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Titelseite

Für Rosemary Stimola,
Kate Egan und Liz Szabla

  

Teil 1

DIE KRONE

  

1. Kapitel

Gregor saß auf dem Bett und fuhr mit den Fingerspitzen über die Narben. Es gab zwei verschiedene Sorten. Die dünnen Linien, die kreuz und quer über seine Arme verliefen, stammten von den tückischen Ranken, die ihn in den Unterland-Dschungel hatten zerren wollen. Die tieferen Narben, die seinen ganzen Körper und vor allem die Beine übersäten, hatte er den Kiefern der Riesenameisen zu verdanken, gegen die sie gekämpft hatten. Die Narben waren zwar nicht mehr ganz so tief, aber durch ihre silbrig-weiße Farbe fielen sie sofort auf. An T-Shirts oder kurze Hosen war deshalb nicht zu denken. In der kalten Jahreszeit, als man sich sowieso warm anziehen musste, war das egal gewesen, aber jetzt, im Juli, bei über 30 Grad im Schatten, sah das natürlich anders aus.

Er nahm ein Döschen aus Stein von der Fensterbank, schraubte den Deckel ab und verzog das Gesicht. Der fischige Geruch der Salbe verbreitete sich sofort im ganzen Raum. Die Ärzte im Unterland hatten sie ihm verschrieben, damit die Wunden schneller verheilten, aber er hatte sie nicht besonders gewissenhaft benutzt. Eigentlich hatte er kaum einen Gedanken daran verschwendet, bis er eines Tages im Mai in Shorts ins Wohnzimmer gekommen war und die Nachbarin Mrs Cormaci gerufen hatte: »Gregor, du kannst unmöglich mit nackten Beinen rausgehen! Da fangen die Leute doch an, Fragen zu stellen!«

Sie hatte recht. Es gab ungefähr eine Trillion Sachen, die seine Familie sich nicht leisten konnte … und Fragen standen ganz oben auf der Liste.

Während Gregor sich das Zeug auf die Beine schmierte, dachte er sehnsüchtig an den Basketballplatz, die großen Wiesen im Central Park und das Freibad. Wenigstens konnte er ins Unterland gehen. Ein kleiner Trost.

Was für eine Ironie des Schicksals, dass das Unterland, das er immer so gefürchtet hatte, in diesem Sommer eine Zuflucht für ihn geworden war. Die stickige New Yorker Wohnung war viel zu klein für sie alle – Gregor, die ans Bett gefesselte Großmutter, den kranken Vater und Gregors jüngere Schwestern, die achtjährige Lizzie und die dreijährige Boots. Und doch hatte er immer das Gefühl, dass jemand fehlte … der leere Stuhl am Küchentisch … die unbenutzte Zahnbürste im Halter … Manchmal ertappte Gregor sich dabei, wie er ziellos von einem Zimmer ins andere ging, als würde er etwas suchen, und dann merkte er, dass er hoffte, seine Mutter zu finden.

In vielerlei Hinsicht hatte sie es im Unterland besser. Auch wenn sie sich meilenweit unter ihrer Wohnung befand und die Familie schrecklich vermisste. In Regalia, der Stadt der Unterlandmenschen, gab es Ärzte und reichlich gutes Essen, und die Temperatur war immer angenehm. Seine Mutter wurde dort unten behandelt wie eine Königin. Abgesehen davon, dass in Regalia jeden Moment ein Krieg ausbrechen konnte, war es gar kein so übler Ferienort.

Gregor ging ins Bad und wusch sich die Hände mit dem einzigen Mittel, das gegen die Fischsalbe ankam: Scheuerpulver. Dann ging er in die Küche, um Frühstück zu machen.

Dort erwartete ihn eine freudige Überraschung: Mrs Cormaci war schon da, sie verrührte gerade Eier und schenkte Saft ein. Auf dem Tisch stand eine große Packung Donuts mit Puderzucker. Boots saß auf ihrem Kinderstuhl, Puderzucker um den Mund, und mümmelte an einem Donut. Lizzie tat so, als würde sie ihr Rührei essen.

»Hey, gibt’s heute was zu feiern?«, fragte Gregor.

»Lizzie fährt ins Ferienlager!«, sagte Boots.

»Genau, kleines Fräulein«, sagte Mrs Cormaci. »Und wir sorgen dafür, dass sie vor der Abreise noch ein großes Frühstück bekommt.«

»Ein goßes Frühstück«, bekräftigte Boots. Sie fasste mit ihrer klebrigen Pfote in die Packung und hielt Lizzie einen Donut hin.

»Ich hab schon, Boots«, sagte Lizzie. Sie hatte ihren Donut noch nicht mal angerührt. Bestimmt konnte sie vor lauter Reisefieber nichts essen.

»Ich hab aber noch keinen«, sagte Gregor. Er griff Boots’ Handgelenk, führte den Donut zu seinem Mund und biss kräftig hinein. Boots kicherte und bestand darauf, den ganzen Donut an ihn zu verfüttern, wobei sie sein Gesicht mit Puderzucker beschmierte.

Da kam Gregors Vater mit einem leeren Tablett herein.

»Wie geht’s Großmutter?«, fragte Gregor und schaute seinem Vater auf die Hände. Wenn sie zitterten, stand ein schlechter Tag bevor. Aber heute schienen sie ruhig zu sein.

»Ach, ganz gut. Du kennst sie ja, einen anständigen Donut weiß sie immer zu schätzen«, sagte er mit einem Lächeln. Dann bemerkte er, dass Lizzie ihren Teller kaum angerührt hatte. »Sieh zu, dass du etwas in den Magen bekommst, Lizzie. Heute ist ein großer Tag.«

Da platzte es aus Lizzie heraus, als wäre ein Damm gebrochen: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht fahre! Ich muss hierbleiben, Dad! Was ist, wenn irgendwas passiert und ihr mich braucht oder wenn es Mom schlechter geht oder wenn ich nach Hause komme und ihr seid alle weg?« Ihr Atem ging hastig. Gregor sah, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand.

»Das passiert aber nicht, Schätzchen«, sagte sein Vater. Er kniete sich hin und nahm ihre Hände. »Hör zu, uns allen geht’s hier gut, und du wirst es im Ferienlager auch gut haben. Und deiner Mutter geht es von Tag zu Tag besser.«

»Sie möchte, dass du fährst, Liz«, sagte Gregor. »Sie hat bestimmt zwanzigmal wiederholt, dass ich dir das sagen soll. Außerdem kannst du sie ja sowieso nicht sehen und …«

Mit einem Blick brachte sein Vater ihn zum Schweigen. So was Blödes! Wie konnte er nur so was Idiotisches sagen! Lizzie hatte immer wieder versucht, sich zu einem Besuch im Unterland zu überwinden, um ihre Mutter zu sehen. Aber jedes Mal hatte sie schon vor dem Schacht im Wäschekeller eine Panikattacke bekommen. Zitternd und schweißgebadet hatte sie dann neben dem Trockner gekauert und um Atem gerungen. Sie wussten alle, wie gern sie ins Unterland wollte. Sie schaffte es nur einfach nicht.

»Ich meine, tut mir leid, ich wollte bloß …«, stammelte Gregor. Aber es war schon zu spät. Lizzie sah niedergeschmettert aus.

»Deine Schwester ist eben die Einzige in der Familie, die einen Funken Verstand hat«, sagte Mrs Cormaci. Sie flocht Lizzies Zöpfe neu, obwohl sie tadellos aussahen. »Mich würden keine zehn Pferde in dieses Unterland kriegen. Mich nicht.«

Im letzten Frühjahr war Gregor so verzweifelt gewesen, dass er Mrs Cormaci in das unglaubliche Familiengeheimnis eingeweiht hatte. Er hatte ihr alles erzählt, angefangen bei dem mysteriösen Verschwinden seines Vaters vor dreieinhalb Jahren. Er hatte erzählt, wie er Boots im letzten Sommer durch einen Schacht im Wäschekeller gefolgt war und wie sie meilenweit in die Tiefe gefallen waren, bis sie in einer merkwürdigen, dunklen Welt unterhalb von New York gelandet waren – im Unterland. Dort lebten riesige sprechende Tiere – Kakerlaken, Fledermäuse, Spinnen und viele andere – und außerdem blasse, violettäugige Menschen. Sie hatten Regalia erbaut, eine wunderschöne Stadt aus Stein. Mit einigen Tieren waren die Unterlandmenschen befreundet, mit anderen verfeindet, und Gregor fand das alles ziemlich verwirrend. Drei Mal war er jetzt schon im Unterland gewesen, das erste Mal, um seinen Vater zu retten, das zweite Mal, um gegen eine weiße Ratte zu kämpfen, die man den Fluch nannte, und dann noch einmal vor ein paar Monaten, um den Bewohnern im Unterland zu helfen, ein Heilmittel gegen eine furchtbare Pest zu finden. Auch Gregors Mutter hatte sich damit angesteckt, und keiner wusste, wann sie wieder nach Hause konnte. Gregor hatte Mrs Cormaci außerdem von den Prophezeiungen erzählt, in denen er als Krieger bezeichnet wurde – und zwar nicht als irgendein Krieger, sondern als derjenige, der die Regalianer vor dem Untergang retten sollte. Und er hatte ihr anvertraut, dass er sich nach einigen gewaltsamen Auseinandersetzungen auch noch als Wüter erwiesen hatte. Ein Wüter war ein besonders gefährlicher Kämpfer, im ganzen Unterland gab es nur eine Handvoll von ihnen.

Mrs Cormaci hatte ihn kein einziges Mal unterbrochen und nichts zu alldem gesagt. Am Ende war ihr einziger Kommentar: »Na, das schlägt ja dem Fass den Boden aus.«

Das Erstaunliche war, dass sie ihm offenbar glaubte. Natürlich stellte sie ein paar Fragen. Und sie wollte das Ganze noch mal von seinem Vater hören. Aber sie hatte schon lange vermutet, dass in seiner Familie merkwürdige Dinge vorgingen. Als sie die Wahrheit erfuhr, wirkte sie fast erleichtert. Endlich hatte sie eine Erklärung für das Verschwinden von Gregor, seinem Vater und Boots, für Gregors Narben und dafür, dass Boots zu jedem Kakerlak »Hallo« sagte. Dass das Unterland so eine fantastische Welt war, fand Mrs Cormaci nicht weiter befremdlich. Schließlich warb sie auf Handzetteln damit, dass sie die Zukunft aus Tarotkarten lesen konnte. Aber an diesem ersten Abend, als Gregor Mrs Cormaci im Wäschekeller eine riesige sprechende Fledermaus vorgestellt hatte, war sie doch ein wenig aus der Fassung geraten. Sie machte höflich Small Talk mit der Fledermaus, redete mit ihr übers Wetter, und als ein paar Flusen vom Trockner herüberwehten und im Fell der Fledermaus hängen blieben, sagte Mrs Cormaci einfach: »Halt mal still. Du hast da was am Ohr«, und nahm die Flusen weg. Doch als die Fledermaus wieder fort war, musste Mrs Cormaci sich erst mal ins Treppenhaus setzen und verschnaufen.

»Alles in Ordnung, Mrs Cormaci?«, fragte Gregor. Er wollte ja nicht, dass sie einen Herzinfarkt bekam, nur weil er sie in den ganzen Schlamassel mit hineingezogen hatte.

»Ja, ja, alles in Ordnung«, sagte sie und klopfte ihm gedankenverloren auf die Schulter. »Mir kam das Ganze nur irgendwie so unwirklich vor, bis ich die Fledermaus getroffen hab … Und jetzt ist es ein bisschen wirklicher, als ich es mir vorgestellt hatte.«

Von diesem Tag an hatte Mrs Cormaci es sich zur Aufgabe gemacht, für Gregors Familie zu sorgen. Und sie ließen sie gewähren, weil sie auf ihre Hilfe so sehr angewiesen waren.

Jetzt war sie mit Lizzies Zöpfen fertig. »Deine Sachen fürs Ferienlager sind alle gepackt. Wenn du ankommst, gibt es gleich Mittagessen. Soll ich dir den Donut für unterwegs einpacken?«, fragte sie.

»Nein danke, den ess ich sowieso nicht«, sagte Lizzie. »Gregor soll ihn für Ripred mitnehmen.«

»Okay, Liz«, sagte Gregor. Er hatte heute eine Stunde Ultraschallortung bei Ripred. Gregor hielt eigentlich nichts davon, Lizzies Essen an die große Ratte zu verfüttern, aber Lizzie lag viel daran, und außerdem hob es Ripreds Laune.

Mrs Cormaci schüttelte den Kopf. »Da unten gibt es so viele Lebewesen, die es schwer haben – die unter der Pest gelitten haben, die hungern müssen, die angegriffen werden … Warum willst du deinen Donut ausgerechnet dieser gerissenen Ratte schenken, die sehr gut für sich selbst sorgen kann?«

»Weil ich glaube, Ripred ist einsam«, sagte Lizzie leise.

Gregor unterdrückte ein wütendes Schnauben. Sollte Lizzie doch Mitleid mit dem jähzornigen, angriffslustigen Ripred haben.

»Also, für so ein kleines Mädchen hast du wirklich ein riesengroßes Herz«, sagte Mrs Cormaci und drückte sie. »Jetzt putz dir die Zähne, sonst verpasst du noch den Bus.«

Lizzie war froh, dem Frühstückstisch entfliehen zu können. Mrs Cormaci sah ihr kopfschüttelnd nach. »Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Vielleicht tut ihr das Ferienlager gut«, sagte Gregor.

»Bestimmt. Ganz bestimmt«, sagte sein Vater. Aber keiner wirkte so richtig überzeugt.

Wie auch immer, eine Viertelstunde später saß Lizzie im Bus und fuhr zusammen mit anderen New Yorker Kindern in die Sommerferien.

Gregor hatte noch eine Stunde Zeit, bevor der Unterricht bei Ripred losging. Er setzte sich mit seinem Vater und Mrs Cormaci hin, um das zu besprechen, was sie das Familienunternehmen nannten.

In Regalia gab es ein Museum mit lauter Sachen, die zusammen mit ihren unglückseligen Besitzern aus New York heruntergefallen waren. Das ging schon seit einigen Jahrhunderten so, die Sammlung konnte sich also sehen lassen. Weil Gregors Familie in finanziellen Schwierigkeiten steckte, durfte Gregor sich alles nehmen, was ihnen weiterhalf. Am Anfang hatte er die alten Brieftaschen und Geldbörsen durchsucht und so viel Geld zusammengekratzt, wie er finden konnte. Damit hatten sie sich eine ganze Weile über Wasser gehalten.

Aber Mrs Cormaci hatte Größeres vor. »Ich kenne da einen Mann, Mr Otts. Er kauft und verkauft Antiquitäten.« Sie gab Gregor einen Koffer, den er bei seinem nächsten Ausflug ins Unterland vollpacken sollte. Und das tat er. Manche Sachen waren wertlos, doch es fand sich auch ein Ring mit einem großen roten Stein, mit dem sie die Rechnungen für zwei Monate bezahlen konnten. Jetzt ging der Erlös aus dem Ring allerdings zur Neige, deshalb mussten sie den nächsten Verkauf planen. Sie waren sich einig, dass sie es mit der eleganten alten Geige versuchen wollten, die Gregor unter einem Sattel im hinteren Teil des Museums gefunden hatte. Sie lag unversehrt in ihrem Kasten und musste eine Menge wert sein.

Gregor war zwar dankbar für das Geld, das die Sachen brachten, aber so ganz wohl fühlte er sich bei diesen Plünderungen nicht. Er dachte nicht gern an die Brieftaschen, den Ring, die Geige … an ihre ehemaligen Besitzer und das tragische Ende, das diese Menschen im Unterland gefunden hatten. Sicher waren nur sehr wenige gerettet und nach Regalia gebracht worden. Alle anderen waren entweder bei dem Fall ums Leben gekommen oder in den Tunneln den Ratten in die Klauen geraten. Deshalb machte es ihn traurig, das »Familienunternehmen«.

Doch heute konnte er ins Unterland reisen, ohne das Museum zu durchstöbern. Er wollte seine Mutter besuchen, Freunde treffen, und dann gab es noch ein großes Abendessen. Es versprach ein schöner Tag zu werden … wenn er erst mal die Stunde Ultraschallortung bei Ripred hinter sich hätte.

»Mach dich jetzt lieber auf den Weg, wenn du pünktlich da sein willst«, sagte Mrs Cormaci.

»Komm, Boots«, sagte Gregor. »Willst du mit zu Mama?« Er nahm eine Taschenlampe von einem Mantelhaken an der Eingangstür und befestigte sie an seiner Gürtelschlaufe.

»Jaa!«, rief Boots. »Ich hol meine Sandalen!« Aufgeregt stürmte sie los. Im Gegensatz zu Lizzie konnte Boots vom Unterland gar nicht genug kriegen.

Mrs Cormaci bot an, sie in den Wäschekeller zu begleiten und aufzupassen, dass sie nicht gesehen wurden. Als sie an ihrer Wohnung vorbeikamen, legte sie einen kurzen Zwischenstopp ein. Sie verschwand in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte eine halb volle Schüssel Nudelsalat heraus. »Hier«, sagte sie. »Den könnt ihr auch für die Ratte mitnehmen.«

Gregor hielt Lizzies Donut hoch, den er in eine Serviette eingewickelt hatte. »Ripred ist schon versorgt.«

»Heißt das, du brichst dir den Arm, wenn du das hier noch mit runternimmst?«, fragte Mrs Cormaci.

»Nein. Ich seh nur nicht ein, wieso wir ihm eine Schüssel eins a Nudelsalat schenken sollten. Er kann sich sein Essen selber fangen«, sagte Gregor.

»Ich wollte den Salat sowieso wegschmeißen. Ich glaube, die Mayonnaise kippt schon um. Aber das macht Ripred bestimmt nichts aus«, sagte Mrs Cormaci. »Warte, ich hole eine Papiertüte. Ich will nicht, dass die Ratte aus meiner Schüssel schleckt.«

Gregor schüttelte den Kopf. »Sie sind ja schlimmer als Lizzie.« Auch wenn sie Lizzie wegen des Donuts Vorhaltungen gemacht hatte – Gregor wusste es besser. Praktisch jedes Mal, wenn er ins Unterland ging, drängte Mrs Cormaci ihm irgendetwas zu essen für Ripred auf, das angeblich sowieso schon fast verdorben war.

»Na, vielleicht hat sie ja recht. Was hat Ripred schon? Kein richtiges Zuhause, keine Familie, immer am Kämpfen. Weißt du, jeder braucht ein bisschen Freude im Leben. Also, bitte, nimm ihm den Nudelsalat mit«, sagte Mrs Cormaci.

»Na gut«, sagte Gregor. Er wusste nicht, warum er sich so dagegen sträubte, Ripred einen Leckerbissen mitzubringen. Doch, er wusste es. Gregor war nicht gut in Ultraschallortung, und Ripred hatte so wenig Geduld mit ihm, dass Gregor erst unsicher und dann bockig geworden war. Im Grunde hatte er es aufgegeben, die Kunst der Orientierung im Dunkeln zu erlernen, und das wusste Ripred genau. Also beschränkte sich der Unterricht mittlerweile darauf, dass Ripred ihm zwei Stunden lang erzählte, was für ein erbärmlicher, fauler Versager er sei. Und Gregor hatte nicht die geringste Lust, Ripred dafür auch noch mit Leckereien zu belohnen.

Unten im Wäschekeller vergewisserte sich Mrs Cormaci, dass die Luft rein war, dann hielt sie den Daumen hoch. Gregor öffnete das Gitter in der Wand, pfiff einmal, und fast sofort tauchte Nike auf. Boots rannte zu der Fledermaus und streichelte ihr das schwarz-weiß gestreifte Gesicht.

»Sei gegrüßt, Prinzessin«, schnurrte Nike.

»Sei gegrüßt, Pinzessin«, antwortete Boots, und dann lachten sie beide. Das wiederholte sich jetzt ungefähr zum fünfzigsten Mal, aber es erheiterte Boots immer wieder aufs Neue. Gregor nahm an, dass Nike wohl vor allem deshalb lachte, weil Boots es so witzig fand. »Wir sind beide Pinzessinnen!«, sagte sie zu Gregor.

»Ja, das ist … wirklich lustig, Boots«, sagte er und grinste. Als Tochter der Fledermauskönigin war Nike tatsächlich eine Prinzessin. Boots wurde von den Kakerlaken Prinzessin genannt, weil sie sie verehrten, aber eigentlich war das nur ein Spitzname. »Los, ihr Prinzessinnen, ich will nicht zu spät kommen.« Er hob Boots hoch und wandte sich zu Mrs Cormaci: »Bis heute Abend dann?«

»Klar. Und jetzt viel Spaß euch beiden. Ich kümmere mich um alles«, sagte sie.

Plötzlich hatte Gregor ein schlechtes Gewissen, weil er sich wegen des Nudelsalats so angestellt hatte. Wie konnte er sich mit Mrs Cormaci wegen einer Schüssel Nudeln streiten, wo sie im Moment doch die Einzige war, die seine Familie zusammenhielt? »Vielen Dank, Mrs Cormaci«, sagte er.

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was hab ich sonst schon groß zu tun? Und jetzt ab mit euch.«

Die Reise durch die lange Röhre und die dunklen steinernen Tunnel zu dem hell erleuchteten Palast von Regalia verlief schnell und ohne Zwischenfälle. Doch durch die Zankerei um den Nudelsalat hatte Gregor sich verspätet. Als sie in der Hohen Halle gelandet waren, musste Gregor sofort zum Unterricht hetzen. Er sauste die Treppe hinunter und kam an den Krankenzimmern vorbei, aber er hatte noch nicht mal Zeit, bei seiner Mutter reinzuschauen.

Tief unten im Palast schob Gregor vier dicke Riegel aus Stein zur Seite, die eine schwere Tür sicherten, und schlüpfte hindurch. Er ließ die Tür für den Rückweg leicht angelehnt. Dann lief er mehrere Treppen hinunter. Der Rat von Regalia hatte widerstrebend zugestimmt, dass der Unterricht hier stattfinden konnte, wo sie sich zwar innerhalb der Stadtmauern befanden, wo Ripreds Anwesenheit jedoch praktisch allen Menschen verborgen blieb. Zwischen den Ratten und den Menschen gab es schon seit Jahrhunderten immer wieder Krieg. Die Bewohner Regalias hätten es niemals toleriert, dass sich eine Ratte so nah bei ihnen herumtrieb.

Ripred wartete an dem üblichen Treffpunkt, in einer großen kreisförmigen Höhle neben einer Treppe. Er lungerte an einer Wand herum und nagte an einem Knochen. Als Gregor ihn mit der Taschenlampe anstrahlte, blinzelte er und knurrte wütend: »Nimm mir das Ding aus den Augen! Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

Gregor wandte den Strahl ab, gab jedoch keine Antwort. Selbst in dem schummrigen Licht konnte er sehen, wie Ripreds Nase zuckte.

»Was ist das für ein Geruch?«, fragte er.

»Das soll ich dir von Lizzie geben«, sagte Gregor und warf der Ratte den Donut zu.

Ripred fing ihn mühelos mit dem Maul auf und drehte ihn genießerisch hin und her. »Lizzie. Wieso hab ich nie mal mit den sympathischen Mitgliedern deiner Familie zu tun?«, fragte er. »Und was ist in der Tüte?«

»Das ist von Mrs Cormaci«, sagte Gregor.

»Ah, la bella Cormaci«, sagte Ripred seufzend. »Und was schickt die Küchenfee mir heute?«

»Sieh selbst«, sagte Gregor. Er wollte Ripred gerade den Nudelsalat zuwerfen, als er im angrenzenden Tunnel etwas rascheln hörte. Er zuckte zusammen. Außer Ripred und ihm war sonst nie jemand hier unten.

»Ich hab dir gesagt, du sollst dich nicht vom Fleck rühren!«, schnauzte Ripred in Richtung des Tunnels.

Eine kurze Zeit blieb es still, als wollte der Angesprochene den Rückzug antreten. Dann ertönte es schmollend: »Ich hab was gerochen. Was zu essen.« Bei dem Wort »essen« wurde die tiefe Stimme plötzlich zu einem Quieken. Es erinnerte Gregor an seinen Cousin Rodney, den alle aufgezogen hatten, als er in die Pubertät kam und seine Stimme ständig zwischen der eines Kindes und der eines jungen Mannes hin- und hersprang.

»Wer ist das denn?«, fragte Gregor.

»Das ist dein kleiner Freund, der Fluch«, sagte Ripred. »Nachdem er seine letzten beiden Babysitter verstümmelt hat, ist der Job jetzt mir zugefallen.«

»Der Fluch?«, fragte Gregor überrascht. Er hatte die weiße Ratte seit Monaten nicht gesehen. Er erinnerte sich an das Bündel aus weichem weißem Fell, das sich ängstlich in seine Arme geschmiegt hatte. Letztes Jahr im Dezember war Gregor ausgesandt worden, die weiße Ratte zu töten, aber als er gesehen hatte, dass sie noch ein Baby war, hatte er es nicht übers Herz gebracht. Er hatte die kleine Ratte Ripred übergeben.

»Darf ich reinkommen?«, fragte die Stimme vom Tunnel her.

»Ach, warum nicht?«, sagte Ripred. »Komm rein, dann kannst du dem Krieger persönlich dafür danken, dass er dir das Leben gerettet hat.«

Gregor schwenkte den Strahl der Taschenlampe zum Tunneleingang und erwartete eine etwas größere Version des Rattenbabys. Stattdessen stand ihm ein drei Meter hoher Berg aus weißem Fell gegenüber.

2. Kapitel

Gregor blieb der Mund offen stehen. »Oh Mann!« In wenigen Monaten war aus dem kleinen Wesen, das Gregor in den Armen halten konnte, dieser Berg geworden.

»Und er ist noch nicht mal ausgewachsen«, sagte Ripred. »Bis Weihnachten rechnen wir mit weiteren fünfzig bis hundert Zentimetern.«

Wie Schnee, dachte Gregor. Wir rechnen mit weiteren fünfzig bis hundert Zentimetern auf diesem großen weißen Berg.

»Ihr kennt euch ja schon, aber darf ich trotzdem vorstellen?« Ripred zeigte mit dem Schwanz auf Gregor. »Das ist Gregor der Überländer – der Krieger, der sich weigerte, dich zu töten, als er die Gelegenheit dazu hatte.« Dann zeigte Ripred auf den Fluch. »Und das ist die Ratte, die wir den Fluch nennen, obwohl seine Mutter ihm einen so viel lieblicheren Namen gab – Pearlpelt.«

Sein Pelz war weiß wie eine Perle, und wenn Licht darauffiel, schillerte er rosa, blau und grün. Es war im Unterland nicht ungewöhnlich, dass Mäuse und sogar Fledermäuse weißes Fell hatten. Aber es gab nur eine weiße Ratte. Deshalb hatten alle gewusst, dass Pearlpelt die »schneegleiche« Ratte war, die in der »Prophezeiung des Fluchs« erwähnt wurde.

»Hi«, sagte Gregor zu dem Berg.

Die weiße Ratte rutschte unbehaglich hin und her, gab jedoch keine Antwort.

»Also, wie möchtest du genannt werden?«, fragte Gregor.

»Es spielt keine Rolle, wie ich genannt werden möchte. Alle nennen mich den Fluch, nur Ripred nicht. Er macht sich über meinen Namen lustig«, sagte der Fluch. »Er nennt mich Pearlpet oder Pearliegirlie.«

Ripred zuckte nur die Achseln. »Der Name ist schwer auszusprechen, Pearlpelt. Ein richtiger Zungenbrecher. Versuch ihn dreimal schnell hintereinander zu sagen. Na los! Pearlpelt, Pillpet, Pellpott. Siehst du? Keine Chance.«

»Pearlpelt, Pearlpelt, Pearlpelt«, sagte der Fluch schnell. Dabei sah er Ripred fest in die Augen. »Er kann es sagen. Er will mich nur erniedrigen.«

Gregor wusste, dass der Fluch recht hatte. Ripred war ein Meister darin, andere zu erniedrigen. Bis zu der Reise in den Dschungel hatte er sich Gregor gegenüber eigentlich ganz freundlich verhalten, aber im Dschungel war er dann richtig fies zu ihm gewesen, und jetzt, beim Ultraschallunterricht, machte er auf dieselbe Tour weiter. Wenn der Fluch die ganze Zeit mit Ripred zusammen war, musste er wahrscheinlich ständig seine Beleidigungen ertragen. Gregor hatte fast Mitleid mit ihm.

»Beachte ihn einfach nicht. So mache ich das immer«, sagte Gregor.

»Bei dir ist das was anderes. Du bist ein Wüter«, sagte der Fluch. »Wenn ich bloß ein Wüter wäre! Oder wenigstens ausgewachsen. Dann sähe die Sache anders aus.«

»Dann erzähl uns doch mal bitte, was sich verändern wird, wenn du ausgewachsen bist«, sagte Ripred und gähnte.

»Erstens bin ich dann König«, schoss der Fluch zurück.

Ein unbehagliches Gefühl durchfuhr Gregor bei diesen Worten. Er hatte die weiße Ratte damals töten sollen, damit sie nicht an die Macht kam. Eine Prophezeiung hatte davor gewarnt, dass der Fluch großes Unheil über das Unterland bringen könnte. Und jetzt redete er schon davon, dass er König werden wollte. Das verhieß nichts Gutes.

»Ach ja? Und wer hat dir das erzählt?«, sagte Ripred. »Twirltongue?«

Der Fluch senkte den Blick. »Kann schon sein.«

»Sie ist eine Meisterin der Überredungskunst, nicht wahr? Aber ich würde nicht allzu viel auf das geben, was Twirltongue sagt. Mir hat sie einmal eingeredet, ich sei beliebt«, sagte Ripred.

»Und meine anderen Freunde«, sagte der Fluch.

»Deine Freunde«, sagte Ripred angewidert. »Wer dir ein paar Fische zu fressen gibt, ist dein Freund. Und sie flüstern dir Schmeicheleien ins Ohr … wie stark und mutig du bist … dass du eines Tages König sein wirst … Und du schlingst die Fische und die Lügen gierig herunter … du großer weißer Dummkopf … Du weißt ja gar nicht, wer in Wahrheit dein Feind ist.«

»Du bist mein Feind, so viel ist sicher«, stieß der Fluch hervor. »Du bist der Feind eines jeden Nagers. Machst Geschäfte mit elenden Menschen und Fliegern und Huschern. Anstatt darüber nachzudenken, wie du sie umbringen kannst! Twirltongue hat mir erzählt, wie du dich gegen Gorger aufgelehnt hast, weil du glaubtest, du könntest unser Anführer werden. Als würde auch nur eine vernünftige Ratte auf dich hören. Für uns bist du ein Witz! Ich sollte, ich sollte …«

»Was solltest du? Mich töten? Du bist herzlich eingeladen, das zu versuchen, Pearliegirlie«, sagte Ripred.

Und da stürzte sich zu Gregors Überraschung der Fluch mit Gebrüll auf Ripred. Kaum eine Ratte hätte sich das getraut. Ripred war einfach zu gefährlich. Der Fluch mochte zwar einige Zentimeter größer und ein paar Pfund schwerer sein als Ripred, aber wie konnte er sich ernsthaft einbilden, er hätte eine Chance gegen die ältere Ratte? Gregor flüchtete schnell zur Treppe, um den Zähnen und Klauen der beiden aus dem Weg zu gehen. Der Fluch kämpfte wütend, doch er bekam Ripred gar nicht erst zu fassen. Ohne sichtliche Anstrengung scheuchte Ripred ihn durch die Höhle. Trotzdem hatte Gregor, als er den Kampf beobachtete, zum ersten Mal Angst vor dem Fluch. Nicht wegen seiner Größe oder wegen der Prophezeiung, sondern weil er Ripred so wild entschlossen angriff. Er war entweder sehr mutig oder sehr dumm, oder aber er überschätzte seine Kräfte maßlos. Jede dieser Eigenschaften war beängstigend bei einem Tier, das nach Ansicht der Menschen eines Tages das Unterland zerstören könnte.

»Also gut, jetzt komm mal wieder runter«, sagte Ripred. »Ich fange an, mich zu langweilen, und wenn ich mich langweile, bin ich gefährlich.«

Aber der Fluch brüllte und stürzte sich erneut auf ihn.

»Ich hab gesagt, du sollst aufhören«, sagte Ripred und wich seinem Angreifer so geschickt aus, dass dieser mit dem Kopf gegen die Wand krachte. Jetzt hielt der Fluch wenigstens mal für einen Moment inne. »Du hörst immer erst auf, wenn du dir wehtust.«

Der Schlag hatte offenbar wehgetan, denn der Fluch gab auf. Er saß vornübergebeugt da und rieb sich mit den Vorderpfoten über die Augen. Zu Gregors Verblüffung fing er an zu weinen. Nicht nur ein bisschen Schniefen, sondern heftiges Schluchzen.

»Ach, wie schön. Die große Flut«, sagte Ripred.

Es war schrecklich, den Fluch weinen zu sehen. Von der riesigen, angriffslustigen Ratte war nicht mehr viel übrig. Jetzt wirkte er wie ein übergroßes Kind, das man geärgert hatte. »Warum lässt du ihn nicht in Ruhe, Ripred?«, sagte Gregor.

»Weil er mich hasst!«, winselte der Fluch. »Er hat mich immer gehasst. Er hat mich gezwungen, mit ihm zu kommen. Er hat mich gezwungen, meine Freunde zu verlassen. Mein ganzes Leben habe ich in seiner Gefangenschaft verbracht.«

»Das erzählen sie dir? Deine tollen Freunde?«, sagte Ripred. »Haben sie dir auch erzählt, dass ich dich verschont und dich großgezogen habe? Hast du nicht immer genug zu essen bekommen? Habe ich dich nicht vor der Pest geschützt? Und jetzt willst du dich über mich beschweren?«

»Du hast mich nicht großgezogen«, sagte der Fluch. »Das war Razor. Er hat sich um mich gekümmert.«

»Ja, er hat sich um dich gekümmert, und wie hast du es ihm gedankt? Erzähl es dem Krieger, bevor er allzu großes Mitleid mit dir bekommt. Na los, erzähl’s ihm!«, rief Ripred.

Doch der Fluch sagte nichts mehr. Stattdessen nahm er den langen rosa Schwanz zwischen die Vorderpfoten und begann, am Schwanzende zu nuckeln.

»Oh, buhu, buhu, der arme, kleine, misshandelte Fluch. Dabei hat Razor ihn behandelt wie sein eigen Fleisch und Blut. Hat gehungert, damit er zu fressen hatte, hat ihn beschützt und versucht ihm beizubringen, wie man im Unterland überlebt. Und wo ist Razor jetzt? Tot. Und warum? Weil Pearlpelt ihn wegen eines toten Krabblers umgebracht hat«, sagte Ripred.

»Das war keine Absicht«, winselte der Fluch. »Ich hatte Hunger. Ich hab nicht gedacht, dass Razor sterben würde.«

»Wenn du ihn von der Klippe stößt?«, sagte Ripred. »Na, da sterben doch wohl die meisten.«

»Ich hab nicht gedacht, dass er von der Klippe stürzen würde. Ich hab ihn nicht so doll gestoßen«, sagte der Fluch. Es klang undeutlich, weil er noch immer seine Schwanzspitze im Maul hatte.

»Und dann hast du versucht, ihn aufzufressen, um die Beweise zu vernichten.« Voller Abscheu wandte Ripred sich zu Gregor. »So haben wir ihn gefunden. Über und über mit Razors Blut beschmiert – er machte sich gerade über die Leber her.«

Gregor spürte, wie sich sein Magen bei der Vorstellung zusammenkrampfte. Plötzlich sah er den Fluch mit anderen Augen.

»Nein, nein, nein, nein«, sagte der Fluch. Jetzt nuckelte er nicht nur, er kaute auf seinem Schwanz herum, bis er blutete.

»Doch, doch, doch, doch. Erst neulich hast du Clawsin ein Auge ausgekratzt und Ratriff ein Vorderbein ausgerissen. Warum? Nicht mal das kannst du mir sagen! Und nun hab ich dich am Hals, weil kein anderer dich erträgt. Hör auf, an deinem Schwanz zu nuckeln!«, platzte Ripred genervt heraus. »Ein feiner König bist du! Glaubst du im Ernst, jemand befolgt Befehle von einem, der an seinem Schwanz nuckelt?«

»Vielleicht tun sie das schon«, zischte der Fluch zurück. »Du hast doch keine Ahnung! Vielleicht tun sie das schon!« Mit einem Satz sprang die weiße Ratte aus der Höhle und war verschwunden.

»Du wartest dort, wo ich dir gesagt habe!«, brüllte Ripred ihm nach. Doch es kam keine Antwort, nur die Krallen des Fluchs waren zu hören, als er wegrannte. »Wenn er die Stelle denn findet«, sagte Ripred und seufzte. »Der verläuft sich ja schon, wenn er nur einmal blinzelt.«

Ripred ließ sich ein Stück von Gregor entfernt an der Felswand niedersinken und wartete eine Weile, ehe er wieder sprach. »So, er ist außer Hörweite. Nun hast du ihn also gesehen, Überländer. Was hast du für einen Eindruck?«

Gregor brauchte einen Moment, ehe er antworten konnte. Innerhalb weniger Minuten hatte er die unterschiedlichsten Empfindungen gehabt: erst der Schreck, den Fluch zu sehen, Unbehagen wegen seines herrischen Gehabes, Angst vor seiner Kühnheit und dann Mitleid, weil er so unsicher wirkte, und schließlich Abscheu, weil er seinen eigenen Ziehvater umgebracht hatte. »Er ist total verkorkst«, sagte Gregor endlich.

»Er ist gefährlich verkorkst, und wir haben ihn am Leben gelassen«, sagte Ripred. »Du, weil du kein Junges töten konntest. Ich, weil ich glaubte, wenn ich ihn töte, würde ich damit für alle Zeit den Weg zum Frieden verbauen. Du hattest recht, als du sagtest, wenn ich ihn töten würde, hätte ich keine Anhänger.«

Plötzlich fiel Gregor auf, dass er gar nicht genau wusste, was Ripred vorhatte. Als sie sich kennenlernten, hatte Ripred erklärt, er wolle den Rattenkönig Gorger stürzen. Dabei hatte Gregor ihm geholfen. Doch was hatte Ripred jetzt im Sinn?

»Willst du selbst König werden, Ripred?«, fragte Gregor.

»Eigentlich nicht«, sagte die Ratte, und es klang beinahe wie ein Seufzer. »Aber ich will, dass der Krieg endlich aufhört. Traust du dem Fluch zu, dass er das schafft?«

»Nein«, sagte Gregor.

»Tja, er will die Krone, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er sie nicht bekommt. Was sollen wir also tun?«, sagte Ripred.

»Tun?« Gregor hatte keine Ahnung, was man gegen den Fluch tun könnte.

Ripred beugte sich zu Gregor, er sprach jetzt eindringlich. »Erst dachte ich, du hättest vielleicht recht. Dass ich ihm etwas anderes beibringen könnte als das, was ihm vorherbestimmt ist. Aber er kam zu spät zu mir. Da hatte sein Vater ihn bereits geprägt.«

»Sein Vater?«, fragte Gregor.

»Snare. Du hast ihn kennengelernt. Du hast gesehen, wie er und die Mutter des Fluchs bis auf den Tod gegeneinander gekämpft haben«, sagte Ripred.

»Ach so …« Gregor erinnerte sich an den schrecklichen Kampf im Irrgarten zwischen Goldshard, der Mutter des Fluchs, und der grauen Ratte namens Snare. Gregor hätte nie gedacht, dass Snare der Vater des Fluchs war. Er hatte so gar nichts Väterliches an sich gehabt.

»Snare war ein richtiger Fiesling, das fanden alle. Es ist ein Rätsel, weshalb Goldshard sich überhaupt mit ihm eingelassen hat. Ich habe sie gewarnt, aber sie wollte nicht auf mich hören. Doch sie hat es bereut. Hast du dich nicht gefragt, wo die anderen Ratten des Wurfs waren, mit denen der Fluch zusammen geboren wurde?«, fragte Ripred.

»Nein«, sagte Gregor. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte, kam es ihm merkwürdig vor, dass der Fluch das einzige Rattenbaby gewesen sein sollte.

»Snare hat sie umgebracht. Vor den Augen Goldshards und des Fluchs. Er wollte nicht, dass sie dem Fluch die Milch streitig machten«, sagte Ripred. »Dabei war das ganz unnötig. Jede Familie hätte die Jungen aufgenommen.«

»Wie schrecklich«, sagte Gregor.

»Der Fluch kann sich auch daran erinnern. Auch dass er von Snare geschlagen wurde. Und dass seine Eltern sich gegenseitig umgebracht haben«, sagte Ripred. »Man könnte meinen, er wäre noch zu klein gewesen, aber man braucht bloß Snares Namen zu erwähnen, wenn man ihn zittern sehen will.«

»Glaubst du wirklich, er könnte König werden?«, fragte Gregor.

»Er wird Anhänger finden, weil er der Fluch ist. Er hat das weiße Fell und die Größe und genug Hass in sich, um das Unterland, wie wir es kennen, auszulöschen. Die meisten Ratten werden über sein unausgeglichenes Wesen hinwegsehen, weil er ihnen genau das erzählen wird, was sie hören wollen. Sie haben so lange gehungert und so viele an die Pest verloren … vor allem die Kleinen. Nein, den Nagern wird es gleich sein, wer er ist und was er tut, wenn er nur ihre Rachsucht stillt«, sagte Ripred.

Bei Ripreds Worten lief es Gregor kalt den Rücken hinunter. Er versuchte die riesige weiße Ratte – schmollend, bösartig, brutal und jämmerlich – mit dem Baby in Einklang zu bringen, das er verschont hatte. Er dachte daran, wie die kleine weiße Ratte ihre tote Mutter angestupst hatte, damit sie antwortete. »Vielleicht, wenn Goldshard nicht gestorben wäre«, sagte Gregor. »Vielleicht hätte er dann einen besseren Charakter.«

»Aber sie ist gestorben, also werden wir das nie erfahren«, sagte Ripred. Er schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder an die Wand. »Razor hat gut für ihn gesorgt. Und was für Schlüsse du aus unserer kleinen Auseinandersetzung von vorhin auch ziehen magst – ich habe ihn, als er klein war, nicht schlecht behandelt.« Ripreds Blick bohrte sich in die Dunkelheit. Mit den Vorderfüßen kämmte er sich nervös das Brustfell und glättete es um die große Narbe herum, die er von der Reise zurückbehalten hatte, auf der sie Gregors Vater gerettet hatten. Ripred ließ die Schultern hängen, als würde er von einer schweren Last niedergedrückt. Er sah unglücklich aus.

Gregor dachte daran, dass Mrs Cormaci gesagt hatte, jeder brauche ein bisschen Freude im Leben. Er hielt Ripred die Tüte mit dem Nudelsalat hin. »Hier.«

Ripred nahm sie und steckte die Schnauze hinein. Nach ein paar Bissen knüllte er die Papiertüte zusammen und aß auch sie auf. Das Essen schien seine Laune zu heben. Seine Muskeln entspannten sich, und er seufzte ergeben. »Hm. Tja, ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig. Vom Warten wird es auch nicht besser. Bringen wir es also hinter uns.«

»Was?«, fragte Gregor. »Was sollen wir tun?«

»Hast du mir nicht zugehört?«, sagte Ripred.

Gregor hatte zugehört, aber er begriff noch immer nicht. »Ich sehe ja ein, dass der Fluch ein Problem ist …«, begann er.

Ripred legte Gregor eine Pfote auf die Schulter und schnitt ihm das Wort ab. Gregor sah sein Spiegelbild in den glänzenden schwarzen Augen der Ratte. Winzig und verzerrt.

»Wir müssen ihn umbringen, Krieger«, flüsterte Ripred. »Je eher, desto besser.«