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Ihr werdet sein wie Gott
Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition

(You Shall Be as Gods
A Radical Interpretation of the Old Testament and Its Tradition)

Erich Fromm
(1966a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung 1966 unter dem Titel You Shall Be as Gods. A Radical Interpretation of the Old Testament and Its Tradition beim Verlag Holt, Rinehart and Winston in New York. Eine erste deutsche Übersetzung von Harry Maór wurde 1970 unter dem Titel Die Herausforderung Gottes und des Menschen vom Diana Verlag in Zürich publiziert. Im Zusammenhang mit der Herausgabe der zehnbändigen Erich Fromm Gesamtausgabe 1980/81 wurde von Liselotte und Ernst Mickel eine neue Übersetzung angefertigt. In Absprache mit Erich Fromm wurde der deutsche Titel an den englischen Originaltitel angeglichen. Unter dem neuen Titel Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition erschien das Buch mit neuer Übersetzung 1982 auch als Einzelband bei der Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 83-226.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1966 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

1. Einleitung

Ist die Hebräische Bibel, das Alte Testament, mehr als ein historisches Relikt, dem man seine Verehrung zollt, weil es der Urquell der drei großen westlichen Religionen ist?[1] Hat sie dem heutigen Menschen überhaupt noch etwas zu sagen – dem Menschen, der in einer Welt der Revolutionen, der Automation und der Atomwaffen lebt und einer materialistischen Philosophie huldigt, die ausdrücklich oder nicht ausdrücklich die religiösen Werte leugnet? Es sieht kaum so aus, als ob die Hebräische Bibel für uns noch von Bedeutung sein könnte. Das Alte Testament (einschließlich der Apokryphen) ist eine Sammlung von Schriften vieler Autoren, die während eines Zeitraums von über tausend Jahren (etwa zwischen 1200 und 100 v. Chr.) niedergeschrieben wurden. Sie enthält Gesetzesvorschriften, historische Berichte, Gedichte, prophetische Reden, die nur einen Teil einer umfangreicheren Literatur ausmachen, welche die Hebräer während dieser elfhundert Jahre hervorgebracht haben. (Vgl. etwa R. H. Pfeiffer, 1948.) Diese Bücher wurden in einem kleinen Land, wo sich die großen Verbindungsstraßen zwischen Afrika und Asien kreuzten, für Menschen geschrieben, die in einer Gesellschaft lebten, welche weder kulturell noch sozial der unsrigen im Geringsten ähnlich war.

Natürlich sind wir uns darüber klar, dass die Hebräische Bibel eine der anregendsten Quellen nicht nur für das Judentum, sondern auch für das Christentum und den Islam war, und so die kulturelle Entwicklung Europas, Amerikas und des Nahen Ostens tiefgehend beeinflusst hat. Nichtsdestoweniger scheint heute selbst für Juden und Christen die Hebräische Bibel nicht mehr zu sein als eine verehrungswürdige Stimme aus der Vergangenheit. Bei den meisten Christen wird das Alte Testament im Vergleich zum Neuen nur wenig gelesen. Außerdem wird das Gelesene oft durch Vorurteile entstellt. Häufig trifft man auf die Ansicht, dass das Alte Testament ausschließlich die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Rache zum Ausdruck bringe, während das Neue Testament die der Liebe und des Erbarmens repräsentiere; viele glauben sogar, dass das Gebot, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ aus dem Neuen Testament und nicht aus dem Alten stamme. Oder man meint, das Alte Testament sei nur in einem eng nationalistischen Geist verfasst und enthalte nichts von dem übernationalen Universalismus, der für das Neue Testament so kennzeichnend ist. Es sind zwar [VI-086] ermutigende Anzeichen vorhanden, dass sich bei Protestanten wie auch bei Katholiken ein Wandel hinsichtlich ihrer Einstellung und ihres praktischen Verhaltens vollzieht, doch bleibt immer noch viel zu tun.

Juden, die am Gottesdienst teilnehmen, sind mit dem Alten Testament besser vertraut, weil dort an jedem Sabbat und auch montags und donnerstags ein Abschnitt aus dem Pentateuch vorgelesen wird und im Ablauf des Jahres alle fünf Bücher Moses lückenlos an die Reihe kommen. (Hierbei folgt jeweils auf die Lesung aus dem Pentateuch ein Kapitel aus den Büchern der Propheten, so dass eine Mischung aus dem Geist des Pentateuchs und dem der Propheten entsteht.) Darüber hinaus lernen sie das Alte Testament auch noch durch das Studium des Talmud mit seinen zahllosen Zitaten aus den Heiligen Schriften kennen. Heute sind die Juden, die in dieser Tradition stehen, zwar in der Minderheit, doch entsprach sie noch vor hundertfünfzig Jahren allgemeiner jüdischer Lebensweise. Traditionsgemäß wurde dieses Bibelstudium bei den Juden dadurch gefördert, dass sie das Bedürfnis hatten, alle neuen Ideen und religiösen Unterweisungen auf die Autorität der Bibelverse zu gründen, was jedoch eine zwiespältige Wirkung hatte. Indem man die Bibelverse dazu benutzte, eine neue Idee oder ein religiöses Gebot zu untermauern, wurden sie oft außerhalb des Zusammenhangs zitiert und mit einer Interpretation belegt, die ihrer wahren Bedeutung nicht entsprach. Selbst dann, wenn sie nicht auf diese Weise verzerrt wurden, war man oft mehr an der „Brauchbarkeit“ eines Verses zur Bestätigung einer neuen Idee als an der Bedeutung des Verses in seinem Kontext interessiert. Tatsächlich war es auch so, dass der Text der Bibel mehr auf dem Weg über den Talmud und durch die allwöchentlichen Schriftlesungen bekannt war als durch direktes, systematisches Studium. Die Beschäftigung mit der mündlichen Tradition (Mischna, Gemara usw.) war wichtiger und stellte eine größere geistige Herausforderung dar.

Jahrhundertelang verstanden die Juden die Bibel nicht nur im Geist ihrer eigenen Tradition, sondern sie standen dabei in beträchtlichem Ausmaß auch unter dem Einfluss der Ideen anderer Kulturen, mit denen ihre Gelehrten in Berührung kamen. So verstand Philo das Alte Testament im Geiste Platons, Maimonides im Geiste des Aristoteles und Hermann Cohen im Geiste Kants. Die klassischen Kommentare stammen jedoch aus dem Mittelalter, und der hervorragendste Kommentator ist der unter dem Namen Raschi bekannte Rabbi Solomon ben Isaac (1040-1105), der die Bibel im konservativen Geist des mittelalterlichen Feudalismus interpretiert hat.[2] Dies trifft zu, obwohl er und andere Kommentatoren der Hebräischen Bibel den Text sprachlich und logisch klärten und dabei oft an die haggadischen Kompilationen der Rabbinen, an das jüdische mystische Erfahrungsgut und gelegentlich auch an arabische und jüdische Philosophen anknüpften und sich von ihnen bereichern ließen. [VI-087]

Für viele Generationen von Juden seit dem Ende des Mittelalters, vor allem bei den in Deutschland, Polen, Russland und Österreich lebenden, verstärkte der mittelalterliche Geist dieser klassischen Kommentare jene Tendenzen noch, die von der eigenen Gettosituation herrührten, in welcher sie nur wenig mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben der modernen Zeit Kontakt hatten. Andererseits zeigten jene Juden, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts an der zeitgenössischen europäischen Kultur Anteil hatten, im allgemeinen nur noch wenig Interesse am Studium des Alten Testaments.

Das Alte Testament ist ein Buch mit vielen Schattierungen, das im Laufe eines Jahrtausends von vielen Autoren geschrieben, redigiert und wieder umredigiert wurde und dessen Inhalt eine bemerkenswerte Entwicklung von einem primitiven Autoritäts- und Stammesbewusstsein zur Idee einer radikalen Freiheit des Menschen und der Brüderlichkeit aller Menschen aufweist. Das Alte Testament ist ein revolutionäres Buch; sein Thema ist die Befreiung des Menschen von den inzestuösen Bindungen an Blut und Boden, von der Unterwerfung unter Götzen, von der Sklaverei und von mächtigen Herren zur Freiheit des Individuums, der Nation und der ganzen Menschheit. (Dieser revolutionäre Charakter des Alten Testamentes war es auch, der es zur Richtschnur für die revolutionären christlichen Sekten vor und nach der Reformation machte.) Vielleicht können wir heute die Hebräische Bibel besser verstehen als irgendein anderes Zeitalter vor uns, gerade weil wir in einer Zeit der Revolution leben, in der der Mensch trotz vieler Irrtümer, die ihn nur in neue Formen der Abhängigkeit hineinführen, alle gesellschaftlichen Fesseln abschüttelt, die einst von „Gott“ und den „gesellschaftlichen Vorschriften“ sanktioniert waren. Vielleicht kann paradoxerweise eines der ältesten Bücher des westlichen Kulturkreises am besten von denen verstanden werden, die am wenigsten durch Tradition gebunden sind und die sich am meisten bewusst sind, wie radikal der Befreiungsprozess ist, der gegenwärtig im Gange ist.

Ich möchte noch einige Worte über mein Bibelverständnis in diesem Buch vorausschicken. Ich betrachte die Bibel nicht als „Wort Gottes“, und dies nicht nur nicht, weil die historische Forschung zeigt, dass sie ein Buch ist, welches von Menschen geschrieben wurde, von unterschiedlichen Menschen, die in unterschiedlichen Zeiten gelebt haben, sondern auch deshalb, weil ich kein Theist bin. Dennoch ist sie für mich ein außergewöhnliches Buch, in dem viele Normen und Prinzipien zum Ausdruck kommen, die über Jahrtausende hinweg ihre Gültigkeit bewahrt haben. Sie ist ein Buch, das den Menschen eine Vision verkündet, die noch immer gültig ist und immer noch auf ihre Verwirklichung wartet. Sie wurde nicht von einem einzigen Menschen geschrieben und auch nicht von Gott diktiert; es drückt sich in ihr vielmehr der Genius eines Volkes aus, das viele Generationen lang für Leben und Freiheit kämpfte.

Wenngleich ich die historische und literarische Kritik des Alten Testaments innerhalb ihres Bezugsrahmens für überaus wichtig halte, so glaube ich doch nicht, dass sie für den Zweck des vorliegenden Buches von wesentlicher Bedeutung ist, da es den biblischen Text verstehen helfen und keine historische Analyse geben möchte. Trotzdem werde ich, wenn immer es mir wichtig scheint, auf die Ergebnisse der historischen oder literarischen Analyse der Hebräischen Bibel hinweisen. [VI-088]

Die Redaktoren der Bibel haben die Widersprüche zwischen den verschiedenen von ihnen benutzten Quellen nicht immer ausgeglichen. Es müssen aber Männer von großer Einsicht und Weisheit gewesen sein, haben sie es doch verstanden, die vielen Teile zu einer Einheit zusammenzufügen, in der sich ein evolutionärer Prozess spiegelt, dessen Widersprüche Aspekte eines Ganzen sind. Ihre redaktionelle Tätigkeit, ja sogar die Arbeit der Weisen, welche die endgültige Auswahl der Heiligen Schriften trafen, entspricht im weiteren Sinn der eines Autors.

Meiner Ansicht nach kann man die Hebräische Bibel als ein Buch behandeln, und das ungeachtet der Tatsache, dass sie aus vielen Quellen zusammengetragen wurde. Nicht nur durch die Arbeit der verschiedenen Redaktoren wurde sie zu einem Buch, sondern auch dadurch, dass sie während der letzten zweitausend Jahre als ein Buch gelesen und verstanden wurde. Hinzu kommt, dass einzelne Stellen ihre Bedeutung ändern, wenn man sie aus ihren ursprünglichen Quellen heraus- und in den neuen Gesamtkontext des Alten Testaments hineinnimmt. Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen: Im Buch Genesis 1,26 sagt Gott: „Lass uns Menschen machen als unser Abbild.“ Nach Meinung vieler Alttestamentler ist dies ein archaischer Satz, der von dem Redaktor der „Priesterschrift“[3] im wesentlichen unverändert übernommen wurde. Nach manchen Autoren wird Gott hier als ein menschliches Wesen aufgefasst. Dies kann für den ursprünglichen archaischen Text auch tatsächlich vollkommen zutreffend sein. Es stellt sich aber die Frage, weshalb der Redaktor dieser Stelle, der doch zweifellos keine solch archaische Vorstellung von Gott mehr hatte, den Satz nicht änderte. Meiner Ansicht nach ist der Grund darin zu suchen, dass er die Stelle so verstand, dass der nach Gottes Vorbild geschaffene Mensch eine Gott ähnliche Qualität besitzt. Ein anderes Beispiel ist das Verbot, sich ein Abbild Gottes zu machen oder seinen Namen zu benutzen. Es ist durchaus möglich, dass der Sinn dieses Verbots ursprünglich in der archaischen, in einigen semitischen Kulturen gefundenen Sitte begründet lag, Gott und seinen Namen als Tabu zu betrachten; daher das Verbot, sich ein Abbild von ihm zu machen und seinen Namen zu benutzen. Aber im Gesamtkontext des Buches hat sich die Bedeutung des archaischen Tabus in eine neue Idee verwandelt, dass nämlich Gott kein Ding ist und daher weder durch einen Namen noch durch ein Bildnis dargestellt werden kann.

Das Alte Testament ist das Dokument, das die Entwicklung eines kleinen, primitiven Volkes beschreibt, dessen geistige Führer auf der Existenz eines einzigen Gottes und auf der Nichtexistenz von Götzen beharrten und die unbeirrt an ihrer Religion festhielten mit ihrem Glauben an einen namenlosen Gott, an eine zukünftige Vereinigung aller Menschen und an die völlige Freiheit eines jeden Individuums.

Als, die vierundzwanzig Bücher des Alten Testaments kodifiziert waren[4], war damit die jüdische Geschichte nicht zu Ende. Sie ging weiter, und damit kamen auch die Ideen, die von der Hebräischen Bibel ihren Ausgang genommen hatten, zu einer volleren Entwicklung. Die Weiterentwicklung erfolgte in zwei Bahnen: einmal im Neuen Testament, in der christlichen Bibel; und zum anderen in der jüdischen Weiterentwicklung, die man gewöhnlich als die „mündliche Überlieferung“ bezeichnet. Die jüdischen Schriftgelehrten haben stets nachdrücklich auf die Kontinuität und Einheit der schriftlichen Überlieferung (dem Alten Testament) und der mündlichen [VI-089] Überlieferung hingewiesen. Auch letztere wurde kodifiziert: in ihrem älteren Teil, der Mischna, um 200 n. Chr.; in ihrem späteren Teil, der Gemara, um das Jahr 500 n. Chr. Es ist eine paradoxe Tatsache, dass eben der Standpunkt, der die Bibel für das nimmt, was sie historisch ist, nämlich eine Auswahl von Schriften aus vielen Jahrhunderten, es einem leicht macht, der traditionellen Auffassung zuzustimmen, dass die schriftlichen und mündlichen Überlieferungen eine Einheit sind. Die mündliche Überlieferung enthält genau wie die schriftliche in der Bibel Ideen aus einem Zeitraum von mehr als zwölfhundert Jahren. Wenn wir uns vorstellen könnten, dass eine zweite jüdische Bibel geschrieben würde, so würde diese den Talmud, die Schriften des Maimonides, die Kabbala sowie die Aussprüche der chassidischen Meister enthalten. Wenn wir uns eine derartige Sammlung von Schriften vorstellen könnten, so würde sie nur wenige Jahrhunderte mehr umspannen als das Alte Testament; sie würde von vielen Autoren unter völlig unterschiedlichen Lebensumständen zusammengestellt werden und genauso viele widersprüchliche Ideen und Lehren enthalten wie die Bibel. Natürlich gibt es eine solche zweite Bibel nicht. Sie hätte aus vielerlei Gründen niemals zustande kommen können. Ich möchte damit nur zeigen, dass das Alte Testament die Entwicklung von Ideen über einen langen Zeitraum hin repräsentiert und dass diese Ideen sich über einen noch längeren Zeitraum hin weiterentwickelt haben, nachdem das Alte Testament bereits kodifiziert war. Diese Kontinuität liegt auf jeder beliebigen heute gedruckten Talmudseite dramatisch vor Augen: Diese enthält nicht nur die Mischna und die Gemara, sondern auch die späteren bis zum heutigen Tag verfassten Kommentare und Abhandlungen von der Zeit vor Maimonides bis nach der Zeit des Gaon von Wilna.[5]

Sowohl das Alte Testament als auch die mündliche Überlieferung enthalten Widersprüche, die jedoch etwas unterschiedlicher Art sind. Die im Alten Testament sind großenteils darauf zurückzuführen, dass sich die Hebräer aus einem kleinen Nomadenstamm zu einem in Babylonien lebenden Volk entwickelten, das später von der hellenistischen Kultur beeinflusst wurde. In der auf die Vollendung des Alten Testaments folgenden Periode liegen die Widersprüche nicht in der Entwicklung von einem archaischen zu einem zivilisierten Lebensstil begründet, sondern in der ständigen Zersplitterung der verschiedenen gegensätzlichen Tendenzen, die sich durch die gesamte Geschichte des Judentums durchzieht, von der Zerstörung des Tempels bis zur Vernichtung der Zentren der traditionellen jüdischen Kultur durch Hitler. Es handelt sich dabei um den Gegensatz zwischen Nationalismus und Universalismus, zwischen Konservatismus und Radikalismus, zwischen Fanatismus und Toleranz. Dabei ist die jeweilige Stärke der beiden Flügel – und vieler Sektoren innerhalb derselben – natürlich auf bestimmte Ursachen zurückzuführen, nämlich auf die spezifischen Bedingungen, unter denen das Judentum sich in den einzelnen Ländern (in Palästina, in Babylonien, im islamischen Nordafrika und Spanien, im christlich-mittelalterlichen Europa und im zaristischen Russland) entwickelte, sowie auf die spezifischen sozialen Klassen, denen die Gelehrten entstammten.[6] [VI-090]

Die vorstehenden Bemerkungen weisen auf die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Bibel und der späteren jüdischen Überlieferung hin. Einen Interpretationsprozess interpretieren, heißt, die Entwicklung gewisser, sich in diesem Evolutionsprozess entfaltender Tendenzen aufzuzeigen. Eine solche Interpretation bringt die Notwendigkeit mit sich, jene Elemente auszuwählen, welche die Hauptströmung oder doch wenigstens eine Hauptströmung im Evolutionsprozess sind. Das bedeutet aber, dass man die Faktoren gegeneinander abwägt, dass man unter ihnen, je nachdem, ob sie mehr oder weniger repräsentativ sind, eine Auswahl treffen muss. Eine Geschichtsschreibung, die allen Tatsachen die gleiche Bedeutung beimisst, ist nichts anderes als eine Aufzählung von Ereignissen; sie fragt nicht nach dem Sinn dieser Ereignisse. Geschichtsschreibung bedeutet stets auch Geschichtsdeutung. Dabei geht es darum, dass der die Tatsachen Deutende das notwendige Wissen und die notwendige Achtung vor ihnen besitzt, um nicht in Gefahr zu geraten, bestimmte Daten auszuwählen, die eine vorgefasste These stützen. Die einzige Bedingung, die bei der Interpretation auf den folgenden Seiten zu stellen ist, lautet, dass die betreffenden Stellen aus der Bibel, aus dem Talmud und der späteren jüdischen Literatur nicht seltene, eine Ausnahme bildende Äußerungen, sondern von repräsentativen Persönlichkeiten getroffene Feststellungen und Teil eines zusammenhängenden, sich entwickelnden Denkmodells sind. Auch dürfen sich widersprechende Äußerungen nicht außer Acht gelassen werden, sondern sie sind als das zu nehmen, was sie sind: nämlich Teil eines Ganzen, in dem widersprüchliche Denkmodelle neben dem hier in den Vordergrund gerückten existierten. Es würde eine weit umfangreichere Arbeit erfordern, den Beweis zu erbringen, dass das radikale humanistische Denken die Hauptentwicklungsstufen der jüdischen Überlieferung kennzeichnet, während die konservativ-nationalistische Richtung das relativ unveränderte Relikt aus älteren Zeiten ist und nie an der progressiven Evolution des jüdischen Denkens und seinem Beitrag zu den universalen menschlichen Werten einen Anteil hatte.

Obwohl ich kein Spezialist auf dem Gebiet der Bibelforschung bin, ist dieses Buch doch die Frucht vieler Jahre des Nachdenkens, habe ich doch seit meiner Kindheit das Alte Testament und den Talmud studiert. Trotzdem hätte ich nicht gewagt, diese Kommentare zur Schrift zu veröffentlichen, hätte ich nicht meine Grundeinstellung zur Hebräischen Bibel und der späteren jüdischen Überlieferung von Lehrern vermittelt bekommen, die große rabbinische Gelehrte waren. Sie waren alle Vertreter des humanistischen Flügels der jüdischen Tradition und Juden strenger Observanz. Nichtsdestoweniger unterschieden sie sich erheblich voneinander. Ludwig Krause [VI-091] zum Beispiel war ein Traditionalist, der sich vom modernen Denken wenig berühren ließ. Nehemia Nobel dagegen war ein ganz von der jüdischen Mystik und den Ideen des westlichen Humanismus durchdrungener Mystiker. Der dritte, Salman B. Rabinkow, war in der chassidischen Tradition verwurzelt; er war Sozialist und ein moderner Gelehrter. Wenngleich keiner von ihnen ein umfangreiches Schrifttum hinterließ, zählten sie doch zu den hervorragendsten talmudischen Gelehrten, die vor der Nazi-Katastrophe in Deutschland lebten. Da ich selbst kein praktizierender oder „gläubiger“ Jude bin, stehe ich natürlich auf einem völlig anderen Standpunkt als sie, und ich würde um nichts in der Welt wagen, sie für die in diesem Buch geäußerten Ansichten verantwortlich zu machen. Und doch sind meine Auffassungen aus ihrer Lehre erwachsen, und es ist meine feste Überzeugung, dass die Kontinuität zwischen ihrer Lehre und meinen eigenen Ansichten nirgends unterbrochen ist. Auch hat mich das Beispiel des großen Kantianers Hermann Cohen zu diesem Buch ermutigt, der in seinem Werk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (H. Cohen, 1929) sich der Methode bediente, das Alte Testament zusammen mit der späteren jüdischen Überlieferung als ein Ganzes zu betrachten. Wenn sich auch diese bescheidene Arbeit nicht mit seinem großen Werk vergleichen lässt und meine Schlussfolgerungen auch manchmal von den seinen abweichen, so bin ich doch in Bezug auf meine Methode von seiner Art der Bibelbetrachtung stark beeinflusst worden.

Die Bibelinterpretation in diesem Buch ist die des radikalen Humanismus. Unter radikalem Humanismus verstehe ich eine globale Philosophie, die das Einssein der menschlichen Rasse, die Fähigkeit des Menschen, die eigenen Kräfte zu entwickeln, zur inneren Harmonie und zur Errichtung einer friedlichen Welt zu gelangen, in den Vordergrund stellt. Der radikale Humanismus sieht in der völligen Unabhängigkeit des Menschen sein höchstes Ziel, was bedeutet, dass er durch Fiktionen und Illusionen hindurch zum vollen Gewahrwerden der Wirklichkeit vordringen muss. Er impliziert ferner eine skeptische Haltung gegenüber der Anwendung von Gewalt, weil es in der gesamten Menschheitsgeschichte eben die Angst erzeugende Gewalt war, die den Menschen dazu bereit machte, die Fiktion für die Wirklichkeit und Illusionen für die Wahrheit zu halten, was auch heute noch gilt. Die Gewalt war es, die den Menschen unfähig machte, unabhängig zu werden und die so sein Denken und seine Gefühle verfälscht hat.

Es ist nur deshalb möglich, die Keime des radikalen Humanismus in den älteren Quellen der Bibel zu entdecken, weil wir den radikalen Humanismus eines Amos, eines Sokrates, der Humanisten der Renaissance und der Aufklärung sowie den von Kant, Herder, Lessing, Goethe, Marx und Schweitzer kennen. Man kann den Samen nur richtig identifizieren, wenn man die Blüte kennt; oft muss man die frühere Phase mit Hilfe der späteren interpretieren, wenngleich die frühere Phase der späteren genetisch vorausgeht.

Noch ein weiterer Aspekt des radikalen Humanismus ist zu erwähnen. Ideen wurzeln im realen Leben der Gesellschaft, besonders dann, wenn es sich nicht nur um die eines einzelnen Individuums handelt, sondern wenn sie dem historischen Prozess integriert sind. Wenn man daher annimmt, dass die Idee des radikalen Humanismus eine Haupttendenz der biblischen und nach-biblischen Tradition ist, so muss man auch [VI-092] annehmen, dass während der gesamten Geschichte der Juden Grundbedingungen existierten, die zur Entstehung und zum Wachstum der humanistischen Tendenz führten. Gibt es tatsächlich solche Grundbedingungen? Ich glaube ja, und meine, es sei nicht schwer, sie zu entdecken. Die Juden waren nur kurze Zeit im Besitz einer effektiven, eindrucksvollen weltlichen Macht, tatsächlich nur wenige Generationen lang. Nach der Regierung Davids und Salomons nahm der Druck der Großmächte im Norden und Süden solche Ausmaße an, dass Juda und Israel in ständig wachsender Gefahr lebten, erobert zu werden. Und sie wurden ja dann auch erobert und konnten sich nie mehr davon erholen. Auch wenn die Juden später, formal betrachtet, politisch unabhängig waren, so waren sie doch ein kleiner, machtloser Satellitenstaat, der von den Großmächten beherrscht wurde. Als die Römer schließlich dem Staat ein Ende bereiteten, nachdem der Rabbi Jochanan ben Sakkai zu ihnen übergegangen war (womit er nur die Erlaubnis zur Eröffnung einer Hochschule in Jabne zur Ausbildung zukünftiger Generationen rabbinischer Gelehrter zu erlangen hoffte), tauchte ein Judentum ohne Könige und Priester auf, das sich bereits seit Jahrhunderten hinter einer Fassade entwickelt hatte, der die Römer nur den letzten Stoß versetzten. Jenen Propheten, welche die götzendienerische Anbetung der weltlichen Macht angeprangert hatten, gab der Verlauf der Geschichte recht. So wurden die Lehren der Propheten und nicht die Herrlichkeit Salomons auf die Dauer zum dominierenden Einfluss im jüdischen Denken. Von da an gewannen die Juden als Nation nie mehr ihre Macht zurück. Im Gegenteil hatten sie im Laufe ihrer Geschichte meistens unter denen zu leiden, die in der Lage waren Gewalt auszuüben. Zweifellos konnte ihre Situation auch zur Entstehung von nationalem Ressentiment, zu einem engherzigen Stammesbewusstsein und zur Arroganz führen, und es ist auch tatsächlich dazu gekommen. Hier liegt die Wurzel für die andere Tendenz in der jüdischen Geschichte, die wir oben erwähnten.[7]

Aber ist es nicht natürlich, dass die Geschichte von der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, dass die Reden der großen humanistischen Propheten ein Echo fanden in den Herzen von Menschen, die die Gewalt nur als ihre leidenden Opfer und nie als ihre Handhaber erfahren hatten? Ist es verwunderlich, dass die prophetische Vision einer geeinten, friedlichen Menschheit, von Gerechtigkeit für die Armen und Hilflosen bei den Juden auf fruchtbaren Boden fiel und nie vergessen wurde? Ist es verwunderlich, dass die Juden, als die Mauern der Gettos fielen, in unverhältnismäßig großer Zahl zu denen gehörten, die die Ideale von Internationalismus, von Frieden und Gerechtigkeit proklamierten? Was von einem mundanen Standpunkt aus die Tragödie der Juden war – der Verlust ihres Landes und Staates –, war für sie vom humanistischen Standpunkt aus der größte Segen: Da sie zu den Leidenden und Verachteten gehörten, waren sie in der Lage, eine Tradition des Humanismus zu entwickeln und zu bewahren.

2. Das Gottesbild

Wörter und Begriffe, die sich auf Phänomene psychischer oder geistiger Erfahrung beziehen, entwickeln sich und wachsen mit dem Menschen, auf dessen Erfahrung sie sich beziehen – oder sie vergehen mit ihm. Sie verändern sich in dem Maß, wie er selbst sich verändert; sie haben genau wie er ein Leben.

Wenn ein sechsjähriger Junge zu seiner Mutter sagt: „Ich hab dich lieb“, so gebraucht er das Wort „Liebe“ entsprechend der Erfahrung, die er im Alter von sechs Jahren besitzt. Wenn das Kind sich weiterentwickelt hat und zum Mann herangereift ist und dann die gleichen Worte zu einer geliebten Frau sagt, so haben sie eine andere Bedeutung. Es kommt dann darin der weitere Bereich, die größere Tiefe, die größere Freiheit und Aktivität zum Ausdruck, die die Liebe eines Mannes von der eines Kindes unterscheidet. Aber wenn auch die Erfahrung, auf die sich das Wort „lieben“ bezieht, beim Kind eine andere ist als beim Mann, so hat sie doch in beiden Fällen den gleichen Kern, genauso wie der Mann sich vom Kind unterscheidet und doch mit ihm identisch ist.

Jedes Lebewesen kennzeichnen gleichzeitig Dauer und Wandlung; daher finden wir Dauer und Wandlung auch in jedem Begriff, in dem sich die Erfahrung eines lebendigen Menschen widerspiegelt. Dass aber auch Begriffe ihr eigenes Leben haben und dass auch sie wachsen, wird nur verständlich, wenn man sie nicht von der Erfahrung trennt, die sie zum Ausdruck bringen. Wenn der Begriff entfremdet, das heißt von der Erfahrung, auf die er sich bezieht, getrennt wird, so verliert er seine Realität und verwandelt sich in ein Kunstgebilde des menschlichen Geistes. Hierdurch entsteht die Fiktion, dass jeder, der den Begriff gebraucht, sich damit auf das Substrat der ihm zugrunde liegenden Erfahrung bezieht. Sobald dies geschieht – und dieser Prozess der Begriffsentfremdung ist eher die Regel als die Ausnahme –, verwandelt sich die eine Erfahrung ausdrückende Idee in eine Ideologie, welche sich widerrechtlich an die Stelle der Realität setzt, die ihr im lebendigen Menschen zugrunde liegt. Die Geschichte wird dann zu einer Geschichte der Ideologien anstatt einer Geschichte konkreter, realer Menschen, die ihre eigenen Ideen hervorbringen.

Diese Erwägungen sind wichtig, wenn man das Gottesbild begreifen will. Sie sind auch wichtig, wenn man den Standpunkt verstehen will, von dem aus diese [VI-094] Seiten geschrieben wurden. Ich glaube, dass das Gottesbild ein historisch bedingter Ausdruck einer inneren Erfahrung war. Ich kann verstehen, was die Bibel oder echt religiöse Menschen meinen, wenn sie über Gott sprechen, doch teile ich ihre Begriffsvorstellung nicht. Ich glaube vielmehr, dass der Begriff „Gott“ durch die sozio-politische Struktur bedingt war, in der Stammeshäuptlinge oder Könige die höchste Macht innehatten. Der Begriff des höchsten Wertes wurde verstanden in Analogie zur höchsten Macht in der Gesellschaft.

„Gott“ ist eine der vielen poetischen Ausdrucksweisen für den höchsten Wert im Humanismus und keine Realität an sich. Es lässt sich jedoch nicht vermeiden, dass ich bei der Diskussion der Ideen eines monotheistischen Systems mich oft des Wortes „Gott“ bediene, und es wäre recht umständlich, wollte ich jedes Mal meine eigene Wertung dieses Begriffes hinzufügen. Daher möchte ich meinen Standpunkt von vornherein klarstellen. Wenn ich meine Position annähernd definieren wollte, würde ich sie als nicht-theistische Mystik bezeichnen.

Auf welche Realität menschlicher Erfahrung bezieht sich der Gottesbegriff? Ist der Gott Abrahams derselbe wie der Gott von Moses, Jesaja, Maimonides, Meister Eckhart und Spinoza? Und wenn es nicht derselbe Gott ist, gibt es dann trotzdem ein gemeinsames Erfahrungssubstrat, das dem Begriff, wie er von all diesen verschiedenen Männern gebraucht wird, zugrunde liegt, oder könnte es sein, dass ein solcher gemeinsamer Boden bei einigen vorhanden ist, aber in Bezug auf andere nicht existiert?

Dass eine Idee, der begriffliche Ausdruck einer menschlichen Erfahrung, so leicht in eine Ideologie verwandelt wird, liegt nicht nur an der Angst des Menschen, sich ganz einer Erfahrung auszuliefern, sondern auch an der Eigenart der Beziehung zwischen Erfahrung und Idee (bei der Begriffsbildung). Ein Begriff kann niemals die ihm zugrunde liegende Erfahrung adäquat zum Ausdruck bringen. Er weist auf sie hin, aber ist sie nicht. Er ist, wie sich die Zen-Buddhisten ausdrücken, „der Finger, der auf den Mond zeigt“ – er ist nicht der Mond. Jemand kann sich mit dem Begriff a oder dem Symbol x auf seine Erfahrung beziehen; eine Gruppe von Personen kann sich des Begriffs a oder des Symbols x bedienen, um damit eine gemeinsame Erfahrung zu bezeichnen. In diesem Fall ist der Begriff oder das Symbol, auch dann wenn der Begriff der Erfahrung nicht entfremdet ist, nur annäherungsweise Ausdruck der Erfahrung. Das kann gar nicht anders sein, weil das Erleben eines Menschen niemals mit dem eines anderen Menschen identisch ist; es kann sich jenem nur so weit nähern, dass die Verwendung eines gemeinsamen Symbols oder Begriffs möglich wird. (Tatsächlich ist ja auch die Erfahrung ein und derselben Person bei zwei verschiedenen Gelegenheiten nie genau die gleiche, weil niemand in zwei verschiedenen Augenblicken seines Lebens genau der gleiche Mensch ist.) Der Begriff und das Symbol haben den großen Vorteil, dass sie es den Menschen ermöglichen, ihre Erfahrungen auszutauschen; sie haben den ungeheuren Nachteil, dass sie leicht der Entfremdung unterliegen.

Es gibt noch einen weiteren Faktor, der zur Entfremdung und „Ideologisierung“ beiträgt. Es scheint eine inhärente Tendenz des menschlichen Geistes zu sein, dass er nach Systematisierung und Vollständigkeit strebt. (Eine Wurzel dieser Tendenz [VI-095] dürfte im Streben des Menschen nach Sicherheit zu suchen sein – ein Streben, das nur allzu verständlich ist, wenn man die Gefährdung der menschlichen Existenz bedenkt.) Wenn wir einige Fragmente der Realität kennen, haben wir den Wunsch, sie so zu vervollständigen, dass sich etwas „Sinnvolles“ ergibt, das in ein System zu bringen ist. Aber auf Grund der Begrenztheit der menschlichen Natur bleibt unser Wissen immer nur „fragmentarisch“, und es ist niemals vollkommen. Daher neigen wir dazu, selbst einige zusätzliche Stücke zu fabrizieren und zu den Fragmenten hinzuzufügen, um ein Ganzes, ein System daraus zu machen. Durch die Intensität des Verlangens nach Sicherheit wird man oft den qualitativen Unterschied zwischen den „Fragmenten“ und dem Hinzugefügten nicht gewahr.

Man kann diesen Prozess häufig sogar in der Weiterentwicklung der Wissenschaft verfolgen. In vielen wissenschaftlichen Systemen finden wir eine Mischung aus echten Einsichten in die Wirklichkeit und fiktiven Stücken, die hinzugefügt wurden, um ein vollständiges System zu erreichen. Erst an einem späteren Entwicklungspunkt ist klar zu erkennen, welches die echten, aber fragmentarischen Elemente des Wissens waren und was „Polsterung“ war, die hinzugefügt wurde, um das System einleuchtender zu machen. Dem gleichen Prozess begegnen wir auch in der politischen Ideologie. Als die französische Bourgeoisie in der Französischen Revolution um ihre eigene Freiheit kämpfte, tat sie dies in der Illusion, dass sie für die universale Freiheit und das Glück als absolute Prinzipien, also im Namen aller Menschen, kämpfte.

Auch in der Geschichte der religiösen Vorstellungen treffen wir auf diesen Prozess. Als der Mensch ein fragmentarisches Wissen von der Möglichkeit hatte, dass man das Problem der menschlichen Existenz durch die volle Entwicklung der menschlichen Kräfte lösen könnte, als er das Gefühl hatte, er könnte dadurch zur Harmonie gelangen, dass er Liebe und Vernunft voll entwickelte, anstatt den tragischen Versuch zu unternehmen, zur Natur zu regredieren und die Vernunft auszulöschen, da gab er dieser neuen Vision, diesem X, viele Namen: Brahman, Tao, Nirwana oder Gott. Diese Entwicklung ging in den tausend Jahren zwischen 1500 und 500 vor Chr. auf der ganzen Welt vor sich, in Ägypten, Palästina, Indien, China und Griechenland (vgl. Karl Jaspers’ „Achsenzeit“). Welcher Art diese verschiedenen Vorstellungen waren, hing ab von den ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Grundlagen der betreffenden Kultur und der gesellschaftlichen Klassen sowie von den sich daraus ergebenden Denkmodellen. Aber das X, das Ziel, wurde bald in etwas Absolutes verwandelt; es wurde ein System darum herum errichtet, und die Zwischenräume wurden mit vielen fiktiven Annahmen ausgefüllt, bis das Gemeinsame der Vision fast ganz unter dem Gewicht der in jedem System produzierten fiktiven „Zusätze“ verschwand.

Jeder Fortschritt in der Wissenschaft, in den politischen Ideen, in Religion und Philosophie besitzt die Tendenz, Ideologien zu erzeugen, die miteinander rivalisieren und sich gegenseitig bekämpfen. Dieser Prozess wird noch dadurch gefördert, dass, sowie das Denksystem zum Kern einer Organisation wird, Bürokraten auftauchen, die zur Aufrechterhaltung ihrer Macht und Herrschaft lieber das Trennende als das Gemeinsame in den Vordergrund stellen und die daher ein Interesse daran haben, den fiktiven Zusätzen die gleiche oder gar eine noch größere Bedeutung zuzumessen als den [VI-096] ursprünglichen Fragmenten. Auf diese Weise verwandeln sich Philosophie, Religion, politische Ideen und manchmal sogar die Wissenschaft in Ideologien, die von den jeweiligen Bürokraten beherrscht werden.

Das Gottesbild des Alten Testaments hat sein eigenes Leben und es hat seine eigene Entwicklung genommen, die der Entwicklung eines Volkes in einer Zeitspanne von zwölfhundert Jahren entspricht. In dieser Gottesvorstellung ist ein gemeinsames Erfahrungselement enthalten, aber diese Erfahrung hat sich andererseits auch ständig verändert und mit ihm auch die Bedeutung des Wortes „Gott“ und der damit verbundene Begriff. Das Gemeinsame ist die Idee, dass weder die Natur noch Kunstprodukte die letzte Realität oder den höchsten Wert darstellen, sondern dass es nur das EINE gibt, welches den höchsten Wert und das höchste Ziel des Menschen repräsentiert: das Ziel, durch die volle Entfaltung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten der Liebe und Vernunft mit der Welt eins zu werden.

Dem Gott Abrahams und dem Gott Jesajas ist dieses EINE gemeinsam, und doch unterscheiden sie sich so sehr voneinander, wie sich ein ungebildeter, primitiver Häuptling eines Nomadenstammes von einem universalistischen Denker unterscheidet, der ein Jahrtausend später in einem der Kulturzentren der Welt lebte. Die Gottesvorstellung wächst und entwickelt sich Hand in Hand mit dem Wachstum und der Entwicklung eines Volkes; der Kern bleibt der gleiche, aber die Unterschiede, die sich im Verlauf der historischen Entwicklung herausbilden, sind so groß, dass oft das Gemeinsame dahinter zurückzutreten scheint.

Auf der ersten Entwicklungsstufe wird Gott als absoluter Herrscher aufgefasst. Er hat die Natur und die Menschen geschaffen, und wenn er mit ihnen nicht zufrieden ist, kann er das, was er geschaffen hat, wieder vernichten. Aber das Gegengewicht zu dieser absoluten Macht Gottes über den Menschen bildet die Idee, dass der Mensch Gottes potenzieller Rivale ist. Der Mensch könnte Gott werden, wenn er nur vom Baum der Erkenntnis und vom Baum des Lebens essen würde. Die Frucht vom Baum der Erkenntnis gibt dem Menschen Gottes Weisheit; die Frucht vom Baum des Lebens würde ihm die Unsterblichkeit Gottes verleihen. Von der Schlange ermutigt, essen Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis und vollziehen damit den ersten der beiden Schritte. Gott fühlt sich in seiner Vormachtstellung bedroht. Er sagt: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt“ (Gen 3,22). Um sich vor dieser Gefahr zu schützen, vertreibt Gott den Menschen aus dem Paradies und beschränkt sein Leben auf hundertzwanzig Jahre.

Die christliche Interpretation der Geschichte vom Ungehorsam des Menschen als seinem „Sündenfall“ hat die augenfällige Bedeutung dieser Geschichte verdunkelt. Im biblischen Text kommt das Wort „Sünde“ überhaupt nicht vor; der Mensch fordert vielmehr Gott in seiner Vormachtstellung heraus, und er ist dazu befähigt, weil er selbst potenziell Gott ist. Der erste Akt des Menschen ist Rebellion, und Gott straft ihn, weil er aufbegehrte und weil Gott selbst die Vormachtstellung behalten will. Gott muss diese seine Vormachtstellung durch einen Gewaltakt schützen, indem er Adam und Eva aus dem Garten Eden vertreibt und sie so daran hindert, den zweiten Schritt zu Gott hin zu tun – nämlich vom Baum des Lebens zu essen. Der Mensch muss [VI-097] sich der überlegenen Macht Gottes fügen, aber er zeigt weder Bedauern noch Reue. Nach seiner Vertreibung aus dem Garten Eden beginnt er sein unabhängiges Leben; sein erster Akt des Ungehorsams ist der Beginn der menschlichen Geschichte, denn es ist der Anfang der menschlichen Freiheit.

Man kann die weitere Entwicklung des Gottesbegriffes nicht verstehen, wenn man den in der frühen Vorstellung enthaltenen Widerspruch nicht erkennt. Obgleich Gott der oberste Herrscher ist, hat er doch in seinem Geschöpf seinen potenziellen Herausforderer geschaffen; vom Anfang seiner Existenz an ist der Mensch der Rebell, der die potenzielle Gottheit in sich trägt. Wie wir noch sehen werden, befreit er sich in dem Maß, wie er sich entfaltet, immer mehr von der Oberhoheit Gottes, und umso mehr kann er wie Gott werden.[8] In der gesamten späteren Entwicklung des Gottesbildes spielt Gott als Eigentümer des Menschen eine immer kleinere Rolle.

Gott erscheint im Bibeltext noch ein zweites Mal als willkürlicher Herrscher, der mit seinen Geschöpfen verfahren kann wie der Töpfer, dem ein Gefäß nicht gefällt. Weil der Mensch „böse“ ist, beschließt Gott, alles Leben auf der Erde zu vertilgen.[9] Diese Geschichte führt im Weiteren dann jedoch zur ersten wichtigen Änderung in der Gottesvorstellung. Gott „bereut“ seinen Beschluss und entschließt sich, Noach, seine Familie und zwei Tiere von jeder Gattung zu retten. Das Entscheidende ist, dass Gott einen durch einen Regenbogen symbolisierten Bund (berit) mit Noach und dessen Nachkommen schließt. „Ich habe meinen Bund mit euch geschlossen. Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben“ (Gen 9,11). Die Idee des Bundes zwischen Gott und dem Menschen mag archaischen Ursprungs sein und auf eine Zeit zurückgehen, wo Gott nur ein idealisierter Mensch war, der sich vielleicht nicht allzu sehr von den olympischen Göttern der Griechen unterschied – ein Gott, der den Menschen in seinen Tugenden und Lastern ähnlich war und von den Menschen herausgefordert werden konnte. Aber in dem Zusammenhang, in den die Redaktoren der Bibel die Geschichte vom Bund gestellt haben, bedeutet sie nicht eine Regression zu archaischeren Formen des Gottesbildes, sondern einen Fortschritt zu einer viel [VI-098] weiter entwickelten und reiferen Vision. Die Idee des Bundes ist tatsächlich ein ganz entscheidender Schritt in der religiösen Entwicklung des Judentums, ein Schritt, der der Vorstellung von der völligen Freiheit des Menschen, sogar seiner Freiheit von Gott, den Weg ebnet. Damit, dass Gott diesen Bund schließt, hört er auf, ein absoluter Herrscher zu sein. Er und der Mensch sind Vertragspartner geworden. Gott ist aus einem „absoluten“ zu einem „konstitutionellen“ Monarchen geworden. Er ist – genau wie der Mensch – an die Vertragsbedingungen gebunden. Gott hat die Freiheit verloren, willkürlich zu handeln, und der Mensch hat die Freiheit gewonnen, Gott unter Hinweis auf dessen Versprechungen und die im Bund festgelegten Grundsätze zur Rechenschaft zu ziehen. Es gibt nur eine Abmachung, aber sie ist grundsätzlicher Art: Gott verpflichtet sich zu einer unbedingten Ehrfurcht vor allem Leben, vor dem Leben der Menschen und aller lebenden Kreatur. Das Recht aller lebenden Wesen auf Leben ist im ersten Gesetz niedergelegt, das selbst Gott nicht mehr ändern kann. Wichtig ist, dass der erste Bund (in der endgültigen Redaktion der Bibel) ein Bund zwischen Gott und der Menschheit und nicht zwischen Gott und dem Stamm der Hebräer ist. Die Geschichte der Hebräer ist lediglich als ein Teil der Menschheitsgeschichte aufgefasst; der Grundsatz der „Ehrfurcht vor dem Leben“ (vgl. Albert Schweitzer) geht allen spezifischen Versprechungen an einen speziellen Stamm oder an ein bestimmtes Volk voraus.

Auf den ersten Bund zwischen Gott und der Menschheit folgt ein zweiter zwischen Gott und den Hebräern.[10] In Genesis 12,1-3 wird der Bund bereits angekündigt:

Zieh weg aus deinem Land, aus deiner Heimat und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will alle segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.

In diesen letzten Worten finden wir wiederum den Universalismus. Der Segen wird nicht nur Abrahams Stamm zugutekommen; er wird auf das gesamte Menschengeschlecht ausgedehnt. Später wird Gottes Versprechen an Abraham auf einen Bund ausgedehnt, in dem seinen Nachkommen das Land zwischen dem Strom Ägyptens und dem Strom Euphrat versprochen wird. Dieser Bund wird in erweiterter Form in Genesis 17,7-10 wiederholt.

Den dramatischsten Ausdruck der radikalen Konsequenzen aus dem Bund finden wir in Abrahams Streitgespräch mit Gott, als dieser Sodom und Gomorra wegen ihrer „Schlechtigkeit“ vernichten will.[11] Als Gott Abraham seine Absicht eröffnet, tritt [VI-099] dieser näher und sagt:

Willst du auch den Gerechten mit den Gottlosen wegraffen? Vielleicht gibt es fünfzig Menschen in der Stadt: Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Gottlosen umbringen. Dann ginge es ja dem Gerechten genauso wie dem Gottlosen. Das kannst du doch nicht tun. Der Richter über die ganze Erde sollte sich nicht an das Recht halten? Da sprach der Herr: Wenn ich in Sodom, der Stadt, fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben. Abraham antwortete und sprach: Ich habe es nun einmal unternommen, mit meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. Vielleicht fehlen an den fünfzig Gerechten fünf. Wirst du wegen der fünf die ganze Stadt vernichten? Nein, sagte er, ich werde sie nicht vernichten, finde ich dort fünfundvierzig. Er fuhr fort, zu ihm zu reden: Vielleicht finden sich dort nur vierzig. Da sprach er: Ich werde es der vierzig wegen nicht tun. Und weiter sagte er: Mein Herr, zürne nicht, wenn ich weiterrede. Vielleicht finden sich dort nur dreißig. Er entgegnete: Ich werde es nicht tun, wenn ich dort dreißig finde. Darauf sprach er: Ich habe es nun einmal unternommen, mit meinem Herrn zu reden. Vielleicht finden sich dort nur zwanzig. Er antwortete: Ich werde sie um der zwanzig willen nicht vernichten. Und nochmals sagte er: Mein Herr, zürne nicht, wenn ich nur noch einmal das Wort ergreife. Vielleicht finden sich dort nur zehn. Und wiederum sprach er: Ich werde sie um der zehn willen nicht vernichten. (Gen 18,23-32)

„Der Richter über die ganze Erde sollte sich nicht an das Recht halten?“ Dieser Satz lässt erkennen, welch fundamentale Veränderung des Gottesbildes der Bund bewirkt hat. Mit höflichen Worten, aber mit der Kühnheit eines Helden fordert Abraham Gott auf, sich an die Grundsätze der Gerechtigkeit zu halten. Er verhält sich nicht wie ein demütiger Bittsteller, sondern wie ein stolzer Mann, der das Recht hat, von Gott zu verlangen, dass dieser sich an das Prinzip der Gerechtigkeit hält. Abrahams Sprache bewegt sich höchst geschickt zwischen formeller Höflichkeit und Herausforderung – d.h. zwischen der Anrede in der dritten Person Singular („Mein Herr zürne nicht“) und der zweiten Person („Wirst du wegen der fünf die ganze Stadt vernichten?“)

Mit Abrahams Herausforderung ist ein neues Element in die biblische und die spätere jüdische Überlieferung hineingekommen. Eben weil Gott durch die Normen von Gerechtigkeit und Liebe gebunden ist, ist der Mensch nicht länger sein Sklave. Der Mensch kann Gott zur Rechenschaft ziehen – genauso wie Gott den Menschen zur Rechenschaft ziehen kann –, weil beide an festgelegte Prinzipien und Normen gebunden sind.

Adam und Eva begehrten ebenfalls auf gegen Gott mit ihrem Ungehorsam; aber sie mussten nachgeben. Abraham begehrte nicht dadurch gegen Gott auf, dass er ihm [VI-100] nicht gehorchte, sondern indem er ihm vorhielt, er wolle seine eigenen Versprechungen und seine eigenen Prinzipien verletzen.[12] Abraham ist kein rebellischer Prometheus; er ist ein freier Mann, der das Recht hat, Forderungen zu stellen, und Gott hat nicht das Recht, ihre Erfüllung zu verweigern.

Die dritte Phase in der Evolution des Gottesbegriffs ist erreicht, als Gott sich Moses offenbart. Aber selbst an diesem Punkt sind noch nicht alle anthropomorphen Elemente verschwunden. Ganz im Gegenteil „spricht“ Gott noch immer; er „wohnt auf einem Berg“; später wird er das Gesetz auf die beiden Tafeln schreiben. Diese anthropomorphe Sprache bei der Beschreibung Gottes zieht sich durch die ganze Bibel. Neu ist aber, dass Gott sich als der Gott der Geschichte und nicht als der Gott der Natur offenbart; noch wichtiger ist, dass der Unterschied zwischen Gott und einem Götzen in der Idee des namenlosen Gottes zum Ausdruck kommt.