Cover

Irène Kummer

Wandlungen

Aufbruch in die Jahre 50 plus

Impressum

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-85737-8

Die im Buch veröffentlichten Hinweise wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von der Autorin erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von der Verfasserin übernommen werden. Die Haftung der Autorin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

www.beltz.de

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© 2015 Verlagsgruppe Beltz, Werderstraße 10, 69469 Weinheim

Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de (Gestaltung),
www.stephanengelke.de (Beratung)

Umschlagabbildung: © plainpicture/Gilles Rigoulet

E-Book

ISBN 978-3-407-22263-3

Inhalt

Einleitung

Wir entwerfen uns immer wieder neu

Teil I
Lebenskunst Älterwerden

1. Wendezeiten – dem eigenen Leben Gestalt geben

2. Wachstum und Wandlung im späteren Leben

3. Unser Körper im Wandel

Teil II
Lebensgestaltung in den verschiedenen Lebensfeldern

4. Das eigene Beziehungsnetz weben und pflegen

5. Berufsgestaltung und Übergang ins nachberufliche Leben

6. Das Endliche und das Umfassende

Anmerkungen

Literatur

Quellennachweis

Anhang

Stanley Keleman Das formative Konzept

Methodologie – Die Wie- oder Verkörperungsübung

Danksagung

Dieses Buch widme ich meinem Freund und Gefährten Roy (†), dem ich ein tiefes spätes Glück verdanke, und all den nahen Menschen, die mich lehrten, worauf es im späteren Leben ankommt; meinen beiden Kindern Mirjam und David, die mich stets neu mit dem Leben verbinden.

Einleitung

Wir entwerfen uns immer wieder neu

Wende dein Gesicht der Sonne zu,
dann fallen die Schatten hinter dich.

Afrikanisches Sprichwort

Dieses Buch richtet sich an Menschen, die Älter- und Altwerden als eine Perspektive verstehen möchten, welche ihnen Wachstum und Reifung und damit ein erfülltes Leben ermöglicht. Es kann jedoch auch jüngere Menschen interessieren, die sich mit ihren Lebensperspektiven befassen und sich eine Vision für ihre weiteren Lebensphasen bis ins Alter bilden möchten. Zudem gibt es Anregungen für Beratende, Psychologinnen und Psychologen, die ältere Menschen durch die späteren Lebensjahre begleiten.

In meiner Praxis als Psychotherapeutin habe ich es oft mit Menschen zu tun, die sich mit dem Prozess des Älterwerdens auseinandersetzen wollen. Mir fällt auf, dass sich viele von ihnen trotz aller Veröffentlichungen, die dem Defizitmodell abgeschworen und das Kompetenzmodell eingeführt haben, mit dem Älterwerden unendlich schwertun. Sie nehmen es als Verlust an Vitalität, Lebendigkeit, Schönheit und Attraktivität wahr und frönen dem Mythos ewiger Jugendlichkeit. So schaffen sie sich ein Ideal, an dem sie schließlich scheitern müssen.

In diesem Buch geht es vor allem darum, einen anderen Bezug zum eigenen Älterwerden zu finden und zu zeigen, dass dieses nicht nur erlitten zu werden braucht, sondern aktiv beeinflusst und damit befriedigend und sogar erfüllend gestaltet werden kann. Es geht mir dabei nicht nur um ein neues Konzept, sondern um einen Paradigmenwechsel, der auch praktisch umsetzbar ist: Statt vom Leben gelebt zu werden, haben wir die Chance, es als unser persönliches zu formen.

Eine Herausforderung, die unserem Thema zugrunde liegt, besteht in der großen demografischen Veränderung, die vor mehr als hundert Jahren begann, als zunächst die Kindersterblichkeit drastisch verringert werden konnte. Ebenso bewirkt die Revolutionierung der Lebensbedingungen und des Gesundheitswesens, dass die Menschen im Durchschnitt ständig älter werden und dies in vielen Fällen bei guter Gesundheit. Kinder, die im Jahr 2000 geboren wurden, haben laut Studien eine Lebenserwartung von über 100 Jahren.

Mehr als zu allen anderen Zeiten bietet sich also heute die Chance, unsere späteren und späten Lebensphasen neu zu definieren und ihnen einen eigenständigen, vertieften Wert zu geben. Die zweite Lebenshälfte lädt Menschen dazu ein, auf ihr bisheriges Leben zurückzublicken und Bilanz zu ziehen. Die Wendezeiten im Prozess des Älterwerdens bringen die Chance mit sich, eine neue Art von Fruchtbarkeit und Kreativität zu entfalten und innere Sehnsüchte, Kraftquellen und Ressourcen zu entdecken, die bisher verborgen waren oder vergessen gingen.

In der Rückbesinnung können wir die bisher erworbenen Lebenskompetenzen nochmals bewusst annehmen, uns von ihnen getragen fühlen und unsere Lebensqualität intensivieren. Die Ernte aus dem bisher Gelebten lässt sich einbringen, als Wegzehrung für die nächsten Phasen nutzen und auch an andere weitergeben. So gesehen liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Älterwerden als biologischer Tatsache allein, sondern auf dem Prozess von Reifung und Vertiefung des persönlichen Lebens. Reife und Alter bedeuten nicht unbedingt eine Verminderung von Lebendigkeit, sondern eine Veränderung der Erregungsmuster, die uns unsere Lebendigkeit spüren lassen. Der Schlüssel für ein vitales und erfüllendes Leben auch in den späten Lebensphasen liegt im bewussten Beeinflussen dieser Erregungsmuster. Wir können lernen, sie zu erkennen und zu gestalten, um dadurch unseren Reifeprozess zu fördern. Wir »füllen« uns gleichsam mit uns selbst und lassen unsere eigene innere Erfahrung wachsen. So können wir uns vertiefen, statt vorzeitig zu altern, und das Alter als lebendigen Gestaltungsraum leben.

Mein Buch ist Menschen gewidmet, die sich nicht mit dem zufriedengeben, was die Gesellschaft ihnen an Botschaften für die Lebensphasen des Älterwerdens anbietet, nämlich Verhaltensweisen zu erhalten und zu reproduzieren, die schon der Vergangenheit angehören. Ich möchte diejenigen Personen erreichen, die daran interessiert sind, neue persönliche Erfahrungen und Lebensmuster zu kreieren. Ein befriedigendes Leben geschieht nicht irgendwie – es braucht eine lebendige Vision, die sich aus den Erfahrungen mit der eigenen Persönlichkeit ergibt. Und so braucht es auch ein persönliches Engagement, sich auf den eigenen formenden Prozess in den späteren Lebensphasen einzulassen und den damit verbundenen Einsatz nicht zu scheuen. Die Auseinandersetzung mit früheren Wendezeiten und die Entscheidung, nicht vom Leben gelebt zu werden, sondern sich selber aktiv zu beeinflussen, vermögen den Umgang mit den späteren Lebensphasen fruchtbar und befriedigend zu machen.

Älter und alt werden kann ein spannendes Abenteuer sein oder zu einem Kampf werden, vor allem dann, wenn wir das entsprechende Trennungsmodell »Hier Körper – dort Geist« leben. Dann wird »der Körper« zum Feind, abgespalten von dem, was wir »Ich« nennen. Anders ist es, wenn wir uns ganzheitlich als leibhafte Wesen verstehen, wenn wir unser Leib sind und die Entwicklungsaufgabe annehmen, vor der wir als ältere erwachsene Person stehen. Wir haben also die Wahl, unseren Formungsprozess als Herausforderung zu verstehen und Pionierinnen und Pioniere auf einem neuen Gebiet zu sein oder im alten Bild von Älterwerden zu verharren. Entweder gestalten wir unser Leben, so gut wir es können, oder aber wir werden durch Kräfte außerhalb unserer Einflussnahme geformt.

Konzeptuell und methodisch steht in diesem Buch die Verbindung zwischen dem Lebensstilkonzept der Individualpsychologie nach Alfred Adler und dem »formativen Konzept« im Vordergrund, das der amerikanische Forscher und Therapeut Stanley Keleman entwickelt hat und mit dem ich seit vielen Jahren in meiner Praxis und in meinem Ausbildungsinstitut arbeite.

Keleman gehört zu den Pionieren der Humanistischen Psychologie und entwickelte über Jahrzehnte sein eigenes Konzept mit der zugehörigen Wie-Methode, die es erlaubt, die eigenen Verhaltensmuster und die Geschichten, die wir uns zu unserem Leben erzählen, zu beeinflussen, zu regulieren und zu differenzieren. Wenn wir uns in diesem Sinn als Autoren und Künstlerinnen unser selbst verstehen, lässt sich Älterwerden als ein spannender Formungsprozess vollziehen, denn auch in späteren und späten Lebensphasen können wir unsere bisherigen Lebensmuster beeinflussen, um die biologischen Angebote des Älterwerdens zu nutzen, zu gestalten und damit persönlich zu machen.

Auch die Aspekte von Resilienz werden einbezogen, da sie gerade in den späteren Lebensphasen von entscheidender Bedeutung sind, wenn es darum geht, wie ein Mensch gesund sein und bleiben kann – trotz schwieriger Herausforderungen und widriger Umstände. Es geht um die Fähigkeit, vorhandene eigene Kraftquellen zu entdecken, zu nutzen und neue zu bilden. Ressourcen helfen uns, mit uns und mit der jeweiligen Lebenssituation konstruktiv umzugehen. Resilienz als Widerstandskraft und gleichzeitig als Flexibilität sowie als Wachstumszuversicht ermöglicht es, auch schwierige Erfahrungen zu bestehen und sie als Formungskraft einzusetzen.

Im ersten Teil des Buches werden die genannten grundsätzlichen Aspekte, die mit dem Älterwerden verbunden sind, erläutert. Sie geben Einblick, wie wir funktionieren und wie wir uns auf der Basis unserer biologischen Entwicklung Gestalt geben und das Gegebene auf unsere je eigene Weise beeinflussen und formen können. Gerade in den späten Lebensphasen ist dies entscheidend. Im zweiten Teil geht es um die einzelnen Lebensbereiche und deren Gestaltung im Prozess des Älterwerdens: Beziehungsgestaltung – Generationendialoge – Lebensaufgabe Beruf. Das abschließende Kapitel befasst sich mit der umfassenden Perspektive der letzten Lebensphasen.

Sie, liebe Leserin, lieber Leser, können den ersten Teil als Einführung in wichtige Aspekte lesen, die helfen sollen, Älterwerden positiv zu verstehen und zu nutzen. Es ist jedoch auch möglich, zuerst die Sie interessierenden Kapitel des zweiten Teils zu lesen, welche die Gestaltung der Lebensfelder im späteren Leben betreffen, und anschließend oder gleichzeitig die Kapitel des ersten Teils einzubeziehen. An den Anfang jedes Kapitels habe ich eine Einführung im Sinne einer Übersicht über die behandelten Themen gestellt, die Orientierung ermöglichen und den roten Faden des Buches und damit die Verbindung zwischen den einzelnen Kapiteln mit deren Schwerpunkten aufzeigen.

Teil I

Lebenskunst Älterwerden

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn. (…)

Rainer Maria Rilke1

Älterwerden ist kein Geschehen, das uns einfach ereilt und dem wir ausgeliefert sind, sondern ein Prozess, den wir beeinflussen und gestalten können. In diesem Sinne kann Älterwerden als Reifeprozess und als sich vertiefende Lebenskunst verstanden werden.

Der erste Teil dieses Buches widmet sich den Grundlagen, mit deren Hilfe wir persönliche Entwicklung in den späteren Lebensphasen verstehen und vollziehen können.

1.Wendezeiten – dem eigenen Leben Gestalt geben

Einführung

Das erste Kapitel ist den Entwicklungsmöglichkeiten und vor allem den Chancen von Wachstum in den späteren Lebensphasen gewidmet. Diese zeigen sich in den Herausforderungen, die Wendezeiten uns anbieten. So können wir uns auf den verschiedensten Ebenen unserer Persönlichkeit verändern und neue Möglichkeiten ergreifen.

Für den Weg zur Reife nach fünfzig sind unsere besten Begleiter Ressourcen, die wir geschenkt bekommen, und solche, die wir im Laufe unseres Lebens ausgebildet haben. Sie helfen uns, Übergänge zu gestalten und die eigene Resilienz als Standfestigkeit verbunden mit Flexibilität einzusetzen. So können wir immer wieder neu die nötige Wachstumszuversicht entwickeln, eine Kraft, die uns erlaubt, unser eigenes Potenzial ins Leben zu bringen und einzusetzen. Diese Entwicklung ist immer ein ganzheitlich-leibhafter Prozess, in den alle Ebenen unserer Persönlichkeit einbezogen sind.

So vermögen wir das gelebte Leben zu integrieren – mit allen Umwegen und Krisen, die wir erlebt haben. Beides, Herausforderungen aus eigener Kraft zu bestehen sowie Hilfe anzunehmen, ermutigt uns, den Weg in die eigene Zukunft zu gehen und den persönlichen Reichtum zu erweitern und zu vertiefen.

Phasen von Wendezeiten – Wachstumsschritte im Leben

Von dem Mann, der sich schützen wollte

Es war einmal ein Mann, der wollte sich vor den Gefahren der Welt schützen. Er ließ sich eine eiserne Rüstung machen, die er immer anzog, wenn er nach draußen ging. Sie war ein bisschen schwer, und er wurde müde beim Gehen, aber er fühlte sich sicher in der Rüstung. Allein, die Zeiten wurden schlechter und der Mann beschloss, die Rüstung auch im Haus zu tragen. Er legte sie nur noch nachts ab und hängte sie dann an einen Nagel über seinem Bett. Eines Nachts wurde die Rüstung dem Nagel zu schwer. Er fiel von der Wand, und die Rüstung erschlug den Mann. 

Elisabeth Schlumpf

Wendezeiten sind wichtige Wachstumschancen: Wir entwickeln uns weiter, indem wir Aspekte unserer Persönlichkeit, die nicht mehr so wichtig sind wie in früheren Phasen, in den Hintergrund treten lassen, um neue Persönlichkeitsschichten zu kreieren und in den Vordergrund zu rücken. Wenn wir versuchen, uns Veränderungen und damit persönlichem Wachstum zu entziehen, verpassen wir vielleicht Qualitäten unseres Lebens, wie es die Geschichte am Anfang des Kapitels Von dem Mann, der sich schützen wollte zum Ausdruck bringt. Es ist eine natürliche Funktion, uns zu schützen – sowohl gegen Einflüsse von außen wie auch von innen. Ein perfekter und lückenloser Schutz jedoch ist, wie in der Geschichte, tödlich. Durch einen solchen Schutz schottet sich eine Person zunehmend ab und opfert die eigene Lebendigkeit. Die Geschichte lässt sich auch wie ein Traum interpretieren und zeigt vielleicht, dass jemand oder wir selber immer mehr erstarren– symbolisiert in der Rüstung. Wenn wir uns auf uns selbst und unsere Entwicklung einlassen wollen, geht es aber genau darum, unseren Schutz ein wenig abzubauen, weicher werden zu lassen, um uns mit dem, was in uns auftaucht, zu empfangen, willkommen zu heißen. In den späteren Jahren wird dies besonders wichtig.

Erfüllung im Leben hängt zu einem großen Teil davon ab, dass wir uns auf Wandlung und Wachstum einlassen.

Wendezeiten und Wandlungen im Leben sind also der Schlüssel zu unserer Entwicklung und zu unserem persönlichen Wachstum. Immer wieder – beispielsweise in Mythen und Träumen – werden sie in Bilder von Stirb und werde gefasst. Der Philosoph und Psychologe Erich Fromm drückte dies sehr pointiert aus: Leben bedeutet, jede Minute neu geboren zu werden.

Es kommt im ganzen Leben und ganz besonders in den Phasen der zweiten Lebenshälfte darauf an, dieses Stirb und werde zu vollziehen.

»Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.«

J. W. Goethe2

Doch was hat es mit diesem Stirb und werde auf sich? Ist es nicht etwas Beunruhigendes, vielleicht auch Bedrohliches, dem man ausweichen sollte? In unserer Gesellschaft haben wir es ständig mit von außen kommenden Veränderungen auf den verschiedensten Ebenen zu tun, müssen uns immer wieder anpassen, sollen flexibel bleiben. Schon dies sind große Herausforderungen, die auch Angst wecken mögen. Doch Wandlungen bedeuten nicht nur Anpassung, sondern Wachstumsschritte, die unsere Persönlichkeit berühren. Altes und Gewohntes will verabschiedet werden, damit Neues Gestalt annehmen kann – stirb und werde. Ohne Unsicherheit gibt es kein Wachstum.

Dies ist eine Entscheidung, die wir immer wieder neu treffen müssen: Wage ich es, gewohnte Wege zu verlassen und mich auf die sich ergebende Unsicherheit einzulassen? Vertraue ich dem Leben genügend, dass ich das, was mir entgegenkommt, nicht im Vorhinein definieren und werten muss, sondern aufnehmen kann, was kommt, Hoffnung bewahre, anstatt das Lebendige und Aufblühende um mich und in mir selber zu beschneiden, weil es auch Risiko und Unsicherheit gibt, denen wir ausgesetzt sind? Ein hawaiianisches Sprichwort bietet eine Perspektive, wie man mit dem Leben umgehen kann, wenn man sich ihm öffnet:

Preise die Gegenwart,

vertrau dir selber,

erwarte das Beste.

Den Wendezeiten, den Zeiten von Wandlung, liegt eine gemeinsame Dynamik zugrunde, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde:3

Gewohnte Form

Enden

Mittelphase

Neuformung

Vertrautheit

Abschied

Fremdheit

Vertrautwerden

Gewohnheit

Ablösung

Unbekanntheit

Gewöhnung

Sicherheit

Risiko

Unsicherheit

Einübung

Für diese Dynamik möchte ich zunächst ein Bild anbieten, das zum Verständnis beitragen mag:

Stellen Sie sich vor, dass Sie per Schiff auf eine große Reise auf dem Meer gehen. Bis jetzt waren Sie auf dem Land und konnten sich sicher fortbewegen. Nun haben Sie den Entschluss gefasst, eine Reise ins Unbekannte zu unternehmen. Vielleicht machen Sie sich auf zu einem neuen Kontinent oder zu einer Insel. Sie nehmen Abschied von den Menschen, vom Land, das Ihnen vertraut ist. Vielleicht drehen Sie sich noch einige Male um und winken, bevor Sie mit Ihrer Crew die Segel hissen und auslaufen. Da sind vielleicht Wehmut, Abschiedsschmerz und auch Neugier und Entdeckerlust.

Dann wird die Küste langsam versinken, und irgendwann befinden Sie sich auf hoher See. Das vertraute Ufer ist nicht mehr sichtbar und das neue noch nicht in Sicht. Vielleicht kommen nach strahlendem Wetter auch Stürme auf, und Sie wissen kaum weiter und bekommen Angst, kämpfen gegen die tobenden Wellen. Oder der Autopilot fällt aus und Sie müssen allzeit selber wachen und das Schiff steuern. Mag sein, dass Sie sich nach den Sternen richten und sie nach dem Weg fragen. Sie sind unsicher.

Tage und Nächte vergehen. Sie können sich kaum vorstellen, dass die Reise einmal enden wird, Verzweiflung und Ohnmacht tauchen auf, dann gibt es wieder Hoffnung, Vertrauen in den inneren Kompass.

Irgendwann taucht ein schmaler Streifen am Horizont auf. Eine neue Perspektive öffnet sich: »Land in Sicht!« Sie segeln zur unbekannten Küste, wissen nicht, was genau Sie erwartet. Ihre Geschicklichkeit ist gefragt, all Ihre Fähigkeiten, die Sie schon erworben haben, und solche, die Sie eben jetzt erlernen. Es wird Zeit brauchen, an Land zu gehen und sich mit dem Neuen vertraut zu machen …

Immer wieder verändern wir die bisher vertraute und gewohnte, Sicherheit bietende Form unserer Lebensmuster und unserer Lebensgestaltung. Es gilt, von ihnen Abschied zu nehmen und das Risiko, das mit dem Verlust von Sicherheit zusammenhängt, anzunehmen. Die Mittelphase oder der Mittelgrund 4, in welcher die alte Form nicht mehr und die neue noch nicht da ist, bringt Fremdheit und Unsicherheit, aber auch Neugier und Entdeckerlust mit sich. Der Mittelgrund ist gekennzeichnet durch ein aufmerksames Begleiten dessen, was werden will, bis das Neue sich zeigt, das in einer nächsten Phase der Einübung und Gewöhnung bedarf.5

Jeder Übergang, jede Transition beginnt mit einem Enden, einem Prozess des Abschieds und der Trennung. Wir trennen uns von einer Schicht oder einem Aspekt unserer Person oder von einem anderen Menschen, von einer bestimmten Situation, einem Lebensumfeld. Wenn wir innehalten und uns zurückziehen, entsteht als Chance ein Freiraum, der neue Möglichkeiten in sich birgt.

Die einzelnen Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf Abschied und Trennung: Die einen sind neugierig, hoffnungsvoll, andere können überschwemmt werden, versteifen, komprimieren sich oder sie geben auf und resignieren. Zwei verbreitete Muster bestehen dann darin, sich entweder an Vergangenes zu klammern, das Enden hinauszuzögern oder sich kopfüber ins Unbekannte zu stürzen und damit zu überfordern. Es ist jedoch auch möglich, die einzelnen Phasen sorgfältig zu gestalten zu versuchen und so die Schritte ins Unbekannte zu wagen.

Gewisse Abschiedsphasen nehmen wir vielleicht gar nicht als solche wahr. Wir spüren nur, dass wir wechselnden Gefühlen ausgesetzt sind, vielleicht unsere Orientierung verloren haben, weil zunächst Trauer und Sehnsucht nach dem Vergangenen im Vordergrund stehen. Dennoch trägt jedes Enden bereits den Keim eines Neubeginns in sich, ohne dass wir ihn gleich fassen können.

Abschied ist der Anfang eines Prozesses, in dem die bisherige Form endet. Es ist, als ob der Damm des Gewohnten, Stabilen brechen würde. Eine hohe Erregung taucht auf – freudvoll oder beängstigend. Wir können beschwingt sein oder auch überfordert. Abschiednehmen mag uns vorübergehend Angst machen, uns in Not bringen oder beflügeln – und manchmal wechseln auch die emotionalen Zustände recht schnell. Doch was wir nie vergessen dürfen: Es gibt keinen Neubeginn, ohne dass etwas – eine Schicht unserer Person – zu einem Ende kommt und eine Zeit des Innehaltens und der Unsicherheit auf uns wartet. Wir mögen diesen Prozess als einen Absturz ins Chaos empfinden, weil wir den üblichen Halt nicht mehr haben – den Halt durch gewohnte Verhaltensweisen, durch den Partner, die Institution, die eigenen Kinder. Doch wir können unseren eigenen Prozess auch aufmerksam begleiten, unterstützt vielleicht von Menschen im eigenen sozialen Netz.

Abschied und Beenden sind manchmal auch Identitätskrisen: Ich weiß nicht mehr, wer ich bin – ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Diese Verunsicherung auszuhalten ist wichtig, um schließlich neue Möglichkeiten zu entdecken und zu entwickeln.

Die folgenden Aspekte sind wichtig:

Erkennen, dass wir uns in einem Stadium der Wende und damit zunächst in einem Stadium des Abschieds vom Bisherigen befinden;

die hohe Erregung dieser Phase aufnehmen und sie mit einer gewissen leibhaften Festigkeit in sich halten lernen, ohne sich von ihr überschwemmen zu lassen;

sich der Unsicherheit stellen, die mit dieser Phase verbunden ist;

Hilfe annehmen können.

Wer einer Phase des Endens zu widerstehen sucht, gerät meist in einen schwer zu bewältigenden Stress. Es gibt Menschen, die sich versteifen, hart machen und sich entsprechend ihrem Lebensstil sagen: Ich schaffe das ganz allein, so habe ich es schließlich immer geschafft – auf die anderen Menschen ist sowieso kein Verlass. Andere wiederum erhoffen sich alle Rettung aus ihren Nöten allein von außen. Wieder andere haben sich ausreichend Mut bewahrt und erhalten vielleicht auch Unterstützung, um sich auf das Wagnis von Wandlung einzulassen. Was bedeutet: Jeder Mensch geht Abschiednehmen aufgrund der eigenen Lebensmuster an. Deshalb bietet jedes Enden auch die Chance, sich mit den bisherigen Abschiedserfahrungen und Abschiedsmustern auseinanderzusetzen, sie vielleicht umzuformen, um den Prozess des Endens selbst auf neue Weise gestalten zu können.

Dazu möchte ich ein Beispiel geben:

Eine Frau Mitte fünfzig kam zu mir, die jedes Mal, wenn es um Abschiede ging, erstarrte und nichts mehr spürte. Ich arbeitete mit ihr an diesem Erstarrungsmuster. Als sie es abzubauen begann, kam ihre Trauer zum Vorschein, vor der sie bisher Angst gehabt hatte, weil sie befürchtete, von ihr überschwemmt zu werden. Sie erinnerte sich nun daran, dass sie als Kind erlebte, wie der eigene, von ihrer Mutter geschiedene Vater zusammen mit ihrem älteren Bruder sich am Flughafen von ihr trennte, um nach Australien auszuwandern. Sie sah zu, wie die beiden einfach verschwanden. »Da bin ich vor Schmerz völlig erstarrt«, sagte die Frau. Nun ging es darum, dass sie allmählich lernte, sich in Abschiedssituationen genügend Halt und eine ausreichende Festigkeit zu geben, um nicht von Schmerz überwältigt zu werden und vor lauter Not zu erstarren, und zwar schon vor jedem Abschied. Sie bereitete sich im Laufe unserer Zusammenarbeit immer häufiger darauf vor, einem Abschied zu begegnen, und baute dabei schon im Vorhinein ihr Erstarrungsmuster ein Stück weit ab, sodass sie auch in Abschiedssituationen präsent bleiben und wirklich Abschied nehmen konnte. So erfuhr sie, dass nicht jeder Abschied so schmerzhaft zu sein braucht, weder derjenige von Menschen, von Situationen noch auch von eigenen Mustern und Persönlichkeitsschichten.

Nach der Abschiedsphase kommen wir in die mittlere Phase, genannt Mittelgrund6, in eine Phase, in der das bisher Gewohnte nicht mehr greift. Wir sind unsicher – das Alte ist vergangen, das Neue ist noch nicht in Sicht. Doch diese Unsicherheit muss an sich nicht negativ sein, außer sie entwickelt sich zu einem steten Alarmmuster. Vielmehr lässt sich diese Phase mit dem Zustand in der Gebärmutter vergleichen: Es ist ein Prozess des Werdens, den wir liebevoll begleiten können wie eine Schwangerschaft.

Zu dieser zweiten Phase gehört eine wichtige Qualität: die Pause, die einen Prozess des Verlangsamens ermöglicht und die automatischen Reaktionen unterbricht. Wenn wir automatisch im alten Muster reagieren, wissen wir, was für Gefühle und Gedanken damit verbunden sind. Dies gibt uns eine Art Sicherheit – ob wir diese mögen oder nicht. Wenn wir uns zum Beispiel automatisch klein machen, dann kennen wir diese Reaktion und ihre Folgen – wir bewegen uns auf sicherem Boden. Wenn wir das Muster beenden, beginnt das Abenteuer: Was tue ich jetzt? Wie soll ich mich verhalten, wenn das alte Verhalten nicht mehr greift? Dann bewege ich mich auf unsicherem Boden. Doch eines ist sicher: Unsicherheit ist ein mächtiger Lehrer in unserem Leben, denn ohne Unsicherheit gibt es kein Wachstum. Können wir diese Unsicherheit aushalten, um neue Möglichkeiten zu entdecken?

Die Pause, die zu dieser Phase gehört, hindert uns daran, automatisch auf die alte Weise zu reagieren. Wir halten inne. Wir warten auf etwas aus unserem Inneren, das kommen will, etwas Unerwartetes, Unbekanntes, auf eine neue Persönlichkeitsschicht, die vielleicht schon lange darauf gewartet hat, ins Leben hineingelebt zu werden, und andere Verhaltensmöglichkeiten mit sich bringt.

Machen wir diesen Prozess wieder durch ein Beispiel konkret:

Ein 56-jähriger Mann kam im Zusammenhang mit einem Burn-out zu mir in Therapie. Ich schildere nur kurz eines seiner Themen, das mit der Veränderung eines Verhaltensmusters zu tun hatte. Bis zu seinem Burn-out war es ihm nur darum gegangen, alle Wünsche seiner Mitarbeiter und seines Chefs zu erfüllen, und dafür arbeitete er auch nach Feierabend und am Wochenende. In der Therapie wurde ihm dann deutlich, dass er eigentlich immer so funktioniert hatte, weil er glaubte, nur so im Leben überhaupt Anerkennung und vielleicht sogar Liebe zu bekommen. »Aber jetzt kann ich das nicht mehr, ich kann mich nicht mehr auf die gleiche Weise übergehen – es fehlt einfach die Kraft dazu.«

Der Mann nahm wahr, dass sein bisheriges Muster der Überverantwortlichkeit an ein Ende gekommen war, und wurde völlig ratlos, weil er über nichts verfügte, das ihm erlaubte, zu wählen, was er tun und was er lassen konnte. Er kannte nur sofortiges Eingehen auf die Anforderungen und Bitten von außen, was ihm scheinbar Anerkennung verschaffte. Doch mit der Zeit realisierte er, dass die erwartete Anerkennung gar nicht kam und er die Ziele seiner Anstrengungen immer höher schraubte. Damit setzte er sich einen immer größeren Leistungsstandard, an den sich seine Umgebung gewöhnte und ihn kritisierte, sobald er ihn nicht mehr zu erfüllen vermochte. So lernte er, seine Signale von Ermüdung und Erschöpfung zu übergehen, um noch mehr zu leisten, bis er völlig ausgebrannt war. Als er diesen Teufelskreis erkannte, übte er sich darin, innezuhalten, damit er nicht mehr automatisch in sein altes Muster zurückfiel. Er legte sich eine Haltung zurecht: »Ich werde es mir überlegen.« Das heißt, er begann, dieses Muster des sofortigen und bedingungslosen Einsatzes abzubauen und auf seine innere Stimme zu hören, die ihm bedeutete, dass er an seine Grenze gekommen war, was für ihn ein großes Wagnis bedeutete, denn es kamen auch Ängste zum Vorschein, die zu seiner früheren Geschichte gehörten, in der er nur durch Leistung Anerkennung erlebt hatte.

Dann lernte er, das, was ihm früher widerfahren war, von der gegenwärtigen Situation zu unterscheiden: Als kleiner Junge war er von der Liebe seiner Bezugspersonen abhängig gewesen, doch jetzt gab es in seinem Leben genügend Menschen, die ihm zugetan waren oder ihn liebten, ohne dass er diesen Stafettenlauf mit seinem Leistungsmuster ausführte. Dies wurde ihm allmählich bewusst, und er konnte die Stimme des kleinen Jungen von derjenigen des erwachsenen Mannes unterscheiden und seine erwachsene Form festigen lernen. Jetzt ging es für ihn darum, die Unsicherheit auszuhalten, die mit der Umgestaltung seines Überverantwortlichkeitsmusters verbunden war, bis er ein Repertoire ausgebildet hatte, das ihm ermöglichte, differenzierter auf die unterschiedlichen Anforderungssituationen zu antworten.

Ein solcher Prozess ist exemplarisch für spätere Lebensphasen, in denen die eigenen, auch körperlichen Grenzen enger werden und der Preis für die bisherigen Muster von Überverantwortlichkeit immer höher wird. Es gibt nicht nur dieses Muster, das einen Menschen ausbrennen lassen kann. Gerade begabte Menschen gehen häufig aus lauter Begeisterung und Freude an ihrer Aufgabe sehr weit und lassen sich vom Flow tragen. Dies lässt sich oft über viele Jahre durchhalten. Mit dem Älterwerden verengen sich aber die Grenzen der eigenen Kapazität – die einzelnen Menschen brauchen mehr und längere Ruhepausen. Gerade die Verbindung von Überverantwortlichkeit und Begeisterung mit großer Begabung führt – wie ich es in meiner Arbeit erfahre – spätestens beim Älterwerden oft zum Burn-out. Dann reicht es nicht aus, nur die Muster der Überverantwortlichkeit abzubauen. Es bedarf zusätzlich eines neuen Umgangs mit dem Flow, eines sorgfältigeren Regulierens der eigenen Begeisterung.

Unsere Chance ist das Innehalten – wir können uns mit unseren bisherigen Reaktionsweisen auseinandersetzen und sie suspendieren. Neue Möglichkeiten werden oft nicht sofort sichtbar. Deshalb verbindet sich diese Phase mit dem Bild einer Schwangerschaft, einer Inkubation, in der das Neue – noch nicht greifbar – im Innern der Person heranreift.

Wenn wir nochmals auf den Prozess im Mittelgrund zurückschauen, können wir sehen, dass wir ihn anhand folgender Qualitäten und Merkmale identifizieren können, die uns erkennen lassen, dass wir uns in einem Übergang befinden:

Sensibilität, Dünnhäutigkeit und erhöhte Schutzlosigkeit oder Verletzlichkeit;

Wechsel zwischen Zweifeln, Ängsten und Erleichterung oder gar freudiger Erwartung;

Freiwerden von neuen, ungewohnten Kräften;

Verfügbarwerden von Ressourcen und Entdecken verborgener Schätze und Ressourcen im eigenen Innern;

Steigerung und Vertiefung von kreativem Potenzial.

Anschließend geht es um Neuformung 7, darum, eine neue Vision zu formen, das »Kind« zu gebären. Wie gesagt, der Prozess ist ein Stirb und werde. Das Alte stirbt, damit Neues geboren werden kann. Es gibt einen antiken Wandlungsmythos, in dem der Vogel Phönix verbrannt wird und aus der Asche neu ersteht. Nun wird das Neue sichtbar. Wir sind dabei, eine neue innere Balance zu finden. Wir sind vielleicht tatkräftiger, konfrontativer oder weicher und zärtlicher, zurückhaltender geworden und haben mehr Möglichkeiten, uns selbst und der Welt zu begegnen – wir haben neue Verhaltensweisen und ein Repertoire an Möglichkeiten gewonnen. Nun müssen wir uns damit auseinandersetzen, was unser neues Verhalten, unsere neue Persönlichkeitsschicht mit ihren Nuancen, in uns und anderen bewirkt.

Wir lernen vielleicht, dass wir Nein sagen können oder Ja. Und wir lernen, dass wir das Nein und Ja differenzieren können. Es gibt nicht mehr nur das Entweder-oder, sondern ein Dosieren und Aushandeln, je nach Situation – ohne dass wir uns dabei aufgeben. Dies alles bedeutet, die neue Schicht unserer Persönlichkeit, die sich langsam herausgebildet hat, in die Welt zu bringen und uns dem Unerwarteten, das aus uns selber kommt, und auch den Antworten der Umgebung zu stellen.

Wir können durch Wandlung auf verschiedene Weise viel für uns gewinnen: Der Prozess der Wandlung bietet Schätze an, eine intensive Qualität von Leben, von mit sich selbst in Berührung sein, und die neue Wachstumsschicht, die wir herausbilden, lässt uns als Person reicher und vielfältiger werden.

Das folgende Beispiel zeigt diese Phasen des Wartens und der Neuformung:

Romy, eine 64-jährige Frau, bringt eine Zeichnung zu ihrer momentanen Lebenssituation mit. Diese zeigt eine Frau, die mit ihrem geschnürten Bündel auf einer Insel wartet. In der Ferne, am Horizont des Meeres ist eine Stadt auszumachen, »eine Mischung aus Manhattan und orientalischer Stadt«. Auf der Insel nimmt Romy mit ihren inneren Schichten Kontakt auf und entdeckt dabei

das wilde, spontane, überschießende Mädchen;

die neugierige, interessierte Jugendliche;

die klare, zielgerichtete, Entscheidungen treffende junge Frau;

die tüchtige Berufsfrau und Mutter.

Nachdem Romy diese Persönlichkeitsschichten benannt und ihnen nachgespürt hat, sagt sie unvermittelt: »Das gibt mir richtig Schub!« Dazu macht sie eine Geste, die allmählich zu einer Flugbewegung wird. Ich rege Romy an, das Brustbein etwas anzuheben. Sie versucht es und sagt: »So komme ich übers Meer! So kann ich vielleicht meine persönliche Vision von Kreativität verwirklichen.« In der Folgezeit widmete sie sich der Einübung dieser neuen Qualität.

Auch in den Märchen lässt sich die Figur von Wandlung entdecken, wie Verena Kast8 in ihren Büchern immer wieder zeigt. Auch da finden sich die drei eben nach Keleman charakterisierten Phasen wieder: Am Anfang steht die Trennung, das Ausgestoßenwerden aus der bisherigen Welt. Darauf folgt eine Zeit des Rückzugs in eine andere Welt, eine Inkubationsphase. Meist tritt dann eine helfende Gestalt auf (ein weiser Mensch oder ein Tier) und ermöglicht es der Märchenfigur, in ihrer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit des Übergangs wieder eine neue Ausrichtung zu finden. Schließlich folgt die Ausstoßung aus dieser Welt des Rückzugs, oft durch einen Tabubruch. Der Held oder die Heldin geht verändert in die alte Welt zurück – oder auch in eine neue und unbekannte – und bringen Qualitäten mit, die dieser Gemeinschaft bisher gefehlt haben.9

Fassen wir zusammen:

Der wendezeitliche Prozess bietet oft Schätze und Ressourcen an. Wir erfahren eine intensive Qualität von Leben, die davon geprägt ist, »mit sich selbst in Berührung zu sein«, gerade weil wir in solchen Zeiten durchlässiger und dünnhäutiger sind – beeindruckbarer durch uns selbst, unsere eigene Entwicklung und durch andere Menschen und Geschehnisse. Übergangszeiten bringen uns aber genauso in Kontakt mit unseren Einschränkungen, die wir aus unserer individuellen und kollektiven Geschichte mitbringen. Die Begegnung mit den eigenen Lebensmustern bietet die Chance zur Umgestaltung.

Mit jedem Wandel bringen wir jedoch nicht nur für uns selber Schätze mit, sondern ebenso für die Gemeinschaft, in der wir leben. Dies gilt in besonderer Weise für die Wendezeit unseres Reifeprozesses. Wenn wir die Wende, die Krise, durchstehen, lässt uns die neue Wachstumsschicht, die wir herausbilden, als Person reicher und vielfältiger und als Mitmenschen segensreicher und für die Gemeinschaft förderlicher werden.