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Alle reden vom Glück. Nicht wenige Menschen aber werden unglücklich, nur weil sie glauben, immer glücklich sein zu müssen. Mit diesem Buch wird die Glückshysterie etwas gedämpft und in nachdenklichere Bahnen gelenkt. Es geht nicht ums Ganze, sondern um »Fragmente«, Splitter, Bruchstücke des Glücks. Sie tragen letztlich zu einer Fülle des Lebens bei, die auch Widersprüche nicht ausschließt. Und die alltäglichen Kuriositäten schätzt. 
Der Alltag kommt wieder zu seinem Recht: Was trägt es zu unserem Glück bei, morgens Zeitung zu lesen, auf einem Stuhl zu sitzen, einen Regenmantel überzustreifen, Weißwürste zu essen und »romantisch« zu sein? 
Nicht ignoriert werden der alltägliche Ärger, die Rachegefühle, die Einsamkeit und Verletzlichkeit. Aber der Autor entfacht auch die Liebe zum Gedankenstrich, schildert das Glück des Zappens, schickt ein Gelassenheits-Gebet zum Himmel und fordert den Leser unverhohlen auf: »Zeigen Sie mal Ihre Socken!« 
Wilhelm Schmid, geb. 1953, freier Philosoph, lebt in Berlin. Er lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor in Erfurt und als Gastdozent in Tiflis/Georgien. Regelmäßig arbeitet er als »philosophischer Seelsorger« in einem Krankenhaus in der Schweiz. Seine hier vorgelegten Texte erschienen ursprünglich als Kolumnen zur Lebenskunst in der »Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag«. Eine erste Sammlung dieser Kolumnen wurde 2005 im Insel Verlag publiziert: Die Kunst der Balance. 100 Facetten der Lebenskunst.

 

 

Wilhelm Schmid
Die Fülle des Lebens

100 Fragmente des Glücks

Insel Verlag

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 3199.

© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2006

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Einbandillustration: René Magritte, La corde sensible, 1960. © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-458-74372-9

www.insel-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

 

Frühlingsmorgen: Die Fülle der Sinne

Aufstehen und Auferstehung · Gelassenheits-Gebet · Zeitung lesen · Moderne Einsamkeit · In welcher Zeit leben wir? · Sozusagen · Die Wahrheit sagen · Den Duft von Veilchen trinken · Die eigene Haut retten · Reise nach Iliolumbale · Olympische Körper · Wellness? Igitt! · Was ist Arbeit? · Suche nach Exzellenz · Macht Geld glücklich? · Stadtspaziergang · Der Queen zuwinken · Mein Stuhl · Ewige Lust! · Ewige Lust? · Tyrannei der Intimität · Ich bin am Ende · Am schönen Rhein · Meister des Alltags · Drei weiße Birken

 

Sommertag: Die Fülle des Fühlens

Die Seele, fortissimo, pianissimo · Völlig schwerelos · Reif für die Insel · Philosophie des Regenmantels · Kann ein Rausch denn Sünde sein? · Es ist des Teufels · Alles falsch machen! · Lieben Sie Volksmusik? · Zeigen Sie mal Ihre Socken! · Wie ärgerlich! · Die Balance halten · Hymnen hören · Die Liebe zur Natur · Begegnung mit Seneca · Carmen lebt! · Romantisch sein · In Gefühlen schwelgen · Eine Jacke lieben · Verdrießlich sein · Vom Glück der Kinder · Ich bin ein Simulant! · Für immer treu · Ein bisschen Misstrauen · Rachegefühle · Dumm, aber glücklich

 

Herbstabend: Die Fülle des Denkens

Ein Recht auf Melancholie · Leben nach dem 11. September · Kritik üben · Was ist ein Lebenskünstler? · Nur ein Gedanke · Philosophenweg · Weißwurst zuzeln · Vom Sinn des Knödels · Ehrenrettung · Feuer unterm Hintern · Die Liebe zum Gedankenstrich · Herbstspaziergang · In der Skylobby · Kennen Sie Knigge? · »Streetwise« · Wolken anschauen · Vom Glück des Zappens · Oh, wie peinlich! · Grenzen der Kommunikation · Im nackten Beton · Abschied nehmen · Der kleine Tod · Die Kunst des Älterwerdens · Begegnung mit dem Tod · Wenn der Tod stirbt

 

Winternacht: Die Fülle des Darüberhinaus

So langsam wie möglich · Japanisches Glück · Der Trägheit frönen · Haben Sie geträumt? · Furchtbar fruchtbar · Abschied vom Copyshop · Im blühenden Garten  · Liebeserklärung · Schmerzen fühlen · Unstillbare Sehnsucht · Was macht süchtig? · Schokopathie · »Christmas to go« · Flug zum Mars · Vom Segen der Stille · Hinter den Kulissen · Ohne jede Chance · Einsam sein · Kosmisches Gefühl · Wenn die Erde bebt · Planetare Solidarität · Was kann uns trösten? · Mit Fingerspitzengefühl · Haben Sie eine Philosophie? · Gelingendes Leben

 

Der Autor

Vorwort

Am Glück, so scheint es, führt kein Weg vorbei. Wer sich nicht vorsätzlich dagegen sperrt, wird mitgerissen, jedenfalls von der Flut der Bücher mit ihrer je eigenen »Glücksformel«, die manche glücklich macht und manche auch nicht. Am Beginn des 21. Jahrhunderts konnte man noch darauf hoffen, dass die UNO sich vielleicht der Sache annehmen würde. Denn weltweit lenkt sie die Aufmerksamkeit der Menschen durch die Benennung der Jahre: »Jahr des Kindes«, »Jahr der Frau«, »Jahr des Waldes« etc. – Wäre es nicht denkbar gewesen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und das gesamte 21. Jahrhundert zum Jahrhundert des Schweigens über das Glück zu erklären? Anstelle der Glückshysterie wäre ausreichend Zeit gewonnen worden für eine ruhigere Nachdenklichkeit darüber, was mit »Glück« eigentlich gemeint ist. Es hätte eine lange Zeit des Experiments beginnen können, ob und welches Glück Menschen für ihr Leben überhaupt brauchen. Und ob sie möglicherweise unglücklich werden, nur weil sie glauben, glücklich sein zu müssen.

Vorbei. Die Jagd nach Glück geht weiter. So bleibt nur, über die moderne Glücksverheißung hinaus noch ein anderes, fragmentarisches, widersprüchliches Glück ins Spiel zu bringen. Keine der geläufigen Arten des Glücks soll dabei außer Acht gelassen werden. Eine Rolle spielt weiterhin das Zufallsglück: Auch wenn es unverfügbar bleibt, so hängt doch einiges davon ab, ob es auf eine Haltung der Offenheit oder der Verschlossenheit trifft. Bedeutung beansprucht ebenso das Wohlfühlglück, das in moderner Zeit den Begriff des Glücks fast allein definiert: Menschen können wissen, wo, wie und mit wem sie es finden, aber es bleibt gebunden an einzelne schöne Momente und lässt sich nicht auf Dauer stellen. Daher soll hier vor allem vom dritten Glück die Rede sein, dem Glück der Fülle, jenem umfassenden Glück, das sich der Erfahrung der gesamten Fülle des Lebens verdankt. Ist dieses Glück, um dessen »Fragmente« es hier geht, erklärungsbedürftig? Es umfasst das Leben in all seiner Widersprüchlichkeit zwischen Freuden und Ängsten, Macht und Ohnmacht, Tun und Lassen, Gelingen und Misslingen, Hoffnung und Enttäuschung, Gemeinsamkeit und Einsamkeit, Liebe und Lieblosigkeit, Werden und Vergehen, Unendlichkeit und Endlichkeit, Sinn und Sinnlosigkeit, Glück und – Unglück.

Die gesamte Fülle des Lebens kann nur im Besitz eines Gottes, nicht eines Menschen sein. Dem einzelnen Menschen bleiben jedoch Fragmente übrig, einzelne Stücke des Glücks, mehr oder weniger groß, die auf das Ganze verweisen, auf der glücklichen wie auf der unglücklichen Seite des Glücks. Fragmente der Fülle eines glücklichen Augenblicks. Fragmente als Vorboten eines künftigen Glücks. Fragmente als Fragezeichen eines möglichen oder unmöglichen Glücks. Fragmente als Splitter eines zerbrochenen Glücks. Fragmente bis hin zur Fragwürdigkeit. Dass das Leben überhaupt nur fragmentarisch zu haben sei, davon waren Romantiker wie Novalis und Friedrich Schlegel überzeugt: Daher pflegten sie eine Kunst des Fragments. Fragmente, so wussten sie, offerieren keine endgültigen Wahrheiten, sondern sind Provisorien »bis auf weiteres«. Sie lassen Fragen offen und geben vorläufige Antworten. Widersprüchliches und Unvereinbares koexistiert in ihnen ohne Mühe. Ein Menschsein kommt darin zum Ausdruck, das sich selbst als fragmentarisch erfährt. An diese Tradition will das vorliegende Buch wieder anknüpfen, aufmerksam auf die Polarität des Lebens, die in jedem Fragment erfahrbar ist; hingerissen von der Öffnung des Endlichen ins Unendliche, auf die jedes Fragment verweist. Dass das Leben eines Menschen zu einer stattlichen Sammlung von Fragmenten wird, ist wohl die einzige irdische Möglichkeit, die Erfüllung der Verheißung des Evangeliums nach Johannes 10, 10 zu erleben: Das Leben »in Fülle« (perissón im Griechischen) zu haben, wie dies auch unter romantischen Vorzeichen als erstrebenswert erscheint.

Die Texte erschienen ursprünglich als Kolumnen zur Lebenskunst im Rahmen der Gesellschaft in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag. Einer ersten Sammlung aus den Jahren 2002 bis 2004, 2005 publiziert,[1] folgt hier eine zweite aus den Jahren 2004 bis 2006; ein da capo also, wenngleich mit Variationen. Die kleinen Stücke laden ein zu einer Tagesreise und führen zugleich durch den Kreislauf der Jahreszeiten, wie es einer Pflege der zyklischen Zeit inmitten der linearen Zeit der Moderne entspricht: Frühlingsmorgen, Sommertag, Herbstabend, Winternacht; mit Anklängen an die frühlingshafte Fülle der Sinne, Eindrücken von der sommerlichen Fülle des Fühlens, einigen Gedanken aus der herbstlichen Fülle des Denkens, sowie winterlichen Überlegungen zur Fülle eines Darüberhinaus. Das Gewöhnliche kann dabei zur ungewöhnlichen Angelegenheit werden: Morgens aufzustehen, auf einem Stuhl zu sitzen, Socken anzuziehen, eine alte Jacke auszusortieren. Nicht ausgespart werden die alltäglichen Mühen mit der Wahrheit, dem Misstrauen, dem Ärger, dem Verdrießlichsein. Eigenarten des Sprachgebrauchs fallen auf: Das Leiden des Genitivs am Dativ und die Inflation des Wörtchens »sozusagen«. Es kommt zu merkwürdigen Begegnungen: Mit der Queen in Berlin, mit Seneca in Córdoba, mit Carmen in Sevilla. Unbeachtete Tiere und Pflanzen geraten unversehens ins Blickfeld: Eichelhäher, Birken, Veilchen, Hauswurz. Keine noch so große Kleinigkeit des Lebens wird hier missachtet, selbst eine Anleitung zum »Auszuzeln« von Weißwürsten wird dem Leser noch mitgegeben.

Spürbar werden soll in jeder Zeile der Blick auf die Dinge »mit Liebe«, dieser romantische Akt schlechthin. Das »Negative« wird dabei nicht gemieden: Der Schmerz, das Abschiednehmen, das Altern, der Tod. Unendlich lustvoll ist das Leben. Und es schmerzt unendlich. Mag es in seiner Leere, Überfülle, Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit zuweilen auch als sinnlos verworren erscheinen – durch die Fragmente hindurch sollen Zusammenhänge erkennbar werden, die eine Erfahrung von Sinn vermitteln können.



[1] Wilhelm Schmid, Die Kunst der Balance. 100 Facetten der Lebenskunst, Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2005.