Fjodor Michailowitsch Dostojewski


Weiße Nächte


Ein gefühlvoller Roman
- Aus den Memoiren eines Träumers -

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-160-2


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Der Morgen



Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag begann trüb und unfreundlich. Es regnete, und die Tropfen prasselten eintönig gegen meine Fensterscheiben; in meinem Zimmer war es dunkel, und im Freien trüb. Mein Kopf schmerzte und schwindelte; ein Fieber schlich sich durch meine Glieder.

"Ein Brief ist für dich gekommen, Väterchen, ein Stadtpostbrief, der Postbote hat ihn gebracht!" Es war Matrjonas Stimme.

"Ein Brief! Von wem?" Ich sprang vom Sessel auf.

"Ich weiß es nicht, Väterchen; sieh nach, vielleicht steht es im Briefe selbst, von wem er ist."

Ich erbrach den Umschlag. Der Brief war von ihr.

"Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!" schrieb Nastenka, "auf den Knien flehe ich Sie um Verzeihung! Ich habe Sie betrogen und auch mich selbst betrogen. Es war ein Traum, eine Sinnestäuschung ... Der Gedanke an Sie quälte mich heute den ganzen Tag; verzeihen Sie mir!"

"Klagen Sie mich nicht an, denn meine Gefühle gegen Sie sind nicht im geringsten verändert: ich sagte Ihnen, dass ich Sie lieben würde; und ich liebe Sie auch jetzt, und es ist sogar mehr als Liebe. Oh, mein Gott! Wenn ich Sie doch beide zugleich lieben könnte! Oh, wären Sie doch, er!"

Oh, wäre er doch, Sie! Deine Worte sind es, Nastenka, die mir durch den Kopf gehen!

"Gott sei mein Zeuge, dass ich für Sie jetzt alles tun würde! Ich weiß, dass es Ihnen jetzt schwer und traurig zumute ist. Ich habe Sie tief gekränkt, doch Sie wissen: wenn man liebt, vergißt man schnell jede Kränkung. Und Sie lieben mich ja!"

"Ich bin Ihnen dankbar! Ja, für Ihre Liebe dankbar. Denn sie lebt in meiner Erinnerung fort wie ein süßer Traum, an den man noch lange Zeit nach dem Erwachen denkt; denn ich werde ewig an den Augenblick denken, wo Sie mir so brüderlich Ihr Herz offenbarten und so großmütig mein armes, verwundetes Herz, das ich Ihnen darbrachte, hinnahmen, um es zu pflegen, zu behüten und zu heilen ... Wenn Sie mir nun verzeihen, so wird die Erinnerung an Sie verklärt sein durch das Gefühl ewiger Dankbarkeit, das aus meinem Herzen niemals verschwinden wird ... Ich werde diese Erinnerung treu bewahren, denn ich kann meinem Herzen nicht untreu werden: es ist beständig. Es ist auch gestern sofort zu dem zurückgekehrt, dem es ewig gehörte."

"Wir werden uns wiedersehen, Sie werden uns besuchen, Sie werden uns nicht verlassen, Sie werden immer mein Freund und Bruder sein ... Und wenn Sie mich wiedersehen, werden Sie mir Ihre Hand geben ... Ja? Sie werden mir doch Ihre Hand geben, Sie haben mir ja schon verziehen, nicht wahr? Sie lieben mich doch wie früher?"

"Oh, versagen Sie mir Ihre Liebe nicht, verlassen Sie mich nicht, denn ich liebe Sie jetzt so sehr, denn ich bin Ihrer Liebe wert, – ich will ihrer würdig sein ... mein lieber Freund! In der nächsten Woche heirate ich ihn. Er ist ganz verliebt zurückgekehrt, er hat mich niemals vergessen ... Sie werden mir nicht zürnen, dass ich von ihm schreibe. Ich will mit ihm zu Ihnen kommen; Sie werden ihn liebgewinnen, nicht wahr?"

"Verzeihen Sie mir, denken Sie an mich und behalten Sie lieb Ihre Nastenka."

Lange las ich den Brief; Tränen wollten mir in die Augen treten. Schließlich entfiel das Blatt meiner Hand, und ich verbarg das Gesicht in den Händen.

"Väterchen! Du, Väterchen!" begann plötzlich Matrjona.

"Was denn, Alte?"

"Ich hab doch das ganze Spinnegewebe von der Decke heruntergeholt. Nun kannst du meinetwegen heiraten, oder Gäste zusammenrufen, ganz wie es dir beliebt ..."

Ich sah Matrjona an. Sie war eine noch rüstige, jugendliche Alte, aber ich weiß nicht warum, plötzlich erschien sie mir als eine Greisin mit erloschenen Augen, runzligem Gesicht, gebückt und gebrechlich ... Ich weiß nicht warum, auch mein Zimmer erschien mir plötzlich ebenso gealtert wie Matrjona: die Wände und Fußböden verblichen, alles fahl, und an der Decke noch mehr Spinngewebe als je. Ich weiß nicht warum, auch das Haus gegenüber erschien mir, als ich zum Fenster hinausblickte, auf einmal alt und baufällig, der Verputz an den Säulen gesprungen und abgebröckelt, die Gesimse voller Risse und rauchgeschwärzt, und die früher ockergelben Mauern, gescheckt ...

Vielleicht kam es nur daher, dass der Sonnenstrahl, der plötzlich aus den Wolken hervorgebrochen. war, sich wieder hinter einer Regenwolke versteckte, so dass sich alles wieder verdunkelte; oder war an mir die ganze trostlose und unfreundliche Perspektive meiner Zukunft vorbeigeschwebt, und ich sah mich selbst, wie ich jetzt bin, doch um fünfzehn Jahre gealtert, in diesem selben Zimmer sitzen, ebenso einsam wie jetzt, mit derselben Matrjona, die in diesen Jahren nicht im geringsten klüger geworden ist? ...

Aber dass ich die Kränkung nicht verziehe, Nastenka; dass ich dein heiteres, wolkenloses Glück mit einem Schatten trübte; dass ich dir Vorwürfe machte; dass ich in deinem Herzen Trauer und heimliche Gewissensbisse weckte und es in Augenblicken höchster Wonne kummervoll pochen ließe; dass ich auch mir eine der zarten Blüten, die du, bevor du mit ihm zum Traualtar gehst, in deine dunkle Locken flichtst, entblätterte ... Oh, nie, nie werde ich das tun! Dein Himmel sei immer heiter, dein liebes Lächeln, licht und sorglos, und du selbst sei gesegnet für den Augenblick der Seligkeit und des Glücks, den du einem andern einsamen und dankbaren Herzen schenktest!

Mein Gott! Ein ganzer Augenblick der Seligkeit! Genügte er nicht für ein ganzes Menschenleben?

 

 

Inhalt




Die erste Nacht

Die zweite Nacht

Nastenkas Geschichte

Die dritte Nacht

Die vierte Nacht

Der Morgen

 

 

 

Die erste Nacht



Es war eine wunderbare Nacht, eine von den Nächten, die wir nur erleben, solange wir jung sind, freundlicher Leser. Der Himmel war so sternenreich, so heiter, dass man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte: können denn unter einem solchen Himmel überhaupt irgendwelche böse oder mürrische Menschen leben? So fragt man nur, wenn man jung ist, freundlicher Leser, wenn man sehr jung ist; doch möge der Herr Ihnen solche Fragen öfter eingeben ... Da ich gerade von allerlei mürrischen und bösen Herrschaften spreche, muß ich an mein musterhaftes Betragen während des ganzen heutigen Tages denken. Schon vom frühen Morgen an quälte mich ein seltsames Unlustgefühl. Es war mir plötzlich, als ob ich, Einsamer, von allen verlassen sei und als ob sich alle von mir lossagten. Nun kann man mich allerdings fragen: wer sind diese "Alle"? Denn ich lebe schon seit acht Jahren in Petersburg und habe es bis heute nicht verstanden, Bekanntschaften zu machen. Wozu brauche ich auch Bekanntschaften? Ich kenne auch so ganz Petersburg; darum hatte ich auch das Gefühl, von allen verlassen zu sein, als ganz Petersburg aufbrach und in die Sommerfrischen zog. Es war mir so schrecklich, allein zu bleiben, und darum irrte ich ganze drei Tage in der Stadt umher, von einem starken Unlustgefühl bedrückt und ohne zu begreifen, was mit mir vorging. Gehe ich auf den Newskij-Prospekt oder in einen Park, oder irre ich an den Kais entlang, – nirgends treffe ich auch nur ein Gesicht von denen, die ich gewohnt war, das ganze Jahr hindurch an einer bestimmten Stelle zu einer bestimmten Stunde zu sehen. Alle die Leute kennen mich natürlich nicht, aber ich kenne sie. Ich kenne sie ganz genau, ich habe ihre Gesichter studiert, – und ich habe mein Vergnügen an ihnen, wenn sie vergnügt, und bin verstimmt, wenn sie mißvergnügt sind. Mit einem alten Männchen, dem ich jeden lieben Tag zu derselben Stunde an der Fontanka zu begegnen pflegte, bin ich beinahe befreundet. Er hat ein so ernstes, nachdenkliches Gesicht, murmelt sich immer etwas in den Bart, schwenkt den linken Arm hin und her und trägt in der rechten Hand einen Knotenstock mit goldenem Knopf. Auch er kennt mich bereits und nimmt an mir großen Anteil. Ich bin überzeugt, dass er sehr verstimmt sein wird, wenn ich zur bestimmten Stunde an einer bestimmten Stelle der Fontanka nicht erscheine. Darum sind wir nahe daran, einander zu grüßen; besonders, wenn wir beide gut aufgelegt sind. Als wir uns neulich ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und uns am dritten Tage wieder trafen, griff ein jeder von uns nach seinem Hute; wir beherrschten uns aber noch zur rechten Zeit, ließen die Hände sinken und gingen mit teilnahmsvollen Blicken aneinander vorbei. – Auch unter den Häusern habe ich Bekannte. Wenn ich eine Straße entlang gehe, so eilt mir jedes Haus gleichsam etwas entgegen, blickt mich mit allen seinen Fenstern an und spricht: "Guten Tag! Wie geht es Ihnen? Mir geht es, Gottlob, recht gut, und im Mai bekomme ich ein neues Stockwerk." Oder: "Wie ist Ihr Befinden? Was mich betrifft, so komme ich morgen in Reparatur!" Oder: "Ich wäre neulich um ein Haar verbrannt und bin mit ordentlichem Schrecken davongekommen" usw. Ich habe unter ihnen meine Lieblinge und gute Freunde; eines von ihnen hat die Absicht, sich diesen Sommer einer Kur bei einem Architekten zu unterziehen. Ich habe mir vorgenommen, es jeden Tag zu besuchen: dass man es mir, Gott behüte, nicht zu Tode kuriert! ... Doch niemals vergesse ich die Geschichte mit einem reizenden hellrosa Häuschen. Es war ein so liebes steinernes Häuschen, es lächelte mich immer so freundlich an und blickte so stolz auf seine plumpen Nachbarn, dass sich mir jedes mal, wenn ich vorbeiging, das Herz im Leibe freute. Doch wie ich in der vorigen Woche vorbeigehe und meinen Freund anschaue, höre ich plötzlich seinen Jammerschrei: "Man streicht mich gelb an!" Diese Bösewichter! Barbaren! Nichts haben sie verschont: weder die Säulen, noch die Gesimse, und mein Freund wurde gelb wie ein Kanarienvogel. Mir lief vor Erregung beinahe die Galle über, und ich bringe es auch heute noch nicht übers Herz, meinen verunstalteten armen Freund aufzusuchen, den man in der Farbe des Reiches der Mitte angemalt hat.

Nun verstehen Sie wohl, freundlicher Leser, auf welche Weise ich ganz Petersburg kenne.