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Sabine Bruns

Physio-Riding Reitanalyse

Tierphysiotherapeutische Erklärungen für Reiter





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Einleitung


Physio-Riding ist ein Ausbildungskonzept für Pferd und Reiter.

Der Begriff „Physio-Riding“ ist beim deutschen Patentamt (DPMA)
als Markenzeichen geschützt.
Registernummer: 304 72 387.8

„Wenn ich dein Pferd ansehe und anfasse,
kann ich dir sagen, wie du reitest.“
Sabine Bruns, Anderlingen 1999

 

Die Ausbildung des Pferdes zum Reitpferd ist die Ausbildung eines Hochleistungssportlers.

 

Hierbei können leicht gesundheitliche Probleme entstehen, die erst auffallen, wenn sie so massiv sind, dass sie die Bewegungen des Pferdes behindern und es zu Rittigkeitsproblemen kommt.

Ungehorsam, Zähneknirschen, Verwerfen, verminderte Biegungsfähigkeit, verminderter Schwung oder der Passgang sind nur einige der wichtigsten und häufigsten Probleme, die bei der Ausbildung des Pferdes auftreten können und in den meisten Fällen gesundheitliche Ursachen haben.

 

Die Folge solcher Probleme ist, dass der Reiter auf dem Pferd nicht mehr korrekt sitzen und einwirken kann, wodurch das Pferd in seinen Bewegungen noch mehr behindert wird und weitere gesundheitliche Probleme entstehen.

Die Physio-Riding Reitanalyse umfasst 3 Stufen:

1. Die Physio-Riding Tastanalyse

2. Die Physio-Riding  Sitzanalyse

3. Die Physio-Riding Funktionslinienanalyse

 

Die systematisch durchgeführte vollständige Reitanalyse gibt dem Reiter wertvolle Hinweise über den körperlichen Zustand seines Pferdes und die damit verbundene Entstehung reiterlicher Probleme.

Alle Inhalte dieser Anleitung entsprechen den Erfahrungen, die Sabine Bruns während ihrer langjährigen Arbeit mit Pferden und Reitern gemacht hat.

 

Alle Anweisungen dieser Abhandlung führt der Reiter auf eigene Gefahr durch.

Die Autorin übernimmt keine Haftung.

Ich bedanke mich bei Susanne Wagner für das Erstellen zahlreicher Zeichnungen für dieses Buch.

Gleichgewicht

 

Ein Individuum, egal ob Tier oder Mensch, befindet sich im Gleichgewicht, wenn es für die stabile Haltung kaum Muskelarbeit benötigt. Jedes Ungleichgewicht muss mittels Muskelarbeit ausgeglichen werden.

Hätte das Pferd weder Kopf noch Hals, wäre es perfekt im Gleichgewicht, vergleichbar mit einem Tisch, dessen vier Beine alle gleich schwer belastet werden.
Das Pferd hat aber Kopf und Hals. So bildet die vordere Hälfte des Körpers ein Übergewicht.

Damit die Vorhand trotzdem nicht überlastet wird, hat die Natur dem Pferd Instrumente gegeben, die für das Gleichgewicht sorgen:

1.

Das Nackenband zieht den Kopf in die Höhe. So wird die vordere Hälfte der Waage wieder verkürzt. Die Vordergliedmaßen sind gewinkelt konstruiert, damit der schwere Hals besser gestützt wird.

2.

In der hinteren Hälfte des Pferdekörpers bilden die Eingeweide ein solides Gegengewicht.

3.

Die Hintergliedmaßen sind gewinkelt konstruiert. Dadurch steht das Pferd nicht mit geraden Beinen, wie ein gerade stehender Mensch, sondern mit gebeugten Beinen, wie ein Mensch, der ein schweres Gewicht anhebt. Die Körperlast wird effektiver gestützt.

So befindet sich das Pferd mittels minimalstem Kraftaufwand stabil im Gleichgewicht.

 

Sobald der Reiter auf dem Pferderücken sitzt, ist dieses Gleichgewicht massiv gestört.
Die Vorhand wird schwer belastet.

Damit das Pferd trotz Reiterlast gesund bleibt, muss während des Reitens ein künstliches Gleichgewicht geschaffen werden.

 

Es reicht nicht mehr, dass das Nackenband den Hals hebt. Das Pferd muss aus der Schulter heraus „wachsen“, damit Gewicht mehr nach hinten verlagert wird.
Es reicht nicht mehr, dass die Hinterhand des Pferdes gewinkelt ist. Das Pferd muss möglichst so weit unter den Körper treten, dass seine Hufe unter dem Reiter auffußen und das Reitergewicht tragen.

Das so erzeugte künstliche Gleichgewicht ist kein feststehendes, sondern ein schwebendes Gleichgewicht, welches während der Bewegung immer wieder neu gesucht werden muss.

 

Vorhand und Hinterhand verschieben sich dabei im gegenseitigen Kräfteverhältnis.

Das heißt: Je mehr die Hinterhand den Reiter trägt, desto mehr will das Pferd die Vorhand anheben. Je weniger die Hinterhand den Reiter trägt, desto mehr Gewicht lastet auf der Vorhand. Das Pferd möchte mit lang nach abwärts gedehntem Hals laufen, bzw. legt sich auf das Gebiss und stützt sich darauf ab. Man sagt auch, es sucht das 5. Bein.

 

Die Haltung von Kopf und Hals ist abhängig von der Bewegung der Hinterhand.

 

Das Pferd braucht gesunde und kräftige Muskeln, um dieses künstliche Gleichgewicht herzustellen. Kein Pferd ist in der Lage, dieses Gleichgewicht auf Dauer herzustellen und zu erhalten. Es braucht immer wieder Pausen. Der Reiter darf das Pferd nicht behindern.

 

Jedes manuelle Beeinflussen der Haltung von Kopf und Hals durch den Reiter erschwert es dem Pferd, sich auszubalancieren.

 

Der häufigste Fehler:

Sobald der Reiter das Pferd animiert, mit der Hinterhand mehr unter den Körper zu treten, will das Pferd instinktiv den Kopf mehr heben.

Der Reiter will aber durch Senken des Kopfes die Rückenwölbung erreichen. Er merkt: Wenn er die Hinterhand weniger aktiviert, lässt sich das Pferd leichter „mit den Händen“ in die gewünschte Kopf-Hals-Haltung bringen.

Der Reiter geht einen Kompromiss ein, in dem er dem Hinterhandschub nicht mehr genügend Beachtung schenkt. Das Pferd findet kein Gleichgewicht und trägt zu viel Gewicht auf der Vorhand. Es beginnt, sich auf die Hand zu legen, eine Stütze zu suchen. Das möchte der Reiter nicht. Er beginnt, mit den Händen zu agieren (sogenannte Paraden). Hierdurch verunsichert er das Pferd. Es spannt die Rückenmuskeln an und bewegt sich zunehmend steifer.

Gerade richten

 

Ähnlich wie ein Hund bewegt sich auch das freie Pferd gerne mit etwas Seitwärtsrichtung. Es kann dadurch seinen Körper effektiver und mit weniger Kraftaufwand in die Bewegungsrichtung schieben.

Nächstes Bild: Wenn sich das Pferd ganz gerade bewegt, treten die Hufe an der Körpermasse vorbei nach vorne. Das Hauptkörpergewicht hängt zwischen den 4 Beinen (roter Bereich).

Nächstes Bild: Nimmt das Pferd während des Laufens eine etwas seitliche Haltung ein (rechts), schieben die Hinterbeine effektiver die Körpermasse in die Bewegungsrichtung.

Wenn wir Menschen ein schweres Möbelstück verrücken wollen, schieben wir ja auch, indem wir uns möglichst mittig vor das Möbelstück stellen und versuchen nicht, es neben uns zu ziehen.

Nächstes Bild: Da das Pferd vorne schmaler gebaut ist als hinten, bekommt der Reiter auf dem jungen Pferd das Gefühl, auf einem schiefen Pferd zu sitzen. Der Begriff „natürliche Schiefe“ ist so entstanden.

Ziel des gymnastizierenden und versammelnden Reitens ist es deshalb, das Pferd zu animieren, in minimal gebogener Körperhaltung (angedeutetes Schulter herein) vorwärts zu treten, damit das gerade vortretende Hinterbein unter den Körperschwerpunkt tritt und den Rücken besser beim Tragen des Reiters unterstützt.

In der Reitlehre steht deshalb, dass das Pferd mittels Biegung nach innen gestellt werden soll. Das „Schulter herein“ ist die klassische Übung zur Geraderichtung des Pferdes.

Hierbei ist jedoch zu beachten, dass das Pferd nicht am ganzen Körper gleichmäßig biegungsfähig ist.

 

Die Vorhand bekommt ihre Stabilität vor allem durch die Verbindung der Rippen mit dem starren Brustbein. Das heißt, das Pferd ist im Hals und in der Lendenwirbelsäule biegefähig, aber (fast) nicht im Bereich der Brustwirbelsäule.

Jeder Versuch, das Pferd mittels Handeinwirkung zu biegen, scheitert daran, dass sich nur der Hals biegt, nicht aber die Schulter mit in die Biegung genommen wird.

 

Jeder Reiter muss sich bewusst sein, dass Biegung nur aus der Hinterhand nach vorne möglich ist.

Wird das Pferd mittels Handeinwirkung dazu gebracht, bei geradem Körper den Hals in eine Richtung zu biegen, wird die Vorwärtsbewegung blockiert. Es entsteht ein Ungleichgewicht, dass durch Muskelarbeit wieder ausgeglichen werden muss.

Die Biegung des Pferdes muss im Bereich der Lende, also hinter dem Reiter beginnen.

 

Das Maß der Halsbiegung darf nie höher sein als das Maß der Biegung in der Lendenwirbelsäule, wenn die Biegung der Geraderichtung dienen soll!

Die Physio-Riding Tastanalyse

 

Wenn du die Muskeln deines Pferdes beurteilen willst, musst du verstehen, wie Muskeln aufgebaut sind und wie sie arbeiten. Hierbei nützt es dir recht wenig, die wissenschaftlichen Fakten erklärt zu bekommen. Viel einfacher ist es, sich vorzustellen, der Muskel wäre ein Schwamm. Er ist weich und elastisch und besteht aus einer Vielzahl kleiner Kammern, die durch poröse Wände Flüssigkeit aufnehmen und abgeben. Wenn der Schwamm unter einen Wasserhahn gehalten wird, nimmt er soviel Flüssigkeit auf, wie in die kleinen Kammern passen.

Wird der Schwamm ausgedrückt oder in die Länge gezogen, werden die Kammern zusammengepresst und die Flüssigkeit tropft heraus. Das heißt, der Schwamm kann nur frisches Wasser aufnehmen, wenn das alte herausgepresst wurde. Und er kann nur Wasser aufnehmen, wenn er nach dem Auspressen wieder locker gehalten wird.

Genauso kann man sich die Funktionsweise der Muskeln vorstellen. Im entspannten Zustand fließt frisches Blut als Energielieferant in die Muskelzellen. Beim Anspannen oder im gedehnten Zustand wird das alte verbrauchte Blut wieder herausgepresst. In der nächsten Entspannungsphase kann dann frisches Blut in den Muskel eindringen.

Je häufiger dieser Wechsel zwischen Anspannung, Entspannung und Dehnung stattfindet, desto besser ist der Blutaustausch.

 

Der Muskel wird ausreichend ernährt und kann sich gut entwickeln. Ist ein Muskel meistens entspannt, findet nur wenig Flüssigkeitsaustausch statt. Der Muskel wird weich und schlapp und verliert seine Leistungsfähigkeit. Ist ein Muskel zu viel angespannt oder zu viel gedehnt, kann zu wenig frisches Blut eindringen.

Besonders gefährlich ist es, wenn ein Muskel so fest angespannt wird, dass die Wände der kleinen Kammern wie bei einem Vakuum zusammen gepresst werden. Dann lösen sie sich in der nächsten Entspannungsphase nicht mehr und es kann kein frisches Blut eindringen.

So kann man sich die Entstehung von Muskelverspannungen bildlich vorstellen.

Je mehr Zellen und Fasern eines Muskels verspannen, desto weniger dehnungsfähig ist der Muskel. Es kommt zu Bewegungsproblemen ganzer Körperbereiche.

Der Körper besteht aus Knochen, die miteinander verbunden sind.
Immer da, wo ein Knochen Verbindung zu einem anderen hat, gibt es ein Gelenk, das dafür sorgt, dass der Körper beweglich ist. Muskeln sind an den Gelenken befestigt, um diese zu bewegen, zu beugen oder zu strecken.

Nächstes Bild: Ein Gelenk, das Bewegungen nur in 2 Richtungen ausführt, braucht mindestens zwei Muskeln, die sich gegenüber liegen.

Während ein Muskel sich zusammen zieht (anspannt), um für die Gelenkbeugung zu sorgen, muss der andere sich entspannt in die Länge ziehen lassen, um die Gelenkbewegung nicht zu behindern.

Beide Muskeln müssen gleich kräftig sein, damit die Gelenkkugel mittig in der Gelenkkapsel sitzt.

So kann man sich die Entstehung von Gelenkblockaden bildlich vorstellen.

Nächstes Bild: Die Wirbelsäule kann man sich vorstellen wie eine Perlenkette.


Auch hier muss zwischen allen beteiligten Muskeln ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis herrschen, wenn die volle von der Natur vorgesehene Beweglichkeit möglich sein soll.