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Über dieses Buch

Lichtzeichen im Wald. Ein rätselhafter Fremder. Eine unzerbrechliche Schneekugel. Cora ist wild entschlossen, alldem auf den Grund zu gehen und das Geheimnis ihrer neuen Heimat zu lüften. Sie ahnt nicht, wie sehr sie schon in die Ereignisse verstrickt ist und in welcher Gefahr sie schwebt …

Schlick_So-kalt-wie-Eis_Prolog-S7

Niemand ist mehr wach um diese Zeit. Nicht in Rockenfeld. Die kleinen schiefen Häuser am Bachufer scheinen sich in der kalten Oktobernacht eng aneinanderzudrängen und tief und traumlos zu schlafen, eingelullt von dem sanften, monotonen Gluckern des Wassers. Ein Windstoß treibt dürre Blätter durch die Gassen, irgendwo klappert ein Fensterladen. Über den Dächern des Dorfes schwebt ein bleicher, kränklicher Mond.

Sein fahles Licht fällt durch einen Vorhangspalt in Jacob Dorneysers Schlafzimmer und spiegelt sich auf seinem kahlen Schädel. Direkt neben dem Bett steht Dorneysers Rollstuhl. Auf einem Nachttisch stapeln sich Medikamentenpackungen. An der Wand darüber hängt ein verblasstes Foto, das ihn und seine Tochter zeigt, als sie fünf war: Jacob trägt eine alberne Weihnachtsmannmütze, hält Simone auf dem Arm und lächelt, während sie mit staunenden Augen auf eine bunt geschmückte Tanne blickt.

Dorneyser kratzt sich im Schlaf an der Nase, zieht die dicke Daunendecke bis zum Kinn und dreht sich zur anderen Seite.

In nicht einmal drei Minuten wird das Klingeln des Telefons die nächtliche Stille zerreißen.

Aber noch ist es ruhig im Haus. Nur das Geräusch von Jacobs Atemzügen, das Ticken der Standuhr im Korridor und – wenn man ganz genau hinhört – das Trippeln winziger Pfoten. Es kommt aus der Werkstatt im oberen Stockwerk.

Eine graubraune Hausmaus flitzt auf der Suche nach Nahrung über die Dielen. Unter einem der Arbeitstische stößt sie auf ein paar Schokoladenkuchenkrümel und beginnt sie sich hastig einzuverleiben, während ihre schwarzen Knopfaugen gebannt auf die deckenhohen Regale der Werkstatt blicken.

In den Fächern sind Tausende von Schneekugeln aufgereiht; das Mondlicht bricht sich in ihren gläsernen Kuppeln. Alle sind sie Schöpfungen von Jacob Dorneyser. Stille Landschaften unter Glas: schneebedeckte Hügel, verschneite Tannenwälder, winterliche Felder, weihnachtlich geschmückte ­Dörfer, vereiste Seen.

Die Maus verschlingt den letzten Kuchenkrümel und macht sich daran, ihre Vorderpfoten zu säubern. Zu ihrem Unglück ist sie eine ausgesprochen reinliche Maus. Wäre sie nicht so auf ihre Körperhygiene konzentriert, würde ihr auffallen, dass plötzlich ein schwaches blaues Licht in den Schneekugeln aufleuchtet. Wie von einer unsichtbaren Hand bewegt hebt sich der Flitterschnee vom Boden der Gläser und die künstlichen Flocken beginnen, lautlos durch die Kugeln zu schweben.

Die Maus bemerkt nichts davon. Eifrig fährt ihre Zunge über die rosa Vorderpfoten. Dann aber hält sie mitten in der Bewegung inne und blickt auf: Mit einem Mal ist es kalt wie in einer Eishöhle! Für den Bruchteil einer Sekunde sieht es aus, als würde alles in Jacobs Werkstatt von glitzerndem Raureif überzogen: die Regale, die Schneekugeln, sogar die Schnurrbarthaare der Maus. Ein Zittern läuft durch ihren Körper. In der Dunkelheit vor dem Fenster flackern drei blaue Flammen!

Die Maus gibt ein panisches hohes Fiepen von sich, die kleinen Füße scharren über den Boden, ihre Augen quellen hervor – sie fällt zur Seite und bleibt bewegungslos auf den Holzdielen liegen.

In dem Moment, in dem ihr Herz aufhört zu schlagen, lässt das Schrillen des Telefons Jacob Dorneyser aus dem Schlaf auffahren.

Vor der bronzenen Dorneyser-Statue bleibt die Frau stehen und zündet sich eine Zigarette an, bevor sie ihren Weg fortsetzt. Am anderen Ufer angekommen, huscht sie in einen schmalen Durchlass zwischen zwei Fachwerkhäusern.

Ich schleiche ihr durch die labyrinthischen Gassen hinterher. Ich muss nur dem Tack-Tack ihrer Absätze folgen. Hinter dem Schwarzen Glück biegt sie plötzlich in eine kleine Gasse ein und das Geräusch der Schritte verstummt abrupt.

Ich stecke den Kopf um die Ecke und spähe in das düstere Sträßchen. Eine flackernde Straßenlaterne, die ein leises Summen von sich gibt. Sonst nichts.

Wohin ist die Gestalt verschwunden?

Vorsichtig taste ich mich in das Halbdunkel der Gasse vor – und stürze über ein ausgestrecktes Bein. Ich lande der Länge nach auf dem Boden. Die Kapuzenfrau tritt aus dem Dunkel eines Hauseingangs in das schwache Licht der Laterne.

»Guten Abend, Cora. Ich hoffe, du bist im Kugelmachen geschickter als im Beschatten.« Sie schiebt die Kapuze zurück und ich ahne, mit wem ich es zu tun habe …

Die Frau hat anbetungswürdig ausgeprägte Wangenknochen und einen tiefrot geschminkten Mund. Ihr glänzendes schwarzes Haar ist zu einem Bob geschnitten. Der gerade Pony endet über schmalen dunklen Augenbrauen, die an eine unentschlüsselte, elegante Keilschrift erinnern.

Marlene Berber sieht schlichtweg umwerfend aus!

Sie reicht mir eine schwarzbehandschuhte Hand und hilft mir auf die Beine, dann nimmt sie mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, dreht meinen Kopf zur Seite und betrachtet mich interessiert.

»Was für wunderbare Augen«, sagt sie mit einer heiser gurrenden Stimme. »Wie blaue Eisgletscher. Du bist eine Schönheit … und du bist jung. Solltest du um diese Zeit nicht mit einem überglücklichen jungen Mann verabredet sein? Warum spionierst du stattdessen unbescholtenen Witwen hinterher?«

Von wegen unbescholten. Die Übergabe des Päckchens auf dem Friedhof war ja wohl mehr als subversiv, aber wahrscheinlich ist es klüger, das erst mal nicht zu erwähnen. Leider enthebt mich das auch der Möglichkeit, irgendetwas Plausibles zu meiner Verteidigung vorzubringen.

»Ich wollte nicht … Entschuldigen Sie bitte, Frau Berber«, stammle ich.

»Marlene«, gurrt sie und streicht mir durch die Haare. »Nenn mich doch Marlene. Hast du es eilig? Oder kann ich dich zu einem aufregenden, alkoholhaltigen Getränk verführen … bei mir zu Hause?« Sie lächelt auf eine undurchschaubare Weise, die alles Mögliche bedeuten kann. So muss die böse Hexe gelächelt haben, als sie Hänsel und Gretel ins Lebkuchenhaus gelockt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, ihre Einladung anzunehmen. Andererseits will ich unbedingt wissen, was das für eine Frau ist, die Kugeln mit leuchtenden Plastikherzen, Selbstmörderinnen im Cocktailkleid und am Galgen baumelnden Prozessoptimierern macht.

»Zufällig habe ich gerade ein bisschen Zeit.«

»Dann komm.« Sie legt mir die Hand auf den Rücken und führt mich aus der Gasse. Wenn man neben ihr herläuft, fühlt man sich unvermeidlich wie ein senk-, spreiz- und plattfüßiges Trampelmonster, denn Marlene Berber geht nicht einfach. Sie schreitet dahin.

»Ist dir eigentlich klar, dass du das Gesprächsthema Nummer eins im Dorf bist?«, fragt sie. »Die geheimnisvolle Enkelin, die aus dem Nichts aufgetaucht ist und deren Ausbildung Jacob so wichtig ist, dass er sogar seine Teilnahme am Schneekugelfest abgesagt hat …«

»Hat er?«, frage ich überrascht.

»Sicher. Hat er nicht mit dir darüber gesprochen? Er hat Melly Boskop erzählt, deine Ausbildung hätte absoluten Vorrang und alles andere müsse erst mal zurückstehen.«

Schon sind wir bei Marlenes wunderbare Kugeln angelangt. Sie schließt die Ladentür auf und macht eine einladende Geste. »Tritt ein ins Ungewisse.«

Genau da liegt das Problem. Wenn Marlene Berber einen anlächelt, sieht das ungeheuer charmant aus … und gleichzeitig so, als würde sie gerade darüber nachdenken, mit welchem ihrer Lieblingsmesser sie einen im Verlauf des Abends filetieren wird. Wer garantiert mir eigentlich, dass Zacharias Tigg nur ein durchgeknallter Spinner ist? Vielleicht ist sie genau die irre Mörderin, für die er sie hält. Höchste Zeit, ein paar Dinge zu klären.

»Warum treffen Sie sich in der Dunkelheit mit Valentin Magomedov auf dem Friedhof?«, frage ich. »Was war das für ein Päckchen, das Sie ihm gegeben haben? Ich habe Sie beobachtet … rein zufällig.«

Sie schüttelt den Kopf. »Dich.«

»Was?«

»Ich habe dich beobachtet … wir hatten uns doch auf Marlene geeinigt«, haucht sie und streicht mir über die Wange. Diese Frau schafft es, mich völlig aus dem Konzept zu bringen.

»Und was war das für ein Päckchen, das du ihm übergeben hast?«

»Ich muss mich vor niemandem rechtfertigen. Aber um dich zu beruhigen: Valentin ist ein Freund – ich habe ihm ein kleines Geschenk gemacht: einen iPod.«

»Und dazu musst du ihn auf dem Friedhof treffen?«

»Sagen wir, ich bin sehr günstig an den iPod gekommen. Vom Laster gefallen. Darum wollte ich ihn nicht unbedingt mitten auf dem Marktplatz übergeben. Ich hoffe, du glaubst nicht alle Schauergeschichten, die man sich über mich erzählt … es stimmen allerhöchstens zweiundneunzig Prozent davon. Sagen wir fünfundneunzig. Und jetzt sei ein kluges, neuen Erfahrungen gegenüber aufgeschlossenes Mädchen und komm rein!«

Ich gebe mir einen Ruck und folge ihr in den Laden.

Während die Geschäfte der anderen Kugelmacher mit Schneegläsern vollgepfropft sind, bevorzugt Marlene Berber eine eher minimalistische Ladendekoration. Ich zähle genau zwölf Kugeln. Drei davon stehen auf schlanken weißen Säulen in der Mitte des Raums und werden von kleinen Spots angestrahlt.

In der linken Kugel ist eine Hochzeit auf einer verschneiten Waldlichtung zu sehen. Etwas verstörend dabei ist allerdings, dass die schwarz gekleidete Braut einen Katzenkopf hat und der Bräutigam einen Fischkopf. In seinen Glupschaugen steht blinde Panik. Im Hintergrund gibt es eine einsame Kirchenbank, in der ein weiterer Katzenkopf – vielleicht der Vater der Braut – in aller Seelenruhe eine Forelle abnagt.

Die Schneekugel in der Mitte zeigt eine merkwürdige Beerdigungsszene: Aufrecht gehende Feuersalamander tragen einen leeren, mit schwarz-gelbem Samt ausgeschlagenen Sarg. Sie werden von einem rothaarigen Mädchen beobachtet, das in einem zitronengelben Kleid auf dem dicken Ast einer Linde hockt.

»The Skating Accident«, steht auf dem Sockel der dritten Kugel, ganz rechts: ein Schlittschuh laufendes Paar auf einer runden Eisfläche. Ihre Köpfe sind abgetrennt. Er hält sein Haupt in der Hand, während ihr Kopf auf dem schimmernden, blutbesprenkelten Eis liegt. Drei Richter in roten Roben recken Bewertungskarten in die Luft.

»Gefallen sie dir?«, höre ich Marlene fragen. »Ich gehe davon aus, dass du die Höflichkeit besitzt, mir deine ehrliche Meinung zu sagen.«

»Wenn du wissen willst, ob ich sie schön oder hässlich finde … Ich weiß es nicht. Ich kann die Kugeln nicht einordnen. Sie sind … merkwürdig. Wenn man in sie hineinsieht, dann fühlt es sich an … als würde etwas in Unordnung geraten … als könnte man sich all dem, was man zu wissen glaubt, plötzlich nicht mehr sicher sein.«

Marlene Berber streicht mit dem Finger über die Schneegläser. »Die Welt ist in ständiger Unordnung und Veränderung. Es gibt nichts, dessen man sich sicher sein kann, und die meisten Menschen wissen das sehr genau … obwohl sie nicht gern darüber sprechen. Unordnung und Dinge, die man nicht einordnen kann, machen ihnen Angst. Deshalb lieben sie Schneekugeln. Die Kugeln vermitteln das Bild einer Welt, die sicher und geordnet und unveränderbar ist. Die perfekte Illusion einer heilen Welt. – Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden: In meinen Kugeln zeige ich, was nicht in die Ordnung der Welt passt. Dinge, die merkwürdig sind oder absurd, schockierend, lächerlich, bizarr …« Sie schüttelt die Kugel mit den kopflosen Eisläufern. »Wenn man lange genug in diese Welten blickt, gelingt es einem vielleicht irgendwann, die Angst vor der Unordnung zu verlieren und ihre Schönheit zu erkennen.« Marlene stellt die Kugel zurück und lächelt. »Mir ist durchaus bewusst, dass ich mit diesem Ansatz in der Ära des Kontrollwahnsinns eine Spur avantgardistisch wirke.«

»Großvater hat mir erzählt, dass einige deiner Kugeln in Museen ausgestellt wurden.«

Marlene seufzt. »Ja, das war schön. Aber fünfzehn Minuten Ruhm und ein paar anerkennende Artikel im Feuilleton füllen einem nicht den Kühlschrank. Mein Umsatz ist sehr bescheiden. Es gibt nicht besonders viele Leute, die sich für Dinge begeistern, die man nicht einordnen kann. Melly Boskop verkauft zehnmal mehr Kugeln als ich. Aber ich schlage mich durch und mache nur Kugeln, in die ich selbst gern blicke.«

Sie öffnet die Tür zu einem angrenzenden Raum und bedeutet mir, ihr zu folgen. Ihre Werkstatt ähnelt der von Jacob. Tische voller Werkzeug, Wasserkanister, Flitter. Fast beängstigend normal, denke ich – und dann sehe ich den Fuchs. Für einen Moment bleibt mir die Luft weg. Auf ein großes weißes Kissen gebettet liegt ein toter Fuchs. An seiner Schnauze klebt getrocknetes Blut. Plötzlich wirft er den Kopf herum und strampelt panisch mit den Läufen.

Erschrocken mache ich einen Satz zurück und pralle gegen Marlene.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, sagt sie, drückt einen roten Knopf auf einer Fernbedienung und der Fuchs liegt wieder reglos da. »Ein kleines mechanisches und elektronisches Meisterwerk. Eine Spezialanfertigung.« Sie fährt mit der Hand über das rote Fell. »Ich habe ihn für das Schneekugelfest anfertigen lassen, von einer Firma, die ansonsten mechanische Tiere für Filmaufnahmen baut. Wenn du mir versprichst, mit niemandem darüber zu reden, zeige ich dir, was ich vorhabe.«

Ich nicke nur matt. Der wiederbelebte Fuchs steckt mir noch in den Gliedern.

Marlene zündet sich eine Zigarette an und stößt Rauch aus der Nase. »Als die Jury das diesjährige Thema bekannt gegeben hat – Weiß wie Schnee und rot wie Blut –, hatte ich sofort ein Bild aus einem Märchen vor Augen. Meine Großmutter hat es mir immer vorgelesen, als ich ein kleines Mädchen war: Das Märchen vom Fuchs, der Liebe und dem Tod. Kennst du es?«

»Nein«, sage ich und begreife im gleichen Moment, dass das ein Fehler war: Jetzt werde ich nicht darum herumkommen, mir diese Geschichte anzuhören.

Marlene greift nach einem dünnen Einband, der an einem Gefäß mit Goldflitter lehnt.

Ich kann Märchen nicht ausstehen! Die Bösen sind immer so was von ausschließlich böse und die Guten immer dermaßen gut und so reinen Herzens. Es ist zum Kotzen. Dazu eine getragene Sprache voller Pathos, dass ich spätestens nach zwei Sätzen Gähnkrämpfe bekomme.

Doch Marlene setzt sich auf einen der Tische, schlägt die Beine übereinander und beginnt mit ihrer gurrenden Stimme vorzulesen.

»In den Bergen eines fernen Landes, in dem stets Winter herrschte, lebte einst eine Prinzessin, die von solcher Schönheit und Anmut war, dass ein jeder Edelmann um sie warb und darauf hoffte, ihre Gunst zu erlangen. Die verliebten Galane brachten ihr wertvolle Geschenke und schmeichelten ihr mit wohlgewählten Worten, aber es war keiner unter ihnen, dessen Worte ihr Herz erreichten.«

Ach du liebes bisschen. Schönheit und Anmut, Edelleute und Galane. Ich muss alle Kraft aufwenden, um nicht auf der Stelle in Tiefschlaf zu sinken. Ein herzhaftes Gähnen kann ich leider nicht verhindern. Marlene wirft mir über das Buch hinweg einen kurzen Blick zu, bevor sie weiterliest. »Doch eines Tages kam ein Fremder von weit her an den Hof des Königs. Kaum blickte sie ihm in die Augen, war ihr, als würde sie in zwei Spiegel sehen, in denen sie ihr eigenes Sehnen und Wünschen und Begehren erkannte und ihm erging es ebenso.«

Es fühlt sich an, als würde ein Stromstoß in mich fahren – und von einer Sekunde auf die andere bin ich hellwach. Augen wie zwei Spiegel. Ihr eigenes Sehnen und Wünschen und Begehren. Das war es. Genauso hat es sich angefühlt, an dem Abend, an dem ich Niklas begegnet bin. Das Gefühl, ihn schon lange Zeit zu kennen. Dass er alles über mich weiß.

Zwei Spiegel. Zwei glitzernde …

»… blaue Spiegel«, sage ich und merke erst an Marlenes erstauntem Blick, dass ich es laut gesagt habe.

»Bitte sag es gleich, wenn dich die Geschichte nicht interessiert. Wenn ich eines unverzeihlich finde, dann ist es, andere Menschen zu langweilen.« Sie klappt das Buch zu.

»Nein, nein. Ich langweile mich nicht! Überhaupt nicht! Lies weiter. Bitte!«, rufe ich.

»Alles was zu deinem Vergnügen beiträgt, Liebes«, haucht Marlene und nimmt das schmale Buch wieder in die Hand. »Der Fremde hielt um die Hand der Prinzessin an«, liest sie. »Und schon am nächsten Tag verbreiteten die Boten des Königs überall im Land die Nachricht von der bevorstehenden Vermählung. Die Liebenden ahnten nicht, dass ihrem Glück Gefahr drohte: Eine der Hofdamen, die seit jeher von heimlichem Neid und Missgunst gegenüber ihrer Herrin erfüllt gewesen war, begehrte den jungen Fremden ebenfalls. Ihre Mutter, eine Hexe, hatte sie in den dunklen Künsten unterrichtet und so wandte sie allerlei schwarze Liebeszauber an, um den Fremden für sich zu gewinnen. Aber seine Liebe zu der Prinzessin war wie ein undurchdringlicher Schutzschild, an dem jeder ihrer bösen Zauber abprallte. Da überfiel sie ohnmächtiger Zorn: Wenn er ihr nicht gehören konnte, dann sollte er auch keiner anderen gehören! In der Nacht vor der Hochzeit schlich sie in die Kammer des Fremden, verwandelte ihn in einen Fuchs, jagte ihn aus dem Schloss und verdammte ihn dazu, fortan fern seiner Geliebten einsam durch die verschneiten Wälder zu streifen. Am Tage ihrer Hochzeit wartete die Braut vergebens auf ihren Bräutigam.

Viele Jahre gingen ins Land aber nie hörte die Prinzessin auf, den Fremden zu lieben. Nie verlor sie die Hoffnung, dass er eines Tages zurückkehren würde. Ihr Verlangen nach ihm war in jedem Atemzug, den sie tat, ihre Sehnsucht in jedem Wort, das ihre Lippen verließ, ihre Liebe pulsierte in jedem Tropfen Blut, der durch ihren Körper rann.

Eines Tages, als der Fuchs auf der Suche nach Beute durch den winterlichen Wald strich, drang plötzlich das Klingen von Schellen und das Schnauben von Rössern an sein Ohr. Bald näherte sich ein von Pferden gezogener weißer Schlitten, begleitet von einer Schar Reiter. In dem Schlitten saß eine wunderschöne Frau in vornehmer Haltung.

Ein umgestürzter Baum versperrte den Weg und zwang den Schlitten zu einem Halt. Während die Reiter damit begannen, den Baum aus dem Weg zu räumen, näherte sich der Fuchs neugierig dem Schlitten, und als ihm die Frau ihr Gesicht zuwandte, erkannte er die Prinzessin und sprang durch den Schnee auf sie zu. Ein Aufschrei entfuhr ihrem Mund, denn sie hatte im Blick des Fuchses ebenfalls den erkannt, nach dem sie sich so sehnte. Sie lief ihm entgegen und er sprang in ihre geöffneten Arme da traf ihn ein Dolch in die Flanke. Einer der Reiter, der seine Herrin in Gefahr glaubte, hatte die Waffe nach ihm geschleudert.

Der Fuchs stürzte tot in den Schnee.

Die Prinzessin sank neben ihm auf die Knie. Sie sah in seine erloschenen Augen und plötzlich fühlte sie ihr Blut durch die Adern rauschen wie einen Fluss, der immer stärker anschwillt und sich in rasendem Lauf dem Meer entgegenstürzt. Es war, als würde all ihre Liebe nach dem toten Tier drängen. Da zog sie den Dolch aus seiner Seite, schnitt damit tief in ihre Hand, tauchte die Waffe in das Blut ihrer Liebe und trieb die Klinge tief in sein Herz. Einen Moment herrschte vollkommene Stille über dem Wald dann begann das Herz des Fuchses zu pochen. Er erhob sich aus dem Schnee und der Fluch fiel von ihm ab und er stand seiner Geliebten in seiner menschlichen Gestalt gegenüber.

So hatte die Liebe selbst den Tod besiegt.

Sie kehrten zum Schloss zurück und die böse Hofdame wurde gerädert und gevierteilt und verbrannt und ihre Asche auf dem Felde verstreut. Die Prinzessin und ihr Gemahl aber lebten fortan glücklich bis an das Ende ihrer Tage Wunderschön, nicht wahr?«, sagt Marlene und legt das Buch zur Seite.

»Na ja, am Ende ein bisschen viel Folter und Blut und so …«

»Zum Schneekugelfest plane ich, die Szene mit dem Dolch und dem Blut der Liebe aufzuführen«, vertraut Marlene Berber mir flüsternd an.

»Und wen spielst du? Die Prinzessin oder die Hexe?«

Sie lächelt ihr Hannibal-Lecter-Lächeln. »Natürlich beide. Und nun komm, ich habe dir doch ein aufregendes Getränk versprochen.«

Ich folge ihr zu einer schmalen Treppe. Auf halber Höhe ist ein Treppenabsatz. Zu meiner Linken hängt ein dicker roter Vorhang, der plötzlich von einem Luftzug aufgebauscht wird, und ich erhasche einen kurzen Blick in einen dunklen Korridor.

»Da geht es nur in eine Kammer voller Schmutz«, sagt Marlene, schiebt mich weiter die Treppe hoch und öffnet die Tür zu ihren Privatgemächern.

Ich betrete einen großen Raum, der gleichzeitig als Wohn- und Schlafzimmer dient und eine eigenartige, aber sehr einladende Mischung aus Künstlergarderobe, Zirkuswagen und verruchtem Nachtklub ist, und versinke bis zu den Knöcheln in einem dicken roten Teppich. Vor das Fenster sind schwarze Samtvorhänge gezogen, in der Mitte des Raums steht ein zerschlissenes Sofa. Ein Kerzenleuchter verbreitet dämmeriges Licht und an den Wänden hängen übergroße Zirkusplakate und Werbeposter für Burlesqueshows. An der anderen Seite des Zimmers steht das breiteste Bett, das ich je zu Gesicht bekommen habe, daneben ein Paravent und ein großer Schminkspiegel. Im ganzen Zimmer verteilt liegen Schminkutensilien, Kleidungsstücke, Perücken, Hüte und Sonnenbrillen.

»Ich schlüpfe schnell in etwas Bequemeres«, sagt Marlene und verschwindet hinter dem Paravent. »Mach doch schon mal Musik.«

Ich hocke mich vor ihren Uraltplattenspieler, wühle mich durch einen Berg aus Schallplatten und lege schließlich ein Album der Tiger Lillies auf. Auf einem niedrigen Tisch, neben dem Plattenspieler, steht ein gerahmtes Foto. Das Hochzeitsfoto von Marlene Berber und ihrem verstorben Gatten, Bartholomäus Tigg.

Die Liebe geht seltsame Wege: Bartholomäus Tigg wirkt wie ein äußerst gutmütiger und netter, aber leider auch sehr langweiliger Verwaltungsbeamter, während seine Gattin aussieht, als käme sie gerade von einem aus dem Ruder gelaufenen Punkfestival. Auf dem Bild hat Marlene Berber einen Irokesenschnitt und jede Menge Metall im Gesicht. Sie trägt durchlöcherte Netzstrümpfe, spitze Schnallenschuhe, ein knappes Top mit der Aufschrift NO REST FOR THE WICKED ONES und einen noch knapperen Minirock mit Schottenmuster.

»Getränke kommen sofort«, sagt sie, schlüpft hinter dem Paravent hervor und mir wird klar, dass sie eine sehr spezielle Vorstellung von bequemen Klamotten hat: ein hautenges schwarzes Stretchkleid und Schnürstiefel mit Absätzen, auf denen sich jeder normale Mensch unweigerlich die Haxen brechen würde. Sie aber schwebt mit überirdischer Eleganz zu einer kleinen Hausbar, wo sie gestoßenes Eis in zwei Gläser gibt und eine purpurfarbene Flüssigkeit darübergießt.

Eines davon drückt sie mir in die Hand, während sie zu den Tiger Lillies mitsummt. Mit träumerischem Blick sieht sie zu der sich langsam drehenden Schallplatte. »Vinyl kann einfach alles!«, sagt sie.

»Das hat Mutter auch immer behauptet. Sie war der Meinung, wer digitale Musik hört, der lebt auch digital.«

»Deine Mutter war eine weise Frau.« Marlene sieht mir tief in die Augen und stößt mit mir an. »Auf Vinyl – und auf das analoge Leben!«

Mein lieber Herr Gesangverein! Das purpurfarbene Zeug schmeckt nach Veilchen und hat es in sich. Schon beim ersten Schluck fühlt es sich an, als ob eine kleine lila Wolke in meinem Kopf zerplatzt. Leicht benommen lasse ich mich auf dem Sofa nieder und beginne alberner zu kichern als eine Zwölfjährige, der man ein Treffen mit ihrer Lieblingsboyband versprochen hat.

Marlene betrachtet mich mit einem amüsierten Ausdruck in den Augen, dann schreitet sie zum Fenster und sieht durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen hindurch.

»Der gute Zacharias«, sagt sie. »Er muss doch entsetzlich frieren bei dieser Kälte.«

»Wie?« Ich erhebe mich schwerfällig, trete neben sie und spähe ebenfalls durch den Spalt. Tatsächlich: Da ist das Nachtsichtglas wieder, das ich bei der Kirche bemerkt habe. Und die Gestalt, die an dem Glas hängt, ist entweder ein sehr frühreifer Zehnjähriger oder aber – Zacharias Tigg.

»Engagement und Ausdauer müssen belohnt werden«, sagt Marlene.

Sie zieht die Vorhänge weit auf, beginnt mitzusingen und sich in dem langsamen Rhythmus der Musik zu winden.

Ich nehme noch einen Schluck von dem leckeren Purpurzeug und lasse mich wieder auf das Sofa sinken.

Sie hat es wirklich drauf, denke ich, während ich ihrem langsamen Tanz zusehe. Sie bewegt sich auf eine Art und Weise … Mannomann … Sogar mir wird irgendwie wuschig und ich bin mir nicht sicher, ob das an dem Purpurgesöff liegt oder an Marlenes beeindruckender Gelenkigkeit. Höchste Zeit, dass ich wieder eine klaren Kopf kriege.

Ich stelle das Glas zur Seite und drehe die Musik leise. »Könntest du die Vorhänge vielleicht zuziehen, Marlene? Bei dir mag es ja anders sein, aber ich finde es nicht besonders prickelnd, von Zacharias Tigg beobachtet zu werden.«

Marlene beendet ihre Vorstellung, haucht noch einmal gegen das Fenster, schließt den Vorhang und nimmt neben mir Platz.

»Er hat dich schon vorhin auf dem Friedhof beobachtet«, sage ich.

Sie lächelt versonnen. »Ich weiß. Er ist besessen von mir. Sobald es dunkel wird, folgt er mir auf Schritt und Tritt. Was für ein Mann! So ein bizarrer, begieriger und romantischer Charakter.«

Das kann sie doch nicht ernst meinen! »Ich habe gehört, wie er über dich redet. Das klang nicht besonders romantisch. Eher nach … na ja … abgrundtiefem Hass.«

»Manchmal ist Hass nichts als die Maske der Begierde. Und die Begierde ist nichts als die Maske der Liebe«, seufzt sie. »Diese Wut und diese Besessenheit und diese Leidenschaft, die in ihm toben. Diese Energie …« Sie guckt geradezu verzückt. »Zacharias Tigg ist ein aufregender Mann!«

Dazu fällt mir erst mal nichts weiter ein. Entgegen meinem Vorsatz nehme ich doch noch einen Schluck von dem teuflischen Veilchenzeug.

Marlene lächelt spöttisch. »Und wie muss der Mann sein, der es bei dir prickeln lässt?«

Dass ich umgehend ein blau funkelndes Augenpaar vor mir sehe, kann ich nicht verhindern – aber das werde ich Marlene bestimmt nicht auf die Nase binden. »Vor allem sollte er kein Perverser sein, der mit einem Fernglas hinter mir herschleicht«, sage ich. »Einer ohne Vollmacke wäre schön …«

Marlene legt eine Hand auf mein Knie. »Ein guter Rat, Liebes, von Frau zu Frau: Lerne, die Macken der Männer zu lieben und in ihnen originelle, exzentrische Eigenheiten zu sehen … oder denk ernsthaft darüber nach, dich lieber deinem eigenen Geschlecht zuzuwenden. Männer ohne Macke gibt es nicht.« Mit einem traurigen Ausdruck in den Augen betrachtet sie das Bild, auf dem ihr verstorbener Gatte zu sehen ist. »Nicht in dieser Welt. – Du hast ja schon ausgetrunken. Noch einen?«

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Zwei Stunden und drei aufregende alkoholhaltige Getränke später mache ich mich auf den Nachhauseweg.

»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Cora«, gurrt Marlene mir ins Ohr. »Ich habe deine Gesellschaft sehr genossen.«

Als ich auf der Straße stehe, merke ich, dass ich ganz schön Schlagseite habe. Selbst wenn mir eine Armada von blauen Lichtern folgen würde, in meinem Zustand würde ich wahrscheinlich nichts davon mitbekommen. In leichten Schlangenlinien bewege ich mich heimwärts.

Was ich von Marlene Berber halten soll, weiß ich immer noch nicht. Sie ist wie ihre Schneekugeln: schön und verwirrend, anziehend und verstörend … und ein kleines bisschen gruselig. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass sie mich, was die Päckchenübergabe auf dem Friedhof angeht, dreist angelogen hat.

Vor Elsas Haustür atme ich tief ein, drücke den Rücken durch und versuche angestrengt so auszusehen, als ob ich nicht betrunken wäre. Ich möchte nicht, dass sie ihre neue Untermieterin für eine feiergeile Suffnudel hält. Ich trinke nur selten Alkohol. Wahrscheinlich vertrage ich deswegen nichts.

Ich halte mich krampfhaft gerade, während ich über die Schwelle trete – aber die Mühe hätte ich mir sparen können. Das Wohnzimmer ist leer. Dafür schallt aus dem oberen Stockwerk sehr enthusiastischer, sehr lauter und vor allem sehr falscher Gesang.

Elsas Gejaule klingt wie das sehnsuchtsvolle Heulen einer liebeskranken Seekuh. Aber dadurch lässt sie sich den Spaß nicht verderben, genauso wenig wie durch eine eher lückenhafte Textkenntnis.

»… nobody cameaaah lonely people aaah lonely people«

Ich stolpere die Stufen hoch und folge dem Schmettergesang. Die Tür zum Badezimmer ist nur angelehnt.

»… aah lonely people«

»Elsa?«

»Cora! Komm doch rein!« Sie klingt ausgesprochen aufgekratzt.

»Bist du allein, Elsa?«

»Komm rein, Schätzchen.«

Elsa liegt in der Wanne, ihr Kopf ragt aus einem riesigen Schaumgebirge heraus. Sie grinst übers ganze Gesicht. »Alles klar, Schätzchen?«

Ich nicke, setze mich auf den Badewannenrand und erzähle von meinem Besuch bei Marlene Berber – was nicht so einfach ist nach vier Gläsern Veilchengesöff. »Und bei dir? War es nett … mit deinem Besuch?«

Sie streckt den Kopf vor und flüstert: »Er ist noch hier.«

»Was? Wo?«

»Es war so nett … ich wollte ihn noch nicht gehen lassen. Hier isser. Ich mach euch mal bekannt.« Sie greift neben die Wanne und zieht eine Flasche hervor. »Cora Dorneyser – Mr Johnnie Walker.«

»Das ist dein Herrenbesuch?«

»Der Tag geht, Johnnie Walker … Du weißt schon. Einmal im Monat gönnen wir uns ’n romantischen Abend. Komm, nimm dir auch ein Schlückchen.«

»Ich glaube, Whisky ist im Moment gar nichts für mich, Elsa.« In meinem Kopf und Magen rumoren die Purpurcocktails auf Unheil verkündende Weise.

»Papperlapapp. Wir trinken jetzt Brüderschaft oder Schwesternschaft, oder was auch immer. Nimm dir deinen Zahnputzbecher und los geht’s. Kein Widerspruch!«, befiehlt sie in dem energischen Ton, mit dem sie früher wahrscheinlich Horden von Waldarbeitern in Schach gehalten hat.

Jeder Widerstand ist zwecklos. Ich halte ihr den Zahnputzbecher hin und sie füllt ihn zu einem guten Viertel.

Wir stoßen an, ich schmecke etwas Torfiges auf der Zunge und einen Moment später fühlt es sich an, als wäre in meiner Kehle ein Buschbrand ausgebrochen. Ich schnappe nach Luft.

»Ja. Er ist ein heißer Kavalier«, befindet Elsa, lässt sich in ihr Schaumbad zurücksinken und stiert durch das kleine Fenster über der Wanne in den dunklen Nachthimmel. »Ich glaub es nicht!«, stößt sie plötzlich hervor. »Mach das Fenster auf! Schnell!«

Ich erhebe mich leicht schwankend, strecke mich über die Wanne, schiebe einen Riegel zur Seite und öffne die Luke.

Es schneit!

Dicke weiße Flocken trudeln durch das Fenster und finden ihr Ende im heißen Badewasser – falls sie nicht vorher von Elsa erwischt werden. Sie rutscht in der Wanne vor und zurück, streckt die Zunge raus und freut sich diebisch, wenn eine Flocke auf ihrer Zungenspitze landet und schmilzt.

»Der erste Schnee«, sagt sie und ihre Augen glänzen wie die einer Fünfjährigen bei der Bescherung. »Los, komm!«

Mit der Grazie einer Vulkaninsel, die plötzlich aus dem Meer aufsteigt, erhebt sie sich aus dem Wasser und steht in all ihrer Herrlichkeit vor mir. Ich verschlucke mich an meinem Whisky und muss husten.

»Was denn?«, sagt sie und sieht an sich runter. »Ist doch alles noch da, wo es sein soll.«

Elsa klettert aus der Wanne, trocknet sich flüchtig ab und wirft sich in einen Bademantel mit verblichenem Sonnenblumenmuster. »Mir nach!« Sie springt in ihre Stiefel, drückt sich den breiten Lederhut auf den Kopf und stürmt die Stiegen runter. Im Wohnzimmer angekommen, nimmt sie meine Hand und zieht mich mit sich durch die Hintertür in den Garten. Über den Salatbeeten liegt bereits eine dünne weiße Schicht. Elsa beobachtet den stillen Flockentanz mit großen Augen. »Was man sich beim ersten Schnee des Jahres wünscht, geht in Erfüllung«, sagt sie. »Wünschen wir uns was! Augen zu!«

Sie drückt meine Hand fester und kneift die Augen so angestrengt zusammen, dass es aussieht, als würde sie an einem schweren Fall akuter Verstopfung leiden.

Ich schließe ebenfalls die Augen.

Als ich meine Lider wieder aufschlage, steht Elsa immer noch mit ihrem Verstopfungsgesicht da. Dann dreht sie den Kopf, blickt mich fröhlich an und grinst. Aber nur kurz. Offenbar lässt die Wirkung des Whiskys nach.

»Ganz schön frisch hier«, fällt ihr plötzlich auf und sie marschiert zurück ins Haus.

Wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich und Elsa gönnt sich noch einen kleinen Schluck von ihrem Hausfreund.

»Sag schon, was hast du dir gewünscht?«, fragt sie neugierig.

»Wenn man einen Wunsch verrät, geht er nicht in Erfüllung. Ist doch so, oder?«

»Ich glaub nicht, dass das ’ne allgemeingültige Regel ist«, murmelt sie. »Eher so was wie ’ne empfohlene Richtlinie. Ich bin sicher, der große Wunscherfüller sieht das nicht so eng. Also, erzähl schon.«

Sie wirkt nicht so, als würde sie bald Ruhe geben.

Na schön. »Ich habe mir gewünscht, dass … dass Mutter hier wäre. Bei mir.« Kaum habe ich es ausgesprochen, bemerke ich, dass eine Träne an meiner Nase entlangläuft.

Elsa sieht mich erschrocken an, stellt ihr Glas ab und nimmt mich in die Arme. »Ach, Schätzchen … ich wusste ja nicht … hätte ich geahnt, dass … Es tut mir so leid für dich … aber … dein Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen. Man kann sich nur was wünschen, das sich auch erfüllen lässt. Es ist vergebens sich zu wünschen, dass sich die Erde nicht mehr dreht, dass sich die Zeit umkehrt … oder dass die Toten wieder lebendig werden. Tut mir leid. War eine blöde Idee von mir, das mit der Wünscherei.«

»Ist doch nicht deine Schuld. Und du hast recht. Man sollte sich nur Dinge wünschen, die auch in Erfüllung gehen können. War blöd von mir.« Ich wische mir die Träne von der Nasenspitze. »Und jetzt erzähl mir, was du dir gewünscht hast.«

Sie lässt sich tiefer in die Polster rutschen und bleckt die Zähne. »Ich hab mir gewünscht, Hans Hackl einen ganz unglaublichen Check zu verpassen und ihn der Länge nach aufs Eis zu schicken.«

Ich verstehe nur Bahnhof und mache wahrscheinlich ein dementsprechend dämliches Gesicht.

»Ich hab dir doch von den Eishockeyderbys erzählt, oben am See«, beginnt Elsa zu erklären. »Meine rot-weißen Rentiere gegen die blau-weißen Schnösel. Wir haben sie jedes Jahr gedemütigt … bis auf das eine Mal. Das war 1973, am zweiten Weihnachtstag. Ein unglaublich hartes Spiel, es gab jede ­Menge Strafzeiten auf beiden Seiten. Kurz vor Schluss stand es vier zu vier. Alle rechneten schon mit einer Verlängerung. Aber ein paar Sekunden vor Spielende unterläuft einem der Blau-Weißen ein Stockfehler und der Puck landet genau vor meinen Füßen. Ich stürme alleine auf den Torhüter zu – Rolli Dierdorf, so ein großmäuliger Nichtskönner – und will den Puck an ihm vorbeischlenzen, als mir jemand mit dem Schläger die Beine wegzieht. Ich lege einen Sturzflug hin, krache mit dem Kopf aufs Eis und sehe erst mal nur Sterne. Dann taucht über mir das dreckig grinsende Gesicht von Hans Hackl auf. Er hat mich ganz klar gefoult, aber der Schiedsrichter war der totale Nasenbohrer und hat es nicht gesehen. Und das Schlimmste: Im Gegenzug machen die Blau-Weißen das fünf zu vier. Das einzige Mal, dass sie gegen uns gewonnen haben! Das dämliche Grinsen von Hans Hackl hab ich nie vergessen – und immer auf ’ne Gelegenheit gewartet, es ihm heimzuzahlen. Aber so ganz realistisch ist mein Wunsch wohl auch nicht: Er wohnt nicht mehr hier. Kurz nachdem seine erste Frau gestorben ist, ist er auf Kreuzfahrt gegangen und hat ’ne reiche amerikanische Witwe kennengelernt. Mit der ist er jetzt verheiratet und wohnt in Florida, dem Sunshine State

So wie sie das betont, klingt es wie Kakerlakenmus.

»Kommt nur alle Jubeljahre mal rübergeflogen, um seine Tochter und die Enkel zu besuchen, der dumme alte Sack. Na ja, was soll’s?« Eine Weile brütet sie schweigend vor sich hin, dann schält sie sich schwerfällig aus den Polstern. »Also … ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hab ganz unglaublichen Kohldampf. Jetzt ein Stückchen gebratene Blutwurst …«

Bei dem Wort Blutwurst schaltet mein alkoholgeschädigter Magen in den Schleudergang.

»Oder ein schönes Eisbein mit ’ner dicken Schwarte.«

Allerhöchste Schleuderstufe!

»Elsa, bitte …«

Sie steuert auf die Küche zu. »Ich glaub, ich hab noch ’n paar Kutteln im Kühlschrank.«

Ich springe auf, presse die Hand vor den Mund und schieße die Treppe hoch. Fünf Sekunden später hänge ich mit dem Kopf über der Kloschüssel.

Schlick_So-kalt-wie-Eis_Tilde

Der nächste Morgen ist das pure Grauen.

Mein Kopf fühlt sich an wie ein Versuchslabor für Presslufthämmer, mein Mund ist staubtrocken und mein Gesicht … Bei einem Zombiefilm-Casting hätte ich bestimmt beste Aussichten auf eine tragende Rolle.

Elsa ist natürlich fit wie ein Turnschuh. Sie deckt den Frühstückstisch und pfeift dabei munter vor sich hin. Ihren Herrenbesuch hat sie entsorgt: Johnnie Walker muss mit der Gesellschaft eines leeren Sauerkirschglases in der Altglaskiste vorliebnehmen.

»Ach du dicker Borkenkäfer!«, entfährt es ihr, als ich die Treppe runterkomme. »So kannst du auf keinen Fall in der Schule auftauchen.« Sie greift zum Telefonhörer. »Ich ruf an und sage, du hättest Bauchschmerzen.« Elsa bedenkt mich mit einem strengen Blick. »Aber damit das klar ist, Schätzchen: Das ist das erste und einzige Mal, dass ich für dich lüge. Wer feiern kann, der kann auch arbeiten.«

Ich nicke dankbar, schleppe mich die Stufen hoch und falle wieder in mein Bett. Es ist, als würde ich in einer Schiffskoje liegen … und zwar bei allerheftigstem Seegang. Ich schließe die Augen und gelobe feierlich, dem Dämon Alkohol für alle Zeiten abzuschwören.

Als ich wach werde, ist es schon später Nachmittag. Erfreulicherweise habe ich keinen Brummschädel mehr und nach einer ausgiebigen Dusche fühle ich mich fast wie neu.

Noch immer schweben dicke Flocken vom Himmel. Der Wald sieht aus wie mit Puderzucker bestäubt.

Elsa ist weg. Der rote VW-Bus auch.

Bin einkaufen, steht in krakeliger Schrift auf einem Zettel, den sie auf dem Esstisch hinterlassen hat.

Ich beschließe im Rahmen meines Ausnüchterungsprogramms ein wenig Frischluft zu tanken, ziehe mir Mutters roten Mantel mit den Silberknöpfen über, wickle mich in einen dicken Schal und mache mich auf den Weg ins Dorf. Auf einer Wiese neben dem Buchbach baut eine Horde Kinder einen Schneemann. Auf dem Mauerbrückchen bombardieren zwei pickelige Teenager die hässliche Dorneyser-Statue mit Schneebällen.

Der Schnee lässt alle Stimmen und Geräusche merkwürdig gedämpft klingen, als wäre ganz Rockenfeld in einen feierlichen Flüsterton verfallen. Wie Zuckerwatte überzieht er die Straßen und Häuser und während ich durch die umhertanzenden Flocken spaziere, komme ich mir vor wie in einer überdimensionalen Schneekugel. In einer stillen, friedlichen Welt, aus der alles Böse und jede Gefahr verbannt sind.

Die rechte Manteltasche hat ein Loch, und plötzlich ertaste ich im Mantelfutter einen zusammengeknüllten Geldschein. Fünf Euro.

Was tun mit dem unverhofften Reichtum?, denke ich und bleibe vor dem Schwarzen Glück stehen. Es wäre bestimmt kein schlechter Gedanke, das Geld in eine kleine Aufmerksamkeit für Elsa zu investieren, um mich für ihre Gastfreundschaft zu bedanken.

Der Ladeninhaber, ein freundlicher und stark lispelnder dicker Mann, ist, wie sich ja nun herausgestellt hat, nicht Elsas Liebhaber, aber dennoch bestens vertraut mit ihren geheimen Vorlieben. »Meine treueste Kundin«, schwärmt er und rät mir zum Kauf einer Tüte schokoladenüberzogener Salmiakbonbons. »Das sind Frau Uhlichs absolute Favoriten!«

Als ich aus der Ladentür trete, dringen zwei bekannte Stimmen an mein Ohr: Zacharias Tigg und Josef Kardinal stehen vor Tiggs Laden – der Kardinal in einem dicken Pelzmantel, Tigg auf eine Schneeschaufel gestützt – und sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich nicht bemerken. Ich drücke mich in einen Hauseingang und spitze die Lauscher, denn die beiden haben ein äußerst interessantes Gesprächsthema.

»Jeder weiß doch, dass Jacob es nicht mehr lange macht«, sagt der Kardinal mit seiner hohen Fistelstimme. »Tu doch nicht so, als hättest du nicht auch darauf spekuliert, dass er bald abtritt. Und ausgerechnet jetzt muss seine Enkelin auftauchen …«

Zacharias Tigg seufzt. »Klar hätte ich das Geld gut gebrauchen können. Die Geschäfte gehen schlecht. Lokomotiven und Oldtimer sind aus der Mode gekommen. Die Leute kaufen heutzutage lieber so einen Blödsinn wie Mellys Hollywood-Kugeln. Aber bevor ich so einen Schwachsinn produziere, hacke ich mir beide Hände ab.«

Der Kardinal beugt sich zu Tigg hinunter und wispert: »Wo du gerade von ihr sprichst … ich denke, wir sollten Melly im Auge behalten. Die ist nicht so harmlos, wie sie tut. Ständig rennt sie mit irgendwelchem Gebäck zu Dorneyser und versucht sich bei ihm lieb Kind zu machen und einzuschmeicheln. Die will uns kaltstellen.«

»Mumpitz!«, entgegnet Tigg. »So weit denkt Melly doch gar nicht. Sie ist nur ein dummes Mädchen. Die sucht nur jemanden, den sie mit ihrem Prominentengewäsch zuquatschen kann. Aber sie … sie …«, geifert er mit zornesrotem Gesicht und deutet mit dem Stiel der Schneeschaufel auf Marlenes Laden. »Die Berber-Hexe! Die versucht uns auszustechen. Sie ist das ganze letzte Jahr um Jacob rumscharwenzelt und hat ihm ihre Hupen vor die Nase gehalten. Und jetzt, wo diese Cora aufgetaucht ist … Ich weiß nicht genau, was die Berber vorhat, aber neulich war das Mädchen schon bei ihr zu Besuch.«

»Tatsächlich?« Der Kardinal zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Woher weißt du das?«

Tiggs Gesicht beginnt zu leuchten wie eine Infrarotlampe. »Ich, äh, ich, ich … Ich weiß es halt, kannst es mir ruhig glauben. Sie plant irgendwas. Erst hat sie Bartholomäus unter die Erde gebracht, mir will sie ebenfalls ans Leder, und jetzt versucht sie auch noch an das Dorneyser-Vermögen zu kommen.«

Josef Kardinal macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Das verdammte Geld interessiert mich nicht«, fistelt er. »Um sein Geld könnt ihr drei euch meinetwegen prügeln. Ich will die Kugel. Die Dorneyser-Kugel, die erste Kugel. Erst sie macht meine Sammlung vollkommen.«

»Ach, Josef, ich kann es nicht mehr hören. Eine Kugel aus unzerbrechlichem Glas, die der Teufel Leonard Dorneyser geschenkt hat? So eine Kugel gibt es so wenig wie den Weihnachtsmann.«

Die Augen des Kardinals blitzen böse. »Ich weiß, dass es diese Kugel gibt. Ich weiß sogar, wie sie aussieht.«

Tigg spuckt in den Schnee. »Ja sicher. Und was gibt es in der Kugel Spektakuläres zu sehen? Den Backenzahn von einem Marsmännchen? Oder einen Ring, sie alle zu knechten? Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Josef, aber du bist ein alter Spinner.«

»Das sagt gerade der Richtige«, fährt der Kardinal ihn an. »Du bist ein dermaßen engstirniger Ignorant! Und du irrst dich: Es gibt überhaupt nichts Spektakuläres zu sehen. Nur eine Bergkette, eine verschneite Bergkette. Das ist alles. Und natürlich ist die Geschichte mit dem Teufel und dem unzerbrechlichen Glas nur ein Märchen. Aber es ist die erste Kugel, die je geschaffen wurde, und das macht sie wertvoller als jede andere.«

Tigg rollt mit den Augen. »Selbst wenn es die Kugel gäbe – und ich sage dir, es gibt sie nicht –, selbst dann hättest du keine Chance, sie in die Hände zu bekommen. Alles, was Jacob gehört, wird nun seiner Enkelin zufallen.«

Der Kardinal zupft ein paar Schneeflocken aus seinem Bart. »Natürlich«, sagt er. »Wo du recht hast, hast du recht … es sei denn …«

»Es sei denn … was?«

»Es sei denn, dem Mädchen stößt etwas zu … Ein tragischer Unfall – oder sie verirrt sich im Wald und taucht nicht mehr auf. Sie wäre nicht das erste Mädchen, das spurlos aus Rockenfeld verschwindet.«

Einen Moment lang herrscht eisiges Schweigen. Dann nimmt Tigg die Schneeschaufel und klettert die Stufen zu seinem Laden hoch. Vor der Tür dreht er sich noch einmal um und flüstert: »Ich weiß nicht, was du damit sagen willst, Kardinal, und ich weiß nicht, wofür du mich hältst, aber dieses Gespräch nimmt einen Verlauf, der mir ganz und gar nicht gefällt. Ich habe das eben nicht gehört – und du solltest auch schnellstens vergessen, was du da gesagt hast. Schönen Tag noch.« Er schließt die Tür.

Der Kardinal steht belämmert da und guckt wie ein begossener Pudel, dann macht er auf dem Absatz kehrt und kommt in meine Richtung gewatschelt. Ich habe keine Chance, mich zu verstecken. Schnell laufe ich zum Schwarzen Glück zurück und tue so, als käme ich gerade aus dem Laden.

Als er mich sieht, entgleiten ihm für einen Moment die Gesichtszüge, aber dann fängt er sich und säuselt: »Sieh an, das Fräulein Dorneyser. Unsere zukünftige Kollegin. Wir freuen uns hier immer über talentierten Nachwuchs, musst du wissen. Da weiht der gute alte Jacob dich also in die Geheimnisse der Kugelmacherzunft ein. Das muss ihm ja einiges Bauchweh bereiten. Wo er doch ansonsten so gern Geheimnisse für sich behält …«

»Vor mir hat er keine Geheimnisse«, sage ich trotzig.

»So?« Der Kardinal lächelt und entblößt dabei eine unregelmäßige Reihe gelber Zähne. »Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht zu sicher.«

Kämen nicht andauernd irgendwelche Gehässigkeiten und Gemeinheiten aus seinem Mund, würde Josef Kardinal die meisten Menschen wahrscheinlich an einen tapsigen und etwas verwirrten Bären erinnern, den man sich ohne Weiteres mit der Schnauze im Honigtopf vorstellen kann. Denkt dieser Mann ernsthaft darüber nach, mich auf irgendeine Weise aus dem Weg zu räumen? Um an eine Schneekugel zu gelangen, von der jedermann außer ihm behauptet, dass sie nicht existiert? Zieht er tatsächlich ein Verbrechen in Betracht, nur um seine Sammlung zu vervollständigen? Dieser Nikolausbart mit Fistelstimme? Ich schaffe es auch beim allerbesten Willen nicht, seine verklausulierten Drohungen ernst zu nehmen. Es ist weitaus wahrscheinlicher, dass sie völlig substanzloses Geschwätz sind und einfach zu seiner persönlichen Art von Maulheldentum und Wichtigtuerei gehören. Dennoch nehme ich mir vor, auf der Hut zu sein. Nur für den Fall der Fälle. Es ist nie klug, einem Bären den Rücken zuzudrehen – egal, wie tapsig er wirkt.

Viel mehr als seine Drohungen beschäftigt mich aber das, was er über Jacob und dessen Geheimnisse gesagt hat. Josef Kardinal hat den Finger auf eine wunde Stelle gelegt. Auch wenn ich ihm gegenüber natürlich sofort das Gegenteil behauptet habe – Jacob hat Geheimnisse! Und diese Geheimnisse stehen zwischen uns, denke ich, während ich durch den Schnee am Buchbach entlang in Richtung Waldrand marschiere. Unsichtbar wie eine Wand aus dünnem Glas. Niklas aber scheint er in diese Geheimnisse einzuweihen. Was verbindet die beiden? Das Gespräch zwischen Jacob und Niklas ist nach wie vor ein einziges Rätsel für mich. Ich habe nichts verstanden außer Niklas’ düsterer Prophezeiung, dass ich in Gefahr schweben würde. Und diese Prophezeiung hat sich auf beängstigende Weise bestätigt. Meine Nackenhaare richten sich auf. Zuerst verfolgen mich blaue Fackeln und nun stößt ein Kugelmacher finstere Drohungen gegen mich aus …

Und die Unzerbrechliche? Niklas hat von ihr gesprochen. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört.

Natürlich glaube ich genauso wenig wie der Kardinal, dass eine Kugel wirklich unzerbrechlich ist. Wahrscheinlich nennt man sie nur so, weil sie sehr alt ist und es sie schon lange Zeit gibt. So wie man Rom die Ewige Stadt nennt. Und der Teufel hat Leonard Dorneyser so wenig eine Kugel geschenkt, wie er den Schnaps gemacht hat. Das ist nur eine der gruseligen Geschichten, wie sie sich oft um alte Dinge ranken und eine Aura des Geheimnisvollen verleihen. Aber sie ist die erste Kugel, die je geschaffen wurde. Von Leonard Dorneyser. Unserem gemeinsamen Vorfahren.

Warum leugnet Jacob mir gegenüber, dass es diese Kugel gibt? Obwohl … genau genommen hat er das nicht getan, denke ich, während ich unser Gespräch über die Kugel rekapituliere. Er hat den Kardinal als Spinner bezeichnet und sich über seine Verschwörungstheorien lustig gemacht, aber er hat die Existenz der Kugel mit keinem Wort bestritten.

Als das Haus in Sicht kommt, bleibe ich einen Moment lang stehen, sehe zu dem bunten Fenster hinauf, und während sich der Schnee lautlos auf meine Schultern legt, fasse ich einen Entschluss: Ich werde in den sauren Apfel beißen und Jacob die unschöne Tatsache gestehen, dass ich ihn und Niklas belauscht habe. Das wird ihn enttäuschen – aber er wird meinen Fragen nicht mehr ausweichen können. Es wird Zeit, das Glas zwischen uns zu durchstoßen. Ich will Antworten!

In dem Moment, in dem ich die Tür öffne und in den Korridor trete, stürzen meine Vorsätze wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Jacob kommt aus der Küche in den Flur gerollt. Er bietet einen erschreckenden Anblick. Seine Wangen sind eingefallen, die Augen liegen tief in den Höhlen und die Lippen sind dunkler verfärbt, als ich es je vorher gesehen habe. Jedes Wort scheint ihn große Anstrengung zu kosten.