Daniel Höra

Das Ende der Welt

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2013

© 2013 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Der Titel erschien erstmals 2012 im Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Text: Daniel Höra

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umsetzung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8458-0322-7

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

We got no reason to fight

So will anybody join us tonight

Will you stop and give it a try

My house is on fire but I am alive

Beatsteaks, House on Fire

01

An meinem fünfzehnten Geburtstag würde ich das erste Mal einen Menschen töten. Einen Mörder oder einen Terroristen. Meine Beute würde etwas Vorsprung bekommen, aber das würde ihr nichts nützen, denn ich war für die Jagd ausgebildet. Ich würde mein Opfer Tag und Nacht jagen und es dann mit dem Messer zur Strecke bringen. Erst wenn ich diese Probe bestanden hätte, würde ich als erwachsen gelten. Doch bis dahin sollte es fast noch ein Jahr dauern.

Seit meinem siebten Lebensjahr war ich in einem Internat der Armee. Bis dahin hatte ich bei meiner Mutter gelebt, aber seit ich Soldat war und sie einmal im Jahr besuchte, war mir die Frau mit den feinen Zügen fremd geworden und ich fuhr nicht gern zu ihr. Wir stritten jedes Mal, auch weil sie darauf bestand, mich bei meinem richtigen Namen zu nennen. Dabei hieß ich seit meinem Eintritt in die Armee: Kjell! Der Name hatte keinerlei Bedeutung. Er war kurz und klang wie ein Befehl. Nur darauf kam es an. Denn in der Schlacht, wenn der Tod in Form einer Kugel oder eines Messers auf dich zurast und du nach deinen Kameraden schreist, hast du keine Zeit für einen Jonathan oder einen Konstantin.

Es war nicht meine Schuld, dass ich Soldat geworden war. Die Ärzte hatten mich für tauglich erklärt, und hätte Mutter sich geweigert, wäre unsere Familie entehrt gewesen und verstoßen worden. Aber anstatt sich zu freuen, dass ich die Möglichkeit hatte, ein berühmter Kämpfer zu werden, hielt sie mir immer wieder meinen Vater vor, der im Krieg gefallen war.

Das Leben in der Kaserne war hart. Schon in der ersten Woche mussten wir lange Märsche machen, und wenn wir nicht in Reih und Glied marschierten, schlugen uns unsere Vorgesetzten. Abends bekamen wir dann muffiges Wasser und schimmlige Kartoffeln vorgesetzt. Damals habe ich viel geweint. Das taten alle neuen Rekruten. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen, denn dann setzte es Schläge. Und geschlagen wurden wir beim geringsten Vergehen. Dazu benutzten unsere Ausbilder eine Rute, einen langen dünnen Stock mit einer Bleikugel an der Spitze. Das sollte uns gegen Schmerzen unempfindlich machen.

Seit meinem zwölften Lebensjahr war ich Offiziersanwärter. Mit meinem Vorgesetzten hatte ich Glück. Er hieß Sönn und schlug uns Kadetten selten. Und wenn, schien es ihm keinen Spaß zu machen im Gegensatz zu den anderen Offizieren. Sönn war ein ruhiger Mann, mit tiefen Furchen im Gesicht und dunklen Haaren, in denen sich schon das Grau des Alters ankündigte. Er war lang und dünn wie eine Peitsche und ebenso gefährlich. Sein Gesicht war mit blauen Strichen tätowiert. Für jedes Opfer einen. Sönns Augen waren kalt und mitleidlos und es schien, als würde er niemanden mögen. Doch wenn er mich sah, stahl sich etwas Warmes in seinen Blick.

Unsere Einheit nannte sich die Schwarzen Jäger. Schwarz, weil unsere Uniformen und unsere Standarte schwarz waren. Wir waren auf den Partisanenkampf spezialisiert und bekämpften unsere Gegner aus dem Hinterhalt. Herrschte gerade kein Krieg, jagten wir Terroristen, Kriminelle und Abweichler. Manchmal schlugen wir auch Aufstände der Zefs nieder. Zefs nannten wir die Arbeiter und alle, die keine Soldaten oder Senatsbürger waren.

Ich mochte die schmutzigen Zefs nicht. Sie waren dumm und verschlagen. Immer wenn sie uns anrücken sahen, flitzten sie in alle Himmelsrichtungen auseinander, wie Ungeziefer, das man unter einem Stein aufscheucht.

Dieses Mal waren wir auf der Suche nach einem jungen Zef namens Roger. Er hatte sich einem Aufseher widersetzt und sollte bestraft werden.

Aufgefädelt wie Patronen auf einem Munitionsgurt, marschierten wir im Morgengrauen in einer langen Reihe auf die Siedlung der Zefs zu. Im Osten ging gerade ein giftig-gelblicher Schein am Horizont auf: die Sonne! Jeden Tag versuchte sie sich durch die grauen Wolken zu mogeln, die undurchdringlich am Himmel klebten. Und nie schaffte sie es. Seit der Großen Katastrophe konnte man die Sonne hinter dem schmutzigen Grau nur noch erahnen. Früher hatte sie den Lebensrhythmus auf der Erde bestimmt. Es soll sogar verschiedene Jahreszeiten gegeben haben, aber das hielt ich für ein Märchen. Und selbst wenn, jetzt lebten wir unter diesem Himmel wie unter einer Leichendecke begraben. Wir alle waren bleich wie die Maden. Die Ärzte hatten uns erzählt, dass im Sonnenlicht ein wichtiger Stoff steckte, der uns jetzt nicht mehr erreichte, deshalb gaben sie uns Vitamine zu schlucken. Aber das Zeug machte müde und bösartig, deswegen schmiss ich es oft weg.

Ich zerrte mir den nassen Uniformstoff von der Haut, um mir etwas Luft zu verschaffen. Durch den ständigen Nieselregen waren unsere Kleider immer feucht. Wenigstens sanken die Temperaturen nie unter 10 Grad, so dass es nicht richtig eisig wurde.

Verkohlte Baumstümpfe standen am Weg, der uns zur Zef-Siedlung führte. Rechts davon erstreckte sich, wie ein schmutziges Meer, ein fruchtloser Acker, der an einem dichten Wald endete. Zu meiner Linken zerplatzte blubbernd eine Blase auf dem breiigen Sumpf. Mücken schwirrten in der Luft herum und machten uns das Leben schwer. Immer wieder hörte ich ein Klatschen, gefolgt von einem Fluch.

Als wir an einem Autowrack vorbeikamen, schoss ein pilzübersäter Hund hervor und kläffte uns an. Sönn erschlug ihn mit seinem Knüppel.

Die Schlote der Eisengießerei waren bereits in Sicht, als Sönn Prüm und mich zu sich winkte. »Ihr beide nehmt den Gesuchten fest«, sagte er.

Das war eine große Ehre für uns Jungen, denn normalerweise führten wir solche Aufträge nur in Begleitung älterer Soldaten aus. Nachdem wir die Hütten durchsucht hatten, bekamen wir einen Tipp: das Gemeindehaus.

»Du gehst vorn rein«, befahl Prüm und machte mir Zeichen, dass er die Hintertür nehmen würde.

Ich hasste Prüms Befehlston. Schließlich waren wir ebenbürtig. Aber ich gab nach, um einen Streit zu vermeiden. Vorsichtig stieß ich die Tür mit meinem Schlagstock auf und wartete einen Augenblick, bis meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Ich probierte den Lichtschalter, was ziemlich sinnlos war, da es um diese Zeit noch keinen Strom gab. Zwar hatten die Fabriken eigene Kraftwerke für ihre Maschinen, aber die Zefs bekamen nur am Abend für zwei Stunden Strom.

Ich suchte auf dem staubigen Boden nach frischen Fußabdrücken, konnte in dem Dreck aber nichts erkennen. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse, den Schlagstock erhoben. Tödliche Waffen durften wir gegen die Zefs nicht einsetzen, denn auch wenn sie nicht viel wert waren und sich sowieso wie die Kaninchen vermehrten, waren sie doch nützlich. Wer einen Zef tötete, musste mit einer empfindlichen Geldstrafe rechnen, es sei denn, es war Notwehr.

Vor mir über der Bar hing ein verschmierter Spiegel. Ich sah hinein und erkannte im Licht des herandämmernden Morgens meine kräftige Gestalt, die perfekt sitzende schwarze Uniform, das hohlwangige Gesicht mit den Pickeln unter dem militärischen Bürstenschnitt.

Meine Mutter war immer so stolz auf mein Haar gewesen. Es war blond und kräftig, und wenn es länger wuchs, bekam ich Locken und sah aus wie ein Mädchen.

In diese Gedanken versunken, sah ich im Spiegel hinter mir eine Bewegung und schnellte herum. Zu spät, etwas Hartes knallte mir an die Schläfe, und für einen Moment stürzte ich in ein tiefes, schwarzes Loch, bevor ich mich auf dem Boden wiederfand. Mein Gegner sprang auf mich und presste mir mit seinem Gewicht die Luft raus. Ich schlug blindlings um mich, traf etwas Weiches, hörte ein Knirschen und wusste, dass ich ihm die Nase gebrochen hatte. Augenblicklich tropfte mir fremdes Blut ins Auge und sogar in den Mund. Ich spuckte, um den metallischen Geschmack loszuwerden. Der Angreifer nutzte meine Schwäche und presste seine Hände wie eine Zange um meinen Hals. Blindlings tastete ich nach meinem Schlagstock, fand ihn aber nicht. Mir ging langsam die Luft aus, und meine Augen fingen an zu tränen. Hinter meinem Gegner sah ich eine dunkle Gestalt stehen. Der Todesengel, schoss es mir durch den Kopf. Ich würgte, und ein grelles Licht erschien als winziger Punkt vor meinen Augen, der größer und größer wurde. Ich wusste, er würde mich einsaugen, und dann wäre ich tot. Ein Teil meines Bewusstseins wollte aufgeben, sanft und widerstandslos hinübergleiten. Doch der andere Teil wollte überleben. Mit letzter Kraft riss ich das Knie hoch und traf meinen Gegner in die Weichteile. Er ließ mich augenblicklich los und krümmte sich auf dem Boden, wobei er sich die Hände zwischen die Beine presste und von einer Seite auf die andere rollte.

»Du hast mir die Eier zerquetscht«, stöhnte er.

»Du hast mich fast umgebracht«, röchelte ich und rieb mir den Hals. Das Schlucken war ein einziger Schmerz.

»Ich wollte nur abhauen.«

»Bist du Roger?«, fragte ich ihn.

»Ja!«, heulte er.

Er war ein wenig älter als ich. Stark wie ein Baum, aber kein erfahrener Kämpfer.

»Deine Leute werden mich umbringen, wenn sie erfahren, dass ich dich angegriffen habe«, sagte er.

»Das werden sie.« Und in diesem Augenblick wünschte ich mir, dass sie Roger in kleine Stücke schnitten und an die Schweine verfütterten.

»Ich wollte nur, was mir zusteht«, schluchzte er. »Der Vorarbeiter hat meine Stückzahl gefälscht, um das Geld für sich zu kassieren. Er ist ein Betrüger. Nur deswegen habe ich ihn geschlagen.«

Er sah mich mit seinen verheulten Augen an.

Ich wollte nichts davon hören. Was geht mich das Zefpack an, dachte ich.

»Deshalb soll ich bestraft werden. Zwanzig Peitschenhiebe«, jammerte Roger.

Das fand ich nicht schlimm. Mein Rücken war eine einzige Narbe.

»Du wirst es überstehen«, sagte ich.

Roger lachte traurig. »Du bist Soldat. Du kannst so was ertragen. Ich bin nur ein Zef, ich bin das nicht gewohnt. Aber das ist jetzt auch egal.« Er ließ den Kopf hängen.

»Ich muss dich jetzt zu meinen Kameraden bringen«, sagte ich und klopfte mir den Staub von der Uniform.

»Sie werden mich töten, weil ich dich angegriffen habe«, flüsterte er matt.

Ich zuckte mit den Schultern und stieß Roger vor mir her, der wie ein Schaf lostrottete.

»Ich habe ihn!«, rief ich. Drei Kameraden stürzten sich auf Roger und prügelten auf ihn ein. Er schrie. Prüm trat ihm in den Hintern, so dass er mit dem Gesicht in den Matsch fiel und erstarrt liegen blieb. Er rechnete wahrscheinlich damit, eine Kugel in den Rücken zu bekommen.

Sönn musterte mich schweigend.

»Deine Uniform ist schmutzig«, sagte er nach einer Weile. »Und was sind das für Flecken an deinem Hals?« Seinen scharfen Augen war nichts entgangen.

»Bin ausgerutscht, als ich ihn fangen wollte«, antwortete ich. Als Sönn nichts sagte, fügte ich hinzu: »Und gegen einen Tisch geprallt.«

Er sah mich prüfend an. Nach einer Weile nickte er und sah zu Roger, der mit gesenktem Kopf zwischen den Wachen hing und seine ausgetretenen Stiefel im Dreck schleifen ließ.

Prüm kam grinsend angeschlendert. »Alle Achtung. Den hast du sauber zur Strecke gebracht.«

»Und wo warst du?«, fragte ich, den Spott in seiner Stimme ignorierend. »Du kennst die Vorschrift. Niemals allein ein Gebäude betreten.«

»Scheiß auf die Vorschrift«, sagte Prüm und spuckte in hohem Bogen aus. »Die Hintertür war abgeschlossen, und außerdem hast du mich ja nicht gebraucht.«

Er grinste dreckig und sah zu, wie sie Roger an einen Pfahl banden. »Komm, lass uns zusehen, wie sie das arme Schwein durchprügeln.« Ich ließ ihn stehen und ging hinter das Gemeindehaus, um zu pinkeln.

Aus einem Gefühl heraus kontrollierte ich die Hintertür. Sie war unverschlossen. Prüm hatte gelogen. Außerdem führten seine Fußspuren ins Gemeindehaus.

02

Prüm war mein Bruder, und ich hasste ihn. Ab dem zehnten Jahr bekam jeder Rekrut einen »Bruder« an die Seite. Einen Kameraden, mit dem er auf Gedeih und Verderb verbunden war. Das Schicksal und Sönn hatten Prüm und mich ausgewählt. Vermutlich waren sie der Ansicht, dass wir zueinander passten. Doch das Gegenteil war der Fall. Wir konnten uns vom ersten Moment an nicht leiden. Richtig schlimm wurde es, als wir das Überlebenstraining hinter uns bringen mussten. Sönn hatte uns dazu, weit weg von der Kaserne, im Wald ausgesetzt. Innerhalb von drei Tagen mussten wir den Weg zurückfinden. Ohne Waffen und ohne Werkzeug, nur auf unsere Hände und unseren Spürsinn angewiesen. Das war nicht einfach, in den dichten und sumpfigen Wäldern.

Am ersten Abend hatte Prüm einen Biber mit einer Weidenrute gefangen. Meine Aufgabe war es, das Tier mit einem angespitzten Pflock zu töten.

»Los, mach schon«, rief Prüm und hielt den zappelnden und quiekenden Biber fest.

Als ich den Pflock ansetzte, spürte ich den Herzschlag des Tieres unter meinen Fingern und zögerte.

»Ich kann das Scheißvieh nicht halten«, rief Prüm und musste fluchend den um sich beißenden Biber loslassen. Wir sahen dem Tier nach, das krachend im Unterholz verschwand.

»Das war unser Abendessen, du Idiot. Was bist du bloß für ein Schwächling?«, brüllte Prüm und schlug mir ins Gesicht. Ich stürzte mich auf ihn, und wir kämpften verbissen, bis ich ihn zu Boden drückte und ihm den Pflock an die Kehle presste. Die Spitze bohrte sich tief in seine Haut, in der Kuhle sammelte sich bereits etwas Blut.

»Na los, mach schon«, keuchte Prüm.

Es hätte nicht viel gebraucht, um das dünne Fleisch an seinem Hals zu durchbohren, aber ich brachte es nicht über mich.

»Du bist viel zu weich«, höhnte Prüm. »Ich an deiner Stelle hätte zugestochen.«

Später, als wir auf rohen Pilzen und Moos rumkauten, entschuldigte ich mich bei ihm.

»Gut«, sagte Prüm nur leise, und obwohl ich seine Augen im Dunkeln nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie vor Hass glühten.

Dummerweise konnte man seinen Bruder nicht einfach wechseln. Man war bis zum Tod miteinander verbunden.

»Dein Problem ist dein Kopf«, sagte Prüm, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten.

»Du denkst zu viel und wirst noch mal einen Hirnschaden bekommen. Du weißt doch, was Sönn über denkende Soldaten sagt.« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Bis sie zu Ende gedacht haben, ist die Schlacht entschieden.«

»Und sie sind tot«, fügte ich leise hinzu. Prüm hat recht, dachte ich. Ich grübelte zu viel. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Meine Gedanken schossen wie betrunkene Mäuse wild hin und her. Meinem Kopf zu befehlen, weniger zu denken, wäre unsinnig. Genauso gut könnte ich meinem Magen befehlen, weniger Hunger zu haben.

Rogers Schreie waren inzwischen verstummt. Nur das Zischen der Peitsche und das Klatschen auf seiner Haut waren noch zu hören. Entweder war er bewusstlos oder tot. Sönn ließ Rogers Familie antreten und schärfte ihnen ein, in Zukunft besser zu gehorchen, sonst würden sie deportiert. Sie nickten ergeben. Was blieb ihnen auch übrig?

Ich verstand die dämlichen Zefs einfach nicht. Immer wieder machten sie Ärger, anstatt dass sie froh waren, ein Dach über dem Kopf zu haben. Sie durften in der Fabrik arbeiten, sie bekamen Essen, Unterkunft, und wenn sie es schlau anstellten, mussten sie sich keine Gedanken um ihre Zukunft oder die ihrer Kinder machen. Die Fabrik gab ihnen alles. Ich trat ein Huhn aus dem Weg, das gackernd davonflatterte.

Zurück in der Garnison, bekamen wir jeder unsere Ration Musschnitten, Muschniks genannt. Es waren weiche, graue Riegel, die ranzig schmeckten. Niemand wusste, was drin war. Angeblich war es ein Brei aus Getreide, Früchten und Gemüse, was aber nicht stimmen konnte, weil auf den wenigen fruchtbaren Flächen, die es noch gab, nur Kartoffeln oder Rüben angebaut wurden.

Manche sagten, dass sie in den Muschniks tote Menschen verarbeiteten. Andere sagten, dass sie in Laboren Schleim aus Pilzen erzeugten, den sie dann zusammenpressten. Was es auch war, die Dinger machten satt, und darauf kam es an. Die ganze Bevölkerung ernährte sich überwiegend von Muschniks.

Nach dem Essen fuhr ich mit zwei älteren Soldaten Streife, wofür wir einen der beiden Jeeps benutzten. Wegen der strengen Benzinrationierung durften wir ihn nur selten fahren. Während das altersschwache Gefährt einen Hügel hinaufkeuchte, beobachtete uns lauernd ein Eichelhäher.

Wir waren auf der Suche nach Schleppern, die Immigranten ins Land schmuggelten, nach Deserteuren, die sich in den Wäldern herumtrieben, und vor allem nach Terroristen.

Es gab Dutzende Gruppen mit unterschiedlichen Zielen. Die einen wollten freien Zugang zu Trinkwasser für alle, die anderen forderten mehr zu essen. Noch eine andere Gruppe verlangte freie Wahlen.

Der gefährlichste Terrorist aber war Burger, ein ehemaliger Soldat. Er und seine Leute nannten sich Befreiungsausschuss, aber was sie befreien wollten, wusste niemand. In ihren Flugblättern ging es immer nur um Terror und Mord.

Hin und wieder überfielen Burgers Leute Soldaten, um ihre Ausrüstung zu erbeuten. Burgers schlimmste Waffe aber waren die mit Sprengsätzen ausgerüsteten Jungen und Mädchen, die sich in den Städten in die Luft jagten und viele mit in den Tod rissen. Manchmal erwischten wir einen lebend, und dann war er enttäuscht, dass er kein Märtyrer geworden war.

Die meisten von diesen Kreaturen konnten nicht mal schreiben und lesen. Sie waren die Kinder von Ausgestoßenen, die sich wie die Würmer durch unser verfaultes Land fraßen. Manche waren auch Waisen aus den Flüchtlingslagern. Aber egal, woher sie stammten: Sie gehörten ausgerottet!

Burgers Steckbrief hing an jeder Wand, und sein Bild war täglich in der Zeitung zu sehen, wo es fast die ganze Seite einnahm: ein altersloser, schmaler Kopf mit unscharfen Gesichtszügen, stechenden grauen Augen und einem schmalen, grausamen Mund.

Ich konnte nicht verstehen, dass Burger das Soldatendasein aufgegeben hatte, um Terrorist zu werden. Wer außer der Armee sollte denn verhindern, dass sich so etwas wie die Große Katastrophe wiederholte? Nur wir Soldaten garantierten das Überleben. »Ohne uns würde das Chaos regieren.«

Wie oft hatte uns Sönn diesen Satz eingehämmert.

Nachts auf Streife malte ich mir aus, wie ich Burger erwischen würde. Dann wäre ich ein Held. Mein Bild wäre in der Zeitung, ich würde einen Orden bekommen, und alle Mädchen würden mich bewundern. Leider wusste niemand, wo Burger sich versteckt hielt. Seine Leute hielten selbst unter der Folter dicht. So als hätten sie mehr Angst vor ihm als vor den Schmerzen.

03

An einem der darauffolgenden Tage ließ Sönn uns Kadetten und die Offiziere zu sich rufen. Wir versammelten uns in seiner Stube, einem kargen Raum mit einer Pritsche, einem Hocker und einem wackligen Tisch. An der Wand hing ein Bild von General Cato. Cato war eine Legende und einer der berühmtesten Kämpfer unserer Tage. Sönn hatte mit ihm in der Schlacht von München Seite an Seite gekämpft.

Wir jungen Soldaten bewunderten Kämpfer wie Cato. Wir trugen die Haare wie sie, knöpften uns die Jacke wie sie, imitierten ihre Sprache, ihren Gang, ihre Bewegungen. Wenn wir als Kinder eine Schlacht nachspielten, wollte jeder von uns Cato sein. Bilder mit seiner Unterschrift wurden von ihren Besitzern wie ein Schatz gehütet. Ich hätte einiges dafür gegeben, ihm wenigstens einmal die Hand schütteln zu dürfen.

Sönn musterte uns eine Weile. Wie die meisten Soldaten war er kein großer Redner.

»Meine Herren«, begann er. »Unsere Einheit wird verlegt.« Er machte eine Pause. »Nach Berlin.«

Wir sahen uns überrascht an. Berlin war unsere Hauptstadt.

»Die Senatswahl steht an.« Sönn hielt ein Flugblatt hoch.

»Das stammt vom Befreiungsausschuss.« Er räusperte sich: »Wir werden die Wahl in einem Meer aus Feuer und Blut ertränken. Die verbrecherischen Senatsbürger werden ihre Macht nicht länger durch Scheinwahlen aufrechterhalten«, las Sönn und ließ das Blatt sinken. »Wir werden die kostbaren Ärsche der Senatsbürger schützen«, sagte er und machte ein missmutiges Gesicht. Sönn hasste die Senatsbürger, für ihn waren sie Parasiten, die auf unsere Kosten lebten. Zwar erließen sie die Gesetze, um zu verhindern, dass sich so etwas wie die Große Katastrophe wiederholen konnte, und sie gaben dem Volk Arbeit und Lohn mit ihren Fabriken und Höfen, aber ohne die Armee waren sie schutzlos. Unsere Waffen machten sie stark. Die Senatsbürger waren wie fette Fliegen, die sich an einer Blutlache mästeten.

»Wir werden in zwei Stunden aufbrechen«, unterbrach Sönn meine Gedanken und schickte uns raus.

»Mann!«, sagte Prüm, als wir draußen standen und unsere Käppis aufsetzten. »In die Hauptstadt. Stell dir das vor.«

Er freute sich. Ich weniger. Ich war noch nie in Berlin gewesen und hatte auch nichts Gutes darüber gehört.

Laut sollte es dort sein und sittenlos. Die Stadt war neben den Senatsbürgern überwiegend von Zefs bevölkert: Händler, Zeitungsschmierer, Prostituierte, Tagelöhner, Fahrkartenverkäufer. Jeder, dem Geld wichtiger war als die Ehre, kroch dort im Schlamm der Straßen herum.

Außerdem gab es in Berlin zu viele Frauen. Und Frauen waren Gift für einen Soldaten. Sie brachten einen dazu, den Kampf weniger zu lieben und den Tod zu fürchten. Außerdem war ich ein Kämpfer und kein Wachhund der Senatsbürger.

04

Unsere Kompanie saß bereits auf den altersschwachen Mannschaftswagen, als Sönn sagte: »Ich muss euch noch ein, zwei Sachen mit auf den Weg geben.« Er sah aufmerksam in den Himmel, als würde da ein Hinweis stehen. »In Berlin gelten andere Regeln als bei uns.« Sönn sah uns an. »Die Senatsbürger waschen sich täglich.«

»Was?«, fragte Bones empört. »Wissen die nicht, dass das schädlich ist?«

Wir lachten, doch Sönn brachte uns mit einer Handbewegung zum Verstummen.

»Außerdem werden wir in Berlin in richtigen Betten schlafen.«

Jetzt murrten wir alle. Betten waren wir nicht gewohnt. Wir schliefen auf der nackten Erde, ganz selten auf Pritschen. Die Ärzte warnten uns immer wieder, wie schädlich das Schlafen in Betten sei. Die Matratze könnte das Rückenmark zerstören.

»Ich habe hier ein Handbuch«, sagte Sönn und hielt mit spitzen Fingern ein kleines Buch in die Höhe. »Hier stehen alle Verhaltensregeln drin. Wir werden sie unterwegs auswendig lernen.« Er verzog den Mund. »Und wenn wir unseren Auftrag ausgeführt haben, werden wir uns mit diesen Regeln den Arsch abwischen.«

Wir lachten, dann gab Sönn das Zeichen zum Aufbruch.

Die Reifen schleuderten Schlamm und Steine hoch, und schlingernd nahm der Wagen Fahrt auf. Wir hatten uns Zeltplanen über die Köpfe gezogen, um uns vor dem Regen zu schützen. So saßen wir jeweils zu viert oder zu fünft unter diesem Schutz und spielten Karten oder dösten. Hin und wieder sah ich hinaus. Eine endlose Reihe von verkrüppelten Bäumen zog vorbei. Dahinter tauchten manchmal Ruinen auf, verlassene Geisterorte. Auf einem Acker hatte sich ein Flugzeug wie eine Blindschleiche mit der Schnauze in die schwarze Erde gewühlt. Ein Flügel ragte starr nach oben, der andere war abgebrochen. Es hieß, die Menschen wären mit diesen Dingern tatsächlich geflogen. Ich hielt das für ein Märchen. Ein Vogel von dieser Größe und diesem Gewicht wäre nie hochgekommen, wie sollte es da so ein Eisen-Monstrum schaffen? Man durfte nicht alles glauben, was man sich über die Zeit vor der Großen Katastrophe erzählte. Die Hälfte der Geschichten konnte man vergessen, und es blieb immer noch genug Unsinn übrig. Angeblich sollte es früher ein Wesen im Himmel gegeben haben, das uns beschützte. So eine Art Ein-Mann-Armee. Aber anscheinend war der Kerl bei der Großen Katastrophe stiften gegangen. So was nennt man Feigheit vor dem Feind, und es endet normalerweise vor dem Standgericht. Sönn hatte uns aus dem Buch vorgelesen, das das Wesen geschrieben hatte. Es ging viel ums Kämpfen und um Krieg. Das hatte uns gefallen.

Endlich erreichten wir die Autobahn. Der Straßenrand war mit Autowracks übersät. Hinter einigen saßen Gerippe, die Hand am Lenkrad, als wollten sie gleich losfahren. Als wir um ein riesiges Schlagloch herumkurvten, musste ich mich an Prüm festhalten, um nicht runterzufallen. Er funkelte mich böse an.

Hin und wieder zogen Besitzlose am Straßenrand entlang. Sie hatten ihre zerlumpten Kinder an sich gepresst und sahen uns ängstlich an. Ich formte mit meinen Fingern eine Pistole und zielte auf sie, während sie in einer Staubwolke verschwanden.

Ein Hyänenrudel brach aus dem Dickicht am Straßenrand. Die Kameraden feuerten auf die quiekenden Tiere, bis eines getroffen zusammenbrach und mit den Beinen zuckte. Seine Artgenossen versammelten sich bellend um den Sterbenden, als würden sie sich verabschieden. Wir hassten diese Biester. Es hieß, sie würden nachts Leichen ausgraben und auffressen.

Die Nächte fuhren wir durch. Zum Schlafen banden wir uns mit den Koppeln an den Streben fest, um nicht runterzufallen. Selbst gegessen wurde während der Fahrt. Kalte Kartoffeln mit Mais, die in großen Eimern lagerten und nach zwei Tagen von einer Pilzdecke überwuchert waren. Dazu ein Muschnik für jeden.

Während der kurzen Pausen lehrte uns Sönn weitere Regeln, wie man sich Senatsbürgern gegenüber zu verhalten habe. So durfte man sie niemals berühren. Grüßen tat man sie, indem man die linke Hand hob und die Finger spreizte. Diese Regel stammte noch aus der Zeit kurz nach der Großen Katastrophe, als man Angst hatte, sich mit einer tödlichen Krankheit anzustecken. Nicht, dass wir Soldaten einander ständig anfassten, aber wer zusammen im Feld kämpft, der hat keine Angst vor Berührungen. Schließlich entlausten wir uns gegenseitig oder wärmten uns in kalten Nächten Rücken an Rücken. Wir lachten über die Senatsbürger. Sie wollten jedes Risiko ausschließen. Aber darauf nahm das Leben keine Rücksicht.

Am Morgen des dritten Tages tauchten die ersten Gebäude Berlins in der Ferne auf. Am gelblichen Himmel hingen schorfige Wolken, die aussahen, als könnten sie jederzeit aufplatzen und einen Eiterregen auf uns niedergehen lassen. Wir fuhren durch die Ruinen der Außenbezirke, die seit der Großen Katastrophe nicht mehr bewohnt waren. Vorbei an einem zerfallenen Schloss mit einer vermoderten grünen Kuppel. Zwischen den zerstörten Gebäuden einer Universität sah ich etwas umherhuschen. Von Sönn wusste ich, dass dort Deportierte und Flüchtlinge hausten, die sich mit Gaunereien über Wasser hielten. Er hatte uns eingeschärft, sofort zu schießen, wenn uns etwas verdächtig vorkam. Und das taten wir auch. Wir feuerten mit Gummimantelgeschossen auf alles, was sich in den Ruinen herumtrieb, und wenn wir einen Aufschrei hörten, bekam der Schütze einen Punkt. Eine gute Übung für das Treffen beweglicher Ziele.

Als wir an einer eingefallenen Säule, zu deren Füßen eine riesige Statue mit Flügeln, aber ohne Kopf lag, sahen wir das Stadttor. Dahinter hatten sich die Überlebenden verschanzt. Sönn hatte uns erzählt, dass sie eine alte, noch von irgendeinem Krieg übriggebliebene Mauer wieder aufgebaut und erweitert hatten. Der ganze Ostteil war jetzt gesichert wie eine Festung.

05

Vor dem Tor drängelte sich eine Menschenmasse wie die Maden um einen Kadaver. Händler, Bittsteller, Landflüchtige, Zefs. Von jedem Abschaum war etwas dabei. Unsere Fahrer hupten uns den Weg frei, aber irgendwann ging es weder vor noch zurück. Noch nie hatte ich so viele und so unterschiedliche Menschen auf einem Haufen gesehen. Ein Ochsengespann rumpelte an uns vorbei. Auf dem mit Möbeln vollgepackten Karren hockte eine uralte Frau, leblos, wie eine Mahnung an den Tod. Mit geschlossenen Augen schaukelte sie ungerührt hin und her. Dem Wagen folgten drei kleine Mädchen, die glänzende weiße Umhänge trugen und von einer dicken Gestalt mit Turmfrisur in einem zeltähnlichen Kleid begleitet wurden.

»Senatsbürgerkinder«, sagte Wolf, der meinen Blick bemerkt hatte.

Die Kinder trugen ihr langes Haar offen, ganz im Gegensatz zu den Bälgern der Zefs, die sich Zöpfe flochten, um nicht mit den Haaren in die Maschinen gezogen zu werden, an denen sie arbeiteten. Die Senatsbürgerkinder blickten stolz geradeaus und schienen das Geschehen um sie herum gar nicht wahrzunehmen.

Am Rand dieses strömenden Flusses stand ein Mann und verkaufte gebratene Maulwürfe am Spieß. Die Biester schmeckten eklig, aber was blieb uns übrig, als sie zu essen? Sie waren eine absolute Plage geworden. Genau wie die Frösche.

Vor uns ragte das von Säulen getragene Stadttor auf. Darauf thronte eine Siegesgöttin in einer Kutsche, die von vier Pferden gezogen wurde.

»In dieser Stadt ist jeder willkommen«, sagte Wolf. »Und doch steht die Göttin mit dem Arsch zu den Ankömmlingen. Es gibt eine Legende, wonach sie dir auf den Kopf scheißt, wenn sie dich nicht mag.« Er lachte rau.

Vom Tor hingen riesige Plakate herab. Auf einem blickte uns Burgers finsteres Gesicht entgegen. Ein anderes warnte vor herrenlosen Taschen, die mit Sprengstoff gespickt sein könnten.

Die Luft war dick und feucht, auch wenn es seit Stunden nicht mehr geregnet hatte. Ich zerquetschte eine Mücke und beobachtete einen Streit zwischen zwei Männern, die ein grün und blau geschlagenes Zefmädchen an einem Strick hinter sich herzogen. »Sie ist wahrscheinlich aus ihrer Siedlung abgehauen«, raunte mir Wolf zu. »Und jetzt streiten sie, wer die Belohnung kassieren darf.«

Wir stiegen ab, mit dem LKW kamen wir nicht weiter. Der riesenhafte Bones und der vernarbte Gordon schlugen mit ihren Knüppeln eine Schneise in die Menge.

Endlich hatten wir uns bis zu den Posten durchgekämpft, die uns durchwinkten. Ich duckte mich unwillkürlich, als wir durch das Tor gingen. Wer wusste schon, ob an Wolfs Legende nicht etwas Wahres war.

Dann betrat ich die Stadt und wäre am liebsten wieder umgekehrt. Auf dem großen Platz wimmelte es von Menschen. Gestank hing in der Luft, als würde unter der löchrigen Asphaltdecke etwas verwesen. Ich würgte.

Langsam drehte ich mich im Kreis. So hoch hatte ich mir die Häuser nicht vorgestellt. Ich kannte nur die Hütten der Zefs und ein paar Fabriken und Kasernen, aber was hier herumstand, übertraf alles. Auch an Schäbigkeit. Die Gebäude erinnerten eher an Totenhäuser. Ihre Fenster waren zugenagelt oder zerbrochen, die Fassaden von Einschüssen zersiebt. Trotzdem musste dort jemand hausen; eine Wäscheleine spannte sich zwischen zwei Fenstern, aus einem anderen wehte ein löchriger Vorhang.

Alle Menschen waren in Eile und drängelten durcheinander. Schwerbewaffnete Soldaten standen wie Felsen in diesem Gewühl und musterten jeden aufmerksam. Eine verzerrte Stimme plärrte unentwegt aus einem Lautsprechermast, ich verstand kein Wort. Ein Mann rempelte mich an. Er war auf der Flucht vor zwei Seuchenpolizisten in Schutzanzügen und mit Gesichtsmasken. Als sie ihn einholten, schlugen sie ihm mit ihren Stöcken in die Nieren, bis er quiekend zusammenbrach.

Sönn fragte einen der beiden, wo die Registrierungsstelle sei. Der Polizist zeigte auf ein riesiges Haus direkt vor uns. »War früher mal ein Luxushotel. Da haben nur die

Piekfeinen gewohnt, und jetzt schleusen sie da den Abschaum in die Stadt.« Er lachte dumpf durch seine Maske.

Vor dem Gebäude warteten erschöpfte Zefs in einer langen Schlange. Ihre Kinder schliefen ausgestreckt auf dem Weg.

»Das Eingangstor zur Zivilisation«, lachte Wolf neben mir.

Sönn befahl uns zu warten und winkte Bones und Gordon, ihn zu begleiten. Ich sah den dreien nach, bis sie im Hotel verschwunden waren. Neben mir trabte ein Zef vorbei, der eine Senatsbürgerin auf den Schultern trug, die ihn zur Eile antrieb. Der Mann keuchte mit hochrotem Gesicht. Prüm lachte. »Wenn du erst mal so tief gesunken bist und andere für ein paar Kreuzer tragen musst, kannst du dich gleich erschießen.« Er klatschte begeistert in die Hände. »Ist das eine wanzige Stadt!«

Mir gefiel das alles nicht. Viele Menschen hatten leere Augen, als hätten sich ihre Seelen davongemacht.

»Was ist das denn für einer?«, fragte Prüm und zeigte auf einen halbnackten Mann, der witternd wie ein Tier näher kam. Der Mann streckte bittend die Hand aus und verbeugte sich dabei pausenlos. Prüm trat ihm in die Seite, dass er jaulend umfiel und vor Schreck lospinkelte.

»Stinkende Zefs«, schimpfte Prüm.

In diesem Moment kehrte Sönn zurück. An seiner Seite ging ein Mann, der mir bekannt vorkam. Eine wulstige Narbe zog sich quer über seinen Hals, als habe jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden. Die Gesichtshaut des Mannes spannte sich und sah aus wie hinter den Ohren festgezurrt. Das kurzgeschnittene Haar wirkte wie in die Kopfhaut genagelt. Ich bekam eine Gänsehaut. Der Mann war älter als auf den Bildern, doch er war es tatsächlich: Cato! Der berühmte General Cato. Wir nahmen augenblicklich Haltung an.

»Guten Tag, meine Herren«, begrüßte uns Cato mit einer hohen und heiseren Stimme, die nicht zu seiner Erscheinung passte.

»Ich hoffe …«

Da zerriss ein scharfer Knall die Luft. Die Straße bebte, Scheiben klirrten. Das Echo der Explosion pfiff wie ein Querschläger zwischen den umliegenden Häusern hin und her. Wir warfen uns instinktiv zu Boden, nur Cato blieb ungerührt stehen und sah uns lächelnd an. »Eine Bombe, meine Herren. Der Befreiungsausschuss ist fleißig, kurz vor der Wahl.«

Er kicherte. »Ihr werdet euch daran gewöhnen.«

Ich klopfte mir den Staub von der Uniform und blickte in die Richtung, aus der die Explosion gekommen war. Eine dünne Rauchfahne stieg von dort auf. Ein Auto der Medizinischen Abteilung raste an uns vorbei. Die Lautsprecherstimme war kurzzeitig verstummt, jetzt plärrte sie ungerührt weiter.

»Wir werden euch erst mal Passierscheine besorgen, damit ihr euch in der Stadt bewegen könnt«, sagte Cato und winkte einem seiner Männer, der uns über einen Seiteneingang ins Registrierungsgebäude und in einen leeren Warteraum führte. Nach kurzer Zeit tauchten ein paar Frauen in grauen Kitteln auf, die unsere Namen und unsere Einheit notierten. Sie schrieben im Stehen und benutzten dabei dünne Bretter als Unterlage, die sie zwischen Fingerspitzen und Armbeuge geklemmt hatten. Anschließend mussten wir warten, während sie unsere Passierscheine ausstellten.

Mich hielt es nicht auf dem Stuhl, und so sah ich mich ein bisschen um. Hinter einer halb angelehnten Tür standen ausgemergelte Männer, Frauen und Kinder mit nackten Oberkörpern. Ärzte in Schutzanzügen horchten sie ab, guckten ihnen mit Lampen in die Münder, in die Augen, in die Ohren. Die Gesunden bekamen einen Passierschein. Die Kranken wurden aussortiert und durften Berlin nicht betreten. Viele fingen an zu weinen und klammerten sich an ihre gesunden Familienmitglieder, aber die Seuchenpolizei riss sie auseinander.

»Kjell, wo steckst du denn?«

Es war Prüm.

»Hier«, sagte er und hielt mir meinen Passierschein hin.

»Was ist?«, fragte er, als ich zögerte.

»Werden wir auch untersucht?«, wollte ich wissen.

»Wozu denn? Wir sind Soldaten und kein Abschaum.«

Ich schüttelte den Kopf und musste über mich selbst lachen.

Dann betraten wir Berlin. Eine breite Prachtstraße führte Richtung Osten. In der Mitte trabten Pferdebahnen, an deren überfüllten Wagen die Passagiere wie reife Trauben schaukelten. Cato baute sich vor uns auf. »Männer!«, rief er mit seiner hohen Stimme. »Ab jetzt wird es ernst. Mit den Passierscheinen seid ihr befugt, alle Stadtsektoren zu betreten, außer jenen der Senatsbürger und den verbotenen.« Er machte eine Pause und räusperte sich.

»Morgen in aller Frühe werdet ihr zuerst den M-Sektor kennenlernen. Wir werden da ein bisschen aufräumen.« Er kicherte hexenartig. »Der menschliche Müll da hat sich in letzter Zeit etwas zu sehr ausgebreitet.«

06

Sie brachten uns in einer Kaserne im Stadtzentrum unter.

In den zugigen Räumen lagen Bücher verstreut auf dem Boden. »Das war mal eine Bibliothek«, sagte der Wachhabende. »In solchen Häusern konnten die Zefs früher Bücher ausleihen. Aber jetzt kann ja keiner mehr lesen, und man kann mit dem alten Papier gut Feuer machen.« Er hob ein Buch auf, riss ein paar Seiten raus und hielt ein Streichholz an das Papier, das flammend aufloderte.

Da niemand von uns auf einer Pritsche schlafen wollte, reihten wir die Dinger an der Wand auf, wo sie wie wartende Särge standen, und legten uns auf den verschlissenen Teppichboden. Neben mir schnarchte Prüm, während ich krampfhaft versuchte einzuschlafen. Aus Langeweile fing ich an, die Wanzen zu zählen, die auf mir herumkrabbelten. Bei 38 hörte ich auf. Eine Stimme rief Befehle durchs Haus, eine Tür schlug krachend zu. Ich zündete meine Kerze an, griff mir eins der herumliegenden Bücher – das Titelblatt war abgerissen – und schlug es auf: »Du bist tot, Motherfucker!«

Das gefiel mir, auch wenn ich nicht wusste, was Motherfucker bedeutete. Ich blätterte weiter: »Auf Hiphop standen wir übrigens alle.«

Hiphop, wieder so ein Wort, das ich nicht verstand. Was für ein Schwachsinn! Vor lauter Langeweile riss ich ein paar Seiten raus und faltete Papierschiffchen, bis ich müde wurde und inmitten meiner Flotte einschlief.

Am Morgen brachte ich nur mit Mühe mein Frühstück runter, das aus fauligem Brot, kalten Kartoffeln und einem Muschnik bestand. Prüm hatte sich ein Stück abseits gesetzt, was mir nur recht war. So ließ ich mich neben Wolf nieder, der geistesabwesend in seiner Tasse rührte. »Das wird ein harter Tag heute«, versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Wolf grunzte nur ein paarmal, um mich dann vollständig zu ignorieren.

Nach dem Frühstück bekam jeder einen Becher Ketamin. Das Zeug machte unempfindlich gegen Schmerzen. Ich trank meine Ration in einem Zug. Es brannte ein wenig auf der Zunge, meine Kopfhaut kribbelte, und ich spürte, wie sich das Ketamin angenehm warm in meinen Adern ausbreitete. Ich fühlte mich leicht und unverwundbar. Ich liebte dieses Gefühl, wenn jede Faser meines Körpers sich wie eine Bogensehne spannte. In diesem Moment war ich zu allem bereit.

Wir bekamen jeder einen Schlagstock, der so lang wie mein Arm und mit eisernen Nieten gespickt war. Ich konnte es kaum erwarten, ihn auszuprobieren. Außerdem rissige Brustpanzer aus Blech und einen Schild, der so groß war wie ich. Auch Catos Männer nahmen an dem Einsatz teil, finster aussehende Kameraden, die genauso bissig wirkten wie die zahlreich herumstreunenden Köter in Berlin.

Die Motoren liefen sich warm, und Dieselgestank hing schwer in der Luft, als Cato und Sönn leicht schwankend auftauchten. Catos Leute jubelten, worauf er abwinkte und sich auf das Trittbrett des vorderen LKW schwang: »Männer!«, rief er. »Der M-Sektor gehört zu den gefährlichsten in der Stadt. Dort regieren die Banden, ansonsten hausen da nur Zefs. Im Grunde genommen ist mir diese menschliche Schlacke egal. Sollen sie sich doch gegenseitig abschlachten. Ich persönlich würde da am liebsten mit einem Flammenwerfer reingehen und alles gründlich reinigen.« Er machte eine Pause, die Kameraden lachten. »Aber der Senat und vor allem unser geschätzter Kanzler wünschen sich eine ordentliche Razzia. Also zeigt unseren Kameraden vom Lande mal, wie das bei uns läuft.«

Catos Männer johlten und trampelten mit den Füßen.

»Sechsergruppen«, befahl Cato. »Jede von einem Sperber begleitet. Wenn die Drecksäcke die Tür nicht aufmachen: Eintreten! Widersetzt sich jemand der Verhaftung: Erschießen!«

Ich konnte es kaum erwarten, zuzuschlagen. Das Ketamin wütete in meinen Adern und schrie: Los! Los! Los!

»Und Vorsicht!« Cato hob warnend den Finger. »Im M-Sektor haben sogar die Weiber und die kleinen Kinder Reißzähne.«

Er lachte, kletterte in den Wagen und gab den Befehl zur Abfahrt. Wir fegten aus dem Hof und jagten in halsbrecherischem Tempo die Straßen entlang. Eine Sirene auf dem Dach des LKW jaulte unablässig und scheuchte Fußgänger und Pferdebahnen aus dem Weg. Beinahe wären wir in eine Gruppe von Menschen gerast, die über die Straße liefen und uns nicht kommen sahen. In letzter Sekunde spritzten sie wie Regentropfen auseinander.

Selbst an den Kontrollpunkten, die wie Schleusen zwischen den einzelnen Sektoren saßen, drosselten die Fahrer ihre Geschwindigkeit kaum. Einmal rammten wir eines der Wachhäuschen. Je näher wir dem M-Sektor kamen, desto verfallener wurde die Gegend. Ein ständiger Brandgeruch hing in der Luft. In vielen Häusern waren die Fenster rausgebrochen. Die dunklen Löcher schienen uns stumm zu warnen: Kehrt um!

Zweimal versperrten Barrikaden aus alten Möbeln, Reifen und Holz die Straße.

»Diese Bastarde«, schimpfte einer von Catos Leuten, dem ich dabei half, ein Bettgestell wegzutragen. »Sie lieben es, uns das Leben schwerzumachen.«

Zefs bewarfen uns aus den umliegenden Häusern mit Abfall. Dröhnend landete ein löchriger Stiefel auf der Motorhaube unseres LKW. Erst als einer der Sperber eine Salve in die Luft feuerte, verschwanden die Angreifer.

Die Straßen waren mit lumpig gekleideten Kindern aller Altersklassen bevölkert. Sie standen in Grüppchen zusammen, gingen mit ihren Einkaufsbeuteln in düstere Kellergeschäfte und fuhren mit der Pferdebahn, als spielten sie Erwachsene.

Ich fragte einen der Kameraden nach den Eltern.

Er lachte. »Wo sollen die schon sein? Die liegen in ihren Betten und verfaulen vom Crystal.«

»Crystal?«, fragte ich ahnungslos.

Er sah mich lachend an. »Eine Droge. Macht dumm, bösartig und lässt deine Zähne verfaulen. Wo hast du bis jetzt gesteckt, Junge?«

Ich zuckte die Schultern.

»Willkommen in Berlin«, sagte er grinsend. »Der Stadt der Zukunft.«

07

Der M-Sektor bestand aus Hochhäusern, die wie Giftpilze in den schmutzigen Himmel wuchsen. Hohe Mauern – mit Stacheldraht bewehrt – sollten den Bewohnern das Rüberklettern unmöglich machen. Wer raus- oder reinwollte, musste durch den Kontrollpunkt, und der war mit schwerbewaffneten Soldaten besetzt.

»Das nutzt gar nichts. Die buddeln Gänge wie die Maulwürfe, graben sich unter der Mauer durch, unter der Straße und tauchen dann in irgendeinem Haus auf der anderen Seite wieder auf«, sagte der Kamerad neben mir und spuckte aus. »So kriegen sie das verdammte Crystal raus.«

»Warum machen wir die Löcher nicht zu?«, fragte ich.

Er hob die Schultern. »Wozu? Wenn wir eins zuschütten, buddeln sie drei neue. Außerdem interessiert das keinen von den Politikern. Nur jetzt vor der Wahl dürfen wir dem Abschaum ordentlich auf die Fresse hauen.« Er zeigte auf einen Mann, der einen klobigen Fotoapparat um den Hals hängen hatte und eifrig in seinen Block schrieb. »Da darf dann auch so ein Zeitungsschmierer ordentlich Fotos machen, wie wir hier aufräumen. Hey, Zoon!«, winkte er dem Zeitungsmann zu, der auch gleich ein Bild schoss und sich dankbar verbeugte.

Die löchrigen Straßen im M-Sektor waren mit Müll und ausgebrannten Autowracks gesäumt. Ein Blätterhaufen kokelte vor sich hin. Die Überreste eines großen Tieres verwesten auf einem Rasenstück. Die Wände waren mit Einschüssen und Parolen wie TOD DEN SENATSSCHWUCHTELN beschmiert. Ein Kinderfahrrad steckte in der zerbrochenen Schaufensterscheibe eines Geschäfts, über dem irgendwas mit Schuhen stand. Das ganze Viertel sah tot aus, als würden hier nur noch Erinnerungen vor sich hin gammeln.

Ich konnte kaum erwarten, dass es losging. Vom Ketamin bis unter die Kopfhaut elektrisiert, trat ich ein paarmal gegen ein Autowrack, um mich abzureagieren. Dann kam der Befehl zum Losschlagen. Vorsichtig näherten wir uns einem der Hochhäuser und spähten durch die zersplitterte Glastür hinein. Manchmal legten die Bewohner Sprengstofffallen, hatte mir ein Kamerad erklärt. Im Hausflur war es finster, so dass wir unsere Taschenlampen benutzen mussten. Ich ließ den Schein über die Wände gleiten, sie waren mit Kritzeleien übersät.

Unser Anführer hämmerte an die erste Wohnungstür. Als sich nichts rührte, trat er sie ein. Modriger Geruch wie aus einem alten Bunker wehte uns entgegen. Der Sperber stürmte voran, das Gewehr im Anschlag, und feuerte zur Abschreckung eine Salve in die Decke. Wir folgten ihm in den engen Flur, die Schlagstöcke erhoben. Im hinteren Zimmer fanden wir die Bewohner, die in einer Ecke hockten und uns ängstlich entgegensahen. Ich schrie einen an: »Zeig mir deine Identitätskarte, du Mottenfucker! Sonst mach ich mit dir Hiphop.«

Er sah mich verständnislos an, kam aber sofort hoch und kramte in seiner Hosentasche. Um ihn anzutreiben, schlug ich ihm meinen Knüppel in den Magen. Dann nahmen wir die Bude auseinander, schlitzten Matratzen und Decken auf, und während Bettfedern wie Ascheflocken durch die Räume schwebten, zerschlugen wir die Möbel. Ich war wie im Rausch.

»Wo habt ihr die Drogen versteckt?«, brüllte unser Anführer. Ein Kind weinte, die Mutter versuchte vergeblich, es zu beruhigen.

»Mach’s Maul auf«, brüllte unser Anführer den Vater an. »Sonst schlag ich deinem hässlichen Balg seinen Idiotenschädel ein.«

Als der Mann nicht sofort reagierte, bekam er einen Knüppel zwischen die Rippen, worauf er sich ächzend krümmte. Zwei andere Männer sprangen auf, doch da droschen die Kameraden schon mit ihren Schlagstöcken auf sie ein. Ich schwang meinen wie eine Keule und schlug ihn einem Jungen auf den Rücken, der seufzend zu Boden fiel, wie ein Sack, dem man die Luft rausgelassen hatte. Wir prügelten eine Weile auf sie ein, bis wir sicher waren, dass sie sich nicht mehr wehren konnten. Dann zogen wir weiter und arbeiteten uns von Wohnung zu Wohnung. So oder ähnlich lief es überall.

Unsere Ausbeute nach sechs Stunden bestand aus einem alten rostigen Revolver, zwei Macheten, acht Messern, einem Dolch mit abgebrochener Klinge, einem kleinen Beutel Amphetamin und zwei von der Stadtmiliz gesuchten Männern.

Unseren Kameraden war es nicht besser ergangen.

Keine Drogenküche, keine Drogendepots, nur etwa ein Dutzend Gefangene und ein paar Krümelchen Crack.

Cato baute sich drohend vor den Gefangenen auf, von denen viele in meinem Alter waren. Sie stanken, waren schmutzig, hatten wirres Haar und sahen aus wie bösartige Tiere. Während die Mädchen stumm auf den Boden starrten, blickten ihn die Jungs herausfordernd an. »Also, ihr Ratten. Ihr habt die Wahl. Entweder sagt ihr uns, wo die Giftküchen sind, oder wir nehmen euch mit. Und das bedeutet für jeden von euch ein paar Jahre Arbeitslager.«

Er sah einen nach dem anderen an, aber niemand machte den Mund auf. »Das Gesetz des Schweigens, was? Wir werden euch die Schnauzen mit der Brechstange aufhebeln.« Er gab den Wachen einen Wink. »Ladet diesen Abfall auf.«

In der Zwischenzeit hatten sich immer mehr Bewohner in einiger Entfernung gesammelt. Anfangs standen sie nur da und sahen uns zu. Dann fingen die ersten an zu rufen: »Gebt uns unsere Kinder zurück!«

»Dieses verdammte Geschmeiß!« Cato war rot vor Wut.