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Erster Teil

Am Hof zu Worms

Gunther, Gernot, Giselher

Es war einmal vor achthundert Jahren. Aber es ist nicht wichtig, wann es war. Es war. Die Zigeuner beginnen ihre Geschichten mit: Es war, weil es nicht war. Das ist ein guter Anfang 

Am Hof zu Worms im Land der Burgunden regierten König Dankwart und seine Frau Ute. Sie hatten drei Söhne, Gunther, Giselher und Gernot, und eine Tochter, Kriemhild. Der König war der Ansicht, daß langweilig allemal das menschlichste Beiwort für einen Regierungsstil ist, und daran hielt er sich, und diese Ansicht gab er an seine Söhne weiter.

»Nur wenn nichts passiert«, pflegte er zu predigen, »kann man hinterher sagen: Es ist nichts passiert.«

Dann starb König Dankwart, und Gernot, Giselher und Gunther übernahmen die Regierungsgeschäfte. Sie regierten zu dritt. Sie teilten sich die Bereiche auf und taten nicht viel. Denn sie meinten, wenn man nichts tut, passiert auch nichts. So interpretierten sie den Wahlspruch ihres Vaters. Ganz verstanden hatten sie ihn nicht.

Gunther, der Älteste, war ein Zauderer. Entscheidungen zu fällen fiel ihm schwer. Aber zu dritt gelang es den Brüdern meistens, eine Formulierung zu finden, an der nichts auszusetzen war, und sei es auch nur deshalb, weil sie nichts besagte.

Es war Gunthers Vorschlag, das Reich gemeinsam mit seinen jüngeren Brüdern zu führen. Eitel war er nicht besonders, ehrgeizig schon gar nicht. Er wollte Primus inter pares sein, der erste unter den Gleichen. Wobei er auf die Rolle des ersten keinen großen Wert legte.

»Schauen wir halt, daß nichts passiert«, waren seine Worte nach jeder Ratsversammlung.

Für die Brüder, Gernot und Giselher, war diese Regierungsform freilich eine Ehre. König sein – immerhin! Aber auch sie verfügten über keinen ausgeprägten Ehrgeiz. Macht bedeutete ihnen nicht viel.

Manchmal diskutierten sie über die Macht.

Dann sagte Giselher: »Was ist Macht?«

Und Gernot sagte: »Das ist schwer zu definieren.«

Dann nickten sie lange und zogen bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.

Ihre Hoffnungen und ihre Versprechungen ließen sich in einem Satz zusammenfassen: »Es wird schon nichts passieren.«

Für den Adel am Hof der Burgunden war dieses Herrschertriumvirat schlichtweg eine Katastrophe. In politischer Beziehung, in wirtschaftlicher Beziehung, in geistiger Beziehung. Aber an Auflehnung, an Revolte gar, war nicht zu denken. Wir erzählen hier von einer Welt, in der alles fest gefügt war, in der alles seinen Platz hatte, als wäre er schon im Augenblick der Schöpfung reserviert worden.

Alles hatte seinen festen Platz und jeder. Was einer war, das war er. Es gab Lehnsherren und Lehnsmänner. Die ersteren standen unerreichbar über den zweiten, die zweiten kannten keine größere Ehre, als unerreichbar unter den ersten zu stehen.

Aber ein König hatte Aufgaben, hatte Verpflichtungen. Er hatte zuvorderst dafür zu sorgen, daß die Menschen, die so unerreichbar unter ihm ihrem Tagwerk nachgingen, ihrem Tagwerk in Sicherheit nachgehen konnten.

»Es wird schon nichts passieren …«

Das Volk von Burgund war trotzdem in Sorge. Oder gerade deshalb. Ein schwacher König gefährdet die Sicherheit. Und drei schwache Könige geben nicht mehr Sicherheit. Daß dreimal null nichts weiter als null ergibt, so weit konnte auch der Dümmste in Worms rechnen.

Mit einem schwachen König an der Spitze war das Reich gefährdet, es war nach innen gefährdet, aber es war vor allen Dingen nach außen gefährdet. Da gab es nämlich Nachbarkönige, die schon lange ein imperial lüsternes Auge auf das Reich der Burgunden geworfen hatten.

Da waren zum Beispiel Lüdegast, der König von Dänemark, und Lüdeger, der König von Sachsen. Die wollten immer schon gern Worms und das Burgundenreich ihren Reichen einverleiben. Daß sie es bisher nicht getan hatten, hatte vielleicht, aber auch nur vielleicht, mit der in ihrer Langweiligkeit doch manchmal respektheischenden Politik von König Dankwart zu tun. Was sie aber vor allem daran hinderte, in das Burgundenreich einzumarschieren, war ein einziger Mann: Hagen von Tronje.

Hagen von Tronje hatte eine wackere Heldenschar um sich versammelt. Darunter markige Namen wie Ortwin von Metz oder Volker von Alzey oder die Markgrafen Gere und Eckewart. Freilich, sie alle waren Lehnsmänner von Gunther, Gernot und Giselher, Befehle aber nahmen sie von Hagen entgegen. Nicht daß sie von den drei Königen keine Befehle entgegengenommen oder daß sie die Befehle nicht ausgeführt hätten – Gunther, Gernot und Giselher gaben diesen Männern einfach gar keine Befehle, sie waren zufrieden, daß sie in diesem Punkt von Hagen von Tronje vertreten wurden.

Aber: Der Lehnsmann Hagen von Tronje war Gunther, Gernot und Giselher untertan, die drei waren seine Lehnsherren. Sie dachten nicht einmal daran, daß sich jemals die Rollen vertauschen könnten. Alles hatte seinen festen Platz, und die festesten Plätze waren die, auf die einer gestellt wurde von Geburt, ein Mann oder ein Herr. Nie ist so scharf zwischen Herr und Mann unterschieden worden.

In Wahrheit aber führte Hagen von Tronje die Regierungsgeschäfte.

Dieser Hagen von Tronje ist ein bemerkenswerter, ein zutiefst widersprüchlicher Charakter. Sein Ruf eilte durch ganz Europa. Den einen galt er als besonders grausam, als jemand, der immer den härtesten und kompromißlosesten Weg einschlug. Andere hingegen meinten, er sei jemand, der sich jeder neuen Situation wunderbar anschmiegen könne, ein Diplomat. Sein Name hatte Klang, das heißt, man hörte zu, allein wenn der Name genannt wurde. Und wenn Hagen von Tronje irgendwo auftrat, dann wurde es still – vor allem am Hof von Burgund.

Hagen war unberechenbar, undurchschaubar, auch für Gunther, Gernot und Giselher. Aber er galt als unbedingt loyal und unschlagbar klug. Hagen von Tronje war der Garant dafür, daß Worms nicht eingenommen wurde. Jedenfalls solange sich Lüdegast und Lüdeger nicht einig waren.

Zu jener Zeit waren sich der König von Dänemark und der König von Sachsen nicht nur nicht einig, sie waren miteinander verfeindet. Und es gab viele, die behaupteten, genau zu wissen, daß die Feindschaft zwischen Dänemark und Sachsen das Werk eines gewissen burgundischen Lehnsmannes war 

Die Fähigkeiten des Hagen von Tronje gaben ihm am Hof eine unantastbare Macht. Jeder wußte: Ohne Hagen von Tronje wären Worms und das Burgundenland verloren. Da gab es andere Könige und Fürsten, die waren nicht weniger an einer Einverleibung des Burgundenreiches interessiert als Lüdegast und Lüdeger, aber die setzten eher auf eine Methode, die später die Österreichische Methode genannt werden sollte.

Da dachte sich der eine oder andere: »Nein, mit Gewalt läßt sich dieses Reich nicht holen. Da ist Hagen von Tronje davor. Wer weiß, mit wem er wieder heimlich einen Pakt geschlossen hat. Ihm ist alles zuzutrauen. Womöglich mit dem Teufel persönlich. Aber wenn ich mich einheirate, dann nützen dem Hagen kein Heer und keine Heldenstaffel und keine Diplomatie und keine Ränke.«

Schließlich lebte ja auch Kriemhild in Worms, und Kriemhild galt als die schönste Frau ihrer Zeit. Und so geschah es, daß viele Fürsten- und Königssöhne kamen und um die Hand der Kriemhild anhielten.

Die Wahrheit lautet wohl: Gunther war gar nicht so abgeneigt, wenn das Reich der Burgunden in die Hand eines starken Schwagers übergeben worden wäre. Er dachte, es würde sich sicher eine Formulierung finden, die ihn und seine Brüder in Ehre und Würde aussteigen ließ, so daß sie vielleicht weiter Könige sein würden, die verantwortungsschweren Regierungsgeschäfte aber ein anderer übernähme. Wenn da ein starker Schwager käme und die Regierungsgeschäfte führte, dann würde weiterhin nichts passieren 

Aber Kriemhild war wählerisch. Sie sah sich jeden ihrer Bewerber sehr genau an. Sie stellte Fragen, kommentierte scharf die Antworten, verwirrte die Kandidaten in Diskursen, lud sie zu Denkwettbewerben ein, machte sie lächerlich.

Und immer wurden am Ende alle nach Hause geschickt. Entweder sie waren ihr nicht schön genug, oder sie waren ihr nicht jung genug oder nicht fröhlich genug, oft waren sie ihr nicht klug genug. Aber die meisten waren ihr zu häßlich, zu alt, zu griesgrämig und zu dumm, alles auf einmal. – Ja, Kriemhild war eine wählerische Frau.

Für Hagen von Tronje war die Unentschlossenheit der Prinzessin eine Art Versicherung. Warum? Das liegt auf der Hand. Ein starker Gemahl von Kriemhild – und Kriemhild hätte sich nur mit einem starken, willensstarken, intelligenten, vor allem charakterstarken Mann zufriedengegeben – hätte Hagens Macht am Hof beschnitten, wenn nicht gar völlig zunichte gemacht.

Dazu kommt noch etwas: Aus dem Verhalten Hagens läßt sich schließen, daß er selbst in Kriemhild verliebt war. Nur, diese Liebe mußte unglücklich sein. Und sie war in einem doppelten Sinn unglücklich. Zunächst einmal war sie unglücklich, wie jede unglückliche Liebe unglücklich ist, eine Liebe, die nur einseitig empfunden wird. Denn Kriemhild liebte Hagen von Tronje nicht im mindesten.

Zum zweiten war diese Liebe aus einem gesellschaftlichen Grund unglücklich, denn wenn Kriemhild Hagen auch geliebt hätte, die gesellschaftliche Schranke, die die beiden trennte, wäre für sie nicht zu überschreiten gewesen. Hagen von Tronje war der Lehnsmann von Kriemhilds Bruder Gunther. Hagen von Tronje war nicht standesgemäß.

Das alles wußte Hagen, und so kühn seine Gedanken im allgemeinen auch waren, über diese Standesschranken hinweg vermochte er nicht einmal zu denken, geschweige denn zu handeln.

Trifft es tatsächlich zu, daß er Kriemhild liebte, dann war es eine heimliche, eine stille, eine hoffnungslos unglückliche Liebe.

Hagen und Kriemhild

Es lag also durchaus in Hagens Interesse, daß Kriemhild unverheiratet blieb. Und er tat alles, um sie in ihren hohen Ansprüchen irgendwelchen Bewerbern gegenüber zu bestärken. Und er tat das sehr geschickt. Er war ein Diplomat, ein Ränkeschmied auch. Er wußte, wie man mit widerspenstigen Charakteren, wie Kriemhild einer war, umgehen mußte.

Er sprach oft mit ihr. Er war ihr Vertrauter. Nachdem ihr Vater gestorben war, nahm er so etwas wie Vaterstatt an.

Er sagte zu ihr: »Kriemhild, Ihr müßt Eure Ansprüche etwas niedriger ansetzen. Seid nicht so anspruchsvoll! Seht Eure Bewerber erst genau an. Ihr entscheidet Euch zu schnell! Bei manchen Charaktereigenschaften dauert es länger, bis sie zum Vorschein kommen.«

Er wußte: Wenn er so etwas zu ihr sagte, würde sie nur noch anspruchsvoller sein, noch kurz angebundener gegenüber ihren Freiern. Kriemhild neigte in ihrer Jugend dazu, gerade das Gegenteil von dem zu tun, was man ihr riet.

Sie sagte: »Hagen, was erzählst du mir da! Bei welchen Charaktereigenschaften soll es länger dauern, bis sie zum Vorschein kommen? Sag mir das!«

»Bei Klugheit zum Beispiel«, sagte er. »Klugheit kann ein durchaus verborgener Wert sein – jedenfalls bei den meisten Menschen.«

»Wieviel Klugheit, meinst du, setze ich bei einem Mann, der ein Leben lang an meiner Seite stehen soll, voraus?« fragte sie. »Ich will dir antworten, Hagen: So viel Klugheit, daß sie sich auf seinem Gesicht gegen alle Zeichen anderer Eigenschaften durchsetzt. Oder glaubst du, daß ein Mann, der weniger klug ist als ich, zu mir paßt?«

»Natürlich nicht«, sagte Hagen. »Aber Herzensgüte«, sagte er und tat, als wollte er ihr Widerpart bieten, »Herzensgüte kann erst erkannt werden, wenn sie sich offenbart, und sie offenbart sich erst in der Not des anderen.«

»Und was mache ich, wenn sich in meiner Not die Herzensgüte nicht offenbart? Nehmen wir an, ich gerate nach zehn Jahren Ehe in Not. Was mache ich dann, wenn mein Mann über diese Herzensgüte, diese absolut verborgene, nicht verfügt?«

»Dann werdet Ihr auf Euch selbst und auf Eure Freunde bauen müssen.«

»Das tue ich jetzt schon. Du bist mein Freund, Hagen. Auf dich verlasse ich mich. Und auf mich selbst kann ich mich auch verlassen.«

»Jede Ehe ist ein Risiko«, sagte Hagen. Er wußte, es war nicht klug, Kriemhild recht zu geben. Sie mochte es, wenn man ihr widersprach.

»O nein«, sagte sie, »Gott im Himmel hat dem Menschen Augen gegeben, damit er mit ihnen auf die Welt sehe, aber auch damit man durch sie in sein Herz blicken kann. Und man kann ja auch tatsächlich durch die Augen ins Herz blicken. Und wenn man nicht schon beim ersten Blick die Güte im Herzen sieht, dann ist dort eben keine Güte. Das ist meine Überzeugung, Hagen.«

»Und wie sollte ein Mann denn sein, damit er für Euch als Gatte in Frage kommt?« fragte Hagen.

»Nun, zunächst sollte sein Kopf geübter sein als seine Fäuste. Was er von Natur ist, was er durch Erwerb besitzt und welchen Ruf er genießt, das alles sollte zuallererst auf seine Geistesgaben zurückzuführen sein. Er sollte von der Natur mit Schönheit, Güte, mit einem unbeugsamen Charakter, mit Kraft und Temperament ausgestattet sein.«

»War bisher keiner unter Euren Freiern, der eine solche Persönlichkeit darstellte?« fragte Hagen.

»Vielleicht schon«, sagte Kriemhild. »Aber dann fehlte ihm anderes.«

»Was fehlte ihm?«