Marc Degens

Für mich

SuKuLTuR
2013

Herzlichen Dank an Florian Illies und David Wagner

GANZ ALLEIN FÜR MICH

Drei Wochen vor Beginn der Sommerferien kam der Beschluß der Klassenkonferenz: Ich wurde nicht versetzt. Die Sache war eindeutig, eine Fünf in Englisch und in Deutsch sogar ein Ungenügend. An dem Morgen, an dem das Schreiben im Briefkasten lag, war mein Stiefvater zu Hause. Für vierzehn Tage hatte der Arzt ihn wieder krank geschrieben, trotzdem schuftete er von früh bis spät in der Wohnung oder im Garten, zur Zeit tapezierte er das Schlafzimmer. Ich kam direkt aus der Schule, und noch bevor ich die Wohnungstür geschlossen hatte, hörte ich seinen Befehl. Ich solle ins Wohnzimmer kommen, es gäbe etwas zu besprechen. Mein Stiefvater saß auf der Couch, er zündete sich eine Zigarette an, der Fernseher lief, auf dem großen Glastisch vor ihm standen drei leere Flaschen Bier. Daneben lag der Brief. Ich setzte mich an den äußersten Rand des Sofas. Was folgte, war keine Standpauke, eher ein verkümmertes Gleichnis. Zum ersten Mal seit vielen Jahren erzählte mein Stiefvater von sich und seiner Schulzeit. Er sei ein sehr guter und fleißiger Schüler gewesen, natürlich, und hätte später gern das Gymnasium besucht, logisch, aber das ging damals nicht, ja, und deshalb sitze er nun hier. Ich begriff und nickte: Nein, unter keinen Umständen wollte ich ebenso enden.