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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2015

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2015

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Corinna Nikolaus

Lektorat: Margarethe Brunner

Bildredaktion: Henrike Schechter

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Timea Puskasova

impressum ISBN 978-3-8338-4949-7

2. Auflage 2016

Bildnachweis

Coverabbildung: A1 Pix/Your Photo Today

Illustrationen: Gert Albrecht

Fotos: Corbis, F1 Online, plainpicture

Syndication: www.seasons.agency

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Das vorliegende eBook basiert auf der 2. Auflage der Printausgabe

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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ANNETTE KAST-ZAHN

ist Diplompsychologin, Verhaltenstherapeutin und dreifache Mutter.

»Gib mir nicht, was ich mir wünsche, sondern was ich brauche.«

ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY (1900 – 1944)

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EIN WORT ZUVOR

Wenn Kinder ausschließlich harmoniebedürftige kleine Wesen wären, die in Frieden mit ihren Eltern zusammenleben wollen, wäre Erziehung leicht. Aber so einfach ist es nicht: Kinder sind schon früh kleine Persönlichkeiten, die genau wissen, was sie wollen. Und dafür sind sie bereit zu kämpfen! Das sogenannte Trotzalter zwischen zwei und sechs Jahren hat es besonders in sich. Jede Kleinigkeit kann einen Wutanfall, ausdauerndes Schreien oder beleidigten Rückzug auslösen.

Für uns Eltern ist diese Zeit eine Herausforderung. Wir fragen uns: Warum macht unser Kind mit seinem Trotz und Widerstand sich selbst und uns das Leben so schwer? Wie gehen wir damit um, damit sich unser Kind geliebt und angenommen fühlt, ohne dass wir all seinen Wünschen und Einfällen immer sofort nachgeben? Wie können wir gleichzeitig fair und standhaft sein – ihm alles geben, was es braucht, aber nicht alles, was es will? Welche Grenzen braucht es, und wie setzen wir sie durch? Wie helfen wir ihm, mit seinen heftigen Gefühlen umzugehen?

Aus der langjährigen Arbeit in meiner kinderpsychologischen Praxis weiß ich, welche Konflikte besonders verbreitet oder besonders belastend sind, und was wirklich hilft. Wie man gemeinsam gut durchs Trotzalter kommt, habe ich von den vielen Eltern und Kindern in meiner Praxis gelernt sowie aus aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen – und besonders von meinen eigenen drei Kindern.

Annette Kast-Zahn

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WARUM SIND KINDER TROTZIG?

ZWISCHEN ACHTZEHN MONATEN UND SECHS JAHREN BEFINDET SICH IHR KIND MITTEN IM TROTZALTER. WAS LERNT ES, WAS FÜHLT ES UND WAS BRAUCHT ES IN DIESER ZEIT?

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MEILENSTEINE DER ENTWICKLUNG

Mit 18 Monaten ist die Babyzeit vorbei. Das Alter von eineinhalb bis sechs Jahren nennt man frühe Kindheit. Es ist bemerkenswert, was ein Kind in diesen wenigen Jahren alles lernt und in welchem Tempo es sich entwickelt. Viele Meilensteine liegen bis dahin auf seinem Weg – da wäre es das reinste Wunder, wenn es nicht ab und zu ins Stolpern geraten würde. Es ist gut, wenn Sie als Eltern die Meilen- und die Stolpersteine genau kennen, damit Sie Ihrem Kind immer hilfreich zur Seite stehen können.

MITTEN IM TROTZALTER

Lena-Marie ist 18 Monate alt. Seit drei Monaten kann sie alleine laufen, aber sie ist noch etwas wackelig auf den Beinen. Natürlich trägt sie noch eine Windel. Außer »Mama« und »Papa« sagt Lena-Marie erst wenige Worte, und sie weicht ihrer Mutter nicht von der Seite. Gerade fängt sie an, selbstständig mit dem Löffel zu essen. Sich freuen und strahlen kann sie, dass jeder dahinschmilzt, weil sie dann so unglaublich süß ist. Aber schreien und toben kann sie auch, ausdauernd und ohrenbetäubend laut. Lena-Marie ist schon mitten im Trotzalter.

Auch Lena-Marie soll in ein paar Jahren selbstständig in die Schule gehen, mehrere Stunden am Tag konzentriert arbeiten, sich mit den anderen Kindern vertragen, Lesen, Schreiben, Rechnen lernen – und sich auch zu Hause an alle Regeln halten, die dort gelten. Welch eine Leistung, in so kurzer Zeit so viele Dinge zu lernen!

Sich verständlich machen: Sprechen lernen

Ein ganz wichtiger Meilenstein in der kognitiven Entwicklung ist das Sprechenlernen. Es beginnt mit einzelnen Wörtern, nach und nach kommen Zweiwortsätze, Mehrwortsätze und Sätze mit richtigem Satzbau dazu. Mit sechs Jahren können die meisten Kinder Haupt- und Nebensätze bilden und fast alle Laute richtig aussprechen. Bis dahin haben sie bereits mehrere tausend Wörter gelernt!

Das Tempo der Sprachentwicklung ist individuell sehr unterschiedlich. Die ersten Wörter sagen einige Kinder schon kurz vor ihrem ersten Geburtstag, einige erst nach dem zweiten. Mädchen sind den Jungen im Durchschnitt ein wenig voraus. Zu verstehen, was andere Menschen sagen, ist für alle Kinder leichter, als selbst zu sprechen. Hier sind die Unterschiede zwischen den Kindern nicht so groß.

Die Sprache ermöglicht es Ihrem Kind, eigene Wünsche und Gefühle auszudrücken und zu verstehen, was andere von ihm wollen. Solange ein Kind noch nicht gut sprechen kann, sind seine Kommunikationsmöglichkeiten begrenzt: Wenn ihm etwas nicht passt oder es frustriert ist, kann es nicht diskutieren oder schimpfen. Es kann nicht sagen, wie es sich fühlt und was es sich wünscht. Was bleibt ihm übrig, wenn es Wut, Ärger oder Enttäuschung ausdrücken möchte?

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DIE WUT MUSS RAUS!

Bevor kleine Kinder sprechen können, brauchen sie andere Möglichkeiten, um bei Enttäuschungen ihren Ärger äußern zu können: schreien, toben, trampeln, mit Sachen werfen, um sich schlagen – mit diesen Mitteln versuchen sie, sich verständlich zu machen. Erst die Sprache ermöglicht nach und nach einen anderen Umgang mit so starken Gefühlen.

WARUM VERSTEHT MICH KEINER?

Malte ist ein kleiner Junge von zweieinhalb Jahren. Motorisch ist er sehr gut entwickelt: Er kann rennen, klettern und Fußball spielen, Puzzles mit vielen Teilen zusammensetzen, geschickt mit Stift und Schere hantieren. Er liebt Bilderbücher und Geschichten und scheint alles zu verstehen, was man zu ihm sagt. Aber er spricht erst wenige Wörter. Gerade ist ihm in den Sinn gekommen, dass er gern das Buch haben möchte, das auf dem Schrank liegt. Er versucht, am Schrank hochzuklettern, aber es gelingt ihm nicht. Sein Vater kommt dazu, holt ihn vom Schrank weg und gibt ihm das Auto, das ebenfalls auf dem Schrank steht. Malte wirft es auf den Boden. Nun fragt der Vater: »Was willst du denn?« Diese Frage kann Malte zwar schon verstehen, aber er kann noch nicht darauf antworten. Das macht ihn so wütend, dass er sich schreiend auf den Boden wirft und dabei so fest er kann mit den Füßen trampelt.

Malte begreift einfach nicht, warum ihn sein Vater nicht versteht. Seine Wut ist wirklich nachvollziehbar.

Selbstwahrnehmung: »Ich bin ich«

Bis zum Beginn des zweiten Lebensjahres haben Kinder noch keinen Schimmer davon, dass sie eigenständige Persönlichkeiten sind. Sie haben zwar schon die Erfahrung gemacht, dass sie selbst etwas bewirken können: Wenn man den Löffel vom Hochstuhl aus auf den Boden wirft, gibt das ein interessantes Geräusch; wenn man kräftig an der Schnur zieht, gibt die Spieluhr immer die gleichen Töne von sich … Aber sich selbst erkennen können sie noch nicht.

SPIEGELSPIELE

Lucas, 18 Monate, sitzt auf Mamas Schoß vorm Spiegel. Lucas ist begeistert, klopft an den Spiegel, lacht, dreht sich zu seiner Mutter um und zeigt auf ihr Spiegelbild. Er erkennt sie offenbar genau. Nun tupft seine Mama ihm beim Spiel unbemerkt mit Lippenstift einen roten Fleck auf die Stirn. Lucas lacht und klopft weiter, aber der Fleck scheint ihn nicht zu interessieren.

Lucas hat zwar seine Mama im Spiegel erkannt, aber ihm ist nicht klar, dass es sein eigenes Gesicht ist, das jetzt so einen lustigen Fleck hat. Deshalb wundert er sich nicht darüber. Er hat noch nicht verstanden, dass der kleine Kerl im Spiegel er selbst ist.

DAS BIN JA ICH!

Zwei Monate später wiederholt Lucas’ Mutter das Spiel. Lucas hat wieder Spaß vorm Spiegel, wieder tupft sie ihm unbemerkt mit dem Lippenstift Farbe auf die Stirn. Diesmal reagiert Lucas anders. Er bleibt ganz still auf dem Schoß seiner Mutter sitzen und schaut mit großen Augen sein Spiegelbild an. Mit der Hand greift er nach dem roten Fleck auf der Stirn seines Spiegelbilds. Dann fasst er an seine eigene Stirn. Verwirrt dreht er sich um zu seiner Mutter.

Diesmal hat Lucas sich selbst erkannt. Er hat bemerkt, dass der Fleck in seinem Gesicht ist, und er ist verblüfft. Lucas denkt über sich selbst nach: »Das bin doch ich! Aber wie kommt der Fleck in mein Gesicht? Gerade war er doch noch nicht da!«

Dieses Spiel wird in der Fachliteratur übrigens als »Rouge-Test« oder »Spiegel-Test« bezeichnet. Verschiedene Forscher haben es eingesetzt, um mehr über die Selbstwahrnehmung von kleinen Kindern zu erfahren. Sie können es selbst ausprobieren, wenn Ihr Kind im passenden Alter ist.

Eine sensationelle Entdeckung

Fast alle Kinder bewältigen den Meilenstein, sich selbst als »ich« zu erkennen, zwischen 18 und 24 Monaten. Erst danach kann ein Kind seinen eigenen Namen verwenden. Erst danach kann es sagen »Das ist meins!« und seinen Besitz nach Kräften verteidigen.

Der nächste Schritt ist die Entdeckung des eigenen Willens: »Ich bin ich! Ich kann etwas bewirken! Ich kann alles ausprobieren! Ich kann machen, was ich will!« Und genau das tut Ihr kleiner Entdecker. Er oder sie will ganz gezielt etwas haben: das blaue Auto, nicht das rote. Von jetzt an alles ganz allein machen: die Socke anziehen. Auf die Straße laufen. Nicht mehr an Mamas Hand gehen. Dass das alles nicht immer klappen kann, hat Ihr Kind dabei gar nicht eingeplant. Dass es Grenzen und Regeln gibt und dass manche Dinge erst nach vielen Versuchen und langem Üben gelingen – welch eine Zumutung das ist! Da kommen natürlich immer wieder Wut und Enttäuschung auf, und die müssen raus. Ein Wutanfall ist folglich eine völlig normale Reaktion.

INFO

MITTELPUNKT DER WELT

»Ich bin ich« – diese Entdeckung eröffnet Ihrem Kind eine ganz neue Welt, in deren Mittelpunkt niemand anderes steht als es selbst. Da ist es nur natürlich, dass es seine Welt auch selbst regieren will. Nichts und niemand darf sich ihm in den Weg stellen. Und wenn es doch jemand wagen sollte, ist dies für Ihr Kind ein kleiner Weltuntergang. Erst nach und nach lernt es die Grenzen seiner Möglichkeiten kennen.

Sicherheit gewinnen: Selbstständigkeit

Es ist ganz normal, wenn ein kleines Kind neben seiner Neugier auf die Welt immer noch sehr stark die Nähe seiner Eltern sucht. Es bekommt Angst, wenn Mutter oder Vater oder eine vertraute Betreuungsperson sich entfernen. Wenn sich eine fremde Person nähert oder das Kind auf den Arm nehmen will, fängt es an zu weinen: Es »fremdelt«. Diese Angst hat Ihr Kind erst, wenn es vertraute und fremde Personen unterscheiden kann, also frühestens ab dem sechsten Monat. Trennungsangst und Angst vor Fremden steigern sich zunächst und sind am stärksten im zweiten und dritten Lebensjahr. Erst danach wird Ihr Kind selbstständiger und lässt allmählich Ihren »Rockzipfel« los.

Wie stark die Trennungsangst ist, unterscheidet sich von Kind zu Kind. Sie gehört in diesem Alter zur Entwicklung dazu, auch wenn Ihr Kind seiner Angst in Form von Trotzanfällen Luft macht.

Angst schützt vor Gefahren

Die Trennungsangst hat eine wichtige Funktion: Sie schützt Kleinkinder, die mittlerweile laufen können und die Welt erkunden wollen, vor Gefahren. In diesem Alter können sie noch nicht einschätzen, welche Situationen ihnen gefährlich werden können, welche Menschen ihnen wohlgesonnen sind. Da ist es nur klug, lieber in der Nähe der Eltern zu bleiben, statt voller Neugier draufloszulaufen. Es ist also normal, wenn Ihr Kind seine Angst mit Weinen oder Schreien ausdrückt. Aber es braucht Gelegenheit und Ihre Ermutigung, sich nach und nach weiter hinaus in die Welt zu wagen.

Sich in die Welt hinaus bewegen

Bis zum Ende des sechsten Lebensjahres erweitert Ihr Kind sein Bewegungsrepertoire enorm: sich selbst anziehen, rennen, klettern, Bälle werfen und treten, schaukeln, Rad fahren, schwimmen, malen, schneiden, basteln. Sogar schwierige Abläufe wie Ski laufen, mit Inlineskates fahren oder Klavier spielen bereiten ihm keine Schwierigkeiten. All das gibt seiner Selbstständigkeit enormen Auftrieb. Natürlich läuft diese Entwicklung nicht reibungslos ab: Es lauern Stolpersteine und viel Frust, aufgeschürfte Knie, Konflikte mit anderen Kindern, Misserfolge. Da bleiben Wut, Ärger und Trotz nicht aus.

TIPP

HALTEN UND LOSLASSEN

Lassen Sie Ihr Kind alles selbst tun, was es schon selbst kann. Mut machen und dem Kind die Gelegenheit geben, etwas selbst zu meistern, ist genauso wichtig wie Halt und Sicherheit geben.

Situationen einschätzen: Einfühlungsvermögen

Der Wunsch eines kleinen Kindes nach Nähe steht manchmal im Widerstreit mit seiner Neugier und Entdeckerfreude. Mama und / oder Papa sollen in der Nähe sein, sie sollen aber möglichst immer alles toll finden, was es macht. Wenn Sie jedoch »Nein!« sagen oder »Das darfst du nicht«, empfindet Ihr Kind das als Zurückweisung, die es nicht begreifen kann. Dass Sie als Eltern gute Gründe für Ihr Nein haben, dass Sie Ihrem Kind sogar aus Liebe und Fürsorge oft nicht erlauben, nach seinem eigenen Willen zu handeln – davon hat es keine Ahnung. Deshalb fühlt es sich hin- und hergerissen zwischen dem, was es selbst am liebsten machen will, und der Sorge, wie seine Eltern darauf reagieren könnten. Zurückweisung macht ihm Angst, viel lieber möchte es die Anerkennung von Vater und Mutter.

Einsicht will gelernt sein

Durch Ihre Reaktionen bekommt Ihr Kind ein Gefühl dafür, was erwünscht ist und was nicht. So lernt es allmählich die Regeln, die fürs Zusammenleben und die eigene Sicherheit wichtig sind. Aber leicht ist das für ein Kind im Trotzalter nicht! Es versteht ja noch nicht, warum es etwas nicht darf. Erst ab etwa drei Jahren lernt Ihr Kind aus Einsicht. Was richtig und falsch ist und warum, versteht es in den kommenden Lebensjahren nach und nach immer besser.

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ALLES MEINS!

Sophie (2 ½ Jahre) geht mit Begeisterung in die Spielgruppe. All die tollen Spielsachen! Gerade hat Sophie entdeckt, wie man aus den großen Legosteinen einen Turm bauen kann. Da kommt die gleichaltrige Lilli dazu und nimmt sich auch einen Legostein aus der Kiste. Welch eine Frechheit! Jetzt geht es blitzschnell: Sophie greift sich ein Büschel von Lillis lockigen blonden Haaren und zieht kräftig daran. Lilli lässt den Legostein fallen und brüllt. Sophie schaut ihr interessiert zu.

Was geht in Sophies Köpfchen vor? Sie hatte die interessanten Steine gerade entdeckt und wollte sie ganz für sich haben. Das Haareziehen hat den erwünschten Effekt: Lilli lässt den Legostein los, Sophie kann in Ruhe weiterspielen. Außerdem hat ihre Aktion noch etwas sehr Interessantes ausgelöst: Lilli schreit wie am Spieß. Dass sie Lilli richtig wehgetan hat, kann Sophie nicht wissen, weil sie sich noch nicht in andere hineinversetzen kann. Sophie ist nicht »böse« oder »aggressiv«. Ihr Verhalten entspricht ihrem Entwicklungsstand. Wie geht es weiter?

HAUEN DARF MAN NICHT!

Sophies Mama kommt sofort dazu. Sie tröstet Lilli, dann hockt sie sich zu Sophie auf den Boden und sagt sehr bestimmt: »Das darfst du nicht! Das tut weh!« Sophie darf nicht weiterspielen, sie muss sich eine Weile mit Mama an den Tisch setzen.

Auf diese Art und Weise lernt Sophie, dass ihre Mama nicht zufrieden mit ihr ist, wenn sie ein anderes Kind an den Haaren zieht. Sie lernt auch, dass sie dann eine Weile nicht mehr tun darf, was sie gerade am liebsten möchte, zum Beispiel weiter mit Legosteinen spielen. Beides gefällt Sophie nicht. Sie lernt also ausschließlich aus den Folgen ihres Handelns, noch nicht aus Einsicht.

LANGSAM WÄCHST DIE EINSICHT

Eineinhalb Jahre später: Wieder zieht Sophie ihre »Kollegin« Lilli an den Haaren. Sophie weiß nun schon, dass andere Menschen Gefühle haben, die nicht mit ihren eigenen übereinstimmen, sondern ganz anders sein können. Ihr ist klar: »Lilli weint, also ist sie traurig oder ihr tut etwas weh!« Sophie hat auch schon eine Idee davon, was sie damit zu tun hat: »Lilli weint, weil ich sie an den Haaren gezogen habe!« Sie kann bereits ein wenig über ihr eigenes Handeln nachdenken: »Ich habe Lilli wehgetan! Das wollte ich gar nicht, wehtun ist blöd.«

Vielleicht denkt Sophie aber auch ganz anders: »Die blöde Lilli, soll sie doch heulen. Es soll ihr richtig wehtun. Die soll mir nicht noch mal etwas wegnehmen!«

Sie muss noch lernen, dass ihr Verhalten in dieser Situation unangemessen ist. Dafür braucht sie klare Grenzen.

Neue Fähigkeiten müssen reifen

Erst wenn Ihr Kind gelernt hat, die Welt aus der Sicht einer anderen Person zu sehen, kann es wirklich »mit Absicht« handeln. Es weiß dann, wie es jemandem eine Freude machen kann – und wie es jemanden ärgern oder jemandem wehtun kann. Erst jetzt kann es über seine Handlungen nachdenken und so etwas wie ein Gewissen entwickeln. Bis es über eigene Wertvorstellungen und ein reifes moralisches Urteil verfügt, werden noch viele Jahre ins Land gehen.

Je besser Ihr Kind sich in andere hineinversetzen kann, desto besser kann es selbst die Folgen seines Handelns vorhersehen und seine Schlüsse daraus ziehen. Es lernt zu berücksichtigen: »Nicht nur ich habe Bedürfnisse, die anderen um mich herum haben auch welche! Auch meine Eltern, Geschwister und Spielkameraden!« Diese Einsicht macht Wutanfälle und Trotzreaktionen nach und nach überflüssig.

Das wachsende Einfühlungsvermögen in die Gefühlswelt von anderen Menschen ist ein extrem wichtiger Meilenstein im Verlauf der kindlichen Entwicklung. Erst jetzt kann Ihr Kind die Welt auch aus der Sicht eines anderen betrachten. Wenn es sich nicht mehr »als Mittelpunkt der Welt« ansieht, kann es ein Nein oder ein Verbot viel besser einordnen. Verhandeln, nachdenken, andere Lösungen suchen – Ihrem Kind stehen nun viele andere Möglichkeiten offen, um mit Wut und Frust umzugehen.

Die Welt mit Kinderaugen sehen

Für ein kleines Kind gibt es viele gute Gründe, trotzig und wütend zu werden: Der Reißverschluss lässt sich nicht hochziehen. Mama hat die falsche Strumpfhose ausgesucht. Der Kartoffelbrei ist viel zu heiß. Man ist überhaupt nicht müde, aber soll ins Bett gehen nur weil Papa das so haben will ...

Versuchen Sie, sich in Ihr Kind hineinzuversetzen und wiederkehrende Stresssituationen aus dem Blickwinkel Ihres Kindes zu betrachten. Der Perspektivwechsel macht es Ihnen leichter, im Umgang mit Ihrem kleinen Trotzkopf verständnisvoll und gelassen zu bleiben. Halten Sie sich in Stresssituationen immer vor Augen:

  • Ihr Kind weiß genau, was es will, aber es kann seine Wünsche und Bedürfnisse noch nicht entsprechend ausdrücken. Darum fühlt es sich unverstanden.

  • Noch glaubt Ihr Kind, es sei der Mittelpunkt der Welt, und ist empört darüber, dass trotzdem nicht alles nach seinem Willen läuft.

  • Ihr Kind will die Welt entdecken und alles ausprobieren, was in seinen Augen interessant und verführerisch erscheint. Dabei treten die Eltern immer wieder als Störenfriede in Erscheinung, die unerwünschte Grenzen setzen.

  • Ihr Kind soll sich an alle möglichen Regeln halten, obwohl es noch gar nicht versteht, was »richtig« und was »falsch« ist und warum.