Claudia Reeker-Lange
Patricia Aden
Sabine Seyffert

Handbuch der Progressiven Muskelentspannung für Kinder

Klett-Cotta

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2010 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

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Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Adobe Stock / jean jarry

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89233-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10405-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20026-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort

Einführung

1. Was ist Progressive Muskelentspannung?

Der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung

Die Progressive Muskelentspannung als Entspannungsmethode

2. Aufbau und Funktion von Muskeln

Schlüsselrolle der Muskeln bei der PME

Funktion des Skelettmuskels

Die acht Muskelgruppen

Eingeweide- und Herzmuskulatur

3. Wie wirkt Progressive Muskelentspannung?

4. Vegetatives Nervensystem

5. Herz und Atmung

6. Das Stresskonzept

Die Stress-Reaktion

Eustress und Disstress

Kriterien für Stress

Stressfaktoren erkennen

Mit Progressiver Muskelentspannung dem Stress entgegenwirken

7. Wann wird Progressive Muskelentspannung eingesetzt?

Indikationen

Konzentrationsstörungen

Schlafstörungen

Hyperaktivität

Schulstress

Depressive Verstimmung

Ängste

Kopfschmerzen

Bauchschmerzen

Allergie

Neurodermitis

Asthma

Bluthochdruck

8. Kontraindikationen für die Progressive Muskelentspannung

Akute fieberhafte Infekte

Verletzungen

Epilepsie

Depression

Behinderung

9. Progressive Muskelentspannung für Kinder

9.1 Voraussetzung und Vorbereitung

Für welches Alter eignet sich die Progressive Muskelentspannung?

Gruppengröße

Übungsraum

Übungshaltungen

Kleidung

Regeln

Elternarbeit

Übungsplan

9.2 Die Grundlagen des Übens

Dauer der Anspannung und Entspannung

Zurücknehmen

Mögliche Schwierigkeiten und Körperreaktionen

Wichtiges vor Übungsbeginn

Ankommübungen – Einstimmungsübungen

Weg des Atems

Reise durch den Körper

Ort der Fantasie – Ort der Ruhe

Gedankenwolken

Musik

10. Übungen der Progressiven Muskelentspannung

10.1 Übung mit acht Muskelgruppen

Überblick: acht Muskelgruppen

Anleitung des Verfahrens

10.2 Übung mit vier Muskelgruppen

Überblick: vier Muskelgruppen

Anleitung des Verfahrens

10.3 Vergegenwärtigung

11. Grundkurs Progressive Muskelentspannung

11.1 Was vor Kursbeginn beachtet werden sollte

Ärztliche Abklärung/Progressive Muskelentspannung als Begleiter

Freiwilliges Erlernen der Progressiven Muskelentspannung

Atemeinsatz

Veränderung der Angabe für die An- und Entspannung

11.2 Stundenaufbau und Kursgestaltung für einen Grundkurs

Grundsätzliches

11.3 Beispiel für einen Grundkurs mit acht Kurseinheiten über 60 Minuten mit 4–6 Kindern

1. Stunde

2. Stunde

3. Stunde

4. Stunde

5. Stunde

6. Stunde

7. Stunde

8. Stunde

11.4 Konzept für einen Grundkurs

11.5 Einzelsitzungen

11.6 Praktische Übungen zur Progressiven Muskelentspannung für ältere Kinder und Jugendliche

Übung mit Schwämmen

Strandspaziergang

12. Fantasiegeschichten mit acht und vier Muskelgruppen

12.1 Acht Muskelgruppen

Ein Nachmittag im Baumhaus

Im Schlosspark

Komm doch, lieber Frühling

Der Herbst ist bunt

Komm, wir gehen auf den Spielplatz

Ein Tag am Meer

Im Dschungel

Heute besuchen wir den Zoo

12.2 Fantasiegeschichten mit vier Muskelgruppen

Ein Piratenabenteuer

Keine schlechte Laune mehr!

Fips der Affe

Im Schnee

Auf der Kirmes

13. Spielideen und Tänze zum Anspannen und Entspannen für den Alltag und zwischendurch

Achtung, aufgepasst!

Stopptanz

Von Kopf bis Fuß

Der Tanz der Farben

Kleiner Angsthase

Stark wie ein Riese

Im Auto

14. Entspannungsübungen und Spielideen rund um die Muskelgruppen

14.1 Gesicht

Fratzen ziehen

Ihhh, wie ekelig

Zähne putzen, das macht Spaß

Kerzen pusten

Pusteblumen pusten

14.2 Schultern

Ein kleiner Pinguin

Brr, ist das kalt!

Mein bunter Drache flattert im Wind

Mein schwerer Rucksack

Die Last auf meinen Schultern

Keine Ahnung

14.3 Hände und Arme

Zitronenpresse

Heute ist Putztag!

Waschlappen wringen

Kunterbunte Knete

Mein Knautschball gegen Wut

Ein Schneeball

Mein Ball fliegt hin und her

Heute gibt’s Spaghetti

Ich bau mir ein Baumhaus

Der Teddy gehört mir

Mein Tannenbaum

14.4 Bauch

Ein kleines Schiffchen fährt umher

Boxkampf

Im Land der dicken Leute

14.5 Füße/Beine

Wir fahren Rad

Ein buntes Tuch

Lustiger Murmelweitwurf

Sand zwischen meinen Zehen

Ein Zeitungsblatt

Abbildungsnachweis

Literatur

Vorwort

Dieses Buch soll ein praxistauglicher Wegweiser im Umgang mit der Progressiven Muskelentspannung für Kinder sein. Wir haben uns bemüht, klar und verständlich zu bleiben. Es wird gezeigt, wie, wo und wann Progressive Muskelentspannung (PME), auch Progressive Muskelrelaxation (PMR) genannt, einsetzbar ist.

Es ist erwiesen, dass Stress und psychische Belastungen wesentlich dazu beitragen, dass es auch bei Kindern schon verstärkt zu gesundheitlichen Beschwerden kommen kann. Durch die Progressive Muskelentspannung besteht die Möglichkeit, positiv Einfluss auf das Befinden der Kinder nehmen zu können. Die Progressive Muskelentspannung ist eine leicht erlernbare, und wenn sie dann von den Kindern beherrscht wird, im Alltag fast immer und überall einsetzbare Entspannungsmethode. Dieses Buch soll Therapeuten, Lehrern, Erziehern und natürlich auch interessierten Eltern eine leicht verständliche Einführung in die Progressive Muskelentspannung geben und ihnen zeigen, wie es möglich ist, den Kindern diese Methode einfach, spielerisch und kindgerecht zu vermitteln.

Für Erwachsene werden inzwischen schon viele Kurse für PME mit großem Erfolg angeboten. Leider ist das Kursangebot für Progressive Muskelentspannung mit Kindern immer noch gering. Da das Interesse an der PME für Kinder zunehmend steigt, wird es diesbezüglich in den nächsten Jahren glücklicherweise eine positive Veränderung geben. Neben dem Autogenen Training ist die Progressive Muskelentspannung die anerkannteste Entspannungsmethode. Beide sind schon Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt worden und haben sich somit lange bewährt.

Unser Ziel war es, systematisch vorzugehen und das Buch so zu schreiben, dass der Leser gut nachvollziehen kann, was Progressive Muskelentspannung ist, was sie bewirkt und wie sie für Kinder einfach und kindgerecht, klassisch oder über Fantasiereisen, vermittelt werden kann. Im theoretischen Teil geht es unter anderem darum, wichtiges physiologisches und anatomisches Grundwissen zu vermitteln. Thematisiert werden auch Anwendungsgebiete, Indikationen und Kontraindikationen. Weiterhin wird der Aufbau eines Grundkurses mit acht Kurseinheiten und Einzelsitzungen dargestellt. Um die Progressive Muskelentspannung mit Freude und für die Kinder motivierend vermitteln zu können, findet der Leser ein großes Angebot von Fantasiereisen, Spielideen und Möglichkeiten für die kindgerechte Vermittlung im letzten Teil des Buches.

Wir wünschen uns, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass das Angebot für Progressive Muskelentspannung für Kinder in den nächsten Jahren verstärkt zunimmt, und möchten Therapeuten und Therapeutinnen, Pädagogen und Pädagoginnen und alle, die sich für das Wohlergehen unserer Kinder einsetzen, dazu ermutigen, sich dieser Aufgabe zu stellen.

Da in allen genannten Berufsgruppen sowohl Männer als auch Frauen arbeiten, werden wir im Buch abwechselnd die männliche und die weibliche Form verwenden.

Einführung

Die Progressive Muskelentspannung, auch Progressive Muskelrelaxation (abgekürzt PMR) genannt, die in den 1960er Jahren nach Deutschland kam, wurde um 1930 von Edmond Jacobson, der als Pionier der Progressiven Muskelentspannung gilt, entwickelt. Jacobson (amerikanischer Arzt für innere Medizin, Psychiatrie und Physiologie – 1885 bis 1976) begann sein Studium 1908 an der Havard Universität. 1918 leitete er ein Institut für Physiologie und war Chefarzt an einer Klinik für innere Medizin in Chicago. Seit 1936 arbeitete er im eigenen Labor für klinische Medizin. Er verfasste 64 wissenschaftliche Arbeiten und schrieb acht Bücher. Jacobson erkannte, dass durch die systematische Anspannung und Entspannung einzelner Muskelgruppen und die Konzentration auf die dabei entstehenden Gefühle fast jeder in der Lage ist, tiefe Entspannung zu erfahren. Durch umfangreiche Untersuchungen war er in der Lage, den Zusammenhang zwischen verstärkter muskulärer Anspannung und unterschiedlichen Erkrankungen nachzuweisen. Da Spannung und Anspannung (wie z. B. in Angstsituationen) in der Regel immer mit einer Verkürzung der Muskelfasern zusammenhängen, erkannte er die Entspannung als das genaue Gegenteil von Erregungszuständen. Edmond Jacobson entwickelte eine physiologische Methode, um sich mit Angst und Spannung auseinanderzusetzen und sie anzugehen. Er stellte fest, dass die Angst durch Behebung der Spannung beseitigt werden kann. Die muskuläre Entspannung, d. h. keinerlei Muskelkontraktion mehr, wurde als der direkte physiologische Gegensatz zur Spannung erkannt. Im fortgeschrittenen Stadium entspannt sich dann nicht nur die Skelettmuskulatur, sondern auch die glatte, unwillkürliche Muskulatur der inneren Organe und es kann dadurch zur vegetativen Umschaltung kommen.

Jacobson vermittelte das Verfahren in vielen und langen Sitzungen. Dabei bezog er mehr Muskelgruppen ein, als es heute der Fall ist. Der südafrikanische Psychotherapeut und Entwickler der Angsttherapie (Systematische Desensibilisierung), Joseph Wolpe, veränderte um 1950 das ursprüngliche Verfahren dahingehend, dass es heute ein systematisches Behandlungsprogramm geworden ist (Bernstein/Borcovec 2007, S. 20–21). Er stellte fest, dass es möglich ist, die Progressive Muskelentspannung in einer verkürzten Form zu erlernen. Dabei genügen sechs bis acht Sitzungen, um die Grundkenntnisse zu erwerben. In der heutigen Zeit wäre es auch kaum möglich, die Menschen zu solch hohem Zeiteinsatz für das Erlernen einer Entspannungsmethode zu veranlassen, wie es bei Edmond Jacobson der Fall war. Obwohl es, gerade in unserer immer hektischer werdenden und schnelllebigen Zeit, immer wichtiger wird, eine Möglichkeit zu haben und eine Strategie zu entwickeln, positiv Einfluss auf die eigene physische und psychische Befindlichkeit nehmen zu können! So ist die Progressive Muskelentspannung mit Erwachsenen auf 16 Muskelgruppen beginnend und mit Kindern auf acht Muskelgruppen beginnend eingeschränkt, und die An- und Entspannungszeit verkürzt worden. Diese Form der Progressiven Muskelentspannung wird heute weitgehend angewendet. Die PME ist heute ein Grundbestandteil der Verhaltenstherapie.

Lange Zeit ging man davon aus, dass die Progressive Muskelentspannung nur für Erwachsene eine geeignete Entspannungsmethode sei. In den letzten Jahren wurde aber festgestellt, dass auch gerade Kinder mit dieser Methode sehr gut zurechtkommen. Sie wird selbstbestimmt ein – und umgesetzt. Im Gegensatz zum Autogenen Training dürfen und sollen die Kinder bei der Progressiven Muskelentspannung aktiv sein, indem sie, bevor sie die Muskelanspannung wieder lösen, die Muskeln kräftig anspannen. Sie sollen sich der eigenen Anspannung stellen und sie wieder loslassen und sie können lernen, sich auf dieses gute Gefühl, das entstanden ist, einzulassen und es anzunehmen. Im Laufe der Zeit übertragen die Kinder diese Fähigkeiten in den Alltag und können so mit vielen Belastungen besser fertig werden. Das physische und psychische Gleichgewicht wird wiederhergestellt. Die Lebensqualität wird verbessert. Entspannung heißt auch, seelische Anspannung (z. B. Ängste) loszulassen. Es ist in der Regel so, dass es durch eine psychische Anspannung auch zu einer körperlichen Anspannung kommt. Leider ist das in unserer immer hektischeren, leistungsorientierteren und reizüberfluteten Welt auch bei Kindern oft schon zu beobachten. Wir haben die Möglichkeit, durch die Progressive Muskelentspannung positiv darauf Einfluss zu nehmen.

1. Was ist Progressive Muskelentspannung?

Der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung

Der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung entspricht dem Rhythmus des Lebens. Alle wichtigen Vorgänge vollziehen sich als Wechsel von Anspannung und Entspannung.

Dafür gibt es viele Beispiele. Besonders deutlich wird es, wenn man die vitalen Funktionen Herztätigkeit und Atmung betrachtet.

Die Herztätigkeit besteht in der regelmäßigen Kontraktion des Herzmuskels und der darauf folgenden Entspannung. Das Herz schlägt beim Erwachsenen 60 bis 80 mal in der Minute, bei Kindern ist die Herzfrequenz in Abhängigkeit vom Alter höher.

Auch die Atmung ist ein ständiger Wechsel von Anspannung und Entspannung. Bei der Einatmung wird die Atemmuskulatur maximal angespannt, bei der Ausatmung erschlaffen die Atemmuskeln. Dieser Vorgang wiederholt sich 16 bis 20 mal pro Minute, auch hier sind beim Kind die Werte höher.

Die Tätigkeit der Verdauungsorgane folgt ebenfalls dem Muster von Anspannung und Entspannung. Mithilfe von rhythmischen Kontraktionen wird der Speisebrei durch den Verdauungstrakt geleitet. Dabei folgt jeder Welle von Kontraktion eine Welle der Entspannung.

Das Herz, die Atem- und die Verdauungsorgane haben die Aufgabe, die grundlegenden Funktionen des Körpers aufrechtzuerhalten. Ihre Tätigkeit ist nicht von unserer bewussten Steuerung abhängig, wir können sie höchstens indirekt beeinflussen.

Anders ist es mit der Muskulatur des Bewegungsapparates, der Skelettmuskulatur. Die Skelettmuskeln sind die einzigen Muskeln, die wir bewusst steuern können. Und auch hier folgt die Funktion der Skelettmuskulatur demselben Muster. Alle uns vertrauten Bewegungsabläufe – Gehen, Greifen, Sprechen – sind eine Abfolge von Kontraktion und Entspannung der beteiligten Muskeln.

Aber nicht nur auf der Ebene einzelner Organe, auch im gesamten Organismus wechseln sich Anspannung und Entspannung ab. Der Körper kann als Ganzes auf Anstrengung oder auf Entspannung ausgerichtet sein. Dieser Zustand teilt sich jedem Organ, ja vermutlich jeder Zelle mit. Zur Weitergabe dieser Information braucht der Körper Nerven und Botenstoffe. So wird die Anspannung oder Entspannung des gesamten Organismus durch ein Zusammenspiel von bestimmten Hirnzentren, den vegetativen Nerven Sympathikus und Parasympathikus und durch Hormone bewirkt.

Körperliche oder seelische Anstrengung ruft Anspannung hervor, beim Abklingen dieser Reize stellt sich Entspannung ein. Diesen Wechsel erleben wir mehrfach am Tag. Darüber hinaus sind alle diese Abläufe eingebettet in den Tag-Nacht-Rhythmus als der biologisch vorgegebenen Abfolge von Anspannung und Entspannung. Am Tag ist man wach und leistungsbereit. In der Nacht schläft man und der Körper erholt sich.

Auch die Seele schwingt zwischen Anspannung und Entspannung. Vorfreude, Arbeitswut oder Angst sind Ausprägungen der Anspannung. Beim Hören von angenehmer Musik, beim vertrauten Gespräch oder bei einer Beschäftigung, die Freude macht, tritt hingegen Entspannung ein.

Wie diese Beispiele zeigen, ist der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung nicht zufällig. Er ist offensichtlich ein Grundmuster, das von der Natur vorgegeben ist. Anspannung bedeutet Verausgabung, Entspannung hingegen Rückgewinnung von Energie. Ein ausgewogenes Verhältnis von beidem führt zu einer ausgeglichenen Energiebilanz und ist eine wichtige Voraussetzung für ein gesundes Leben.

Aufgrund dieser Überlegungen leuchtet es ein, dass jede Maßnahme, die ein gestörtes Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung wieder herstellt, zur körperlichen und seelischen Gesundheit beiträgt. Die Progressive Muskelentspannung ist, ähnlich wie das Autogene Training, eine solche Maßnahme. Sie hilft, mit einfach zu erlernenden Übungen einen Zustand der Entspannung herzustellen, in dem sich der Körper erholt, ähnlich wie im Schlaf.

Da dieser Entspannungszustand alle Bereiche des Körpers, und nicht nur die Muskeln, einbezieht, ist auch der Anwendungsbereich der Progressiven Muskelentspannung groß. Sie wirkt sowohl bei körperlichen Krankheiten als auch bei Störungen des Verhaltens, indem sie einen Faktor des Entstehens, nämlich den Stress, beeinflusst.

Oft wird die Frage gestellt, wozu überhaupt eine Entspannungsmethode wie die Progressive Muskelentspannung nötig sei. Wenn der Wechsel von Anspannung und Entspannung natürlich ist, müsste er jederzeit verfügbar sein und nicht eigens erlernt und eingeübt werden müssen. Das würde dann besonders für Kinder gelten, von denen sich manche Menschen nicht vorstellen können, dass sie von Stress und seinen Folgen betroffen sind.

In der Tat wird durch die Methode der Progressiven Muskelentspannung die Entspannung nicht neu erfunden. Vielmehr wird die natürliche Fähigkeit zur Entspannung wahrgenommen und verstärkt.

Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung ist zwar von der Natur angelegt, aber dieses Gleichgewicht kann durch menschliche Einflüsse gestört werden. Wir wissen, welche Ursachen den Schlaf stören können: Lärm, Ängste, Sorgen oder ein Übermaß an Reizen. Diese Faktoren schaffen aber auch allgemein einen Zustand der Anspannung.

In unserer Zivilisation tendiert das Ungleichgewicht stets in Richtung der Anspannung. Es gibt zu viele Gründe, sich zu verspannen, und zu wenig Anlässe, sich um Entspannung zu bemühen.

Dies gilt auch schon für Kinder, wie man leicht anhand der Folgen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, motorischer Unruhe und Aggressivität feststellen kann. Das ist nicht verwunderlich, denn Kinder werden in unsere anstrengende Lebensweise mit hineingezogen. Schon Säuglinge spiegeln die Stimmungslage ihrer Eltern. Mit zunehmendem Alter können auch Kinder das ursprünglich vorhandene Gleichgewicht von Anspannung und Entspannung verlieren.

Die Progressive Muskelentspannung als Entspannungsmethode

Der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ist zwar ein natürlicher Rhythmus, aber er ist störanfällig und daher nicht immer zuverlässig. Die Progressive Muskelentspannung ist eine Methode, die es erlaubt, mit wenigen einfachen Übungen wieder zu dem natürlichen Rhythmus zurückzukehren. Sie hilft, das Überwiegen von Anspannung auszubalancieren.

Wer regelmäßig Progressive Muskelentspannung macht, beugt einer Schädigung durch zu starke Anspannung vor. So wird verhindert, dass sich die Verspannung einen Weg in die Organe sucht oder eine Störung des Verhaltens hervorruft. Die Progressive Muskelentspannung ist somit eine Maßnahme, die vorbeugende Wirkung hat, die Störungen beseitigt und die zu einer verbesserten Körperwahrnehmung führt.

Der Begriff »Methode« beinhaltet auch, dass es sich um eine systematische Übung handelt. Denn nur mit einem systematischen Training kann eine nachhaltige Wirkung erzielt werden. Das gilt für Entspannung ebenso wie für Lesen, Sport oder Klavierspielen.

Im Alltag gibt es natürlich auch viele Möglichkeiten, sich zu entspannen: Musik hören, ein warmes Bad nehmen, spielen, nach draußen gehen. Kinder wissen meistens intuitiv, was ihnen guttut, und wenden die für sie geeignete Form der Entspannung an.

Aber diese alltägliche Art, sich zu entspannen, verhält sich zur Progressiven Muskelentspannung wie ein gelegentliches Fußballspiel zum systematischen Training im Verein: Sie ist im Augenblick wohltuend, aber sie erschließt keine zusätzlichen Reserven.

Eine Entspannungsmethode leistet mehr: Sie ermöglicht, wenn sie gut gelernt wurde, schnell, zuverlässig und situationsunabhängig einen in die Tiefe gehenden Entspannungszustand herzustellen.

Das Wort Methode leitet sich vom griechischen Wort hodos (= der Weg) ab. Dieser Weg führt bei der Progressiven Muskelentspannung von einem direkt beeinflussbaren Organ, dem Muskel, in das nicht sichtbare und nicht gezielt beeinflussbare Innere des Menschen.

Bei einer Methode handelt es sich immer auch um ein standardisiertes Verfahren: Es sind – mit gewissen Variationen – immer dieselben Übungen, die zu den immer gleichen Wirkungen führen. Die Wirkung der Progressiven Muskelentspannung ist wissenschaftlich belegt.

Die Progressive Muskelentspannung ist sehr verbreitet, weil sie von fast jedem Menschen in kurzer Zeit erlernt werden kann. Auch Kinder finden schnell einen Zugang zur Progressiven Muskelentspannung und haben Spaß daran, ihren Körper auf besondere Art wahrzunehmen. Fantasiereisen unterstützen die Entspannung und die Körperwahrnehmung.

2. Aufbau und Funktion von Muskeln

Schlüsselrolle der Muskeln bei der PME

Ziel der Progressiven Muskelentspannung ist es, einen allgemeinen Entspannungszustand herzustellen. Das Verfahren ist der Natur abgeschaut. Es beruht auf der Beobachtung, dass sich Anspannung unter anderem in einer Verkrampfung der Muskulatur äußert. So rufen Zorn oder Angst einen verspannten – verkniffenen – Gesichtsausdruck hervor. Etwas Unangenehmes versucht man zu überwinden, indem man die Zähne zusammenbeißt.

Den Zusammenhang zwischen der allgemeinen Anspannung und dem Spannungszustand der Muskulatur macht man sich bei der Progressiven Muskelentspannung zunutze. Die Reihenfolge des Ablaufs aber wird umgedreht: Der Ansatzpunkt ist die Beeinflussung der Muskulatur. Über die Muskeln wird der gesamte Spannungszustand des Körpers und der Seele beeinflusst.

Um dies zu erreichen, müssen nicht alle Muskeln des Körpers einbezogen werden. Stellvertretend für die gesamte Muskulatur werden bei dem klassischen Verfahren für Erwachsene sechzehn Muskelgruppen gezielt angespannt und wieder entspannt. Bei der Progressiven Muskelentspannung für Kinder sind es acht Muskelgruppen.

Der Weg zur Entspannung führt also über die Muskulatur. Daher sollen die Muskeln hier näher betrachtet werden.

Die Muskulatur ist ein wichtiger Teil unseres Organismus. Sie macht etwa 40 Prozent des Körpergewichtes aus. Muskeln haben die Aufgabe, den Körper zu bewegen oder in einer bestimmten Stellung zu halten. Alle alltäglichen Bewegungen werden durch Muskeln ausgeführt. Aber auch die Bewegung des Brustkorbs beim Atmen wird durch Muskeln hervorgerufen, ebenso wie die Bewegung der Stimmbänder beim Sprechen.

Muskeln können auch eine reine Haltefunktion haben. Mithilfe der Nackenmuskeln wird der Kopf aufrecht gehalten, die Muskeln von Rücken und Bauch gewährleisten die Stabilität beim aufrechten Gang, und die Beckenbodenmuskulatur sorgt für einen zuverlässigen Verschluss von Blase und Enddarm.

Die Muskeln sind mit Rezeptoren zur Körperwahrnehmung ausgestattet. Mit ihrer Hilfe kann man jederzeit, auch im Dunkeln, die Lage des Körpers im Raum wahrnehmen. Die Muskulatur trägt auch zur Wärmeproduktion bei. Durch Muskelzittern wird die Körpertemperatur gesteigert. Das beobachtet man beim Frieren in der Kälte oder beim Schüttelfrost.

Funktion des Skelettmuskels

Wenn wir über Muskeln reden, meinen wir die weitgehend bekannte und sichtbare Skelettmuskulatur. Diese besteht aus über 600 einzelnen Muskeln.

Ein einzelner Muskel ist aus vielen mikroskopisch kleinen Muskelzellen (Muskelfasern) zusammengesetzt. Wenn Muskelfasern arbeiten, verkürzen (kontrahieren) sie sich aktiv. Danach müssen sie passiv gedehnt werden, um sich erneut kontrahieren zu können.

Jeder Muskel hat einen Namen. Aus dem Sport ist der Bizeps besonders bekannt. Dieser Muskel des Oberarms beugt den Arm im Ellenbogengelenk. Wer seine Kraft demonstrieren will, zeigt den angespannten Bizeps.

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Abbildung 1: Beuger und Strecker als Spieler und Gegenspieler

© Verlag Europa-Lehrmittel

So wie den Bizeps gibt es viele andere große und kleine Muskeln, die Bewegungen an Gelenken vollführen. Dabei hat jeder Muskel einen oder mehrere Gegenspieler. Wenn beispielsweise der Bizeps sich zusammenzieht, um das Ellenbogengelenk zu beugen, so wird zugleich der Trizeps – der Strecker des Ellenbogengelenks auf der Rückseite des Oberarms – gedehnt. Dies ist nötig, weil nur ein gedehnter Muskel sich hinterher wieder zusammenziehen kann.

Auch hier ist wieder das Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung zu beobachten. Die Natur hat es so eingerichtet, dass die Kontraktion des einen Muskels automatisch die Dehnung des Gegenspielers hervorruft.

Jeder dieser Muskeln ist über Nerven mit dem Rückenmark und dem Gehirn verbunden. Im Gehirn laufen verschiedene Informationen aus der Haut, aus Auge und Ohr und aus dem Körperinneren ein. Als Resultat der Verarbeitung aller dieser Informationen wird ein Impuls ausgelöst, einen bestimmten Muskel zu bewegen. Wenn man beispielsweise auf eine heiße Herdplatte gefasst hat, erfolgt sofort der Befehl an die Muskeln, die Hand zurückzuziehen. Alle motorischen Aktivitäten – Sprechen, Schreiben, Laufen, Bücken – bestehen aus einer Vielzahl von Befehlen, die das Gehirn den Muskeln gibt.

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Abbildung 2: Repräsentation der Muskeln auf der Oberfläche des Großhirns

© Verlag Europa-Lehrmittel

Je stärker wir ein Organ benutzen, desto mehr Nervenzellen sind im Gehirn zu seiner Steuerung vorhanden. So nimmt das Gebiet im Gehirn, das die Hand oder den Kehlkopf steuert, einen relativ größeren Raum ein im Vergleich zu der Hirnregion, die für die Bewegung des Rückens oder der Beine zuständig ist.

Die acht Muskelgruppen der Progressiven Muskelentspannung sind so ausgewählt, dass alle wichtigen Bereiche des Körpers erreicht werden. Die Reihenfolge der Übungen hängt mit der eben beschriebenen Repräsentation der Organe im Gehirn zusammen: Man beginnt mit dem Arm, danach kommt das Gesicht. Das sind die Muskelpartien, für die es im Gehirn besonders viele Nervenzellen gibt. Man kann sagen, dass es die Muskeln sind, zu denen man einen guten Draht hat. Dann erst schreitet man in der Progressiven Muskelentspannung fort (progressiv = lat. fortschreitend) zu den entfernter liegenden und im Gehirn weniger gut repräsentierten Muskelpartien. Bei dieser Vorgehensweise wird der Einstieg erleichtert, weil man mit dem mental gut erreichbaren Arm beginnt. Wenn die Kinder bis hierhin schon erfolgreich waren, fällt es ihnen nicht schwer, auch den Rücken und die Beine zu erreichen.

Obwohl beide Hirnhälften symmetrisch aufgebaut sind, ist immer eine von beiden die vorherrschende. Bei den meisten Menschen ist es die linke Hirnhälfte. Diese Menschen sind Rechtshänder. Bei den Linkshändern ist es umgekehrt. Da die meisten Menschen Rechtshänder sind, beginnt man die Übungen daher mit der rechten Seite.

Die acht Muskelgruppen

Schauen wir uns die acht Muskelgruppen und die Übungen, die mit ihnen gemacht werden, noch einmal genauer an:

1. Muskelgruppe rechter Arm

2. Muskelgruppe linker Arm

3. Muskelgruppe Gesicht

4. Muskelgruppe Nacken, Schultern, Hals

5. Muskelgruppe Brust, Schultern und oberer Rücken

6. Muskelgruppe Bauch

7. Muskelgruppe rechtes Bein

8. Muskelgruppe linkes Bein

1. u. 2. Muskelgruppe: rechter und linker Arm

Die beiden ersten Muskelgruppen befinden sich an der oberen Extremität. Dazu gehört auch die Hand, die mit ihren vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten in der motorischen Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle spielt. Schon der Säugling kann die Bewegung der Hand bewusst verfolgen. So wird die Koordination zwischen Auge und Hand früh trainiert. An der Differenziertheit der Handbewegungen kann man die motorische Entwicklung eines Kleinkindes beurteilen. Viele Lieder, Reime und Spiele beziehen sich auf Hand und Finger (»Zehn kleine Zappelmänner«, »Wie das Fähnchen auf dem Turme«).

Die oben beschriebene starke Präsenz der Hand auf der motorischen Rinde des Gehirns ist nicht zufällig. Die Hand ist das wichtigste Werkzeug des Menschen. Darum müssen das Muskelspiel der Hand und die Koordination von Auge und Hand intensiv geübt werden.

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Abbildung 3: Muskeln des Armes und der Hand

© Verlag Europa-Lehrmittel

Unter- und Oberarm stehen im Dienste der Hand. Im Unterarm – genauer im Ellenbogengelenk – wird die Umwendbewegung der Hand ausgeführt. Der Oberarm kann die Richtung bestimmen, in die die Hand gebracht wird.

Da Hand, Unter- und Oberarm in der Funktion zusammengehören, bilden sie auch in der Übung eine Einheit.

3. Muskelgruppe: Gesicht

Das Gesicht ist mit vielen kleinen Muskeln unterlegt. Unsere Mimik entsteht durch die Bewegung bestimmter Gesichtsmuskeln. So wird Stirnrunzeln durch die Kontraktion des Stirnmuskels bewirkt, Augenzwinkern durch Kontraktionen des Ringmuskels um das Auge. Bei den Gesichtsmuskeln ist der Zusammenhang zwischen seelischer Verfassung und Spannungszustand der Muskulatur besonders deutlich zu erkennen. Anspannung kann man einem Menschen aus dem Gesicht lesen. Das Gesicht ist daher auch ein Kommunikationsorgan. Weil alle Menschen ähnlich mit Kontraktionen von Mund- und Kaumuskulatur, mit Zusammenkneifen der Augen oder mit Stirnrunzeln auf Stress reagieren, kann auch jeder das kleinste Zucken im Gesicht des anderen erkennen und deuten.

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Abbildung 4: Gesichtsmuskeln

© Verlag Europa-Lehrmittel

Die Gesichtsübung der Progressiven Muskelentspannung hat daher einen wohltuenden Einfluss auf die Gemütslage. Die Gesichtsmuskulatur wird in eine obere, mittlere und untere Gesichtspartie unterteilt. Dies entspricht der Nervenversorgung des Gesichts. Der motorische Gesichtsnerv (Fazialis) und der sensible Gesichtsnerv (Trigeminus) haben drei Äste, die diese drei Abschnitte versorgen. Bei der Übung werden alle drei Abschnitte als eine Einheit betrachtet.

4. Muskelgruppe: Nacken, Schultern, Hals