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  Jürgen Werth– Mehr Anfang war selten– Tagebuch eines Abschieds

ISBN 978-3-7751-7292-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5647-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2015

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Inhaltsverzeichnis

Warum dieses Buch?

Wetzlar, 4. Juli 2014

Noch einmal ein »normaler« Urlaub

Wetzlar/Davos, 7. Juli 2014

Ab nach Davos

Davos, 8. Juli 2014

Nebel

Davos/Melbourne, 9. Juli 2014

Stolz und Eitelkeit in Melbourne

Davos, 11. Juli 2014

Endlich selbstständig

Davos, 12. Juli 2014

Die Rückwärts-App

Davos, 13. Juli 2014

Vom Mitspieler zum Kommentator

Davos, 14. Juli 2014

Der vierte Stern

Davos, 17. Juli 2014

Man ist so jung, wie man sich fühlt … Ist man?

Davos, 20. Juli 2014

»Ich habe aufgehört zu fotografieren!«

Wetzlar, 22. Juli 2014

Staub und Diamantenstaub

Wetzlar, 9. August 2014

Aufräumen

Wetzlar, 16. August 2014

Das Reservat

Wetzlar/Innsbruck/Meran, 20. August 2014

Und wieder ein letztes Mal

Meran, 22. August 2014

Dankbare Erinnerungen heilen

Wetzlar, 24. August 2014

Ruhestand? Nee, ne?

Wetzlar, 27. August 2014

»Bald darfst du nur noch für die Kunst leben!«

Wetzlar, 29. August 2014

Irgendwas zwischen vierzig und fünfundsiebzig

St. Petersburg/Kiew, 2. September 2014

Vom Altland ins Neuland

Kiew, 3. September 2014

Sympathie für Frau Lot

Auf dem Flug von Kiew nach Frankfurt, 4. September 2014

Vater verzweifelt gesucht

Wetzlar, 10. September 2014

Mancher Tod bringt neues Leben

Wetzlar, 14. September 2014

Und plötzlich übermannt dich die Rührung

Wetzlar, 19. September 2014

»Zu meiner Zeit«

Wetzlar, 23. September 2014

Auszug

Wetzlar, 25. September 2014

Tapfer verdrängen hilft nicht

Wetzlar, 27. September 2014

Den Trauerprozess zulassen

Wetzlar, 30. September 2014

Heute

Bursfelde, 3. Oktober 2014

Sich entpflichten lassen

Bursfelde, 4. Oktober 2014

Mose: Abschied nach 40 Jahren

Bursfelde, 6. Oktober 2014

Wasser, Brot und Zuwendung

Wetzlar, 10. Oktober 2014

Winterreifen für den Ruhestand

Wetzlar, 12. Oktober 2014

Leben lernen

Betberg, 13. Oktober 2014

Reset

Betberg, 15. Oktober 2014

Verwandte Seelen auf verwandten Wegen

Betberg, 16. Oktober 2014

iPhone im Reisbett

Betberg, 17. Oktober 2014

Vater, gib mir Geduld! Aber bitte sofort!

Davos, 21. Oktober 2014

Heilende Distanz

Davos, 26. Oktober 2014

Das richtige Maß finden

Davos, 27. Oktober 2014

Dem Tag eine Struktur geben

Davos, 29. Oktober 2014

In einem Jahr …

Davos, 31. Oktober 2014

Sich einmischen

Norderney, 6. November 2014

Freiheit und Sicherheit

Norderney, 11. November 2014

Narziss, Schneewittchen und der kleine Prinz

Norderney, 13. November 2014

Mein Lebensmotto

Norderney, 16. November 2014

Tu deinem Leib etwas Gutes

Wetzlar, 22. November 2014

Lass mich langsamer gehen, Herr

Wetzlar, 26. November 2014

Das idea-Kompendium

Wetzlar, 29. November 2014

Werthfernsehleben entsorgt

Wetzlar, 1. Dezember 2014

Endlich wieder lernen

Wetzlar, 8. Dezember 2014

Das Land der selbst gewählten Möglichkeiten

Wetzlar, 8. Dezember 2014

Heute habe ich zum ersten Mal…

Wetzlar, 9. Dezember 2014

Wer nicht staunt, kann nicht sehen

Wetzlar, 13. Dezember 2014

Hannes Waders »Du bist du«

Wetzlar, 15. Dezember 2014

Um den Abend wird es licht sein

Einige Wochen später …

Immer noch unterwegs

Warum dieses Buch?

Immer waren es die anderen. Du hattest ein gutes Wort für sie. Oder einen frechen Spruch.

Nun bist du’s: Rentner, Pensionär, Ruheständler. Unwiderruflich. Und andere haben ein gutes Wort für dich. Oder einen frechen Spruch.

Nein, du fühlst dich nicht so. Willst dich auch gar nicht so fühlen. Aber du musst dich gewöhnen. Und du wirst dich gewöhnen. Wie alle anderen vor dir. Und alle anderen nach dir.

Das alles ist eine ganz und gar neue Erfahrung. Es gibt keine Parallelen in deinem Leben. Es ist eben nicht »so wie …«. Es ist neu. Es ist anders. Denn es ist endgültig.

Was kein Todesurteil ist. Im Gegenteil. Eher ein Lebensurteil. Ein Neues-Leben-Urteil. Aber das musst du erst begreifen lernen.

Ob ich’s begriffen habe?

Ich habe Tagebuch geschrieben in den Monaten des Umbruchs. Festgehalten, was mir Kopf, Herz und Seele diktiert haben. Es ist das Tagebuch einer emotionalen Achterbahnfahrt. Das Tagebuch eines Abschieds. Aber auch das eines Neubeginns. Ein Tagebuch zum Nacherleben und Vorerleben für alle, die Ähnliches erlebt haben oder denen Ähnliches blüht. Ein Wegweiser durchs Neuland.

Es ist mein Tagebuch. Ganz und gar meins. Aber hoffentlich doch auch eines, das für Sie, geneigte Leser, zu einer Leitplanke wird auf der Straße in die Zukunft. Denn die gibt es. Und die fühlt sich – ganz ehrlich! – meistens richtig gut an.

Jürgen Werth
Wetzlar, im Frühjahr 2015

Wetzlar, 4. Juli 2014

Noch einmal ein »normaler« Urlaub

Der zweite Tag des letzten »normalen« Sommerurlaubs. Testlauf für den Herbst, wenn meine Berufszeit unwiderruflich zu Ende geht. Okay, jetzt weiß ich, dass es in drei Wochen noch einmal ins Büro geht. Später weiß ich, dass es kein »Danach« gibt, dass es nicht mehr ins Büro geht. Nie mehr. Wie sich das wohl anfühlt?

Heute bin ich einfach nur müde. Ein bisschen lustlos. In der Hängematte herumlungern. Lustlos, weil nutzlos? Muss mir was einfallen? Muss ich was schaffen? Ausdenken? Einrenken? Muss ich wichtig sein?

Muße ohne Muse.

Na, das kann ja heiter werden.

Wetzlar/Davos, 7. Juli 2014

Ab nach Davos

Ab nach Davos. Koffer packen. Und wieder mal die Feststellung: Ich habe zu viel. Die Wahl quält. Was nehme ich mit, was lasse ich zurück? Was ja irgendwie für jeden Aufbruch ins Neuland gilt. Manches muss man zurücklassen, sollte man zurücklassen. Anderes muss man mitnehmen, sollte man mitnehmen – wenn nur nicht die Entscheidung so schwer wäre.

Was gehört ins Morgen? Was ist heute wichtig? Was hat im Gestern zu bleiben?

Ich denke an einen ehemaligen Spitzenpolitiker, der neuen Bekannten stets seine leicht angegilbte Sammlung von Urkunden, Fotos, Briefen und Orden zeigt. »Das war ich mal!« Dabei bettelt er im Grund nur um eins: »Bewundert mich!« Doch hinter der dann folgenden echten oder geheuchelten Bewunderung gähnt die Langeweile.

Spätestens beim zweiten Mal. Er hätte besser im Gestern gelassen, was ins Gestern gehört.

Wer will schon wirklich wissen, wer du warst! Die Menschen wollen wissen, wer du bist!

Henri Nouwen, der bekannte holländisch-amerikanische Autor, Psychologe und Theologe, hat das geradezu klassisch erfahren, als er in den letzten Jahren seines Lebens zu psychisch behinderten Männern in die »Arche« zog. Die hatten nie zuvor seinen Namen gehört, nie zuvor ein Buch von ihm gelesen. Die interessierte nicht, dass er Harvard-Professor gewesen war. Die wussten nicht einmal, was Harvard bedeutet. Nouwens bittere und gleichzeitig entlastende Erkenntnis: »Auf einmal war ich nur noch Henri.«

Irgendwann bin ich nur noch »Jürgen«. Nicht mehr der Vorstandsvorsitzende von ERF Medien, nicht der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, nicht der Buchautor, nicht der Liedermacher.

Das allerdings ist mir schon vor ein paar Jahren klar geworden. Da war ein junger Student aus Gießen zum ersten Mal in unserem CVJM-Kreis in Wetzlar. Wir stellten uns gegenseitig vor. Ich auch. Da stutzte er. Und strahlte. »Wow! Jürgen Werth! Der große Liedermacher …« – ich wuchs auf Überlebensgröße – »… von früher!« Ich sackte zurück auf Normalmaß.

Was nehme ich mit, was lasse ich zurück? Mich nehme ich mit. Immer. Mein Herz. Meine Seele. Mehr wohl nicht. Alles andere verblasst, vergilbt, gerät in Vergessenheit.

Und ich lerne, dass das nicht einmal schlimm ist. Im Gegenteil. Es macht mich frei für heute. Und für morgen!

Das Alte ist gut. Wichtig. Es gehört zu mir, ich habe es geformt und geprägt. Und es hat mich geformt und geprägt. Aber es gehört in eine bestimmte und begrenzte Phase meines Lebens. Es hatte seine Zeit.

Auf dem Weg zu unserer Ferienwohnung lese ich an einer alten Hauswand:

Lasset uns am Alten,
so es gut ist, halten.
Aber auf dem alten Grunde
Neues wirken jede Stunde.

Davos, 8. Juli 2014

Nebel

In Davos witzeln sie manchmal: »Wir haben hier neun Monate Winter. Und drei Monate kalt.« Kein Wunder auf fast 1 600 Metern. Heute ist es nicht nur kalt. Es ist neblig. Und nass. Nichts zu sehen. So richtig gar nichts. Nicht mal das Nachbarhaus. Oder der Weg dorthin. Als würdest du in einer Wolke leben.

Dabei ist das ja eigentlich der Normalzustand. Nicht nur in Davos. Überall. Im Leben. Denn irgendwie ist es doch wohl eine Illusion zu meinen, man sähe irgendeinen Weg so richtig klar vor sich. Wolkenheimer sind wir.

Und trotzdem findet man das Ziel. Wenn man eine gute Karte hat. Oder ein Navi. Oder einen Einheimischen, der führt.

Durch den Nebel des Lebens findet man nicht allein. Man braucht ein Orientierungssystem, das nicht von dieser Welt ist. Man braucht Gott. Sein Wort. Seine freundliche Stimme.

Auch beim Älterwerden. Jeder Tag ist Neuland.

Ich mag das Älterwerden nicht. Heute. Früher habe ich es geliebt. Immer war ich überall der Jüngste. Mit fünf in die Schule – na ja, ich wurde ein paar Wochen später sechs. Mit noch nicht ganz zehn auf die Realschule. Mit fünfzehn Mittlere Reife. Dann Gymnasium. Und die Kurzschuljahre, die den Klassenwechsel vom österlichen Frühling in den Sommer schieben sollten. Darum mit siebzehn Abitur.

Meine Geburtstage habe ich gefürchtet. Die anderen waren längst fünfzehn, wenn ich vierzehn wurde. Da gab’s immer den höhnischen Spott, zu dem wohl nur Jungs fähig sind: Ich bin älter als du! Stärker! Schneller! Reicher! Was sich bei manchen bis ins hohe Alter hält. Alles nach dem geheimen Männercode: Meiner ist länger! Dabei wollte ich doch so gerne auch einmal vor den anderen liegen! Und endlich so richtig dazugehören. Aber immer war ich der Kleine.

Außer in meinem CVJM. Da durfte ich schon mit fünfzehn die »Jungenschaft« leiten, die Gruppe der vierzehn- bis siebzehnjährigen Jungs.

Aber irgendwann bist du nicht mehr der Kleine, nicht mehr der Jüngste. Irgendwann sitzt du in einem Gremium, schaust in die Runde und erschrickst: Du bist der Älteste. Du hast manche Geschichten aus der Geschichte selbst erlebt. Und hast das dumme Gefühl, dass du nun auch nicht mehr richtig dazugehörst.

»Wie lange machst du noch?«

Ich mag das Älterwerden nicht.

Zum 60. Geburtstag bekam ich ein kleines Buch mit dem frechen Titel: »Nein! Ich will keinen Seniorenteller!« Amen! Keinen Seniorenteller, keinen Seniorentarif!

Denn auf einmal gehörst du für alle anderen in eine Gruppe, in die du nicht gehören möchtest. Die Sechzigjährigen – das waren doch die Alten, die beige gekleideten Rentner mit schütterem Haar und schwellendem Bauch.

Der frühere Präses der Westfälischen Kirche, Alfred Buss, sah einmal eine Gruppe Senioren das Landeskirchenamt in Bielefeld stürmen und jauchzte: »Wir bekommen wieder eine Wanderdüne zu Besuch.« Wanderdüne? »Ja. Alle hellbeige!«

Nun gehört er selber dazu. Und ich auch.

Aber anders! Ja, anders! Jede Generation von Sechzigjährigen hat das Recht, anders zu sein als frühere Generationen von Sechzigjährigen! Wir wollen uns nicht von Bildern der Vergangenheit lähmen lassen und stattdessen eigene Bilder malen.

Und trotzdem bist du sechzig. Für alle, die jünger sind als du und für dich selbst.

Rund um meinen Sechzigsten – den ich still und nur mit Angela bei einer Fahrradtour an der Mosel gefeiert habe! – fiel mir dieser Trost ein: Die Helden meiner Jugend hatten das ja auch schon hinter sich gebracht und waren trotzdem noch nicht in irgendeiner Wanderdüne aufgegangen: Ray Davies, Paul Simon, Bob Dylan, Paul McCartney, Reinhard Mey und andere.

Davos/Melbourne, 9. Juli 2014

Stolz und Eitelkeit in Melbourne

Ich erinnere mich an unsere Reise nach Australien und Neuseeland. Ich war einundsechzig. Zusammen mit guten Freunden, die fast siebzig waren, wollten wir per Fahrstuhl in den legendären 88. Stock des Eureka Towers in Melbourne schweben, um dort eine einzigartige Aussicht zu genießen.

Der Eintrittspreis hatte sich gewaschen. Doch unsere Freunde hatten entdeckt, dass es einen besonderen Rabatt für Senioren gab. Der freundliche junge Mann am Schalter verkaufte ihnen widerspruchslos und ganz selbstverständlich die reduzierten Tickets.

Dann war ich an der Reihe. Eitelkeit und Geiz wagten einen kleinen Ringkampf. Dann siegte der Geiz. »Ich hätte auch gern diesen Rabatt!« Worauf der junge Mann verständnisvoll lächelte. »Den habe ich schon für Sie berechnet!«

Uuups. Man sah es mir offensichtlich an, dass mir der Seniorentarif zustand! Die Eitelkeit musste an diesem Tag damit ihre zweite Niederlage einstecken.

Inzwischen beginnt sie sich zu gewöhnen …

Davos, 11. Juli 2014

Endlich selbstständig

Gestern am Davoser See: ein nicht mehr allzu junger Wanderer in knallgelbem T-Shirt mit dem Aufdruck »Endlich selbstständig«. So kann man auch den Eintritt in den Ruhestand feiern.

Obwohl mir da neulich ein frischgebackener Ruheständler etwas ganz anderes erzählt hat. Eine große Nummer war er gewesen in seiner Behörde. Sein Wort hatte etwas gegolten. Nun war er Hilfsarbeiter im Haushalt seiner Frau. »Die ersten Monate waren richtig hart«, sagte er. Inzwischen hätte er sich eingefunden. Gewöhnt. Und seine Frau auch. Wenigstens ein bisschen.

Endlich selbstständig?

Die Schwaben nennen den männlichen Ruhestand gern augenzwinkernd den »Dätsch-mr-Stand«. Weil Männer das dann ständig zu hören kriegten: »Dätsch mr net eikaufe?« »Dätsch mr net d’ Abwasch mache?« »Dätsch mr net Kartoffle schäle?«

Endlich selbstständig?

Ich geb’s ja zu: Manchmal habe ich da auch ein bisschen Angst. Vom Vorstandsvorsitzenden zur Haushaltshilfe. Von einem Tag auf den anderen. Endlich selbstständig? Oder endlich selbst ständig im Dienst einer höheren Macht?

Ich glaube, auch Selbstständigkeit ist ein Ausbildungsberuf.

Heute Abend habe ich im Internet nach diesem T-Shirt gesucht. Habe aber nur eins gefunden, das einen ähnlichen Aufdruck anbietet: »Selbst & ständig«. Das gefällt mir noch besser: man selbst sein und das ständig. Das ist es wohl. Aber das fängt nicht erst mit der nachberuflichen Selbstständigkeit an.

Davos, 12. Juli 2014

Die Rückwärts-App

Ich habe eine kleine App auf meinem iPhone. Die zählt die Tage bis zu meiner feierlichen Verabschiedung aus dem Dienst. Heute sind es noch 82. Freu ich mich drauf? Jein. Ja, denn ich habe diesen Tag selbst gewählt – in Absprache mit unserem Aufsichtsrat natürlich. Ja, denn manches ist mir in den letzten Jahren einfach zu viel geworden. Ja, denn ich freue mich darauf, nicht mehr zu müssen, sondern nur noch zu wollen. Nein, denn ich weiß nicht wirklich, wie sich das anfühlen wird am letzten Tag oder am ersten Tag danach.

Da gibt’s ja keine Parallele im Leben.

Meist kannst du sagen: Das ist so ähnlich wie