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Wir alle haben uns wenigstens einmal die Frage gestellt: Wenn wir die Möglichkeit hätten, das Rad der Zeit zurückzudrehen, würden wir unser Leben anders leben?

Und wenn wir unser Leben noch einmal leben dürften, welche Fehler würden wir korrigieren? Welchen Schmerz, welches Schuldgefühl und welches Bedauern würden wir uns ersparen?

Würden wir es wagen, unserem Leben einen neuen Sinn zu geben?

Um was zu werden?

Um wohin zu gehen?

Und mit wem?

Prolog

Nordosten Kambodschas
Regenzeit, September 2006

Der Helikopter des Roten Kreuzes landete pünktlich. Auf dem bewaldeten Hochplateau lag ein Dorf, das etwa hundert armselige Holzhütten zählte. Ein vergessener Ort, zeitlos, weit ab von den touristischen Regionen um Angkor oder Phnom Penh. Die Luft war feucht, der Boden von Schlamm bedeckt.

Der Pilot schaltete die Turbinen gar nicht erst ab. Sein Auftrag war, die Mediziner, die hier humanitäre Hilfe leisteten, wieder in die Stadt zu bringen. Bei normalem Wetter ein Kinderspiel, doch es war September, und die sintflutartigen Regengüsse schränkten die Manövrierfähigkeit des Hubschraubers enorm ein. Außerdem waren die Treibstoffreserven begrenzt, sie mochten gerade ausreichen, um das Team heil zurückzufliegen – vorausgesetzt, man vergeudete nicht unnötig Zeit.

Zwei Chirurgen, ein Anästhesist und zwei Krankenschwestern verließen im Laufschritt das Lazarett, wo sie seit dem Vortag beschäftigt gewesen waren. In den vergangenen Wochen hatten sie Dorf für Dorf in der Umgebung aufgesucht, um nach Kräften die verheerenden Auswirkungen von Malaria, Aids oder Tuberkulose zu behandeln und Amputierte mit Prothesen zu versorgen – noch immer war diese Gegend übersät mit Tretminen.

Auf ein Zeichen des Piloten stürzten sich vier der fünf Helfer in den alten Transport-Helikopter. Der fünfte, ein Mann um die Sechzig, hielt sich ein wenig abseits und schaute gedankenverloren auf die Gruppe Kambodschaner, die sich neugierig um die Flugmaschine versammelt hatten.

»Wir müssen los, Doktor!« brüllte der Pilot. »Wenn wir nicht sofort starten, werden Sie Ihren Anschlußflug verpassen.«

Der Arzt nickte abwesend. Doch als er einsteigen wollte, begegnete er dem Blick eines kleinen Jungen, den ein alter Mann an der Hand hielt. Wie alt das Kind wohl sein mochte? Zwei, drei Jahre? Höchstens. Sein Gesicht war furchtbar entstellt durch eine Lippen-Gaumenspalte. Eine angeborene Mißbildung, die den Kleinen dazu verurteilte, sich sein Leben lang von Suppen und Brei zu ernähren, und ihn daran hinderte, auch nur ein Wort zu artikulieren.

»Beeilen Sie sich!« drängte eine der Krankenschwestern.

»Dieses Kind muß operiert werden«, schrie der Arzt gegen den Lärm des Rotors an.

»Wir haben keine Zeit mehr! Die Straßen sind durch die Überschwemmungen unpassierbar geworden, und ich könnte Sie erst in ein paar Tagen wieder mit dem Helikopter holen kommen.«

Doch Elliott Cooper konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen. Der Blick des kleinen Jungen ließ ihn nicht los. Cooper wußte, daß Babys mit einer Hasenscharte in diesem Teil der Welt, gemäß uralten Bräuchen, oft von ihren Eltern verlassen wurden. Bestenfalls kamen sie in ein Waisenhaus, auf eine Adoption konnten sie mit ihrer Entstellung nur selten hoffen.

Die Krankenschwester versuchte erneut auf ihren Kollegen einzuwirken. »Sie werden übermorgen in San Francisco erwartet, Doktor Cooper. Ihr OP-Plan ist voll, und Sie haben dringende Konferenztermine …«

»Fliegen Sie ohne mich, Emily«, unterbrach sie der Arzt.

Kurz entschlossen kletterte die Krankenschwester wieder aus dem Hubschrauber. »Wenn das so ist, bleibe ich bei Ihnen. Wie wollen Sie sonst mit der Narkose zurechtkommen?«

Der Pilot schüttelte seufzend den Kopf, bevor er senkrecht mit dem Helikopter abhob und sich nach kurzem Schwebeflug Richtung Westen entfernte.

Doktor Cooper trug den Jungen auf dem Arm zum Lazarett, Emily begleitete die beiden. Mit beruhigend klingenden Worten versuchte der Arzt, dem bleichen und verschlossenen Kind die Angst vor dem bevorstehenden Eingriff zu nehmen. Als es schließlich unter Emilys Narkose eingeschlafen war, löste Cooper mit dem Skalpell behutsam die Gaumensegel und dehnte sie vorsichtig, um die Spalte zu schließen. Danach nahm er mit aller Sorgfalt den Lippenverschluß vor, damit der Kleine schon bald wie ein Kind würde lächeln können.

Cooper trat hinaus auf die mit Wellblech gedeckte Veranda, um einen Augenblick auszuruhen. Die Operation hatte lange gedauert. Seit fast zwei Tagen war er ununterbrochen auf den Beinen, und mit einemmal überkam ihn eine große Müdigkeit. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute sich um. Der Regen hatte nachgelassen. Die Wolkendecke war aufgerissen, ein orangeroter Lichtstrahl fiel genau auf das Dorf.

Er bereute es nicht, hiergeblieben zu sein. Jedes Jahr reiste er in seinen Ferien einige Wochen für das Rote Kreuz nach Afrika oder Asien; und wie jedes Jahr ging der Aufenthalt auch diesmal nicht spurlos an ihm vorüber. Andererseits waren diese humanitären Missionen zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, er brauchte sie, um wenigstens eine Zeitlang seiner glatten, heilen Chefarztwelt in Kalifornien zu entkommen.

Als er seine Zigarette ausdrückte, spürte Cooper, daß jemand hinter ihm stand. Er drehte sich um und erkannte den alten Mann vom Hubschrauberlandeplatz, der die Hand des kleinen Jungen gehalten hatte. Wahrscheinlich war es der Dorfchef. Er trug die traditionelle Tracht der Khmer, hatte einen gebeugten Rücken und ein runzliges, ehrfurchtgebietendes Gesicht. Statt einer Begrüßung führte er seine Hände in Gebetshaltung vor der Brust zusammen und sah Cooper einen langen Moment direkt in die Augen. Ohne den Blick abzuwenden, lud er ihn schließlich mit einer Geste ein, ihm in seine Hütte zu folgen, und bot ihm dort aus einer kleinen Porzellanflasche einen Reisschnaps an. Erst dann richtete er das Wort an den Fremden.

»Er heißt Lou-Nan«, sagte der alte Kambodschaner in überraschend gutem Französisch. Cooper nickte. »Ich danke Ihnen, daß Sie ihm ein Gesicht geschenkt haben.«

Der Chirurg dankte dem Alten für seine Freundlichkeit und schaute ein wenig verlegen aus der Fensteröffnung. Dicht und grün erstreckte sich vor seinen Augen der tropische Regenwald, die verdampfende Feuchtigkeit stand als warmer Nebel über den Wipfeln. Es war faszinierend zu wissen, daß ganz in der Nähe, in den Bergen von Ratanakiri, Tiger, Schlangen und Elefanten zu Hause waren 

Über seinen Träumereien hatte er gar nicht darauf geachtet, daß der alte Mann weiterredete. Cooper versuchte sich wieder auf das Französisch seines Gastgebers zu konzentrieren.

»Wenn Sie die Möglichkeit hätten, sich einen Wunsch zu erfüllen, wofür würden Sie sich entscheiden?« fragte er gerade.

»Wie bitte?«

»Was ist Ihr größter Wunsch, Doktor?«

Cooper suchte krampfhaft nach einer geistreichen Antwort, doch überwältigt von seiner Erschöpfung und einer unerwarteten Gefühlswallung, brachte er schließlich nur leise hervor: »Ich würde mir wünschen, eine Frau wiederzusehen.«

»Eine Frau?«

»Ja … Die einzige, die mir wirklich etwas bedeutete.«

»Und Sie wissen nicht, wo sich diese Frau gerade aufhält?« fragte der alte Khmer, offensichtlich überrascht von einem so bescheidenen Traum.

»Sie ist vor dreißig Jahren gestorben.«

Der Alte legte die Stirn in Falten und versank in tiefe Meditation. Nach einer Weile erhob er sich, schritt ans andere Ende der Hütte, wo sich auf einem wackligen Regal seine Schätze türmten: getrocknete Seepferdchen, Ginsengwurzeln, in Formalin eingelegte, ineinander verschlungene Giftschlangen … Er kramte ein wenig in diesem Durcheinander, bis er schließlich in den Händen hielt, was er suchte. Damit kehrte er zu seinem Gast zurück und streckte ihm feierlich einen winzigen mundgeblasenen Glasflakon entgegen. Zehn kleine, golden schimmernde Pillen waren darin zu erkennen.

1

Die erste Begegnung

Eines schönen Abends wird die Zukunft Vergangenheit sein. Dann schaut man zurück und blickt auf seine Jugend.

Louis Aragon

Flughafen Miami, September 1976

Die junge Frau am Steuer des Thunderbird-Cabrio näherte sich dem Terminal in sportlichem Tempo. Ihr Haar flatterte im Wind, während sie mehrere Autos überholte und den Wagen schließlich vor der Abflughalle bremste, um ihren Begleiter aussteigen zu lassen. Der schlanke, gutangezogene junge Mann griff nach seiner Reisetasche im Kofferraum, hauchte seiner Chauffeurin noch einen Abschiedskuß zu und verschwand in dem Gebäude aus Stahl und Glas.

Zerstreut machte sich Doktor Elliott Cooper auf den Weg zum Check-in-Schalter. Seit einiger Zeit schon arbeitete er als Chirurg an einem renommierten Krankenhaus in San Francisco – auch wenn er in seiner Lederjacke und mit seinem vom Wind zerzausten Haar jugendlich und verwegen wirkte.

»Wetten, daß ich dir schon jetzt fehle?«

Erstaunt drehte sich Elliott um und begegnete einem smaragdgrünen Blick, aus dem Provokation und zugleich Verletzlichkeit sprachen. Die Besitzerin der katzenhaften Augen trug eine Hüftjeans, darüber eine knappe Wildlederweste mit einem Love-and-Peace-Sticker und ein gelbgrünes T-Shirt – die Farben ihrer Heimat Brasilien.

»Wann habe ich dich bloß zum letzten Mal geküßt?« fragte er und legte ihr zärtlich die Hand in den Nacken. Für einen Augenblick verschwand der Lärm um sie herum. Ihm war, als fiele er aus der Zeit heraus.

»Das ist mindestens eine Minute her«, sagte sie mit ihrer seidigen Stimme.

»Eine Ewigkeit also …« Er lächelte und drückte sie an sich. Ilena, die Frau seines Lebens … Immer noch konnte er sein Glück nicht fassen, sie gefunden zu haben, dabei kannten sie sich mittlerweile bald zehn Jahre. Elliott verdankte ihr so vieles: daß er seinen Weg als Arzt gefunden hatte, daß er gelernt hatte, sich anderen Menschen zu öffnen, daß er hohe Ansprüche an sich selbst stellte.

Er war überrascht, daß sie ihm nachgekommen war. Zwischen ihnen galt die Abmachung, sich lange Abschiedsszenen zu ersparen, die den Trennungsschmerz nur schlimmer machten. Es war für beide nicht einfach, eine Beziehung zwischen Florida und San Francisco zu leben. Ihre Liebe mußte die Distanz von viertausend Kilometern zwischen Ost- und Westküste überbrücken und dem Rhythmus einer Zeitverschiebung von vier Stunden folgen. Natürlich hätten sie sich in all den Jahren dazu entschließen können, gemeinsam irgendwo ihr Zelt aufzuschlagen. Aber das hatten sie nie getan. Zunächst aus Angst vor dem Alltag, der womöglich seinen Tribut gefordert und ihnen die Sehnsucht und das Herzklopfen vor jedem Wiedersehen genommen hätte. Mit der Zeit hatten sie sich dann beide in ihrem Beruf etabliert, der eine am Pazifik, die andere am Atlantik: Elliott hatte nach einem langwierigen Medizinstudium die Möglichkeit bekommen, als Chirurg in San Francisco anzufangen, und Ilena war als Tierärztin ihren Meeressäugern in der Ocean World von Orlando treu geblieben. Seit neuestem engagierte sie sich auch bei Greenpeace, einer Organisation aus ein paar militanten Pazifisten und Umweltschützern, die immer mehr von sich reden machte. Vor allem ihr vehementes Eintreten gegen Atomversuche hatte Aufsehen erregt, Ilena allerdings hatte sich den sogenannten Regenbogenkämpfern besonders wegen der Kampagne gegen das Abschlachten von Walen, Robben und Seehunden angeschlossen.

Beide führten auch in den Zeiten ohne den anderen ein ausgefülltes Leben, in dem Langeweile keinen Platz hatte. Und trotzdem war jeder neue Abschied unerträglicher als der vorherige.

»Die Passagiere des Fluges 711 nach San Francisco werden gebeten, sich umgehend zu Gate 18 zu begeben«, ertönte eine blecherne Lautsprecherstimme.

»Ist das nicht dein Flug?« fragte sie und befreite sich widerwillig aus seiner Umarmung.

Er nickte. »Wolltest du mir etwas sagen?«

»Ja. Aber ich begleite dich bis zum Gate.« Sie nahm seine Hand, und zusammen schlenderten sie Richtung Abflugschalter. Dann brach es aus ihr heraus. »Ich weiß, Elliott, daß die Welt geradewegs auf eine Katastrophe zusteuert: der Kalte Krieg, die Kommunisten, die Atomwaffen …« Er sah sie an. Sie war so schön, wenn das Temperament mit ihr durchging, schön wie das Feuer, und ihr immer noch hörbarer südamerikanischer Akzent ließ ihn jedesmal schwach werden. »… der Abbau der natürlichen Ressourcen, ganz zu schweigen von der Umweltverschmutzung, der Zerstörung der Regenwälder und …«

»Ilena?«

»Ja?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich möchte, daß wir ein Baby machen …«

»Jetzt gleich, hier am Flughafen? Vor allen Leuten?« Das war alles, was ihm spontan als Antwort einfiel: ein Scherz, mit dem er seine Verblüffung überspielen wollte. Doch Ilena war nicht zum Scherzen aufgelegt.

»Ich meine es ernst, Elliott. Denk darüber nach.« Sie ließ seine Hand los, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging.

»Warte!« rief er ihr hinterher.

»Dies ist der letzte Aufruf für Doktor Elliott Cooper, gebucht nach San Francisco …«

»Verdammt!« entfuhr es ihm. Auf der Rolltreppe, die zum Boardingbereich führte, blickte er sich noch einmal um. Die Septembersonne tauchte die Halle in ein leuchtendes Gelb. Er hob die Hand, um Ilena zuzuwinken. Doch sie war bereits fort.

Es war dunkel, als die Maschine nach sechs Stunden Flug, um einundzwanzig Uhr Ortszeit in San Francisco landete.

Elliott war schon auf dem Weg zum Taxistand, überlegte es sich dann jedoch anders. Ihm knurrte der Magen. Ilenas Worte hatten ihn so durcheinandergebracht, daß er während des gesamten Fluges keinen Bissen herunterbekommen hatte. Und in seinem Kühlschrank herrschte gähnende Leere, wenn er sich recht erinnerte. Also machte er kehrt und ging zielstrebig in den zweiten Stock des Hauptgebäudes zum Golden Gate Café, das er von Besuchen mit seinem besten Freund Matt kannte. Er setzte sich an den Tresen und bestellte einen Salat, zwei Bagels und ein Glas Chardonnay. Müde rieb er sich die Augen. Schließlich bat er den Kellner um ein paar Münzen für die Telefonkabine.

Er wählte Ilenas Nummer, doch sie hob nicht ab. Es war bereits nach Mitternacht in Florida, Ilena mußte zu Hause sein, aber offenbar hatte sie keine Lust, mit ihm zu sprechen. Das war ja abzusehen, dachte Elliott. Dabei wußte sie doch: er wollte nun mal keine Kinder. Nicht, daß er sich seiner Gefühle für sie nicht sicher gewesen wäre, nein, er liebte Ilena von ganzem Herzen. Doch Liebe allein genügte nicht. Er war nicht bereit, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, schon gar nicht in einer Welt, die sich in eine völlig falsche Richtung entwickelte.

Zurück am Tresen, bestellte er einen Kaffee. Er war nervös, ließ seine Fingergelenke knacken und tastete nach seinen Zigaretten. Er konnte es einfach nicht lassen, er mußte sich eine anstecken. Seit Anfang der sechziger Jahre bereits war wissenschaftlich erwiesen, daß Nikotin süchtig machte, und als Arzt wußte Elliott natürlich nur zu gut, daß die Rate von Lungenkrebserkrankungen und Herzinfarkten bei Rauchern wesentlich höher lag als bei Nichtrauchern. Aber wie so viele Ärzte kümmerte er sich mehr um die Gesundheit anderer Menschen als um seine eigene. Außerdem bedeutete auch für ihn in seinem alltäglichen Streß das Rauchen ein wenig Glamour und Freiheit.

Bald höre ich auf, sagte er sich zum hundertsten Mal und blies Rauchkringel in die Luft, aber nicht heute abend. Zu einem solchen Kraftakt fühlte er sich im Augenblick nicht imstande.

Er ließ seinen Blick schweifen, und da sah er ihn: einen Mann in himmelblauem Pyjama, der neben dem Eingang des Cafés hinter der Glasfront stand und ihn zu beobachten schien. Elliott kniff die Augen zusammen, um ihn besser erkennen zu können. Der Mann mußte um die Sechzig sein, sah für sein Alter ziemlich fit, fast drahtig aus und trug einen Drei-Tage-Bart, in den sich ein paar graue Stoppeln mischten. Sean Connery in dreißig Jahren, dachte Elliott und runzelte die Stirn. Was hatte dieser Typ, barfuß und im Pyjama, um diese Uhrzeit bloß am Flughafen verloren?

Es hätte Elliott egal sein können, doch wie ferngesteuert erhob er sich und durchquerte das Café Richtung Ausgang. Der Mann wirkte nicht nur wegen des Pyjamas vollkommen desorientiert, und mit jedem Schritt wurde Elliott unbehaglicher zumute. Wer war dieser Kerl? Ein Patient, der aus dem Krankenhaus oder einer Anstalt getürmt war? In dem Fall allerdings war es seine Pflicht als Arzt, einzugreifen. Nur noch drei Meter trennten ihn von dem Fremden, und mit einemmal begriff er, was ihn so verstörte: Dieser Mann sah seinem Vater, der vor fünf Jahren an Magenkrebs gestorben war, zum Verwechseln ähnlich. Bestürzt trat Elliott näher. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend: dieselbe Gesichtsform, dieselben Grübchen – beides hatte Elliott von ihm geerbt.

Und wenn er es tatsächlich wäre?

Unsinn! Am besten ging er wieder zurück an den Tresen. Sein Vater war tot, er war selbst dabeigewesen, als sie ihn in den Sarg gelegt und dann eingeäschert hatten.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte er widerstrebend.

Der Mann im Pyjama wich unwillkürlich zurück.

»Kann ich Ihnen helfen?« wiederholte Elliott.

»Elliott …«, stammelte der andere nur.

Woher kannte der Typ seinen Namen? Und diese Stimme 

Das Verhältnis zwischen Elliott und seinem Vater war nie besonders innig gewesen, und selbst diese Feststellung war noch übertrieben. Doch der Vater war tot, und manchmal bedauerte sein Sohn, sich nicht mehr Mühe gegeben zu haben, ihn zu verstehen.

»Papa?« fragte Elliott mit erstickter Stimme, wobei er sich der Absurdität seiner Frage bewußt war.

»Nein, Elliott, ich bin nicht dein Vater.«

Merkwürdigerweise beruhigte diese sehr klare und sachliche Auskunft Elliott keineswegs, er ahnte, daß ihn noch eine Überraschung erwartete. »Wer sind Sie dann?«

Der Mann zögerte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ein irgendwie vertrauter Glanz schimmerte in seinen Augen. »Ich … Elliott, ich bin du … in dreißig Jahren.«

»Ich in dreißig Jahren?« stammelte Elliott. »Was soll das heißen?«

Der Mann wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als ihm plötzlich Blut aus der Nase strömte.

»Legen Sie Ihren Kopf in den Nacken!« befahl Elliott und zog sein Taschentuch hervor, das er dem unheimlichen Fremden auf die Nase drückte. »Das hört gleich wieder auf«, beruhigte er den Mann. Einen Augenblick lang ärgerte er sich, daß er seinen Arztkoffer nicht bei sich hatte, aber die Blutung war glücklicherweise bald gestillt. »Kommen Sie, Sie sollten sich das Gesicht mit etwas kaltem Wasser abwaschen.«

Der Unbekannte folgte ihm ohne viel Aufhebens. Als sie jedoch bei den Toiletten ankamen, fing er an zu zittern wie in einem epileptischen Anfall. Elliott wollte ihm helfen, doch der Mann wies ihn heftig von sich.

»Laß mich in Ruhe!« sagte er und verschwand hinter der Tür.

Elliott beschloß zu warten. Wider Willen fühlte er sich für den Fremden verantwortlich, der entgegen dem ersten Eindruck in nicht allzu guter körperlicher Verfassung schien.

Nach einer Weile wurde ihm das Warten zu lang. Er gab sich einen Ruck und stieß die Tür zu den Toiletten auf.

»Hallo?« rief er laut in den Gang vor den Kabinen. Niemand antwortete, niemand war zu sehen. Der Raum hatte weder Fenster noch Notausgang. »Hallo, sind Sie hier irgendwo?« Wieder keine Antwort. Aus Angst, der Mann könnte bewußtlos geworden sein, sah Elliott in jede einzelne Kabine – keine Menschenseele weit und breit. Er blickte zur Decke hoch, nichts zu sehen.

Es war unmöglich, aber nicht zu leugnen: Der seltsamste Mann, dem er je begegnet war, hatte sich in Luft aufgelöst.

2

Die Zukunft interessiert mich: Ich habe die Absicht, dort meine nächsten Jahre zu verbringen.

Woody Allen

San Francisco, September 2006

Elliott riß die Augen auf. Er lag quer in seinem Bett. Sein Herz pochte wild, er war schweißgebadet. So ein verdammter Alptraum! Normalerweise erinnerte er sich nie an seine Träume, und nun passierte ihm das ausgerechnet mit einem der vollkommen skurrilen Art: Im Flughafen von San Francisco war ihm plötzlich sein Doppelgänger über den Weg gelaufen – ein deutlich jüngerer Doppelgänger, der ebenso erstaunt gewirkt hatte wie er selbst. Die Begegnung erschien ihm auch jetzt, wo er wieder wach war, noch so real, als hätte er tatsächlich eine Zeitreise dreißig Jahre zurück in die Vergangenheit unternommen.

Er betätigte den Schalter, der dafür sorgte, daß sich surrend die Rollos hoben und den Tag ins Zimmer ließen. Im hereinflutenden Licht des ersten Morgens streifte sein Blick den Flakon mit den kleinen goldenen Pillen auf dem Nachttisch. Besorgt griff er danach, öffnete das Fläschchen, schüttete die schimmernden Kugeln auf seine Handfläche und zählte: neun Stück. Ja, am Abend zuvor hatte er aus Neugier ein Kügelchen geschluckt – konnte das wirklich die Ursache für seinen mysteriösen Traum gewesen sein? Der alte Kambodschaner hatte sich nur sehr vage zu dem Wirkstoff der Pillen geäußert, hatte ihm nur eindringlich und mit einer gewissen Feierlichkeit empfohlen, »sie niemals ihrem Zweck zu entfremden«. Reichlich mitgenommen stand Elliott auf und trat an die Glasfront vor der Terrasse. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Yachthafen, das Meer, die Insel Alcatraz und die Golden Gate Bridge. Die aufgehende Sonne warf ein tiefrotes Licht über die Stadt, das mit jeder Minute seinen Farbton um eine Nuance veränderte. Auf der offenen See kreuzten Segelboote und Fährschiffe, man hörte das Tuten der Nebelhörner, wo noch ein letzter Dunstschleier über dem Wasser lag, und trotz der frühen Stunde sah man schon einige Jogger an der Marina Green entlanglaufen.

Der Anblick all dieser vertrauten Dinge entspannte ihn ein wenig. Doch plötzlich entdeckte er ein beunruhigendes Detail an seinem undeutlichen Spiegelbild in der großen Glasscheibe: Ein dunkler Fleck schien auf seinem Pyjama-Oberteil zu prangen. Es konnte doch nicht wirklich … Er schaute an sich hinunter, um die Sache näher zu untersuchen.

Tatsächlich Blut? Sein Herz ging schneller. Aber natürlich – er hatte in der Nacht Nasenbluten bekommen und dieses Phänomen gleich in seinen Traum eingebaut. Ein klassischer Fall, kein Grund zur Aufregung.

Ein wenig erleichtert ging er ins Badezimmer, um zu duschen. Plötzlich jedoch hielt er inne. Irgend etwas irritierte ihn. Aber was? Langsam zog er sich aus und faßte, einer Eingebung folgend, in die Tasche seines Pyjamas. Eine Serviette mit verkrusteten Blutflecken kam zum Vorschein. Undeutlich erkannte man darunter eine Abbildung der Golden Gate Bridge und den Schriftzug: »Golden Gate Café – Flughafen San Francisco«. Bestürzt starrte er auf das Papiertuch, und diesmal gelang es ihm nicht, zu seiner gewohnten Fassung zurückzufinden.

War seine Krankheit bereits so weit fortgeschritten, daß er den Verstand verlor?

Schon vor einigen Monaten hatte man mit einer Fibroskopie einen Lungenkrebs bei ihm festgestellt. Die Diagnose hatte ihn nicht wirklich überrascht: Man rauchte nicht ungestraft mehr als ein Päckchen pro Tag, und das über vierzig Jahre. Er war sich der Gefahr bewußt gewesen und hatte sie in Kauf genommen. Das war der Preis für den Genuß! Ohnehin glaubte er in gewisser Weise an das Schicksal, daran, daß hinter allem, was einem widerfuhr, ein tieferer Sinn steckte. Und daß es die Aufgabe der Menschen war, damit fertig zu werden.

In seinem Fall handelte es sich leider um einen besonders heimtückischen Krebs: Er breitete sich extrem schnell aus, und die Chancen auf Heilung waren gleich Null. Gewiß, in den letzten Jahren hatte die Medizin auf dem Gebiet der Krebsforschung große Fortschritte gemacht, es gab neue Medikamente, durch die sich die Lebenserwartung der Patienten verlängerte. Aber für Elliott war es zu spät, man hatte den Tumor nicht rechtzeitig erkannt, und inzwischen waren weitere Organe von Metastasen befallen. Die Kollegen hatten ihm die klassische Behandlungsmethode vorgeschlagen – eine Kombination aus Chemotherapie und Bestrahlung –, doch er hatte abgelehnt. In diesem Stadium gab es keine Hoffnung mehr, sein Schicksal war so oder so besiegelt, das wußte er zu gut. Binnen weniger Monate würde er sterben.

Bisher hatte er seine Krankheit im Alltag erfolgreich verdrängen können, doch er wußte, daß das nicht ewig möglich sein würde. Er hustete unaufhörlich, die Schmerzen zwischen den Rippen und in der Schulter wurden immer stärker, und manchmal drückte ihn völlig unvermittelt eine große Mattheit nieder – ihn, der seit jeher den Ruf hatte, unermüdlich zu sein. Das Schlimme waren jedoch nicht die Schmerzen und die Kraftlosigkeit; weitaus mehr zu schaffen machte ihm die Vorstellung, wie sein Umfeld reagieren würde – allen voran Angie, seine zwanzigjährige Tochter, die in New York studierte, und Matt, sein bester Freund, vor dem er bislang nie Geheimnisse gehabt hatte.

Er stieg aus der Dusche, trocknete sich rasch ab und warf einen prüfenden Blick in seinen Kleiderschrank. Sorgfältiger denn je wählte er seine Garderobe aus: ein Luxor-Baumwollhemd und einen italienischen Anzug. Während er sich anzog, wich der Schatten seiner Krankheit zusehends der bemerkenswerten Erscheinung eines Mannes im besten Alter. Sein Charme war legendär, und bis vor kurzem hatte man ihn immer wieder in Begleitung außerordentlich hübscher Frauen gesehen, die meist gerade halb so alt wie er selbst waren. Doch keine dieser Beziehungen war von langer Dauer gewesen, denn wer Elliott Cooper kannte, wußte, daß es in seinem Leben nur Platz für zwei Frauen gab: die eine war seine Tochter Angie, und die andere, Ilena, war seit dreißig Jahren tot.

Auf der Straße empfingen ihn Sonne, Wind und das Geräusch der Wellen. Einen Augenblick hielt er inne, um den beginnenden Tag zu würdigen, bevor er in sein altes orangefarbenes Käfer-Cabriolet stieg – ein vielfach geflicktes Relikt aus längst vergangenen Hippie-Tagen.

Mit aufgeklapptem Verdeck fädelte er sich in den Verkehr auf dem Boulevard ein und fuhr die Fillmore Street hoch, in Richtung Pacific Height, eine Gegend, die wegen ihrer gut erhaltenen viktorianischen Häuser bekannt war. Die Straßen von San Francisco führten auch hier steil bergauf und bergab, es war wie Achterbahnfahren – man kannte dieses Phänomen aus zahllosen Filmen. Doch Elliott war ebenso wie sein Wagen aus dem Alter heraus, in dem man mit einem Höllentempo über die Kreuzungen jagte. Auf der Höhe der California Street bog er nach links ab, kurz vor einem Cable Car, der die ersten Touristen nach Chinatown transportierte. Zwei Blocks hinter Grace Cathedral lenkte er sein kleines Auto in ein unterirdisches Parkhaus. Von hier aus konnte er direkt ins Lenox Medical Center hinübergehen, wo er seit über dreißig Jahren arbeitete.

Als Chefarzt der kinderchirurgischen Abteilung war er eine der Säulen, auf denen der Krankenhausbetrieb ruhte. Doch diese Position besetzte er trotz seiner unbestrittenen Kompetenz noch nicht lange. Schon immer hatte das Wohl seiner Patienten für ihn im Vordergrund gestanden, nicht die eigene Karriere. Und er war bekannt dafür, sich nie hinter irgendwelchem Fachchinesisch zu verschanzen, sondern so verständlich und einfühlsam wie möglich auf die Sorgen aller Beteiligten einzugehen – eher eine Seltenheit bei Chirurgen. Ruhm und Ehre ließen ihn kalt, und gewiß gehörte er nicht zu denen, die bei Golfpartien oder Ausflügen an den Lake Tahoe ein Netzwerk nutzbringender Beziehungen knüpften. Statt dessen kamen die Kollegen zu ihm, wenn ihre eigenen Kinder operiert werden mußten – ein untrügliches Zeichen für die Qualität seiner Arbeit.

»Kannst du mir das mal analysieren?« Elliott hielt Samuel Bellow, dem Leiter des Krankenhauslabors, ein kleines Plastiktütchen vor die Nase, in dem er die Krümel vom Boden des Pillenflakons gesammelt hatte.

»Was ist das?«

»Genau das will ich von dir wissen.«

Als nächstes machte er in Windeseile einen Abstecher in die Cafeteria, um sich seine morgendliche Dosis Koffein zu besorgen. Gleich anschließend ging er hinauf in die OP-Räume, zog sich um und trommelte seine Mannschaft zusammen: einen Anästhesisten, eine Krankenschwester und Sharika, die indische Assistenzärztin, die bei ihm lernte. Alle warteten auf ihn.

Ihr erster Patient war ein zartes, sieben Monate altes Baby namens Jack, das an einem zyanotischen Herzfehler litt. Diese Fehlbildung verhinderte eine ausreichende Sauerstoffversorgung des Blutes, die kleinen Fingerchen waren steif und die Lippen blau verfärbt.

Als er zum Thoraxschnitt ansetzte, packte Elliott eine Art Lampenfieber, er fühlte sich wie ein Bühnenkünstler kurz vor seinem Auftritt. Operationen am offenen Herzen grenzten für ihn immer noch an ein Wunder – besonders bei den ganz kleinen Patienten. Wie viele solcher Eingriffe hatte er schon durchgeführt? Hunderte, wahrscheinlich Tausende. Vor fünf Jahren war sogar einmal ein Kamerateam im OP gewesen, und in der Reportage hatte man später seine »goldene Hand« gelobt: Er könne millimeterdünne Blutgefäße mit Fäden zusammennähen, die für das bloße Auge praktisch unsichtbar waren. Dennoch war er jedesmal aufs neue angespannt und hatte Angst zu versagen.

Die Operation dauerte über vier Stunden. In dieser Zeit übernahm eine Maschine die Herz-Lungen-Funktionen des Säuglings. Wie ein kunstvoller Klempner kam sich Elliott vor, als er das Loch zwischen den zwei Herzkammern schloß und die Lungenarterie öffnete, um zu verhindern, daß sauerstoffarmes Blut zur Aorta floß – eine minutiöse Arbeit, die ein Höchstmaß an Konzentration und Erfahrung verlangte. Er führte die erforderlichen Handgriffe korrekt aus, doch obwohl er sich zusammennahm, war er nicht hundertprozentig bei der Sache: Der Gedanke an seine Krankheit ließ ihn nicht los, und auch der seltsame Traum der vergangenen Nacht spukte ihm durch den Kopf. Als er sich dessen unvermittelt bewußt wurde, fühlte er sich wie bei einem Kunstfehler ertappt, sammelte sich jedoch sogleich und brachte den Eingriff mit voller Aufmerksamkeit zu Ende.

Anschließend erklärte Elliott den Eltern des Babys geduldig, daß es zu früh sei, um Prognosen über den Erfolg der Operation anzustellen. Einige Tage würde der Kleine in jedem Fall noch auf der Intensivstation versorgt werden, man müsse seine Atmung beobachten, bis Herz und Lungen wieder uneingeschränkt funktionierten.

Noch im OP-Kittel ging er nach dem Gespräch hinaus auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und blendete ihn, für den Bruchteil einer Sekunde überkam ihn Schwindel. Er war ausgelaugt, am Ende seiner Kräfte, und in seinem Kopf hämmerten tausend Fragen: War es legitim, seine Krankheit zu leugnen? Durfte er überhaupt noch operieren, gefährdete er damit nicht das Leben seiner Patienten? Was, wenn er während der OP heute morgen zusammengeklappt wäre?

Er steckte sich eine Zigarette an und inhalierte genußvoll den ersten Zug. Das war das einzig Gute an diesem Krebs: Er konnte jetzt soviel rauchen, wie er wollte, den Verlauf seiner Krankheit beeinflußte das nicht im geringsten.

Eine leichte Brise ließ ihn frösteln. Als er die Kippe ausdrückte, stand sein Entschluß fest: Am Ende des Monats würde er aufhören zu operieren und seine Tochter und Matt darüber aufklären, wie es um ihn stand. Das war’s, Ende, aus. Nie wieder würde er das tun, wozu er sich wirklich berufen fühlte: anderen Menschen ärztliche Hilfe zu leisten. Eine schmerzvolle Wahrheit, aber es gab keinen Weg zurück.

»Doktor Cooper?« Zaghaft hielt Sharika ihm einen Becher Kaffee hin. Den weißen Kittel hatte sie gegen eine ausgewaschene Jeans und ein flottes Top getauscht. Sie war jung und, wie er zum erstenmal bemerkte, bildschön und steckte voller Leben. Elliott nahm den Kaffee dankbar lächelnd entgegen.

»Ich wollte mich noch von Ihnen verabschieden.«

»Verabschieden?«

»Heute ist doch mein letzter Tag, meine Assistenzzeit in den USA ist vorbei.«

»Stimmt«, erinnerte er sich, »Sie gehen ja zurück nach Bombay.«

»Ja … Vielen Dank für Ihre Betreuung und die schöne Zeit hier. Ich habe wirklich viel bei Ihnen gelernt.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sharika, Sie werden eine gute Ärztin sein.«

»Und Sie sind ein phantastischer Arzt!«

Elliott schüttelte den Kopf, das Kompliment machte ihn verlegen.

»Vielleicht … Vielleicht könnten wir heute abend zusammen essen gehen?« Mit feuerrotem Kopf blickte die junge Inderin ihn an. Sie war schüchtern, soviel wußte er über sie, und es mußte sie einige Überwindung gekostet haben, ihm einen solchen Vorschlag zu machen.

»Tut mir leid, aber das geht nicht«, erwiderte Elliott, völlig überrascht von der Wendung, die das Gespräch nahm.

»Verstehe«, sagte sie und ließ einige Sekunden verstreichen, ehe sie sich einen Ruck gab und hinzufügte: »Meine Assistenzzeit endet offiziell um achtzehn Uhr. Danach sind Sie nicht mehr mein Vorgesetzter, und ich stehe nicht mehr in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Ihnen. Falls es das ist, was Sie davon abhält …«

Elliott blickte sie an, sie konnte höchstens fünfundzwanzig sein. Er hatte sich ihr gegenüber nie zweideutig verhalten und fühlte sich ausgesprochen unwohl in seiner Haut. »Das ist es nicht«, sagte er.

»Dann entschuldigen Sie. Ich hatte mir eingebildet, daß ich Ihnen nicht ganz gleichgültig bin.«

Was sollte er darauf antworten? Daß eine Hälfte von ihm bereits tot war und die andere bald folgen würde? Daß man immer behauptete, Liebe kenne kein Alter, daß das aber Blödsinn war?

»Ich weiß ehrlich nicht, was ich sagen soll.«

»Dann sagen Sie lieber gar nichts«, murmelte sie und machte auf dem Absatz kehrt. Gekränkt ging sie davon, drehte sich nach ein paar Metern jedoch noch einmal um: »Ach ja, bevor ich es vergesse, Ihr Freund Matt läßt ausrichten, daß er seit einer halben Stunde auf Sie wartet und ihm langsam die Geduld ausgeht.«

Elliott verließ eilig das Krankenhaus und stürzte sich in das nächste Taxi, um zu seiner Mittagsverabredung mit Matt zu fahren.

So wie es die berühmte Liebe auf den ersten Blick gibt, gibt es manchmal auch Freundschaft auf den ersten Blick, und genau das war mit Matt und Elliott passiert. Vierzig Jahre zuvor waren sie sich unter außergewöhnlichen Umständen zum ersten Mal begegnet. Außenstehende mußten denken, daß diese beiden Männer nichts gemein haben konnten: Matt war Franzose, äußerst kontaktfreudig, liebte schöne Frauen und genoß das Leben in vollen Zügen; Elliott war Amerikaner, eher zurückhaltend und ein Einzelgänger. Doch ohne den anderen mochte keiner von ihnen lange sein.

Zusammen hatten sie sich eines Tages in Napa Valley ein Weingut gekauft. Die Weine, die sie dort machten – einen leckeren Cabernet Sauvignon und einen Chardonnay mit Ananas- und Melonenaroma –, genossen einen hervorragenden Ruf, nicht zuletzt dank des hartnäckigen Einsatzes von Matt. Überall in den USA, ja sogar in Europa und in Asien rührte er fleißig die Werbetrommel für ihren Wein.

Matt war ein echter Freund. Die Art Freund, die man anrufen konnte, wenn man einmal in die Verlegenheit kam, mitten in der Nacht eine Leiche wegschaffen zu müssen.

Im Moment jedoch hatte Elliott ein ganz anderes Problem: Er war viel zu spät dran und mußte sich auf einen äußerst schlechtgelaunten Matt gefaßt machen.

Das Bellevue war ein sehr mondänes Restaurant, es lag am Embarcadero, zwischen den Wolkenkratzern des Geschäftsviertels, und bot seinen Gästen einen exquisiten Meerblick. Seit über einer halben Stunde wartete Matt Delluca auf der Terrasse des Lokals, er hatte kaum noch einen Blick für die imposante Bay Bridge, die hinüber nach Yerba Buena Island führte. Gleich daneben konnte man Treasure Island erkennen. Als Matt gerade unwillig seinen dritten Drink bestellen wollte, klingelte das Handy.

»Hallo, Matt, tut mir leid, ich werde ein bißchen zu spät kommen.«

»Mach dir nur keinen Streß, Elliott. Mit der Zeit habe ich mich an deine extrem flexible Vorstellung von Pünktlichkeit fast gewöhnt.«

»Jetzt reg dich nicht auf, nur weil …«

»Nicht doch, mein Lieber. Ich weiß ja, du bist Arzt, und weil du Menschenleben retten mußt, hat man sich eben nach dir zu richten, kein Problem.«

»War ja klar, daß das jetzt kommen würde.«

Matt mußte unwillkürlich grinsen. Er stand auf und trat in den weitläufigen Innenraum des Restaurants, vor der Auslage mit den Meerestieren hielt er inne. »Soll ich schon was für dich bestellen? Ich stehe gerade vor einer höchst appetitlichen Languste, der es bestimmt eine Ehre wäre, von dir gegessen zu werden.«

»Ich vertraue dir.«

Mit einem Kopfnicken in Richtung des Küchenchefs besiegelte Matt das Schicksal des Krustentiers. »Eine gegrillte Languste, bitte!«

Eine Viertelstunde später durchquerte Elliott eilig das Restaurant, vorbei an edlen Holzverzierungen und großen Spiegeln. Nachdem er gegen den Dessertwagen geprallt war und versehentlich einen Kellner angerempelt hatte, kam er endlich auf der Terrasse an und setzte sich zu Matt an ihren Stammplatz.

»Wenn dir etwas an unserer Freundschaft liegt, dann sag jetzt einfach nichts von wegen ›Verspätung‹ und ›schon wieder‹.«

»Wir hatten diesen Tisch zwar für halb eins reserviert, und jetzt ist es zwanzig nach eins, aber ich werde versuchen, mich zu beherrschen … Also, wie war’s in Kambodscha?«

Elliott hatte gerade angefangen zu erzählen, da schüttelte ihn ein heftiger Hustenanfall.

Matt reichte ihm ein großes Glas Mineralwasser. »Das hört sich aber nicht gut an.«

»Kein Grund zur Beunruhigung.«

»Du solltest dich trotzdem mal untersuchen lassen … Ein Lungenscan oder so was.«

»Wer ist hier der Arzt – du oder ich?« erwiderte Elliott und griff nach der Speisekarte, um Matt auf ein anderes Thema zu bringen. »Und, was hast du für mich ausgesucht?«

»Nimm’s mir nicht übel, aber ich finde, du siehst ganz schön fertig aus.«

»Sonst noch was?«

»Ich mache mir Sorgen um dich, du arbeitest zuviel.«

»Mir geht es gut! Ich bin noch ein bißchen erledigt von diesem Einsatz in Kambodscha, das ist alles.«

»Du hättest nicht hinfahren sollen.« Matt verzog das Gesicht. »Asien ist und bleibt …«

»Im Gegenteil, Matt, es war ein absolut bereichernder Aufenthalt.« Elliott zögerte. »Mir ist da übrigens etwas Merkwürdiges passiert.«

»Ja?«

»Ich habe einem alten Kambodschaner einen Gefallen getan … Später hat er mich dann gefragt, was mein größter Wunsch ist.«

»Was hast du ihm geantwortet?«

»Etwas völlig Unmögliches.«

»Daß du endlich eine Golfpartie gewinnst?«

»Okay, vergiß es.«

»Nein, los, sag schon.«

»Nun … Ich habe ihm gesagt, daß ich jemanden wiedersehen möchte.«

In diesem Augenblick begriff Matt, daß sein Freund keinen Spaß machte. »Und wen würdest du gern wiedersehen?« fragte er langsam, obwohl er die Antwort kannte.

»Ilena.«

Eine tiefe Traurigkeit legte sich wie ein Schleier über die beiden Männer. Doch Elliott wollte sich von der trüben Stimmung nicht beirren lassen, und so fuhr er mit seinem Bericht fort, nachdem der Kellner ihnen die Vorspeise gebracht hatte. Er erzählte seinem Freund von den goldenen Pillen und schilderte ihm seinen verwirrenden Alptraum der vergangenen Nacht.

»Wenn du mich fragst: Vergiß die ganze Sache, und tritt bei der Arbeit mal ein bißchen kürzer«, wiegelte Matt ab.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie seltsam das war, mir selbst zu begegnen. Als Dreißigjährigem! Alles schien irgendwie so real …«

»Glaubst du, daß es tatsächlich die Pillen waren?«

»Was denn sonst?«

»Vielleicht hast du was Falsches gegessen«, mutmaßte Matt. »Du treibst dich meiner Meinung nach zuviel in asiatischen Restaurants herum.«

»Ach, hör auf.«

»Ich meine es ernst. Versprich mir, daß du nie wieder zu Mister Chow gehst … Ich wette mit dir, daß seine lackierte Ente eigentlich toter Hund ist.«

Matt hatte die beneidenswerte Gabe, überall, wo er auftauchte, sehr schnell gute Laune zu verbreiten. In seiner Gesellschaft vergaß Elliott alle Sorgen. Und wie immer ging ihr Gespräch irgendwann zu den schönsten Nebensächlichkeiten der Welt über.

»Hast du das Mädel an der Bar gesehen?« fragte Matt und nahm einen Bissen von seinen flambierten Bananen. »Sie beobachtet mich, oder?«

Elliott drehte sich zum Tresen um: Eine anmutige Nymphe mit unendlich langen Beinen und Rehaugen nippte genüßlich an ihrem Martini Dry.

»Das ist garantiert ein Callgirl.«

Matt schüttelte den Kopf. »Quatsch.«

»Wollen wir wetten?«

»Das sagst du nur, weil sie sich für mich interessiert und nicht für dich.«

»Wie alt schätzt du sie?«

»Fünfundzwanzig.«

»Und wie alt bist du?«

»Sechzig«, räumte Matt ein.

»Siehst du, es kann also nur ein Callgirl sein.«

Matt mußte schlucken, bevor er sehr nachdrücklich erwiderte: »Hey, ich war schon lange nicht mehr so gut in Form wie heute!«

»Trotzdem, wir werden älter, mein Freund, so ist das nun mal. Das müßte doch langsam auch bei dir angekommen sein.«

Diese Erkenntnis bereitete Matt offensichtliches Unbehagen.

»Ich muß los.« Elliott stand auf. »Noch ein paar Menschenleben retten. Und du? Hast du was vor heute nachmittag?«

Matt schielte zum Tresen hinüber und stellte betrübt fest, daß die anmutige Nymphe sich angeregt mit einem jungen Schönling unterhielt. Noch vor wenigen Jahren hätte er sie dem Kerl entrissen, doch er hatte seinen Zenit überschritten, das war die traurige Wahrheit. Er fühlte sich plötzlich wie ein Boxer, der kurz davor ist, den einen Kampf zuviel zu kämpfen.

»Mein Auto steht auf dem Parkplatz«, sagte er. »Ich fahre dich zum Krankenhaus, dann kann ich alter Sack mich bei der Gelegenheit mal durchchecken lassen.«

3

Wenn Sie neben einer schönen Frau sitzen, kommt Ihnen eine Stunde wie eine Minute vor. Wenn Sie aber auf der heißen Herdplatte sitzen, kommt Ihnen eine Minute wie eine Stunde vor. Das ist Relativität.

Albert Einstein

San Francisco, 1976

»Ist doch schön hier, oder?« Matt streckte sich auf dem Sand aus und deutete auf die weite, von Felsen umgebene Bucht, die vor ihnen lag.

Die beiden Freunde hatten sich wie so oft zur Mittagspause an ihrem Lieblingsstrand getroffen und im Vorbeigehen an einem Imbißwagen einen Hot dog gekauft.

Es war ein besonders schöner, klarer Tag, die Farben leuchteten intensiv. Nur die Golden Gate Bridge in der Ferne war bis fast zur Fahrbahn hinauf in einen Dunstschleier gehüllt und schien auf einem Wolkenteppich zu treiben.

»Stimmt, es könnte uns schlechter gehen.« Elliott biß herzhaft in seinen Hot dog, sichtlich bemüht, nicht allzuviel Ketchup auf sein hellblaues Hemd zu kleckern.

»Ich habe dir heute eine große Neuigkeit zu verkünden«, erklärte Matt feierlich.

»Aha … Klingt ja spannend. Erzähl, worum geht’s?«

»Gemach, gemach, bis zum Dessert mußt du dich schon noch gedulden.«

Nicht nur Matt und Elliott liebten diese geschützte Bucht; um sie herum tummelte sich eine kunterbunte Menge junger Leute, die das letzte Leuchten des Indian Summer genießen wollten. Mit ihren Schlaghosen, den farbenfrohen Satinhemden und den langen Koteletten sahen die Jungs aus wie exotische Vögel, die um die Mädchen in gebatikten Hängern und Samtjäckchen herumbalzten.

Matt drehte sein unvermeidliches Transistorradio lauter, der Lokalsender spielte gerade den Hit der Saison: Hotel California von den Eagles. Verzückt pfiff Matt die Melodie mit und ließ seinen Blick über den Strand wandern.

»Hast du die Kleine da rechts von dir gesehen? Die beobachtet uns.«

Elliott drehte sich unauffällig um: Hingegossen auf ein pinkfarbenes Handtuch, lag da eine bildschöne, tropfnasse Blondine – wie eine gerade ihrem Element entstiegene, zauberhafte Meerjungfrau. Sie schleckte lässig an einem Eis, schlug ihre ungefähr zwei Meter langen Beine übereinander und blinzelte ihnen zu.

»Wie findest du sie?« fragte Matt und strahlte sie an.

»Beeindruckend. Aber nur zur Erinnerung, ich bin schon vergeben.«

Mit einer Handbewegung wischte Matt diesen Hinweis beiseite. »Lediglich fünf Prozent aller Säugetiere haben einen festen Partner.«

»Und?«