirklichung seiner Möglichkeiten ist.

Die Zentralfrage in der Philosophie von Marx, die ihren deutlichsten Ausdruck in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten gefunden hat, ist die nach der Existenz des wirklichen individuellen Menschen, der ist, was er tut, und dessen „Natur“ sich in der Geschichte entfaltet und offenbart. Im Gegensatz zu Kierkegaard und anderen Philosophen jedoch sieht Marx den Menschen in seiner vollen Wirklichkeit als Mitglied einer gegebenen Gesellschaft und einer gegebenen Klasse, als ein Wesen, das in seiner Entwicklung von der Gesellschaft gestützt wird und zugleich ihr Gefangener ist. Die volle Verwirklichung des Menschen und seine Befreiung von den gesellschaftlichen Kräften, die ihn gefangen halten, ist für Marx verbunden mit der Anerkennung dieser Kräfte und mit einem gesellschaftlichen Wandel, der auf eben dieser Anerkennung basiert.

Marx’ Philosophie ist eine Protestphilosophie; ein Protest, der getragen ist vom Glauben an den Menschen, an seine Fähigkeit, sich selbst zu befreien und seine ihm innewohnenden Möglichkeiten zu verwirklichen. Dieser Glaube ist ein Zug des Marxschen Denkens, der für die Vorstellungswelt der westlichen Kultur vom späten Mittelalter bis zum neunzehnten Jahrhundert charakteristisch war und der heute so selten ist. Eben aus diesem Grund wird vielen Lesern, die von der augenblicklich herrschenden Resignation und dem Wiederaufleben des Begriffs der Erbsünde (in der Freudschen oder Niebuhrschen Form) angesteckt sind, die Marxsche Philosophie [V-338] überholt, altmodisch oder utopisch erscheinen, und aus diesen und vielleicht noch anderen Gründen werden sie diesen Glauben an die Möglichkeiten des Menschen und der Hoffnung auf seine Fähigkeit, das zu werden, was er potenziell ist, ablehnen. Für andere wird die Philosophie von Marx eine Quelle neuer Einsicht und Hoffnungen sein.

Ich bin der Meinung; dass Hoffnung und eine neue Einsicht, und damit eine Überschreitung der engen Grenzen des gegenwärtigen positivistisch-mechanistischen Denkens der Sozialwissenschaften, vonnöten sind, wenn der Westen dieses Jahrhundert der Prüfungen überleben soll. Während das westliche Denken vom dreizehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert (oder, um genauer zu sein, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914) von der Hoffnung bestimmt war – einer Hoffnung, die im Denken der Propheten und in der griechisch-römischen Kultur wurzelte –, waren die letzten vier Jahrzehnte von wachsendem Pessimismus und Hoffnungslosigkeit bestimmt. Der Durchschnittsmensch ist auf der verzweifelten Suche nach Schutz; er versucht, der Freiheit zu entfliehen und im Schoß des großen Staats und des großen Verbands Sicherheit zu finden. Wenn wir uns nicht dieser Hoffnungslosigkeit entwinden können, dann mögen wir uns zwar noch eine Weile auf der Grundlage unserer materiellen Stärke behaupten, aber auf lange historische Sicht wird dann der Westen zur physischen oder geistigen Auslöschung verdammt sein.

So groß auch die Bedeutung von Marx’ Philosophie als Quelle philosophischer Einsicht und als Heilmittel gegen die augenblickliche – verschleierte oder offene – Resignation ist, es gibt doch noch einen anderen, kaum weniger wichtigen Grund, sie zu dieser Zeit in der westlichen Welt neu zu veröffentlichen. Die Welt ist heute in zwei rivalisierende Ideologien zerrissen – in die des „Marxismus“ und die des „Kapitalismus“. Während im Westen das Wort „Sozialismus“ als eine Erfindung des Teufels gilt und alles andere als Vertrauen erweckt, gilt für den Rest der Welt gerade das Gegenteil. Nicht nur Russland und China benützen den Begriff „Sozialismus“, um ihre Systeme anziehend zu machen, sondern auch die meisten afrikanischen und asiatischen Länder fühlen sich zu den Ideen des marxistischen Sozialismus stark hingezogen. Bei ihnen finden Sozialismus und Marxismus nicht nur wegen der ökonomischen Leistungen Russlands und Chinas Anklang, sondern auch wegen der darin enthaltenen Elemente der Gerechtigkeit, Gleichheit und Universalität (die in der geistigen Tradition des Westens wurzeln). Obgleich in Wahrheit die Sowjetunion ein System eines konservativen Staatskapitalismus und nicht die Verwirklichung des Marxschen Sozialismus darstellt, und obgleich China durch die Mittel, die es anwendet, jene Befreiung des Individuums, die ja gerade das Ziel des Sozialismus ist, negiert, benützen sie beide die Anziehungskraft des marxistischen Denkens, um sich selbst den Völkern Asiens und Afrikas zu empfehlen. Und wie reagiert die öffentliche Meinung und offizielle Politik des Westens darauf? Wir tun alles, um den russisch-chinesischen Anspruch zu unterstützen, indem wir ständig verkünden, dass ihr System „marxistisch“ sei, und indem wir Marxismus und Sozialismus mit dem sowjetischen Staatskapitalismus und dem chinesischen Totalitarismus identifizieren. Wir konfrontieren so die noch unvoreingenommenen Bevölkerungsmassen der Welt mit der Alternative von „Marxismus“ und „Sozialismus“ einerseits und „Kapitalismus“ andererseits (oder, [V-339] wie wir es gewöhnlich ausdrücken, zwischen „Sklaverei“ und „Freiheit“ bzw. freiem Unternehmertum) und geben damit der Sowjetunion und den chinesischen Kommunisten in dieser ideologischen Auseinandersetzung soviel Schützenhilfe wie nur möglich.

Die Alternative für die unterentwickelten Länder, deren Entwicklung für die nächsten hundert Jahre entscheidend für die Weltpolitik sein wird, ist jedoch nicht die von Kapitalismus und Sozialismus, sondern die von totalitärem Sozialismus und marxistischem humanistischen Sozialismus. Auf letzteren weisen schon, in verschiedener Gestalt, Tendenzen in Polen, Jugoslawien, Ägypten, Birma, Indonesien usw. deutlich hin. Als Führer einer solchen Entwicklung hätte der Westen den ehemaligen Kolonialländern viel zu bieten: nicht nur Kapital und technische Hilfe, sondern auch die westliche humanistische Tradition, deren Ergebnis der marxistische Sozialismus ist, die Tradition der Freiheit des Menschen, nicht nur von, sondern seine Freiheit zu – die Möglichkeit, seine eigenen menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln, die Tradition der menschlichen Würde und Brüderlichkeit. Um diesen Einfluss auszuüben und um die russischen und chinesischen Ansprüche zu verstehen, müssen wir das Marxsche Denken begreifen und das falsche und entstellte Bild des Marxismus, von dem das westliche Denken heute beherrscht wird, aufgeben. Ich habe die Hoffnung, dass dieses Buch ein Schritt in diese Richtung sein wird.

Im Folgenden habe ich versucht, Marx’ Menschenbild auf einfache (ich hoffe, nicht zu vereinfachende) Weise darzustellen, weil sein Stil nicht immer leicht zugänglich ist, und ich hoffe, dass die Ausführungen vielen Lesern helfen werden, den Marxschen Text zu verstehen. Ich habe darauf verzichtet, darzulegen, inwieweit ich mit dem Marxschen Denken nicht übereinstimme, denn bezüglich seines humanistischen Existenzialismus habe ich wenig Widerspruch anzumelden. In einer Reihe von Punkten, die seine soziologischen und ökonomischen Theorien betreffen, kann ich Marx nicht folgen; ich habe diese Fragen in früheren Arbeiten angeschnitten. (Vgl. z.B. Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 177-186.) Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Tatsache, dass Marx nicht voraussehen konnte, bis zu welchem Grade der Kapitalismus imstande war, sich selbst zu modifizieren und so die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Industrienationen zu befriedigen, und weiter, dass er die Gefahren der Bürokratisierung und Zentralisierung nicht überblickte und unfähig war, sich die autoritären Systeme vorzustellen, die als Alternativen zum Sozialismus auftauchen konnten. Aber da sich dieses Buch nur mit Marx’ philosophischem und historischem Denken beschäftigt, ist hier nicht der Ort, die strittigen Punkte seiner ökonomischen und politischen Theorie zu erörtern.

Eine wirkliche Kritik an Marx ist jedoch etwas ganz anderes als die gewöhnlich fanatischen oder herablassenden Urteile, die für die gegenwärtigen Äußerungen über ihn so typisch sind. Ich bin davon überzeugt, dass wir nur durch das Verständnis des tatsächlichen Inhalts des marxistischen Denkens und durch genaue Unterscheidung vom russischen und chinesischen Pseudomarxismus imstande sein werden, die Realitäten unserer gegenwärtigen Welt zu begreifen und vernünftig und konstruktiv auf ihre Herausforderungen eingehen zu können. Ich hoffe, dass dieser Band nicht nur zu einem besseren Verständnis der humanistischen Philosophie von Marx beiträgt, sondern [V-340] dass er auch dazu hilft, die irrationale und geradezu von Verfolgungswahn bestimmte Haltung, die in Marx einen bösen Geist und im Sozialismus des Teufels Werk sieht, etwas abzubauen.

Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (MEGA I, 3, S. 81-161) bilden zwar den Hauptteil dieses Bandes, ich habe jedoch auch kleinere Abschnitte aus anderen philosophischen Schriften von Marx einbezogen, um das Bild abzurunden. Der einzige größere Abschnitt, den ich hinzugefügt habe, enthält verschiedene Berichte, die sich mit der Person von Marx beschäftigen. Ich habe diesen Abschnitt beigefügt, weil Marx’ Persönlichkeit ebenso wie seine Ideen von vielen Autoren verleumdet und herabgesetzt wurden; ich glaube, dass ein zutreffenderes Bild von Marx dazu beiträgt, einige Vorurteile seinen Ideen gegenüber zu entkräften.[2]

T. B. Bottomore von der London School of Economics habe ich für eine Reihe kritischer Anregungen, die er mir nach Lektüre des Manuskripts gab, sehr zu danken.[3]

E. F.

1. Die Verfälschung des Marxschen Denkens

Es gehört zur besonderen Ironie der Geschichte, dass dem Missverständnis und der Entstellung von Theorien keine Grenzen gesetzt sind, und das sogar in einer Zeit, in der die Quellen frei zugänglich sind. Es gibt kein drastischeres Beispiel für dieses Phänomen als das, was der Theorie von Karl Marx in den letzten Jahrzehnten widerfuhr. Marx und der Marxismus werden ständig erwähnt: in der Presse, in den Reden der Politiker, in Büchern und Artikeln von anerkannten Sozialwissenschaftlern und Philosophen.

Es scheint jedoch, dass die Politiker und Journalisten mit ein paar Ausnahmen niemals auch nur einen Blick auf eine Zeile von Marx geworfen haben und dass sich die Sozialwissenschaftler mit einer minimalen Marx-Kenntnis zufriedengeben. Offenbar fühlen sie sich durchaus sicher, wenn sie sich wie Experten auf diesem Gebiet benehmen, da niemand, der Einfluss und Ansehen im Reich der Sozialforschung genießt, ihre ignoranten Feststellungen anzweifelt.[4] [V-342]

Unter all den Missverständnissen ist wahrscheinlich keines verbreiteter als die Idee vom Marxschen „Materialismus“. Man nimmt an, dass Marx geglaubt habe, das oberste psychologische Motiv des Menschen sei sein Wunsch nach finanziellem Gewinn und nach Bequemlichkeit, und dass sein Streben nach größtmöglichem Profit den Hauptantrieb in seinem persönlichen Leben und dem der menschlichen Gattung darstelle. Diesem Gedanken entspricht die ebenso weit verbreitete Annahme, dass Marx die Bedeutung des Individuums vernachlässigt, dass er weder Achtung noch Verständnis für die geistigen Bedürfnisse des Menschen gehabt habe und dass sein „Ideal“ der gut genährte und ordentlich angezogene, aber „seelenlose“ Mensch gewesen sei. Marx’ Kritik der Religion wurde für identisch gehalten mit der Leugnung aller geistigen Werte, und dies schien all denen umso offensichtlicher, die voraussetzten, dass der Glaube an Gott die Bedingung einer geistigen Orientierung ist.

Aus diesen Vorstellungen heraus wird dann Marx’ sozialistisches Paradies behandelt als eines, in dem Millionen von Menschen einer allmächtigen staatlichen Bürokratie unterworfen sind, Menschen, die ihre Freiheit aufgegeben haben, wenn sie vielleicht auch Gleichheit dafür eingetauscht haben mögen; diese materiell „befriedigten“ Individuen haben ihre Individualität verloren und sind erfolgreich in Millionen einheitlicher Roboter und Automaten verwandelt worden, die von einer kleinen Elite besser genährter Führer regiert werden.

Es genügt zu sagen, dass dieses gängige Bild von Marx’ „Materialismus“ – das eine antigeistige Tendenz und den Wunsch nach Uniformität und Unterwerfung widerspiegelt – völlig falsch ist. Das Ziel von Marx war die geistige Emanzipation des Menschen, seine Befreiung von den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit, die Wiederherstellung seiner menschlichen Ganzheit, um ihn zu befähigen, zur Einheit und Harmonie mit seinem Mitmenschen und der Natur zu finden. Marx’ Philosophie war in nicht-theistischer Sprache ein neuer und radikaler Schritt vorwärts in die Tradition des prophetischen Messianismus, sie zielte auf die volle Verwirklichung des Individualismus, gerade jenes Ziel, das das westliche Denken seit der Renaissance und Reformation bis weit ins neunzehnte Jahrhundert geleitet hat.

Dieses Bild wird zweifellos viele Leser schockieren, da es mit den Ideen über Marx unvereinbar ist, mit denen man sie bisher vertraut gemacht hat. Aber ehe ich darangehe, es zu belegen, möchte ich die Ironie betonen, die in der Tatsache liegt, dass die Beschreibung von Marx’ Zielen und dem Inhalt seiner Vision des Sozialismus beinahe haargenau auf die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft des Westens [V-343] zutrifft. Das Handeln der Mehrzahl der Menschen ist motiviert vom Wunsch nach größeren materiellen Gewinnen, nach Komfort und nach Dingen des „gehobenen Verbrauchs“, und dieser Wunsch wird nur eingeschränkt von dem Verlangen nach Sicherheit und der Vermeidung von Risiken. Sie sind zunehmend sowohl in der Sphäre der Produktion wie in der des Verbrauchs mit einem vom Staat und den großen Verbänden und deren jeweiligen Bürokratien regulierten und manipulierten Leben zufrieden; sie haben einen Grad der Konformität erreicht, der die Individualität weitgehend ausgelöscht hat. Sie sind, um den Ausdruck von Marx zu benützen, impotente „Menschenware“, die starken und autonomen Maschinen dient. Das tatsächliche Bild des Kapitalismus in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist von der Karikatur des marxistischen Sozialismus, wie ihn dessen Gegner gezeichnet haben, kaum zu unterscheiden.

Beinahe noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass Leute, die Marx bitter wegen seines „Materialismus“ anklagen, den Sozialismus als wirklichkeitsfremd angreifen, weil er nicht anerkenne, dass der einzig wirksame Anreiz des Menschen zur Arbeit in seinem Wunsch nach materiellem Gewinn liege. Die unbegrenzte Fähigkeit des Menschen, eklatante Widersprüche durch psychologische „Rationalisierung“, so wie es ihm gerade passt, zu leugnen, könnte schwerlich besser dargetan werden. Genau die gleichen Gründe, von denen behauptet wird, dass sie der Beweis dafür seien, dass Marx’ Ideen mit unserer religiösen und geistigen Tradition unvereinbar sind, und die dazu benützt werden, unser gegenwärtiges System gegen Marx zu verteidigen, werden zur selben Zeit von den gleichen Leuten zu dem Beweis verwendet, dass der Kapitalismus der menschlichen Natur entspricht und daher einem „unrealistischen“ Sozialismus weit überlegen ist.

Ich will nun folgendes nachzuweisen versuchen: Diese Marx-Interpretation ist falsch, denn die marxistische Theorie behauptet nicht, dass das Hauptantriebsmotiv des Menschen dessen Streben nach materiellem Gewinn sei. Ferner, das wirkliche Ziel von Marx ist die Befreiung des Menschen vom Druck der ökonomischen Bedürfnisse, damit er sich – das ist dabei entscheidend – in seiner vollen Menschlichkeit entfalten kann. Das wichtigste Anliegen von Marx ist also die Emanzipation des Menschen zu einem Individuum, die Überwindung der Entfremdung, die Wiederherstellung seiner Fähigkeit, sich zum Menschen und zur Natur voll in Einklang zu setzen. Ich behaupte weiter, dass Marx’ Philosophie geistiger Existenzialismus in säkularer Sprache ist und eben wegen ihrer geistigen Qualität im Gegensatz zur materialistischen Praxis und zur nur dünn verhüllten materialistischen Philosophie unseres Zeitalters steht. Marx’ Ziel, ein auf seiner Theorie vom Menschen basierender Sozialismus, ist im wesentlichen prophetischer Messianismus in der Sprache des neunzehnten Jahrhunderts.

Wie ist es dann möglich, dass die Philosophie von Marx so vollständig missverstanden und in ihr Gegenteil verzerrt wird? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der erste Grund ist zweifellos pure Ignoranz. Offenbar werden diese Fragen nicht an den Universitäten behandelt, sie sind keiner kritischen Untersuchung unterworfen, und deshalb vielleicht meinen viele, dass es ihnen freisteht, ohne jegliche Sachkenntnis zu reden und zu schreiben, was ihnen einfällt. Es gibt keine anerkannten Autoritäten, die auf dem Respekt vor den Tatsachen und vor der Wahrheit bestehen würden. Jeder [V-344] fühlt sich berechtigt, über Marx zu reden, ohne ihn je gelesen zu haben, oder wenigstens so viel von ihm gelesen zu haben, um eine Vorstellung von seinem sehr komplexen, schwierigen und subtilen Gedankensystem zu bekommen. Dabei macht es wenig aus, dass Marx’ philosophisches Hauptwerk, das von seinem Menschenbild, von Entfremdung und Emanzipation usw. handelt, die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte nämlich (MEGA I, 3, S. 81-16 = MEW Erg.