FRANCA DÜWEL

Julie

und der
achte Himmel

Schlimmer
geht’s immer

Mit Illustrationen von Katja Spitzer

 

 

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Franca Düwel, geboren 1967, studierte
Literaturwissenschaften und Pädagogik.
Nach diversen Stationen in der Filmbranche
ist sie als Drehbuchautorin hocherfolgreich.
Sie entwickelte unter anderem
die Kinderserie »Die Pfefferkörner« und
schrieb zahlreiche Folgen von »Berlin,
Berlin«. Franca Düwel lebt mit ihrem Mann
und ihren beiden Töchtern in der Nähe
von Hamburg.

Von Franca Düwel sind im Arena Verlag bereits
erschienen: Julie und Schneewittchen,
Julie und die schwarzen Schafe, Julie
und das Herzschlamassel
und
Julie und die Frage, was Jungs wollen. Die gleichnamigen
Hörbücher sind bei Arena audio
veröffentlicht.

Mehr zu Julie unter www.julies-tagebuch.de.

 

 

 

 

 

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1. Auflage 2015
© Arena Verlag GmbH, Würzburg
© Text: Franca Düwel
Coverillustration und Innenvignetten: Katja Spitzer
Vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, Hamburg
Innengestaltung: Georg Behringer · Umwerk München
ISBN 978-3-401-80472-9

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de
Das gleichnamige Hörbuch ist bei Arena audio erschienen.

 

 

 

 

Für Großmami – wo auch immer du gerade bist!

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Montag, der 8. April

image Höhepunkte!

1)Heute gab’s in der Schule einen sintflutartigen Wolkenbruch, den Franzis Referendar der Begierde, Herr Jansen, mit den Worten »Na, Inge will’s heute wohl wissen …« kommentierte. Anscheinend hat er damit nur das derzeitige Tiefdruckgebiet gemeint, aber ich hab automatisch gedacht, er meint unsere Inge, also meine Oma, und bin deshalb vor lauter Schreck vom Stuhl gekippt. Die Oliver-und-Cem-Fraktion hat sich natürlich schlappgelacht (die Jungs aus unserer Klasse sind so kindisch, das glaubt man nicht), aber gerade, als ich mich darüber aufregen wollte, habe ich im Fach unter meinem Tisch den silbernen Herzanhänger von Ben wiedergefunden, den ich schon seit Tagen gesucht hab. Ob Mumi mir damit ein Zeichen schicken wollte? Wegen dieser Sache, die sie mir unbedingt noch sagen wollte, aber nicht mehr konnte?

2) Musste nach der Geschichte in Deutsch wieder an das Gespräch mit Mumi vor ein paar Wochen denken, in dem sie meinte, dass sie im nächsten Leben vielleicht als Esel auf die Welt kommt. Bin deshalb eben im strömenden Regen zu Hagenbecks Tierpark gefahren, und ob du’s glaubst oder nicht: einer der neugeborenen Esel hat mich tatsächlich an Mumi erinnert!

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3) Bin mir nach der Sache mit dem Anhänger und dem Esel jetzt sicher. Egal, ob Ben mich für verrückt erklärt oder nicht – ich werde mit dieser Nachbarin von Schari, die sagt, dass sie mit Verstorbenen reden kann, Kontakt aufnehmen.

image Tiefpunkte

1) Hatte letzte Nacht wieder den Albtraum, wo aus Mumis Kopf plötzlich Aale kommen.

2) Freitag ist Mumis Beerdigung.

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LIEBES TAGEBUCH,

entschuldige bitte, dass ich so lange nicht geschrieben habe, aber die letzten Wochen waren so grauenvoll, dass ich am liebsten gar nicht mehr daran denken und schon gar nicht darüber schreiben wollte. Ehrlich gesagt will ich das immer noch nicht, aber dieser fiese Albtraum mit den Aalen in Mumis Kopf macht mich allmählich so fertig, dass ich mich gestern bei Schari (die nach wie vor meine aller-, allerbeste Freundin ist) ausgeheult hab, und die meinte, dass sie an meiner Stelle unbedingt wieder mit Tagebuchschreiben anfangen würde, weil Mumi mir das Tagebuch damals ja genau für solche Zeiten wie jetzt geschenkt hätte. Na, und deshalb habe ich nun doch wieder damit begonnen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es hilft, weil es mir zurzeit nämlich echt beschissen geht.

Mumi ist vor vier Tagen gestorben und irgendwie kann ich es noch immer nicht fassen. Heute Morgen bin ich aufgewacht und hab mich im ersten Moment noch ganz normal gefühlt, aber dann ist mir wieder eingefallen, was passiert ist, und da war es wieder ganz genauso wie am Donnerstag, als ich von der Schule nach Hause gekommen bin und Mama mit dem Telefonhörer in der Hand schluchzend im Flur lag. So ein Gefühl, als ob man in ein eiskaltes rabenschwarzes Loch fallen würde, das einen immer weiter runterzieht und einem jede Luft zum Atmen nimmt.

Oh, verdammt. Wie kann es sein, dass ich so banale Dinge mache wie duschen und essen und zur Schule gehen, wenn meine absolute Lieblingsoma nicht mehr da ist?

Immer, wenn ich an sie denke, geht mir ein »Nie wieder« durch den Kopf und dann muss ich wieder weinen und kann überhaupt nicht mehr aufhören, weil es so unvorstellbar ist. Nie wieder wird Mumi mir von früher erzählen, als sie im Stadtpark ihren ersten Kuss bekommen hat, und NIE WIEDER werden wir beide eine Modenschau mit ihren alten Hippie-Klamotten veranstalten und uns dabei schlapplachen, und nie wieder kann ich sie anrufen, wenn ich mich mit Mama und Papa gezofft hab, und nie wieder werden wir zusammen ihren Zitronenpuffer backen und anschließend bei einer Tasse Kakao über Politik diskutieren und über Mama reden und Ben und …

Oh, Gott, jetzt fange ich schon wieder an zu heulen.

Scheiße! Julie, STOPPP!!! Warte kurz …

So, jetzt geht’s wieder. Ob das irgendwann aufhört?

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Dass ich immerzu an Mumi denken muss? Einerseits fände ich das schrecklich, weil ich mich ihr dadurch wenigstens noch immer nah fühle, andererseits weiß ich nicht, wie lange ich das so noch aushalten kann.

Gestern war ich mir zum Beispiel für einen Augenblick total sicher, Mumi auf der Straße gesehen zu haben, aber als ich hingerannt bin, war das, was ich für ihren dunkelroten Turban gehalten hatte, nur die Mütze von irgendeinem blöden Hipster und ich hätte vor lauter Enttäuschung fast aufgeschrien.

Am Abend habe ich dann mit Ben darüber geredet und er war total lieb und meinte, er hätte auch schon mal gedacht, vor sich an der Supermarktkasse seinen toten Cousin zu sehen, der damals bei diesem furchtbaren Motorradunfall gestorben ist. So etwas wäre wahrscheinlich normaler, als man denkt. Und dann hat er noch etwas voll Schönes gesagt, nämlich, dass, wenn jeder Mensch eine eigene Farbe hätte, Mumi für ihn bunt gewesen wäre, und das hat mich richtig getröstet, weil wirklich alles an Mumi bunt war: ihre Kleidung und ihre Tücher und ihre Küche mit den ganzen bunten Gewürzdosen und der rotweiß gepunkteten Kommode.

Aber im Moment kommt es mir so vor, als wenn das ganze Bunte von der riesigen dunklen Wolke, die seit letzter Woche über mir schwebt, einfach eingesaugt werden würde, und wenn ich mir vorstelle, dass ich da am Freitag in dieser gruseligen Friedhofskapelle sitze, während Mama vorne mit zitternder Stimme ihre Trauerrede hält, dann wird mir jetzt schon schlecht. Wahrscheinlich werde ich spätestens bei diesem Lied »Geboren, um zu leben«, das Mumi sich eigentlich für ihre Hochzeit gewünscht hatte (die ja nun quasi nicht stattgefunden hat, beziehungsweise nur ganz klein am Krankenbett), laut schluchzend zusammenbrechen, während der Rest der Trauergemeinde mich pikiert anstarrt!

Oh, Gott! Ich will da nicht hin! Allein die ganze bucklige Verwandtschaft, die extra angereist kommt. Mamas grenzdebiler Bruder Udo mit seinen ausländerfeindlichen Sprüchen, Großtante Rita mit ihrem »Hä? Ich versteh das alles nicht«-Blick und als Krönung noch Mika, Udos bekloppter Sohn, der abwechselnd entweder an seinen Pickeln rumpult oder in seiner Nase auf Popelsuche ist. Würg!!! Ben meint zwar, dass ich mir das später vielleicht nie verzeihen würde, wenn ich bei der Beerdigung kneife, aber ich glaube nicht, dass er damit recht hat. Oder doch? Keine Ahnung. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass Mumi für das Kneifen Verständnis hätte. Weil sie Beerdigungen auch immer gehasst hat, vor allem von Leuten, die sie mochte.

Okay, hingegangen ist sie meines Wissens trotzdem immer, aber ich glaub dennoch, dass sie nicht sonderlich gekränkt wäre, wenn ich Freitag zu Hause bliebe. Wobei, im Grunde geht’s gar nicht so sehr um die Beerdigung, sondern mehr um dieses furchtbare Kaffeetrinken hinterher. Ich sag dir, wenn ich daran denke, schreit jetzt schon alles in mir »NEIN!«. Auch wenn das vielleicht unfair ist, weil Mama sich solche Mühe gegeben und extra Mumis Lieblingscafé für die Trauerfeier gebucht hat. Aber trotzdem. Da kann Papa mir tausendmal erzählen, dass das eine wichtige und tröstende Tradition ist, bei der sich alle noch einmal gemeinsam an die Verstorbene erinnern – wenn du mich fragst, ist dieser anschließende Leichenschmaus einfach nur makaber und morbide, Lieblingscafé hin oder her. Allein schon das Wort. Leichenschmaus! Abartiger geht’s jawohl nicht! Wer bitte schön hat nach dem Anblick von Mumis Asche in einer Urne denn noch Appetit auf Sahnetorte und Kakao? Doch garantiert niemand! (Außer vielleicht Fascho-Udo und Popel-Mika, denen ist alles zuzutrauen …)

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Habe Papa eben gefragt, ob ich wenigstens Ben auf die Beerdigung mitnehmen kann (schließlich sind wir nächsten Monat zwei Jahre zusammen1 und außerdem mochte er Mumi auch immer total gern), und das hat er zum Glück abgenickt. Immerhin. Mit Ben an meiner Seite habe ich zumindest den Hauch einer Chance, diesen Freitag irgendwie zu überstehen.

Was mir allerdings noch größere Sorgen macht, ist die Frage, wie Mama mit der ganzen Sache klarkommt. Derzeit sieht sie mit ihren dauerverheulten Augen und der grauen Gesichtsfarbe nämlich fast selber wie eine Leiche aus und die Vorstellung, dass sie nachher wieder so eine Depression bekommt wie damals nach Ottis Geburt, macht mich noch zusätzlich fertig. Alles, nur das nicht!!!

Bisher hält sie sich aber noch relativ gut und das gibt mir ein bisschen Hoffnung. Schließlich lag sie bei dieser ätzenden Wochenbettdepression vor zwei Jahren ja nur noch im Bett und hat sich vor lauter Kummer nicht einmal mehr angezogen und davon ist sie momentan noch weit entfernt. Im Augenblick erinnert sie mich mit ihrer ständigen Beerdigungs-Organisiererei eher an dieses batteriebetriebene Häschen aus der Duracell-Werbung, an der Papa damals mitgearbeitet hat. Das hat genauso manisch auf seiner Trommel herumgetrommelt wie Mama im Moment, so nach dem Motto: »Das schaff ich noch und das schaff ich noch und das erledige ich jetzt auch noch …«. Wobei dieser ganze Aktionismus eigentlich gar nicht zu ihr passt und das macht mir auch wieder Bauchschmerzen, weil ich keine Ahnung hab, was danach kommt.

Aber jedes Mal, wenn ich mit ihr darüber reden will, blockt sie ab, und das macht mich unterschwellig wieder sauer, weil es zeigt, dass sie mich überhaupt nicht ernst nimmt. Dabei fehlt Mumi mir mindestens genauso doll wie ihr, aber das will sie irgendwie nicht wahrhaben und deswegen erzählt sie mir ständig, Mumi hätte bestimmt nicht gewollt, dass ich so traurig bin, und ich solle doch unbedingt wieder mit meinen Freundinnen ins Kino gehen, weil da gerade so eine lustige Komödie mit einem magischen Pferd liefe. Als ob mir im Moment nach lustigen Filmen mit magischen Pferden wäre!

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Die Einzige, die von uns vieren noch gut drauf ist, ist Otti. Die kriegt von dem ganzen Elend hier Gott sei Dank nichts mit und freut sich jeden Tag wieder, wenn sie Papas CD-Regale im Wohnzimmer ausräumen und dabei lauthals »Gänseklein« singen kann (was wohl »Hänschen klein« sein soll, sich aber eher wie holländischer Assi-Rap rückwärts anhört).

Na ja, und Papa ist natürlich auch irre angespannt. Zum einen wegen Mama und der Beerdigung und zum anderen, weil er sich ja erst vor drei Wochen mit seiner neuen Werbeagentur selbstständig gemacht hat und die ganze Sache wohl bei Weitem nicht so toll läuft wie gedacht. Was man allein schon daran merkt, dass er mich ständig wegen irgendwelcher Kleinigkeiten anmeckert und ich mich allmählich gar nicht mehr traue, ihn überhaupt noch anzusprechen. Ganz schrecklich. Ich mein, ich versteh ja, dass er nach diesem Mr-Hairy-Flopp mit den Plakaten für Haarwuchsmittel, die ganz schnell wieder abgehängt worden sind, weil sie so panne waren, nicht unbedingt gut drauf ist, aber so dauergereizt, wie er zurzeit ist, ist es wirklich schwer, mit ihm klarzukommen. Dabei wäre es schon schön, neben Ben noch jemanden zu haben, mit dem man über das, was passiert ist, reden kann, aber irgendwie funktioniert das zwischen Mama, Papa und mir im Moment einfach nicht.

Habe da gestern kurz mit Schari drüber geredet, weil ich mich seit Mumis Weggang so furchtbar einsam fühle, und zwar vor allem, wenn Mama und Papa da sind, weil man dann nämlich noch deutlicher merkt, dass jeder von uns zurzeit in seiner ganz eigenen Unglücksblase gefangen ist und dem anderen nicht wirklich helfen kann. Woraufhin sie meinte, dass sie das nachvollziehen könne, aber dass ich in ihren Augen auch froh sein könne, nicht solche Helikopter-Eltern wie die von Jette zu haben, und damit hat sie ja auch irgendwie wieder recht. Schließlich telefoniert Jettes Mutter ihr ständig hinterher, so als wäre sie gerade mal acht, und neulich ist sie sogar mitten in die Mathe-Stunde reingeplatzt, um Jette ihr vergessenes Sportzeug vorbeizubringen, was wirklich megapeinlich war. Aber manchmal denke ich, ein Mittelding wäre auch ganz schön. Ich mein, kein Mensch braucht täglich ein perfekt gekochtes biodynamisches Mittagessen von Alnatura, aber dass meine Eltern es fertigbringen, der eigenen Tochter, die seit über vier Monaten (!) Vegetarierin ist, mittags einen Zettel hinzulegen, auf dem »Hühnerfrikassee ist in der Kühltruhe!« steht, ist ja nun auch nicht unbedingt der Hattrick.

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Shit! Gerade muss ich beim Stichwort »Hühnerfrikassee« wieder an Mumi denken, die mir früher, als ich klein war, immer erlaubt hat, die Erbsen aus dem Frikassee rauszupulen, während Mama und Papa das unmöglich fanden. Oh, Mann! Das gibt’s doch nicht! Wie kann es sein, dass ich zurzeit bei jeder, aber auch wirklich jeder Kleinigkeit an Mumi denken muss? Wahrscheinlich sollte ich mich schnell mit irgendetwas Belanglosem ablenken, sonst versinke ich gleich wieder im Elend, und ich glaube kaum, dass Schari das mit ihrem Tagebuchschreiben-Rat bezweckt hat. Habe nur keine Ahnung, mit was …

Normalerweise hätte ich jetzt geguckt, was auf Facebook los ist, aber in letzter Zeit fühle ich mich davon nur noch gestresst. Weil ich, wenn ich sehe, dass Franzi und die anderen schon wieder so und so viele neue Likes bekommen haben, immer denke, Mist, ich müsste auch mal wieder was Neues posten. Aber eigentlich habe ich dazu überhaupt keine Lust.

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Außerdem wüsste ich im Augenblick auch gar nicht, was ich posten sollte. Die letzten Wochen mit Mumi? Bestimmt nicht! Schließlich war ich fast jeden Nachmittag bei ihr und von den Tagen vor ihrem Tod habe ich noch nicht mal Schari etwas erzählt, sondern nur Ben. Weil sie da nämlich wegen der Tumore in ihrem Kopf keinen mehr erkannt und Mama fast durchgängig für ihre Mutter und mich für ihre Schwester gehalten hat. Obwohl das Schreien beinahe noch schlimmer war. In den letzten zwei Wochen, bevor sie gestorben ist, hat sie nämlich manchmal mitten im Satz zu schreien angefangen, so ganz schrill und verzweifelt, als wenn ihr plötzlich bewusst geworden wäre, was los ist, und dann musste ich mich jedes Mal mit Mama streiten, weil die mich sofort nach Hause schicken wollte. (Ich bin aber meistens trotzdem geblieben, schließlich kann ich mit vierzehn ja wohl selbst entscheiden, was ich abkann und was nicht.)

Trotzdem war das Ganze natürlich kaum aushaltbar schrecklich und vielleicht kommt mir diese ganze Facebook-Nummer ja auch deshalb im Augenblick wie ein einziger Fake vor, bei dem jeder dem anderen weiszumachen versucht, dass sein Leben eine einzige Party voller Fun und cooler Typen ist, während es in Wahrheit ganz anders aussieht. Wobei mir bei dem Stichwort coole Typen gerade einfällt … Ich glaub, irgendwo auf meinem Schreibtisch müsste noch eine »P.S. Ich liebe dich«-DVD von Franzi rumfliegen. Die ist so scheiße-traurig, genau danach ist mir jetzt. Mal gucken, ob ich die in dem Wust finde. Also mach’s gut, liebes Tagebuch, bis morgen!

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1 Was nebenbei bemerkt absoluter Rekord in der gesamten Mittelstufe ist.

Dienstag, der 9. April

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1) Ben und ich haben uns vorhin in der Schule ganz furchtbar gestritten, aber eben hat er mich über Whatsapp gefragt, ob ich übernächstes Wochenende mit ihm zu seiner Patentante nach St. Peter-Ording fahren will, um an der Nordsee auf andere Gedanken zu kommen. Gott, ich liebe ihn wirklich ganz, ganz doll!!!

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image Tiefpunkte

1) Sophie hat mir gestern Abend gesimst, dass Linea2 für Bens Band anscheinend einen zweistimmigen Lovesong geschrieben hat, den sie gemeinsam mit Ben demnächst im Wochenendhaus ihrer Eltern einüben will. Arrgghhh!!! Verstehe nicht, was das soll. Denke, Linea hat so einen tollen Freund außerhalb der Schule. Warum lässt sie Ben dann nicht endlich in Ruhe??!!

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2) Heute haben wir die Latein-Arbeit zurückbekommen. Ich habe wieder eine Fünf. Habe die Horrowitz gefragt, wie das angehen kann, wo ich diesmal doch mit der Zeit ausgekommen bin, woraufhin sie meinte, ich hätte zwar alles übersetzt, aber leider ginge es in dem Text nicht um einen Maultierdiebstahl im Monat August, sondern um die Rechte der Ehefrauen im Heer von Kaiser Augustus. Hm. Habe eben noch mal bei den Vokabeln nachgeguckt. Anscheinend bedeutet »mulier« tatsächlich Ehefrau und nicht Maultier. Wer ahnt denn so was?

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3) In drei Tagen ist Mumis Beerdigung.

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War gestern Abend ziemlich sauer (!!!!!), als ich von Sophie die Geschichte von Linea und dem Liebeslied gehört habe3. Habe anschließend stundenlang überlegt, ob ich Ben darauf ansprechen soll, mich aber letztlich dagegen entschieden, was gut war, weil Ben mir heute in der Pause aus eigenem Antrieb davon erzählt hat. Hatte mir am Anfang des Gesprächs felsenfest vorgenommen, absolut cool zu bleiben, um Ben gegenüber nicht wieder wie eine besitzergreifende Schrappnelle aufzutreten, aber irgendwann ist es dann doch mit mir durchgegangen. Verdammt! Warum kann ich mich nicht einfach ganz relaxt und entspannt verhalten, wenn das Thema auf diese blöde Linea kommt?? Ich versteh das nicht! Dabei weiß ich doch aus monatelanger Erfahrung, dass Ben und ich uns ohnehin immer nur streiten, wenn ich was gegen Linea sage und …

Okay, stopp! Ehe ich mich jetzt noch weiter aufrege, sollte ich vielleicht erst mal von Anfang an berichten, was überhaupt passiert ist. Eventuell wird mir dann ja auch klarer, was da immer zwischen uns abläuft. Also …

Am Ende der Musikstunde habe ich von Ben eine SMS bekommen, in der er mich gefragt hat, ob wir uns in der Pause an unserem Stammplatz hinter der Turnhalle treffen wollen, und ich hab zurückgeschrieben, dass das klargeht. An der Bank hinter der Turnhalle hatte Ben dann einen Schoko-Muffin aus der Cafeteria für mich dabei, was mich total gerührt hat, weil er mir in letzter Zeit ständig etwas mit Schokolade schenkt und ich genau weiß, dass er das nur macht, weil ich ihm mal erzählt hab, dass Schokolade einen wissenschaftlich erwiesen glücklicher macht. Na ja, und anschließend haben wir dann herumgeblödelt, dass er mich ja vielleicht nur mästen will, damit kein anderer mich mehr anguckt, und das war total schön, weil ich zum ersten Mal seit Wochen nicht nur schief den Mund verzogen, sondern wieder richtig gelacht hab. Allerdings nur so lange, bis Ben zögernd gemeint hat, eigentlich sei der Muffin mehr als Bestechung gemeint gewesen, er müsse mir nämlich noch etwas erzählen. Na, und dann kam’s natürlich, die Sache mit Linea und ihrem bescheuerten Song, und dass Ben Angst hat, dass ich darauf nicht so gut reagieren würde, weil er ja wüsste, wie empfindlich ich immer bei dem Thema Linea bin.

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Woraufhin ich ehrlich gesagt erst mal bedient war! Schließlich ist »empfindlich reagieren« quasi ein Synonym für »grundlos eifersüchtig«, und das stimmt einfach nicht! Das mit dem grundlos meine ich. Das habe ich nämlich wochenlang mit den Girlteers durchdiskutiert. Wobei sich letztlich alle einig waren (sogar Schari, die sonst immer findet, dass ich mir um alles zu viele Gedanken mache), dass Lineas Masche mit dem »Oh, Ben, mir ist so kalt, darf ich mir kurz deinen Pulli leihen?« so was von durchsichtig ist! Und diese Nummer mit dem ständigen Bei-Ben-auf-den-Schoß-Setzen erst recht! Franzi meinte, man könne richtig sehen, wie Linea bei Bens Anblick jedes Mal zu sabbern anfangen würde, und zwar selbst dann, wenn er ihr eigenhändig einen Stuhl holt, wie neulich, als sie sich im Probenraum mal wieder direkt auf seinen Oberschenkel gepflanzt hat. In meiner Gegenwart! Das war so was von dreist, man glaubt’s echt nicht!!! Umgekehrt würde ich so etwas NIE machen! Schließlich weiß sie ganz genau, dass …

Upps, merke gerade, dass ich mal wieder glorreich vom Thema abgekommen bin. Schließlich wollte ich mich eigentlich nicht noch mal über diese Probenraum-Sache aufregen, sondern die Geschichte heute in der Pause schildern. (Mit der anderen Story habe ich Schari gestern schon stundenlang zugetextet.) Gott, wenn ich mich später bei der Journalistenschule bewerben will, muss ich mir das wirklich abgewöhnen! Sonst fange ich noch einen Artikel über einen Massenmörder an und lande nachher bei den Fußballergebnissen in der Champions League. Oder bei irgendwelchen Kochrezepten. Würde mich echt nicht wundern. Okay, also zurück zu heute …

Nach dieser Bemerkung von wegen, ich würde ja leider immer so empfindlich auf Linea reagieren (grrr!!), hat Ben erst mal betont, dass Linea dieses Lied ja nicht für ihn, sondern für ihren derzeitigen Freund, den ominösen Zwölftklässler vom Gymnasium Othmarschen, geschrieben hätte4, weswegen es also überhaupt keinen Grund gäbe, sich irgendwelche Sorgen zu machen.

»… also nur, falls du dir überhaupt Sorgen machen würdest, wenn du den Song hörst, meine ich. Was sich irgendwie … na ja, was sich ziemlich eingebildet anhört, wie ich gerade feststelle … Gott! Was tue ich hier eigentlich?«

Ben hat mitten im Satz abgebrochen und ich hab gedacht, okay, genau das frage ich mich gerade auch, aber ehe ich noch etwas Ähnliches von mir geben konnte, hat er sich bereits stöhnend zu mir umgedreht und gemeint, am besten sollte ich alles löschen, was er eben gesagt hätte, er wäre einfach ein Idiot.

»… Steffen, Fiete und Marc haben mich nur dermaßen damit zugeschwallt, dass du mir garantiert Auftrittsverbot erteilst, wenn du Linnies Song zum ersten Mal hörst, dass ich mich selbst schon ganz kirre gemacht hab, und …«

»Sie haben was??«

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Ich habe gerade noch ein Schnauben zurückhalten können. Ich mein, für wen halten diese Idioten mich eigentlich? Für eine rasende Furie, die davon träumt, Ben demnächst ganztägig an die Kette zu legen? Am liebsten wäre ich stante pede zu Steffen, Fiete und Marc hinmarschiert und hätte ihnen erst mal gehörig die Meinung gegeigt, aber im selben Augenblick, hat Ben mich schon seufzend zurückgehalten.

»Vergiss das mit dem Auftrittsverbot, okay? Das war einfach nur ein dummer Spruch. Wahrscheinlich liegt’s eh nur am Titel. Das mit dem »Julia« führt einen total auf die falsche Fährte, dabei geht’s in dem Song ja gar nicht so sehr um die Ex von Linnies Freund, sondern mehr um das Gefühl, das sie hat, wenn sie sich an sie erinnert, und deshalb …«

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»Es geht in dem Lied um ein Mädchen, das Julia heißt??«

»Ja, aber …«

»Und diese Julia ist jetzt die Ex von wem genau?«

Okay. Rasende Furie war vielleicht doch angebracht. Und zwar genau JETZT!

Bei mir haben instinktiv alle Alarmglocken gleichzeitig zu läuten begonnen, aber ehe ich noch aufspringen konnte, hat Ben bereits stöhnend »Julie, nicht!« gemurmelt und dann gemeint, er würde ja wissen, was ich jetzt denke, aber das sei einfach nur ein blöder Zufall.

»Linnie hat gesagt, das ändert sie noch. Erst ist ihr gar nicht aufgefallen, dass man den Text auch auf dich beziehen könnte, und deshalb …«

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»Und das hast du ihr abgenommen?!«

Ich hab gemerkt, wie sich ein heißer, dicker Wutklops in meinem Magen gebildet hat, aber kurz bevor er explodiert ist, hat Ben mir schon beruhigend die Hand auf den Arm gelegt.

»He, Julchen, sie hat das bestimmt nicht mit Absicht gemacht. Echt nicht! Außerdem haben wir’s schon ausprobiert, man kann für »Julia« problemlos auch »Annika« einsetzen, das kommt vom Rhythmus genauso hin, und ansonsten ist der Song echt Hammer. Wirklich! Ich spiel ihn dir morgen mal vor. Allein der Anfang … Zuerst nur Schlagzeug und dann kommt ganz leise so ein Geräusch wie von ’nem startenden Flugzeug, das übernimmt Steffen, na, und dann plötzlich Linnies Stimme – FLASH! Ich sag dir, da läuft’s einem kalt den Rücken runter. Was Effekte anbelangt, da hat’s Linnie einfach drauf …«

»Wie schön für sie.«

Meine Zähne haben sich angefühlt, als würden sie vor lauter Aufeinanderpressen gleich unten am Kiefer rauskommen. Aber im selben Augenblick, wo ich gedacht hab, wenn Ben jetzt noch eine einzige positive Sache über Linea sagt, dann beiße ich ihm direkt in die Halsschlagader, genau wie in »Vampire Diaries«, was zugegebenermaßen nicht sonderlich anspruchsvoll ist, aber manchmal brauche ich das irgendwie, hat Ben Gott sei Dank geschaltet und seine Lobeshymnen über Linea eingestellt.

»Entschuldige. Ich wollte dich damit jetzt echt nicht stressen. Wichtig ist eh nur, dass du weißt, dass zwischen Linea und mir niemals irgendetwas stattfinden wird, egal, wie viele Liebeslieder ich mit ihr singe. Und dasselbe gilt umgekehrt genauso. Für Linnie bin ich einfach nur ein guter Freund, sonst nichts und …«

»Genau. Und deshalb gibt sie dir auch andauernd irgendwelche Sticks mit ihren Lieblingssongs drauf und massiert dir den Nacken. Klar, das macht man natürlich auch bei guten Freunden. Genau wie neulich, als sie dir deinen Lieblingskuchen gebacken hat, einfach nur so …«

»Himmel, Julie!« Kannst du nicht endlich mal damit AUFHÖREN??«

»Aber ich mach doch gar ni…«

»Und ob du was machst! Eben hab ich noch gedacht, wie falsch Steffen und Marc mit ihren ganzen Sprüchen über deine Eifersucht lagen, und jetzt fängst du schon wieder damit an!!«

Bens Stimme hat auf einmal diesen genervten Unterton angenommen, den sie in letzter Zeit immer annimmt, wenn wir über das Thema Linea reden, und als ich zu ihm hochgeguckt und seinen wütenden Blick gesehen habe, hab ich unwillkürlich gedacht: Scheiße, das geht hier ja gerade wieder voll in die falsche Richtung.

»Aber …«

»Nichts aber! Linea und ich sind nun mal zusammen in einer Band, Julie, ob es dir passt oder nicht, und der Song, den sie geschrieben hat, ist verdammt gut und insofern wäre es schön, wenn du mit dieser Scheiß-Eifersucht endlich mal aufhören könntest und mir vertraust.«

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Bums, zack, knall.

Eine Sekunde haben wir uns Auge in Auge gegenübergestanden wie zwei finstere Gegner kurz vor der entscheidenden Schlacht, aber dann ist irgendetwas in mir eingeknickt, denn immer, wenn Ben das mit dem Vertrauen anbringt, dann fällt mir kein Gegenargument mehr ein, zumindest kein richtiges.

»Na gut, dann singt ihr dieses blöde Lied eben zusammen! Meinetwegen!«

»Gut …«

Ben hat grimmig genickt und ich hab mir noch immer latent gekränkt auf die Unterlippe gebissen.

»Ich versteh nur nicht, warum ihr dafür schon wieder in das Wochenendhaus ihrer Eltern fahren müsst! Schließlich haben Robbie Williams und Nicole Kidman auch mal einen Song zusammen gesungen, aber sie hat den in einem Tonstudio in Australien aufgenommen und er ihn in den USA und dann haben die Ton-Leute das einfach zusammengemischt und …«

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»Soll ich Linea etwa deinetwegen nach Australien verfrachten, oder was??« Ben hat mich ungläubig gemustert und eine Sekunde lang war ich kurz davor, ihm mitzuteilen, dass neben Australien auch Honolulu geeignet wäre oder besser noch Papua-Neuguinea, wo es versteckt im Urwald ja vielleicht noch immer ein paar Kannibalen gibt, die blonde Leadsängerinnen gern zum Frühstück verspeisen.5 Aber dann musste ich beim Anblick der blauen Ader über Bens Schläfe, die immer nur hervortritt, wenn er so richtig sauer ist, auf einmal wieder an Mumis Beerdigung am Freitag denken und daran, dass Ben mir versprochen hat, den ganzen Tag über meine Hand zu halten, und das, obwohl er eigentlich Schule hat und Beerdigungen seit dem Tod seines Cousins mindestens genauso hasst wie ich. Und da ist meine ganze Wut auf ihn und Linea und ihr bescheuertes Lied auf einen Schlag wieder verdampft wie ein Tropfen Wasser auf einem heißen Stein.

»Ach, Scheiße. Tut mir leid, Ben. Vergiss, was ich gesagt hab. Ich weiß auch nicht, was im Moment mit mir los ist. Wahrscheinlich bin ich einfach nur eine eifersüchtige dumme Kuh …«

Ich hab unglücklich zu Boden geguckt und Ben hat noch einen Augenblick gezögert und mich dann seufzend in den Arm genommen.

»Blödsinn. Wenn schon, dann bist du eine ausgesprochen intelligente eifersüchtige Kuh …«

»Na, vielen Dank!«

Ich hab Ben spielerisch einen Stoß verpasst, aber anstatt sich zu wehren, hat er mich nur wieder zu sich herangezogen und eine Sekunde später haben wir uns dann endlich geküsst, ganz lange und superromantisch, und auf einmal war alles wieder gut, die ganze Sache mit Linea und dem Lied und meine Angst vor der Scheiß-Beerdigung, einfach alles.

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Oh, Mann. Es ist doch immer wieder erstaunlich, was so ein Kuss doch ausmacht. Franzi beneidet mich immer voll, weil sie findet, dass die meisten Jungs in unserem Alter absolut beschissen küssen und ich mit Ben totales Glück hätte. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das weniger an Ben oder mir oder einer speziellen Technik liegt, sondern mehr daran, dass wir einfach zusammengehören. So wie Eigelb und Eiweiß oder Romeo und Julia oder wie der alte Herr Meyer und seine Frau, die den Kiosk in der Nähe der Schule haben und immer noch Händchen halten, wenn sie glauben, dass niemand es sieht. Manchmal denke ich sogar, selbst wenn Ben mich tierisch fies behandeln würde, würde ich ihn noch küssen woll…

Oh. Mama ruft. Anscheinend ist Jette unten am Telefon und will mir dringend irgendetwas erzählen. Hoffentlich nicht wieder was über Scharis Mutter und Sophies Vater, denen sie ständig etwas andichtet. Das kann ich allmählich echt nicht mehr hören!

16.07 Uhr.

Eigentlich wollte ich heute überhaupt nichts mehr schreiben, aber jetzt mache ich es doch. Vor zehn Minuten hat Jette mir nämlich am Telefon berichtet, dass ihr eben, als sie mit Franzi in Ottensen war, ein supergut aussehender Typ seine Telefonnummer gegeben hätte, und das ist natürlich schon ein ziemlicher Knaller. Schließlich passiert einem so etwas ja nicht gerade alle Tage (es sei denn, man heißt Franzi, dann passiert einem das aus unerfindlichen Gründen andauernd) und ich glaube, bei Jette ist das sogar eine Premiere.

Bisher kann man nämlich nicht unbedingt sagen, dass die Kerle bei ihr Schlange stehen würden, wobei Jette immer meint, das läge daran, dass sie noch immer viel zu fett sei. Aber das ist in meinen Augen Blödsinn. Schließlich hat sie letztes Jahr mit diesem Abnehm-Programm der Krankenkasse superviel Gewicht verloren und wiegt jetzt höchstens noch fünf oder sechs Kilo mehr als Franzi. Wenn überhaupt, könnte das nur an den ganzen Sommersprossen liegen, die sie überall im Gesicht und an den Armen hat und die sie hasst wie die Pest. Aber wenn du mich fragst, passen die eigentlich ziemlich gut zu ihren halblangen roten Haaren, mit denen sie akkurat so aussieht wie aus einer Werbung für irische Butter. Das hat bisher nur noch keiner von den Jungs gemerkt.

Aber jetzt ja anscheinend doch. Hosianna! Jette hat mir eben alles haarklein erzählt: Wie Franzi und sie gestern Nachmittag die Tür von diesem Starbucks-Abklatsch neben dem Mercado aufgemacht haben und sich dieser Rafael (der anscheinend fast genauso aussieht wie Elyas M’Barek) bei ihrem Anblick an seinem Chai Latte verschluckt und eine ziemliche Sauerei angerichtet hat, woraufhin er Jette um ein Taschentuch gebeten hat – und Bingo. Mehr hat’s nicht gebraucht. Jette meinte, sie hätte noch nie einen Jungen mit so wunderschönen dunkelbraunen Augen gesehen (etwas strange, wenn du mich fragst, der Typ spuckt alles voll und sie achtet nur auf seine Augenfarbe, aber okay, wo die Liebe hinfällt). Na ja, und dann haben sich die beiden wohl noch ein paar Minuten unterhalten und anschließend hat er sich zu Jette herübergebeugt und ihr seine Telefonnummer auf einen herumliegenden Pappbecher geschrieben und jetzt ist sie total im Glück.

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Jette meinte, sie hätte schon zweimal versucht, Rafael anzurufen, aber da wäre immer besetzt gewesen, woraufhin ich ihr erst einmal geraten habe, das als eine Art Wink des Schicksals aufzufassen und mit dem Rückruf noch etwas zu warten. Nur damit sie nicht allzu bemüht rüberkommt. (Okay, ich weiß, Mumi meint immer, meine Freundinnen und ich würden viel zu viel taktieren und das Beste sei immer, sich ganz natürlich zu verhalten, aber ein kleines bisschen Taktik hat meines Wissens noch niemandem geschadet.)

Gott, wenn das mit Jette und diesem Rafael wirklich klappen würde, wäre das echt schön! In letzter Zeit haben Franzi und ich uns nämlich ziemliche Sorgen um Jette gemacht. Zum einen, weil sie neuerdings ganz viele Lebensmittel nicht mehr verträgt und deshalb andauernd auf Klo muss, und zum anderen, weil sie sich im Winter wochenlang mit der Überwachung von Scharis Mutter und Sophies Vater beschäftigt hat, was echt schon zwanghafte Züge hatte. Selbst für jemanden, der später mal Kommissarin werden will.

Anfangs war das wohl nur so eine Art Spleen, weil Jette irgendwann durch Zufall beobachtet hat, wie Sophies Vater das Hochhaus verlassen hat, in dem Schari wohnt. Erst hat sie sich nur gewundert, aber anschließend ist dann mit ihr voll der Ermittlerwahn durchgegangen und vor ein paar Wochen hat sie Franzi und mir feierlich eröffnet, dass Scharis Mutter und Sophies Vater höchstwahrscheinlich ein Verhältnis miteinander hätten. Na, und da waren wir natürlich erst mal baff, wobei – komplett entgeistert trifft es wohl eher.

Ich mein, selbst wenn man Jettes Vorliebe für absurde Verschwörungstheorien kennt6 – das war echt eins over the top. Vor allem, weil sie Schari und Sophie auch noch unbedingt über die Machenschaften ihrer Mutter bzw. ihres (glücklich verheirateten) Vaters aufklären wollte. Ich sag dir, Franzi und ich mussten mit Engelszungen auf Jette einreden, bis sie irgendwann zu der Erkenntnis gekommen ist, dass sich auch ein weiblicher Sherlock Holmes wie sie mal irren könnte. In der Zeit bin ich vor lauter Stress um Jahre gealtert, ehrlich!!!!

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Man stelle sich nur mal vor, Sophie hätte das von Jettes Verdacht mitgekriegt! Die wäre garantiert kollabiert! Schließlich liebt sie ihre Eltern abgöttisch und ist total stolz darauf, dass die so eine tolle Ehe führen. Und Schari wäre garantiert auch stocksauer gewesen, schließlich findet sie sowieso, dass die Frage, wer der Vater ihrer neugeborenen Schwester ist, niemanden etwas angeht. Und da Scharis Mutter und Sophies Vater sich höchstens ein- oder zweimal auf irgendwelchen Elternabenden gesehen haben, war Jettes Beweiskette ohnehin völlig hirnrissig …

Oh, Papa will was. Mist! Ich muss runter, Otti wickeln. Anscheinend hat Mama sich unten am Telefon gerade mit ihrem Bruder gestritten und jetzt muss Papa sie trösten und kann deshalb nicht Windeln wechseln. Und alles nur wegen meinem bescheuerten Onkel! Ich weiß schon, warum Mumi immer gesagt hat, Udo hätte sich leider komplett anders entwickelt als sie gehofft hat. Der Typ ist so was von strunz-doof, gegen den ist sogar ein Toastbrot schlau!

16.39 Uhr.