Hanser E-Book

 

Per Olov Enquist

 

Der Besuch

des Leibarztes

 

Roman

 

Aus dem Schwedischen von

Wolfgang Butt

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Livläkarens Besök

1999 bei Norstedts in Stockholm

 

Der Verlag dankt dem Swedish Institute

für die Förderung der Übersetzung.

 

 

ISBN 978-3-446-24250-0

© Per Olov Enquist 1999

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München Wien 2001/2013

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Inhalt

 

 

Teil 1

Die Vier

 

Kapitel 1   Der Keltertreter

Kapitel 2   Der Unverwundbare

Kapitel 3   Das englische Kind

Kapitel 4   Die Herrscherin des Universums

 

 

Teil 2

Der Leibarzt

 

Kapitel 5   Der Schweigsame

Kapitel 6   Der Reisegenosse

 

 

Teil 3

Die Liebenden

 

Kapitel 7   Der Reitlehrer

Kapitel 8   Ein lebendiger Mensch

Kapitel 9   Rousseaus Hütte

 

 

Teil 4

Der vollendete Sommer

 

Kapitel 10   Im Labyrinth

Kapitel 11   Ein Kind der Revolution

Kapitel 12   Der Flötenspieler

Kapitel 13   Der Aufstand der Matrosen

 

 

Teil 5

Maskerade

 

Kapitel 14   Die letzte Mahlzeit

Kapitel 15   Todestanz

Kapitel 16   Das Kloster

Kapitel 17   Der Keltertreter

Kapitel 18   Der Strom

 

 

Epilog

 

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Denn jeder Mensch ist berufen, selbst zu denken.«

Immanuel Kant (1783)

 

»Der König vertraute mir an, daß es eine Frau sei, die auf geheimnisvolle Weise das Universum lenke. Desgleichen, daß es einen Kreis von Männern gebe, die dazu ausersehen seien, alles Böse in der Welt zu tun, und daß sieben unter ihnen, von denen er einer sei, besonders auserwählt seien. Fasse er Freundschaft zu jemandem, beruhe das darauf, daß auch dieser jenem Kreis von Auserwählten angehöre.«

U.A. Holstein: Memoiren

 

Teil 1

Die Vier

 

Kapitel 1

Der Keltertreter

1.

Am 5. April 1768 wurde Johann Friedrich Struensee als Leibarzt des dänischen Königs Christian VII. angestellt und vier Jahre später hingerichtet.

Zehn Jahre danach, am 21. September 1782, als der Ausdruck »die Struenseezeit« bereits ein Begriff geworden war, berichtete der englische Gesandte in Kopenhagen, Robert Murray Keith, seiner Regierung über eine Begebenheit, deren Augenzeuge er gewesen war. Er fand die Begebenheit bestürzend.

Deshalb berichtete er.

Keith hatte eine Vorstellung des Hoftheaters in Kopenhagen besucht. Unter den Zuschauern waren auch der König, Christian VII., sowie Ove Høegh-Guldberg, der eigentliche politische Machthaber in Dänemark, de facto Alleinherrscher.

Er hatte den Titel »Staatsminister« angenommen.

Der Bericht handelt von der Begegnung des Gesandten Keith mit dem König.

Keith gibt einleitend seinen Eindruck vom Äußeren des erst dreiunddreißigjährigen Königs Christian VII. wieder: »Er sieht schon wie ein alter Mann aus, sehr klein, abgemagert, mit eingefallenem Gesicht, und seine brennenden Augen zeugen von seinem kränklichen Geisteszustand.« Der, wie er schreibt, »geisteskranke« König Christian war vor dem Beginn der Vorstellung durchs Publikum geirrt, murmelnd und mit eigentümlichen Gesichtszuckungen.

Guldberg hatte die ganze Zeit ein wachsames Auge auf ihn geworfen.

Das Bemerkenswerte war das Verhältnis zwischen den beiden gewesen. Es ließ sich als das eines Pflegers und seines Kranken beschreiben, oder als das eines Geschwisterpaars, oder als sei Guldberg ein Vater mit einem ungehorsamen oder kranken Kind; aber Keith gebraucht die Worte »fast liebevoll«.

Gleichzeitig schreibt er, daß die beiden auf eine »fast perverse« Art und Weise verbunden zu sein schienen.

Das Perverse war nicht, daß die beiden, die während der dänischen Revolution, wie ihm ja bekannt war, so wichtige Rollen gespielt hatten, jetzt in dieser Weise voneinander abhängig waren. Das »Perverse« war gewesen, daß der König sich wie ein furchtsamer, aber gehorsamer Hund verhalten hatte, und Guldberg wie dessen strenger, aber liebevoller Herr.

Die Majestät hatte sich auf ängstliche Weise unterwürfig gezeigt, beinah zu Ohrfeigen einladend. Die Hofgesellschaft hatte dem Monarchen keine Ehrerbietung erwiesen, sondern ihn eher ignoriert, oder war lachend zur Seite getreten, wenn er sich näherte, als wolle sie der Peinlichkeit seiner Anwesenheit entgehen.

Wie bei einem lästigen Kind, dessen man seit langem überdrüssig ist.

Der einzige, der sich des Königs angenommen hatte, war Guldberg gewesen. Der König hatte sich ständig drei, vier Meter hinter Guldberg gehalten, war ihm unterwürfig gefolgt, offenbar darum bemüht, nicht verlassen zu werden. Zuweilen hatte Guldberg mit Handbewegungen oder Mienen dem König kleine Zeichen gegeben. Jedesmal wenn dieser zu laut gemurmelt, sich störend aufgeführt oder zu weit von Guldberg fortbewegt hatte.

Auf ein solches Zeichen hin war König Christian eilends und gehorsam »herbeigetrippelt«.

Einmal, als das Murmeln des Königs besonders laut und störend war, trat Guldberg zu ihm, ergriff sanft seinen Arm und flüsterte ihm etwas zu. Daraufhin fing der König an, sich zu verbeugen, mechanisch, immer wieder, mit ruckhaften, fast spastischen Bewegungen, als sei der dänische König ein Hund, der seinem geliebten Herrn seine völlige Unterwerfung und Ergebenheit bezeugen wolle. Er verbeugte sich so lange, bis Guldberg mit einem erneuten Flüstern die eigentümlichen königlichen Körperbewegungen zum Stillstand brachte.

Danach hatte Guldberg dem König freundlich die Wange gestreichelt und wurde dafür mit einem von Dankbarkeit und Ergebenheit derart erfüllten Lächeln belohnt, daß sich die Augen des Gesandten Keith mit Tränen füllten. Die Szene, schreibt er, sei von so verzweifelter Tragik gewesen, daß es fast unerträglich war. Er hatte Guldbergs Freundlichkeit oder, wie er sich ausdrückt, »verantwortungsvolle Fürsorge für den kleinen kranken König« beobachtet und von der Verachtung und dem höhnischen Lachen, die das übrige Publikum zur Schau trug, bei Guldberg nichts bemerkt. Dieser schien als einziger für den König Verantwortung zu übernehmen.

Ein Ausdruck aber wiederholt sich in dem Bericht: »wie ein Hund«. Man behandelte den absoluten Herrscher Dänemarks wie einen Hund. Im Unterschied zu den anderen schien Guldberg eine liebevolle Verantwortung für diesen Hund zu zeigen.

»Sie zusammen zu sehen – und beide waren ihrer physischen Gestalt nach eigentümlich kleinwüchsig und verwachsen – war für mich ein erschütterndes und eigentümliches Erlebnis, weil die gesamte Macht im Land formell und praktisch von diesen beiden sonderbaren Zwergen ausging.«

Der Bericht hält sich jedoch vor allem bei dem auf, was im Verlauf und im Anschluß an die Theatervorstellung geschah.

Während der Vorstellung, man gab ein Lustspiel des französischen Dichters Gresset, Le méchant, war König Christian plötzlich von seinem Platz in der ersten Reihe aufgestanden, auf die Bühne gestolpert und hatte begonnen zu agieren, als sei er einer der Schauspieler. Er hatte posiert wie ein Schauspieler und Sätze rezitiert, bei denen es sich um Repliken handeln konnte; die Wörter »tracasserie« und »anthropophagie« waren zu verstehen gewesen. Keith war besonders der zweite Ausdruck aufgefallen, der, wie er wußte, Kannibalismus bedeutete. Der König hatte sich anscheinend lebhaft in das Stück hineinversetzt und glaubte, einer der Schauspieler zu sein; aber Guldberg war ganz ruhig auf die Bühne gestiegen und hatte freundlich die Hand des Königs genommen. Dieser war darauf sofort verstummt und hatte sich wieder zu seinem Platz führen lassen.

Das Publikum, das ausschließlich aus Mitgliedern der Hofgesellschaft bestand, schien an diese Art von Unterbrechung gewöhnt zu sein. Niemand hatte mit Bestürzung reagiert. Vereinzeltes Lachen war zu hören gewesen.

Nach der Vorstellung wurde Wein serviert. Es hatte sich so ergeben, daß Keith in der Nähe des Königs stand. Dieser hatte sich an Keith gewandt, in dem er offenbar den englischen Gesandten erkannte, und stammelnd versucht, ihm den zentralen Gehalt des Stücks zu erklären. Das Stück handele davon, sagte der König zu mir, daß diese Menschen am Hof so tief in Bosheit versunken seien, daß sie Affen oder Teufeln glichen; sie ergötzten sich am Unglück anderer und beweinten deren Glück, dies sei zur Zeit der Druiden Kannibalismus genannt worden, Anthropophagie. Deshalb befänden wir uns unter Kannibalen.

Der ganze »Ausbruch« des Königs sei, in Anbetracht der Tatsache, daß er von einem Geisteskranken kam, sprachlich bemerkenswert gut formuliert gewesen.

Keith hatte nur genickt und eine interessierte Miene aufgesetzt, als sei alles, was der König sagte, interessant und vernünftig. Doch war ihm aufgefallen, daß Christians Analyse des satirischen Inhalts des Stücks nicht ganz falsch gewesen war.

Der König hatte geflüstert, als vertraue er Keith ein wichtiges Geheimnis an.

Guldberg hatte ihr Gespräch die ganze Zeit aus einigen Metern Abstand mit Wachsamkeit oder Unruhe beobachtet. Er hatte sich ihnen langsam genähert.

Christian sah dies und versuchte, das Gespräch zu beenden. Mit lauter Stimme, fast provokativ, rief er:

»Man lügt. Lügt! Brandt war ein kluger, aber wilder Mann. Struensee war ein feiner Mann. Nicht ich habe sie getötet. Verstehen Sie?«

Keith hatte sich lediglich stumm verneigt. Christian fügte noch hinzu:

»Aber er lebt! Man glaubt, er sei hingerichtet worden! Aber Struensee lebt, wußten Sie das?«

Zu diesem Zeitpunkt war Guldberg ihnen so nahe gekommen, daß er die letzten Worte hören konnte. Er hatte den König fest am Arm gefaßt und mit einem steifen, aber beruhigenden Lächeln gesagt:

»Struensee ist tot, Majestät. Das wissen wir doch, oder? Wissen wir das nicht? Darauf haben wir uns doch geeinigt? Oder?«

Der Tonfall war freundlich, aber zurechtweisend. Christian hatte daraufhin seine eigentümlichen mechanischen Verbeugungen wieder aufgenommen, dann aber innegehalten und gefragt:

»Aber man spricht doch von der Struenseezeit? Nicht von der Guldbergzeit. Der Struenseezeit!!! Eigenartig!!!«

Guldberg hatte den König einen Augenblick lang schweigend betrachtet, als wisse er nicht, was er sagen solle und müsse die Antwort schuldig bleiben. Keith meint, er habe angespannt gewirkt, oder empört; doch dann hatte Guldberg sich wieder gefaßt und ganz ruhig gesagt:

»Majestät müssen sich kalmieren. Wir meinen, daß Majestät jetzt das Bett aufsuchen sollten, um zu schlafen. Ganz bestimmt meinen wir das.«

Anschließend hatte er eine Geste mit der Hand gemacht und sich entfernt. Christian hatte daraufhin seine manischen Verbeugungen wieder aufgenommen, dann jedoch innegehalten, wie in Gedanken, sich dem Gesandten Keith zugewandt und mit vollkommen ruhiger und ganz und gar nicht überspannter Stimme gesagt:

»Ich bin in Gefahr. Deshalb muß ich jetzt meine Wohltäterin aufsuchen, die Herrscherin des Universums.«

Wenige Minuten später war er verschwunden. Dies war die gesamte Episode, wie der englische Gesandte Keith sie im Bericht an seine Regierung beschrieb.

2.

Kein Monument erinnert heute in Dänemark an Struensee.

Im Laufe seines Besuchs in Dänemark wurde eine große Anzahl von Porträts von ihm angefertigt: Grafiken, Bleistiftzeichnungen und Ölbilder. Weil die Porträts vor seinem Tod entstanden, sind die meisten idealisiert und keines infam. Das ist auch natürlich; vor dem Besuch hatte er keine Macht, da gab es keinen Grund, ihn zu verewigen, nach seinem Tod wollte niemand sich daran erinnern, daß er existiert hatte.

Warum sollte ihm auch ein Denkmal errichtet werden? Ein Reiterstandbild etwa?

Von allen Herrschern Dänemarks, die so oft zu Pferde verewigt wurden, war er sicher der beste Reiter und derjenige, der Pferde am meisten liebte. Als Struensee zum Schafott auf Østre Fælled geführt wurde, war der General Eichstedt, vielleicht um seiner Verachtung Ausdruck zu geben oder in einem Akt subtiler Grausamkeit gegenüber dem Verurteilten, auf Struensees eigenem Pferd Margrethe vorübergeritten, einem Schimmel, dem Struensee diesen für ein Pferd ungewöhnlichen Namen selbst gegeben hatte. Doch falls Eichstedt beabsichtigt hatte, dem Verurteilten einen zusätzlichen Schmerz zuzufügen, so schlug dies fehl; Struensees Gesicht hatte sich aufgehellt, er war stehengeblieben, hatte die Hand gehoben, als wolle er dem Pferd das Maul tätscheln, und ein schwaches, beinahe glückliches Lächeln war über sein Gesicht geglitten, als hätte er geglaubt, das Pferd sei gekommen, um Abschied von ihm zu nehmen.

Er hatte dem Pferd das Maul streicheln wollen, war aber nicht nah genug herangekommen.

 

Aber warum ein Reiterstandbild? Nur Sieger wurden damit bedacht.

Man könnte sich ja ein Reiterstandbild von Struensee auf Fælleden denken, wo er hingerichtet wurde, auf seinem Pferd Margrethe, das er so liebte, auf dem Feld, das es noch heute dort gibt und das für Demonstrationen und Volksvergnügungen dient, neben dem Stadion, ein Feld für Sport und Feste, fast wie die königlichen Parks, die Struensee einst einem Volk öffnete, das dafür wenig Dankbarkeit empfand. Fælleden gibt es noch heute, ein wunderbares, noch unbebautes Feld, wo Niels Bohr und Heisenberg an einem Oktoberberabend 1941 ihre berühmte Wanderung unternahmen und das rätselhafte Gespräch führten, als dessen Ergebnis Hitler nie seine Atombombe bauen sollte; ein Scheideweg der Geschichte. Es existiert noch heute, auch wenn das Schafott verschwunden ist, ebenso wie die Erinnerung an Struensee.

Und kein Reiterstandbild erinnert an einen Verlierer.

Guldberg bekam ebenfalls kein Reiterstandbild.

Dabei war er doch der Sieger und derjenige, der die dänische Revolution zerschlug; aber man errichtet kein Reiterstandbild für einen kleinen Emporkömmling, der Høegh hieß, bevor er den Namen Guldberg annahm, und der Sohn eines Leichenbestatters aus Horsens war.

Emporkömmlinge waren sie übrigens beide, aber wenige haben so deutliche Spuren in der Geschichte hinterlassen wie sie; Reiterstandbilder, wenn man sie mag, verdienen beide. »Niemand spricht von der Guldbergzeit«: natürlich war es ungerecht.

Guldberg hätte zu recht reagiert. Er war doch der Sieger. Die Nachwelt sollte tatsächlich von der »Guldbergzeit« sprechen. Sie dauerte zwölf Jahre.

Dann endete auch sie.

3.

Guldberg hatte gelernt, die Verachtung mit Gelassenheit zu tragen.

Die Feinde kannte er. Sie redeten vom Licht, verbreiteten aber Dunkel. Seine Feinde meinten sicher, die Zeit Struensees werde nie zu Ende gehen. Es war ihre charakteristische Infamie und ganz ohne Bezug zur Wirklichkeit. Man wünschte, es wäre so. Aber er hatte sich stets zu beherrschen gewußt, zum Beispiel wenn ein englischer Gesandter zuhörte. Dazu war man gezwungen, wenn man äußerlich unbedeutend war.

Guldberg war äußerlich unbedeutend. Seine Rolle in der dänischen Revolution und der Zeit danach war jedoch nicht unbedeutend. Guldberg hatte sich immer gewünscht, daß eine Schilderung seines Lebens mit den Worten »Guldberg hieß ein Mann« eingeleitet würde. Das war der Ton der isländischen Saga. In der isländischen Saga beurteilte man die Größe eines Mannes nicht nach seinem Äußeren.

Guldberg war einhundertachtundvierzig Zentimeter groß, seine Haut war grau und vorzeitig gealtert, von kleinen Falten durchzogen, die er schon in jungen Jahren bekommen hatte. Er schien vorzeitig ein alter Mann geworden zu sein; deshalb achtete man ihn zuerst gering und übersah ihn wegen seiner Bedeutungslosigkeit, später fürchtete man ihn.

Als er Macht bekam, lernte man, von seinem unbedeutenden Äußeren abzusehen. Als er die Macht übernommen hatte, ließ er sich mit eisernem Kiefer abbilden. Die besten Bilder von ihm stammen aus der Zeit, als er die Macht hatte. Sie bringen sein Inneres zum Ausdruck, das groß war, und mit eisernem Kiefer. Die Bilder demonstrieren seine Brillanz, Bildung und Härte, nicht sein Äußeres. Das war auch richtig so. Das war, meinte er, die Aufgabe der Kunst.

Seine Augen waren eisgrau wie die eines Wolfs, er blinzelte nie und blickte unverwandt auf den, mit dem er sprach. Bevor er die dänische Revolution niederschlug, nannte man ihn die »Eidechse«.

Danach tat man es nicht mehr.

Guldberg hieß ein Mann, von kleinem äußeren Wuchs, aber erfüllt von innerer Größe; das war der richtige Ton.

Er benutzte selbst nie den Ausdruck »die dänische Revolution«.

 

Auf den Porträts, die es von ihnen gibt, haben sie alle sehr große Augen.

Weil die Augen als Spiegel der Seele galten, wurden sie sehr groß gemalt, allzu groß, sie scheinen aus den Gesichtern herauszuquellen, sie sind glänzend, einsichtsvoll, die Augen sind bedeutend, fast grotesk aufdringlich. In den Augen wird ihr Inneres dokumentiert.

Das Deuten der Augen ist Sache des Betrachters.

 

Guldberg selbst hätte den Gedanken an ein Reiterstandbild voller Abscheu von sich gewiesen. Er haßte Pferde und fürchtete sich vor ihnen. Er hatte nie in seinem Leben auf einem Pferd gesessen.

Seine Bücher, sein Œuvre, das er vor seiner Zeit als Politiker und danach schuf, war Monument genug. Auf allen Abbildungen wird Guldberg als stark, blühend, keineswegs vorzeitig gealtert dargestellt. Er hat ja auch selbst die Abbildungen beeinflußt, indem er Macht besaß; Anweisungen bezüglich des Charakters der Porträts brauchte er nie zu geben. Die Künstler fügten sich, ohne dazu aufgefordert zu sein, wie immer.

Künstler und Porträtmaler hielt er für Diener der Politik. Sie sollten Fakten gestalten, in diesem Fall die der inneren Wahrheit, die von seiner äußeren Kleinheit verdunkelt wurden.

Die Kleinheit war indessen lange von einem gewissen Nutzen. Er war derjenige, der während der dänischen Revolution durch seine Bedeutungslosigkeit geschützt wurde. Die Bedeutenden gingen unter und vernichteten sich gegenseitig. Übrig blieb Guldberg, unbedeutend, aber dennoch der größte in der Landschaft von gefällten Bäumen, die er betrachtete.

Das Bild von den großen, aber gefällten Bäumen fand er bestechend. In einem Brief äußert er sich über die relative Kleinheit der groß wachsenden Bäume und ihren Untergang. Viele hundert Jahre hindurch waren im Königreich Dänemark alle großen Bäume gefällt worden. Besonders die Eichen. Man fällte sie, um Schiffe zu bauen. Zurück blieb ein Reich ohne bedeutende Eichen. In dieser verwüsteten Landschaft sieht er sich emporwachsen wie einen Busch, der sich über die Stümpfe der gefällten und besiegten großen Bäume erhebt.

Er schreibt es nicht, aber der Sinn ist klar. So entsteht Größe aus dem Unbedeutenden.

 

Er betrachtete sich als einen Künstler, der seiner Kunst entsagt und das Feld der Politik gewählt hat. Deshalb bewunderte er Künstler und verachtete sie zugleich.

Seine Abhandlung über Miltons Paradise Lost, 1761 während seiner Zeit als Professor an der Akademie Sorø publiziert, ist eine Analyse, die jede fiktive Beschreibung des Himmels zurückweist; fiktiv in dem Sinne, daß die Dichtung sich Freiheiten nimmt gegenüber den objektiven Fakten, die in der Bibel festgestellt werden. Milton, schreibt er, war ein prächtiger Poet, ist aber als spekulativ zu tadeln. Er nimmt sich Freiheiten. Die »sogenannte heilige Poesie« nimmt sich Freiheiten. In sechzehn Kapiteln weist Guldberg mit Schärfe die Argumente jener »Apostel der Freiheit des Denkens« zurück, die etwas »hinzudichten«. Sie schaffen Unklarheit und bewirken, daß die Dämme bersten und der Schmutz der Dichtung alles besudelt.

Die Dichtung darf die Dokumente nicht verfälschen. Die Dichtung beschmutzt die Dokumente. Er meinte damit nicht die Bildkunst.

Bei Künstlern kam es häufig vor, daß sie sich Freiheiten nahmen. Diese Freiheiten konnten zu Unruhe, Chaos und Schmutz führen. Deshalb mußten auch die frommen Poeten zurechtgewiesen werden. Milton bewunderte er jedoch, wenn auch widerwillig. Er wird als »prächtig« bezeichnet. Er ist ein prächtiger Poet, der sich Freiheiten nimmt.

Holberg verachtete er.

Das Buch über Milton wurde sein Glück. Es wurde besonders von der frommen Königinwitwe bewundert, die seine messerscharfe und fromme Analyse schätzte, und sie ließ Guldberg deshalb als Informator des Erbprinzen anstellen, König Christians Halbbruder, der geistesschwach war, oder, mit einem häufig benutzten Wort, debil.

So begann er seine politische Karriere: mit einer Analyse des Verhältnisses zwischen den Fakten, den klaren Aussagen der Bibel, und der Fiktion, Miltons Paradise Lost.

4.

Nein, kein Reiterstandbild.

Guldbergs Paradies war all das, was er auf seinem Weg vom Leichenbestatter in Horsens nach Christiansborg erobert hatte. Es hatte ihn ausdauernd gemacht und ihn gelehrt, den Schmutz zu hassen.

Guldberg hatte sich sein Paradies selbst erobert. Nicht geerbt. Erobert.

Er wurde einige Jahre lang von einem böswilligen Gerücht verfolgt; man hatte eine boshafte Interpretation seines anspruchslosen Äußeren angestellt, dieses Äußeren, das jedoch am Ende korrigiert wurde und wuchs, mit Hilfe der Künstler, als er 1772 selbst die Macht übernahm. Das Gerücht behauptete, er sei im Alter von vier Jahren, als seine Singstimme jeden mit Staunen und Bewunderung erfüllte, von seinen liebevollen, doch armen Eltern, die erfahren hatten, daß es in Italien für Sänger große Möglichkeiten gebe, kastriert worden. Zu ihrer Enttäuschung und Verbitterung habe er jedoch von seinem fünfzehnten Lebensjahr an sich geweigert zu singen und sich auf das Gebiet der Politik hinüberbegeben.

Nichts von alledem traf zu.

Sein Vater war ein armer Leichenbestatter in Horsens, der weder je eine Oper gesehen noch von Einkünften durch ein kastriertes Kind geträumt hatte. Die Verleumdungen, das wußte Guldberg mit Bestimmtheit, stammten von den italienischen Opernsängerinnen am Hof in Kopenhagen, die alle Huren waren. Alle Aufklärer und Lästerer, besonders die in Altona, das ja die Brutstätte der Aufklärung war, bedienten sich der italienischen Huren. Von ihnen kam aller Schmutz, auch dieses schmutzige Gerücht.

Sein eigentümliches vorzeitiges Altern, das jedoch lediglich in seinem Äußeren zum Ausdruck kam, hatte früh eingesetzt, im Alter von fünfzehn Jahren, und die Ärzte konnten es nicht erklären. Er verachtete deshalb auch die Ärzte. Struensee war Arzt.

Was das Gerücht von der »Operation« angeht: das wurde er erst los, als ihm die Macht gegeben wurde und er also nicht mehr als unbedeutend galt. Er wußte, daß die Behauptung, er sei »beschnitten«, seine Umgebung mit einem Gefühl des Unbehagens erfüllte. Damit hatte er zu leben gelernt.

Er hielt sich jedoch an den inneren Gehalt des Gerüchts, so unwahr es auch war. Dessen innere Wahrheit bestand darin, daß ihm von seinen Eltern die Rolle des Leichenbestatters zugedacht worden war, er aber darauf verzichtet hatte.

Er selbst dachte sich die Rolle des Politikers zu.

 

Das Bild, das der englische Gesandte im Jahr 1782 vom König und Guldberg zeichnete, ist deshalb nicht nur verblüffend, es besitzt auch eine innere Wahrheit.

Der Gesandte scheint seiner Verwunderung über Guldbergs »Liebe« zum König Ausdruck zu geben, dem er die Macht stahl und dessen Ansehen er vernichtete. Aber wie verwundert war Guldberg selbst stets über die Äußerungen der Liebe gewesen! Wie konnte man sie beschreiben? Das hatte er sich immer gefragt. Diese Schönen, Hochgewachsenen, die Strahlenden, die mit der Kenntnis der Liebe; und doch so verblendet! Die Politik war ein Mechanismus, man konnte sie analysieren, konstruieren; sie war in gewissem Sinn eine Maschine. Aber diese Starken, Hervorragenden, die mit dem Wissen um die Liebe, wie naiv ließen sie sich das klare politische Spiel von der Hydra der Leidenschaft verdunkeln!

Diese ständige Vermischung von Gefühl und Vernunft bei den intellektuellen Männern der Aufklärung! Guldberg wußte, dies war der weiche, verwundbare Punkt am Bauch des Ungeheuers. Und einmal hatte er verstanden, wie dicht er daran war, von der Sünde infiziert zu werden. Sie war von »der kleinen englischen Hure« ausgegangen. Er war an seinem Bett auf die Knie gezwungen worden.

Er würde es nie vergessen.

Dies ist der Zusammenhang, in dem er von dem Wald der mächtigen Eichen spricht, davon, wie die Bäume gefällt wurden und nur der unbedeutende Busch übrigblieb, als Sieger. Dort beschreibt er, was in dem gefällten Wald geschah und wie er, verstümmelt und unbedeutend, von dem Platz aus wachsen und herrschen durfte, wo er alles geschehen sah, zwischen den ruhenden Stämmen in dem gefällten Wald.

Und er glaubte der einzige zu sein, der es sah.

5.

Man muß Guldberg mit Respekt betrachten. Er ist noch fast unsichtbar. Bald macht er sich sichtbar.

Er sah und verstand früh.

Im Herbst 1769 schreibt Guldberg in einer Notiz, die junge Königin sei ihm »ein immer größeres Rätsel«.

Er nennt sie »die kleine englische Hure«. Den Schmutz am Hof kannte er gut. In der Geschichte kannte er sich aus. Friedrich IV. war fromm und hatte unzählige Mätressen. Christian VI. war Pietist und lebte liederlich. Friedrich V. zog in den Nächten durch die Kopenhagener Hurenhäuser und vertrieb sich die Zeit mit Trinkgelagen, Spiel und rohen, liederlichen Gesprächen. Er trank sich zu Tode. Die Huren scharten sich um sein Bett. Überall in Europa das gleiche Bild. In Paris hatte es angefangen, dann breitete es sich wie eine Krankheit an allen Höfen aus. Überall Schmutz.

Wer verteidigte da die Reinheit?

Als Kind hatte er gelernt, mit Leichen zu leben. Sein Vater, dessen Beruf es war, die Leichen herzurichten, hatte ihn bei der Arbeit helfen lassen. Wie viele starre, eiskalte Glieder hatte er nicht angefaßt und getragen! Die Toten waren rein. Sie wälzten sich nicht im Schmutz. Sie warteten auf das große Feuer der Reinigung, das sie erlösen sollte oder peinigen bis in alle Ewigkeit.

Schmutz hatte er gesehen. Aber nie schlimmeren Schmutz als bei Hofe.

 

Als die kleine englische Hure angekommen und mit dem König vermählt worden war, war Frau von Plessen zur ersten Hofdame ausersehen worden. Frau von Plessen war rein gewesen. Das war ihre Eigenschaft. Sie hatte gewünscht, das junge Mädchen vor dem Schmutz des Lebens zu schützen. Lange war ihr das gelungen.

Ein Vorkommnis im Juni 1767 hatte Guldberg besonders empört. Zur Geschichte gehört, daß bis zu diesem Zeitpunkt kein geschlechtlicher Umgang zwischen den königlichen Eheleuten stattgefunden hatte, obwohl sie seit sieben Monaten verheiratet waren.

Die Hofdame Frau von Plessen hatte sich am Vormittag des 3. Juni 1767 bei Guldberg beschwert. Sie war unangemeldet in das Zimmer gekommen, das er für seine Tätigkeit als Informator benutzte, und begann, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, sich über das Betragen der Königin zu beklagen. Guldberg gibt an, Frau von Plessen für ein durch und durch widerwärtiges Geschöpf, wegen ihrer inneren Reinheit aber für wertvoll für die Königin gehalten zu haben. Frau von Plessen roch. Es war kein Geruch wie von Stall, von Schweiß oder einer anderen Ausscheidung, sondern ein Geruch von alter Frau, wie Schimmel.

Sie war jedoch erst einundvierzig Jahre alt.

Die Königin, Caroline Mathilde, war zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Jahre alt. Frau von Plessen war wie gewöhnlich in das Schlafgemach der Königin gegangen, um ihr Gesellschaft zu leisten oder Schach zu spielen und durch ihre Anwesenheit die Einsamkeit der Königin zu lindern. Die Königin hatte auf ihrem Bett gelegen, das sehr groß war, und an die Decke gestarrt. Sie war voll bekleidet gewesen. Frau von Plessen hatte gefragt, warum die Königin nicht mit ihr rede. Die Königin hatte lange geschwiegen, weder ihre voll angekleidete Gestalt noch ihren Kopf bewegt und nicht geantwortet. Schließlich hatte sie gesagt:

»Ich habe Melancholia.«

Frau von Plessen hatte daraufhin gefragt, was der Königin das Herz so schwer mache. Die Königin hatte geantwortet:

»Er kommt ja nicht. Warum kommt er nicht?«

Es war kühl gewesen im Zimmer. Frau von Plessen hatte einen Augenblick lang ihre Herrscherin angestarrt und dann gesagt:

»Der König wird sicher belieben zu kommen. Bis dahin können Majestät die Freiheit von der Hydra der Leidenschaft genießen. Sie sollten nicht traurig sein.«

»Was meinen Sie damit?« hatte die Königin gesagt.

»Der König«, hatte Frau von Plessen da mit der außerordentlichen Trockenheit verdeutlicht, die ihre Stimme so gut hervorzubringen vermochte, »der König wird seine Schüchternheit sicher besiegen. Bis dahin kann die Königin sich freuen, von seiner Leidenschaft befreit zu sein.«

»Warum mich freuen?«

»Wenn Sie von ihr heimgesucht werden, ist sie eine Qual!« hatte Frau von Plessen mit einem Ausdruck unerwarteter Wut geantwortet.

»Verschwinden Sie«, hatte die Königin nach einem Augenblick des Schweigens überraschend gesagt.

Frau von Plessen hatte daraufhin gekränkt den Raum verlassen.

 

Guldbergs Empörung bezieht sich jedoch auf ein Vorkommnis, das später am selben Abend eintraf.

Er hatte in dem Gang zwischen dem linken Vorzimmer der Hofkanzlei und der Sekretärbibliothek des Königs gesessen und getan, als ob er lese. Er erklärt nicht, warum er »getan habe als ob«. Da war die Königin gekommen. Er war aufgestanden, hatte sich verneigt. Sie hatte eine Handbewegung gemacht, sie setzten sich beide.

Sie trug das hellrote Kleid, das ihre Achseln frei ließ.

»Herr Guldberg«, hatte sie mit leiser Stimme gesagt, »darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen?«

Er hatte genickt, ohne zu verstehen.

»Man hat mir gesagt«, flüsterte sie, »Sie seien in Ihrer Jugend von … der Qual der Leidenschaft befreit worden. Deshalb möchte ich Sie fragen …«

Sie hatte innegehalten. Er hatte geschwiegen, aber eine unerhörte Wut in sich aufwallen gefühlt. Unter Aufbietung äußerster Willenskraft war es ihm jedoch gelungen, die Ruhe zu bewahren.

»Ich möchte nur gern wissen …«

Er hatte gewartet. Schließlich wurde das Schweigen unerträglich, und Guldberg hatte geantwortet:

»Ja, Königliche Hoheit?«

»Ich möchte gern wissen, ob diese Befreiung von der Leidenschaft … eine große Ruhe ist? Oder … eine große Leere?«

Er hatte nicht geantwortet.

»Herr Guldberg«, hatte sie geflüstert, »ist es eine Leere? Oder eine Qual?«

Sie hatte sich zu ihm vorgebeugt. Die Rundung ihrer Brüste war ihm sehr nahe gekommen. Er hatte eine Empörung empfunden, die »jedes vernünftige Maß überstieg«. Er hatte sie sogleich durchschaut, und dies sollte ihm während der Ereignisse, die später folgten, von größtem Nutzen sein. Ihre Verdorbenheit war offenbar: ihre nackte Haut, die Rundung der Brüste, die Glätte ihrer jungen Haut, alles war ihm sehr nahe. Nicht zum erstenmal wurde ihm klar, daß man bei Hofe böswillige Gerüchte über die Ursachen seiner körperlichen Unansehnlichkeit verbreitete. Wie wehrlos er dagegen war! Wie unmöglich, darauf hinzuweisen, daß Kastraten ja fetten Ochsen ähnelten, aufgedunsen und aufgequollen, und ganz der grauen, scharfen, dünnen und fast eingetrockneten körperlichen Deutlichkeit ermangelten, die er selbst besaß!

Man redete über ihn, und es war ans Ohr der Königin gedrungen. Die kleine Hure glaubte, er sei ein Ungefährlicher, dem man sich anvertrauen könne. Und mit der ganzen Intelligenz ihrer jungen Verdorbenheit beugte sie sich jetzt ganz nah zu ihm, und er konnte ihre Brüste beinah in ihrer ganzen Fülle sehen. Sie schien ihn zu prüfen, ob noch Leben in ihm war, ob ihre Brüste eine Verlockung waren, die die Reste des vielleicht Menschlichen an ihm zum Vorschein bringen konnten.

Ja, ob dadurch die Reste von Mann in ihm hervorgelockt werden konnten. Von Mensch. Oder ob er nur ein Tier war.

So sah sie ihn. Als ein Tier. Sie entblößte sich vor ihm, als wollte sie sagen: Ich weiß. Als wüßte sie, daß er verstümmelt und verachtenswert war, nicht mehr Mensch, nicht mehr in Reichweite der Lust. Und täte dies jetzt in ganz bewußter und böswilliger Absicht.

Ihr Gesicht war bei dieser Gelegenheit dem Guldbergs sehr nahe, und ihre fast entblößten Brüste schrien ihm ihren Hohn entgegen. Er dachte, während er versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen: Möge Gott sie bestrafen, möge sie ewiges Höllenfeuer erleiden. Möge ein strafender Pfahl in ihren liederlichen Schoß getrieben und ihre ruchlose Intimität mit ewiger Qual und Pein belohnt werden.

Seine Gemütsbewegung war so stark, daß ihm Tränen in die Augen schossen. Und er fürchtete, daß das junge liederliche Geschöpf es gewahr würde.

Vielleicht hatte er sie aber falsch gedeutet. Er beschreibt nämlich anschließend, wie sie schnell, beinah schmetterlingsgleich, mit ihrer Hand an seine Wange rührte und flüsterte:

»Verzeihen Sie mir. Oh, verzeihen Sie mir, Herr … Guldberg. Das war nicht meine Absicht.«

Herr Guldberg hatte sich daraufhin hastig erhoben und war gegangen.

Guldberg hatte als Kind eine sehr schöne Singstimme. So weit ist alles richtig. Er haßte Künstler. Er haßte auch die Unreinheit.

Die starren Leichen erinnerte er als rein. Und sie brachten nie Chaos.

 

Gottes Größe und Allmacht zeigte sich darin, daß er auch die Kleinen, Geringen, Verkrüppelten und Geringgeachteten zu seinen Werkzeugen ausersehen hatte. Das war das Wunder. Es war Gottes unbegreifliches Mirakel. Der König, der junge Christian, schien klein zu sein, vielleicht geisteskrank. Aber er war ausersehen.

Ihm war alle Macht gegeben worden. Diese Macht, dieses Auserwählen kam von Gott. Dies war den Schönen, Starken, Strahlenden nicht gegeben worden. Der Geringste war ausersehen. Das war Gottes Mirakel. Guldberg hatte das verstanden. In gewisser Weise waren der König und Guldberg Teile desselben Mirakels.

Dies erfüllte ihn mit Genugtuung.

 

Er hatte Struensee zum erstenmal 1766 in Altona gesehen, an dem Tag, an dem die junge Königin dort an Land gegangen war, auf ihrem Weg von London nach Kopenhagen, vor ihrer Vermählung. Struensee hatte dort gestanden, verborgen in der Menge, umgeben von seinen Aufklärerfreunden.

Aber Guldberg hatte ihn gesehen: hochgewachsen, schön und liederlich.

Guldberg selbst war einst aus der Tapete hervorgetreten.

Wer unansehnlich gewesen, aus der Tapete hervorgetreten ist, wer das hinter sich hat, weiß, daß alle Tapeten Bundesgenossen sein können. Es war ein reines Organisationsproblem. Politik bedeutete Organisation, bedeutete, Tapeten horchen und erzählen zu lassen.

Er hatte immer an die Gerechtigkeit geglaubt und gewußt, daß das Böse von einem sehr kleinen, übersehenen Menschen zerschlagen werden mußte, mit dem niemand ernsthaft gerechnet hatte. Das war die Triebkraft in seinem Inneren. Gott hatte ihn ausersehen und ihn zu einem spinnengrauen Zwerg gemacht, weil Gottes Wege unergründlich waren. Aber Gottes Handlungen waren voller List.

Gott war der beste Politiker.

Schon früh hatte er gelernt, die Unreinheit zu hassen und das Böse. Das Böse, das waren die Liederlichen, die Gott verachteten, die Prasser, die Weltlichen, die Hurenböcke, die Trinker. Sie alle fanden sich bei Hofe. Der Hof war das Böse. Er hatte deshalb stets ein sehr kleines, freundliches, fast unterwürfiges Lächeln aufgesetzt, wenn er das Böse betrachtete. Alle glaubten, er betrachte die Orgien mit Neid. Der kleine Guldberg möchte bestimmt mitmachen, dachten sie, aber kann nicht. Ihm fehlt das – Instrument. Will nur betrachten.

Ihr kleines höhnisches Lächeln.

Sie hätten seine Augen ansehen sollen.

Und eines Tages, pflegte er zu denken, kommt die Zeit der Kontrolle, wenn die Eroberung der Kontrolle erfolgt ist. Und dann wird kein Lächeln mehr nötig sein. Dann wird die Zeit des Schneidens kommen, der Reinheit, dann werden die unfruchtbaren Zweige vom Baum abgeschnitten. Dann wird am Ende das Böse kastriert werden. Und die Zeit der Reinheit wird kommen.

Und die Zeit der liederlichen Frauen wird zu Ende sein.

Was er mit den liederlichen Frauen machen würde, wußte er allerdings nicht. Sie konnten ja nicht beschnitten werden. Die liederlichen Frauen würden vielleicht in sich zusammensinken und sich in Fäulnis auflösen, wie Pilze im Herbst.

Er mochte dieses Bild sehr. Die liederlichen Frauen würden zusammensinken und sich auflösen, wie Pilze im Herbst.

 

Sein Traum war Reinheit.

Die Radikalen in Altona waren unrein. Sie verachteten die Beschnittenen und Kleinen und träumten die gleichen geheimen Träume von der Macht wie die, gegen die sie zu kämpfen vorgaben. Er hatte sie durchschaut. Sie redeten vom Licht. Eine Fackel im Dunkeln. Aber aus ihren Fackeln fiel nur Dunkel.

Er war in Altona gewesen. Es war bezeichnend, daß dieser Struensee aus Altona gekommen war. Paris war die Brutstätte der Enzyklopädisten, aber Altona war noch schlimmer. Es war, als versuchten sie, einen Hebel unter dem Haus der Welt anzusetzen: und die Welt geriet ins Schwanken, und Unruhe und Schwüle und Dämpfe traten aus. Aber Gott der Allmächtige hatte einen seiner Geringsten ausersehen, den am wenigsten Geachteten, ihn selbst, um dem Bösen entgegenzutreten, den König zu retten und den Schmutz von dem von Gott Ausersehenen fortzuschneiden. Und, wie der Prophet Jesaja schrieb, Wer ist der, der von Edom kommt, mit rötlichen Kleidern von Bozra, der so geschmückt ist in seinen Kleidern und einherschreitet in seiner großen Kraft? »Ich bin’s, der in Gerechtigkeit redet, und bin mächtig zu helfen.« Warum ist denn dein Gewand so rotfarben und dein Kleid wie das eines Keltertreters? »Ich trat die Kelter allein, und niemand unter den Völkern war mit mir. Ich habe sie gekeltert in meinem Zorn und zertreten in meinem Grimm. Da ist ihr Blut auf meine Kleider gespritzt, und ich habe mein ganzes Gewand besudelt. Denn ich hatte einen Tag der Vergeltung mir vorgenommen; das Jahr, die Meinen zu erlösen, war gekommen. Und ich sah mich um, aber da war kein Helfer, und ich verwunderte mich, daß niemand mir beistand. Da mußte mein Arm mir helfen, und mein Arm stand mir bei. Und ich habe die Völker zertreten in meinem Zorn und habe sie trunken gemacht in meinem Grimm und ihr Blut auf die Erde geschüttet.«

Und die Letzten sollen die Ersten sein, wie es in der Heiligen Schrift stand.

Er war derjenige, der von Gott gerufen worden war. Er, die kleine Eidechse. Und eine große Furcht sollte kommen über die Welt, wenn der Geringste und Verachtetste die Zügel der Vergeltung in seinen Händen halten würde. Und Gottes Zorn würde sie alle treffen.

Wenn das Böse, die Liederlichkeit fortgeschnitten waren, würde er den König reinwaschen. Und auch wenn das Böse dem König geschadet hatte, würde er dann aufs Neue wie ein Kind werden. Guldberg wußte, daß Christian in seinem Innersten immer ein Kind gewesen war. Er war nicht geisteskrank. Und wenn alles vorbei wäre und das von Gott auserkorene Kind gerettet, würde der König ihm wieder folgen, wie ein Kind, demütig und rein. Er würde wieder ein reines Kind sein, und einer der Letzten würde wieder einer der Ersten werden.

Den König würde er verteidigen. Gegen sie. Denn auch der König war einer der Allerletzten und Verachtetsten.

Aber ein Keltertreter bekommt keine Reiterstandbilder.

6.

Guldberg war am Sterbebett König Friedrichs zugegen gewesen, des Vaters von Christian.

Er war am Morgen des 14. Januar 1766 gestorben.

König Friedrich war in den letzten Jahren immer schwermütiger geworden; er trank beständig, seine Hände zitterten, und sein Fleisch war aufgedunsen und schwammig geworden, grau, sein Gesicht sah aus wie das eines Ertrunkenen, man meinte, Fleischstücke aus seinem Gesicht klauben zu können; und tief darinnen verbargen sich seine Augen, die blaß waren und eine gelbliche Flüssigkeit absonderten, als habe die Leiche bereits angefangen zu wässern.

Der König war auch von Unruhe und Angst ergriffen worden und verlangte ständig, daß Huren sein Bett teilten, um seine Angst zu lindern. Mit der Zeit empörten sich mehrere der Geistlichen an seiner Seite darüber. Diejenigen, die an sein Bett befohlen wurden, um Gebete zu sprechen, die des Königs Angst bannen sollten, entschuldigten sich deshalb mit Krankheit. Der König war, wegen seiner körperlichen Schlappheit, nicht mehr im Stande, seine fleischlichen Lüste zu befriedigen; dennoch verlangte er, daß die aus der Stadt herbeigeschafften Huren nackt sein Bett teilen sollten. Da meinten die Geistlichen, daß die Gebete, und insbesondere das Abendmahlsritual, blasphemisch wurden. Der König spie den Heiligen Leib Christi aus, trank aber tief von seinem Blut, während die Huren mit schlecht verhohlenem Ekel seinen Körper liebkosten.

Was schlimmer war, das Gerücht vom Zustand des Königs hatte sich in der Öffentlichkeit verbreitet, und die Geistlichen fühlten sich allmählich vom allgemeinen Gerede beschmutzt.

In der letzten Woche vor seinem Tod war die Furcht des Königs sehr groß.

Er benutzte dieses einfache Wort, »Furcht«, statt »Angst« oder »Unruhe«. Seine Brechanfälle kamen jetzt in kürzeren Abständen. Am Tag seines Todes befahl er, Kronprinz Christian an sein Krankenbett zu rufen.

Der Bischof der Stadt forderte daraufhin, daß sämtliche Huren entfernt werden sollten.

Der König hatte zuerst lange und schweigend seine Umgebung betrachtet, die aus den Kammerdienern, dem Bischof und zwei Geistlichen bestand, und dann mit einer so sonderbar haßerfüllten Stimme, daß sie fast zurückschraken, gerufen, die Frauen sollten dereinst mit ihm im Himmelreich sein, während er hingegen hoffe, daß diejenigen, die sich jetzt um ihn scharten, und besonders der Bischof aus Aarhus, von den ewigen Höllenqualen heimgesucht würden. Allerdings hatte der König die Situation mißverstanden: Der Bischof von Aarhus war bereits am Vortag zu seiner Gemeinde zurückgekehrt.

Dann hatte der König sich erbrochen und unter Mühen weitergetrunken.

Eine Stunde war er erneut aufgefahren und hatte nach seinem Sohn gerufen, den er nun segnen wolle.

Der Kronprinz, Christian, war gegen neun Uhr zu ihm geführt worden. Er war zusammen mit seinem Schweizer Informator Reverdil gekommen. Christian war zu diesem Zeitpunkt sechzehn Jahre alt. Er hatte seinen Vater voller Entsetzen angestarrt.

Der König hatte ihn schließlich entdeckt und zu sich gewinkt, doch Christian war wie versteinert stehengeblieben. Reverdil ergriff daraufhin seinen Arm, um ihn an das Sterbebett des Königs zu führen, aber Christian hatte sich an seinen Informator geklammert und unhörbar einige Worte von sich gegeben; die Lippenbewegungen waren deutlich, er hatte versucht, etwas zu sagen, doch es kam kein Ton heraus.

»Komm … hierher … mein geliebter … Sohn …«, hatte der König da gemurmelt und mit einer heftigen Armbewegung den geleerten Weinkrug zur Seite gefegt.

Da Christian dem Befehl nicht gehorchte, begann der König zu rufen, wild und klagend; als einer der Geistlichen sich seiner erbarmte und fragte, ob er etwas wünsche, wiederholte der König:

»Ich will ihn segnen … zum Teufel … den kleinen … den kleinen Wicht!«

Nach einer kurzen Weile war Christian, beinah ohne Gewalt, an das Sterbebett des Königs geführt worden. Der König hatte Christian um Kopf und Nacken gefaßt und versucht, ihn näher an sich zu ziehen.

»Wie wird es … dir ergehen … du kleiner Wicht …«

Der König hatte Schwierigkeiten gehabt, Worte zu finden, doch dann war die Sprache zurückgekehrt.

»Du kleiner Wurm! Du mußt hart werden … hart … HART!!! Du kleiner … bist du hart? Bist du hart? Du mußt dich … unverwundbar … machen!!! Sonst …«

Christian hatte nicht antworten können, weil er mit einem harten Griff um den Nacken festgehalten und gegen die nackte Seite des Königs gepreßt wurde. Dieser röchelte jetzt laut, als bekomme er keine Luft, danach aber stieß er zischend hervor:

»Christian! Du mußt dich hart machen … hart … hart!!!, sonst verschlingt man dich!!! Sonst frißt … zermalmt …«

Dann sank er zurück aufs Kissen. Es war jetzt ganz still im Raum. Das einzige Geräusch war Christians heftiges Schluchzen.

Und der König, jetzt mit geschlossenen Augen und mit dem Kopf auf dem Kissen, sagte sehr leise und fast ohne zu lallen:

»Du bist nicht hart genug, du kleiner Wicht. Ich segne dich.«

Gelbe Flüssigkeit rann aus seinem Mund. Einige Minuten später war König Friedrich V. tot.

Guldberg sah alles und merkte sich alles. Er sah auch, wie der Schweizer Informator den Jungen bei der Hand nahm, als sei der neue König nur ein kleines Kind, ihn an der Hand führte wie ein Kind, etwas, das alle verwunderte und worüber später viel geredet werden sollte. So verließen sie den Raum, sie gingen durch den Korridor, passierten die Hauptwache, die das Gewehr schulterte, und traten hinaus auf den Schloßhof. Es war jetzt mitten am Tage, gegen zwölf Uhr, tiefstehende Sonne, während der Nacht war ein leichter Schnee gefallen. Der Junge schluchzte immer noch verzweifelt und hielt krampfhaft die Hand des Schweizer Informators Reverdil.

Mitten auf dem Schloßhof hielten sie plötzlich inne. Sie wurden von vielen beobachtet. Warum blieben sie plötzlich stehen? Wohin waren sie unterwegs?

Der Junge war schmächtig und von kleinem Wuchs. Die Hofleute, die die Neuigkeit vom tragischen und unerwarteten Ableben des Königs erreicht hatte, strömten hinaus auf den Schloßhof. An die hundert Menschen standen dort schweigend und fragend.

Guldberg unter ihnen, noch der unansehnlichste. Er war noch ohne Eigenschaften. Seine Anwesenheit verdankte sich lediglich dem Recht, das sein Titel als Lehrer des debilen Erbprinzen ihm gab; ohne anderes Recht, ohne Macht, aber mit der Gewißheit, daß große Bäume fallen würden, daß er Zeit hatte – und warten konnte.

Christian und sein Informator standen still, offenbar in tiefer Verwirrung, und warteten auf nichts. Sie verharrten dort im Licht der tiefstehenden Sonne auf dem Schloßhof, der von einer leichten Schneedecke bedeckt war, und warteten auf nichts, während der Junge mit seinem endlosen Weinen fortfuhr.

Reverdil hielt die Hand des jungen Königs sehr fest. Wie klein Dänemarks neuer König war, wie ein Kind. Guldberg empfand eine grenzenlose Trauer, als er sie betrachtete. Jemand hatte den Platz an der Seite des Königs eingenommen, der ihm gehörte. Eine große Arbeit stand ihm jetzt noch bevor, um diesen Platz zu erobern. Seine Trauer war noch grenzenlos. Dann hatte er sich gefaßt.

Seine Zeit würde kommen.

 

So war es, als Christian gesegnet wurde.

Am selben Nachmittag wurde Christian VII. zu Dänemarks neuem König ausgerufen.