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Für Magnus, Felix, Sebastian und Tom

Übersetzung aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag

erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-8270-7620-5

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

Sommarhuset bei Forum, Stockholm

© 2011 Anna Fredriksson

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München,

unter Verwendung eines Bildes von © masterfile

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Sie öffnet die tapezierte Tür zum Kleiderschrank unter dem Dach. Ein Staubwölkchen schlägt ihr entgegen. Drinnen riecht es nach altem Holz und Stoff. Ein Hauch von dem starken Mittel gegen Hausbockkäfer ist auch immer noch wahrzunehmen, obwohl seit der letzten Anwendung sicher dreißig Jahre vergangen sind. Hier hängt ein Teil von Mamas Kleidern, die Kleider, die sie im Sommer immer getragen hat. Auch letzten Sommer noch.

Eva sammelt sich einen Moment. Dann beginnt sie, die Sachen herauszuziehen. Sie nimmt einen ganzen Schwung auf einmal, immer einen Armvoll, das verleiht dem Ganzen so einen Flair von normaler Hausarbeit. Etwas, was erledigt werden muss, um das Haus vor dem Sommer noch einmal ordentlich aufzuräumen.

Sie legt alles auf eines der Betten im Giebelzimmer. Nach dem letzten Packen ist noch ein Kleid übrig. Blau-grüner, gemusterter Baumwollstoff, ärmellos. Das hatte Mama immer zu Mittsommer an. Sie kann sich noch an den albernen Ringelreihen erinnern, bei dem irgendeine fremde Frau nach ihrer Hand griff. Und wie sie dann davonrannte, zu Mama, die danebenstand und zusah. Wahrscheinlich aber auch nur aus Pflichtgefühl, denn eigentlich war sie ständig mit irgendwelchen gesellschaftlichen Fragen beschäftigt.

Sie berührt das Kleid mit den Fingerspitzen. Lässt es dann allein im Schrank hängen und beginnt die restliche Kleidung durchzugehen. Jedes einzelne Stück hält sie hoch und betrachtet es kurz, um es dann zusammenzufalten und in einen schwarzen Plastiksack zu legen. Hosen, Röcke, Strickjacken, angeknitterte Blusen mit kleinem Kragen. Dann steht sie plötzlich vor dem breit gestreiften Marimekko-Kleid. Das Kleid. Sie streicht darüber und hält sich den Stoff an die Wange. Ihre Augen brennen.

Noch keine Entscheidung. Eva legt die Kleider beiseite und macht sich stattdessen an die Schubladen der Kommode. Zieht eine praktische weiße Baumwollunterhose heraus. Wirft sie in den Müllsack, zusammen mit ein paar ganz ähnlichen, und dazu noch ein paar weiße BHs mit weichen Körbchen. Und ein Pyjama aus weichem Trikotstoff. Sie nimmt das Oberteil in die Hand und wird von dem Gedanken übermannt, dass dieser Stoff Mamas Körper eingehüllt hat.

In der Schublade darunter findet sie ein altes Schmuckkästchen. Sie macht es auf, sieht all die vertrauten kleinen Gegenstände, die sie als Kind zu Reihen und Grüppchen ordnete und dann in ihre verschiedenen Fächer im Schmuckkästchen sortierte. Sie nimmt ein Paar grüne Ohrclips heraus. Wann hatte Mama die denn an? Wahrscheinlich noch vor Evas Geburt, in den Sechzigern. Sie betrachtet sie und kann sich überhaupt nicht an sie erinnern.

Da entdeckt sie ein paar Ohrringe aus Holz und Zinn. Die machte Mama immer mit einer kleinen Schraube von hinten am Ohrläppchen fest. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, sich Löcher stechen zu lassen. Eva lässt die Ohrringe von der Hand baumeln. Die hatte Mama oft an, wenn sie auf eine Party oder zu einem Dinner eingeladen war. Eva legt sie zurück auf das kleine Wattepölsterchen. Typisch Mama, gerade im Schmuckkästchen solche Ordnung zu halten – sonst war sie beileibe kein Hausmütterchen gewesen.

Mamas Ohren mit den weichen Ohrläppchen. Ihr Haar. Ihre Hände. Und Augen. Und ihr Mund, ihre Stirn und ihr Hals. All das, was irgendwo immer noch existiert, jetzt aber in kalter Dunkelheit.

Dann ist da noch das Bündel mit den kleinen gehefteten Büchlein. Ein rotes, ein blaues, ein gelbes und ein grünes. Schwedischer Humor von 1949. Lustige Zeichnungen. Geschichten zum Lachen. Preis 1 Krone. Hier hinterlassen vom Voreigentümer. Eva kann sich noch gut erinnern, wie sie sie eines regnerischen Tages in einem Schrank in der Ecke gefunden hatte, als eines der Schlafzimmer ausgeräumt wurde, weil frisch gestrichen werden sollte. Ihre Geschwister waren auch dabei. Am Abend setzten sich alle in die Küche, und während Mama an der Spüle stand und abwusch, blätterte Eva in den Heften und las laut vor. Einen uralten, abgedroschenen Witz nach dem anderen. Und alle mussten so schrecklich lachen, dass sie fast keine Luft mehr bekamen. Mama auch. Die Witze waren überhaupt nicht lustig, aber gerade das machte die Sache so umwerfend komisch.

Arzt zur Schwester: Fragen Sie den Verletzten, wie er heißt, damit wir seine Mutter benachrichtigen können.

Schwester (kommt zurück): Er sagt, seine Mutter weiß schon, wie er heißt.

Eva schlägt das Heft zu und legt es mit den anderen auf das Nachtkästchen. Sie will sie nicht mehr anfassen. Die werden in ein Regal in Mamas Arbeitszimmer geräumt.

Sie zieht die unterste Schublade auf.

Die Badeanzüge. Der blaue aus Frottee, ausgebleicht von Sonne, Sand und Wasser. Ein anderer aus ganz normalem Nylonstoff, ein eher türkiser Farbton. An den kann sie sich noch sehr gut erinnern. Und dann noch einer in hellerem Blau. Mama mochte überhaupt am liebsten Blau, sowohl bei ihrer Alltagskleidung als auch bei Badeanzügen. Sie trug nie Bikinis, sondern blieb immer beim Badeanzug.

Die morgendliche Schwimmrunde. Mamas vergnügtes Prusten, ihre kraftvollen Schwimmzüge im eiskalten Wasser, einmal geradeaus vom Steg weg und wieder zurück. Dann rubbelte sie sich Beine und Arme mit dem Handtuch ab, zog sich die Träger des Badeanzugs von den Schultern, zog den Bademantel über und schälte sich dann ganz aus dem nassen Badeanzug. Und am Ende verkündete sie regelmäßig »wie WUNDERBAR man sich hinterher fühlt«. Eva zögerte manchmal ein wenig, aber am Ende sprang sie auch immer ins Wasser, egal, wie kalt es war. Die morgendliche Schwimmrunde gehörte nur ihnen beiden.

Wenn Eva und Mama ihre nassen Badeanzüge auf der Leine hinterm Haus aufgehängt und schöne trockene Sachen angezogen hatten – ganz leise, damit sie die anderen nicht weckten –, fuhren sie immer noch einmal zusammen weg. Sie drehten mit dem Rad eine Runde an der frischen Luft, machten Halt am Strand, um Steine zu sammeln. Und sie zeigten sich gegenseitig ihre Funde: Guck mal, hier, hast du das gesehen? So glatt und weich, ist ja toll. Nachdem sie die hübschesten Exemplare in einen Pullover gerollt und auf den Gepäckträger geklemmt hatten, fuhren sie weiter. Sie fuhren flott über die verlassenen Pfade, den Wind im immer noch feuchten Haar. Die Geschwister waren zu klein, um sie zu begleiten.

Ob sie morgen wohl kommen werden?

Sie weiß es nicht. Sie hat dem Bestattungsunternehmer bloß Bescheid gegeben, dass er ihnen Ort, Datum und Uhrzeit mitteilen soll.

Sie muss durchs grelle Sonnenlicht gehen, Meter für Meter. Sie sieht, wie ihre beiden Schuhe sich auf dem Kies voranbewegen, wie sie sie immer näher zu dem bringen, was sie jetzt erwartet. Sie ist erwachsen, 42 Jahre alt, sie wird das schon schaffen. Die Pfarrerin hat sich an den Eingang gestellt. Sie trägt ein weißes, bodenlanges Gewand und hat sich ein breites, besticktes Band um den Nacken gelegt, das auf der Vorderseite rechts und links herunterhängt. Sie empfängt die schwarz gekleideten Trauergäste.

Einer der Bäume vor der kleinen Kapelle blüht nicht. Er reckt nur hilflos seine nackten Zweige in die Luft und protestiert dagegen, dass es bald Ende Mai ist. Ein paar Krähen krächzen sich etwas zu. Eva hat bis jetzt noch nie darüber nachgedacht, wie grässlich dieses Gekrächze klingt.

»Eva?«

Die Pfarrerin steht vor ihr und beugt sich leicht vor, um Augenkontakt mit ihr zu bekommen. Eva blickt auf. Die verkleidete Frau hat eine Bibel mit schwarzem, abgegriffenem Einband in der Hand.

»Wie geht es Ihnen?«

»Ach. Ganz gut.«

»Sie sehen blass aus. Sie sagen Bescheid, wenn Sie …?«

»Aber ja. Es geht schon. Keine Sorge.«

Sie ringt sich ein kleines Lächeln ab. Die Pfarrerin sieht besorgt aus und tätschelt ihr die Schulter, und Eva weicht ihr aus und geht rasch weiter in die Kapelle.

Sie zwingt sich, Schritt für Schritt auf die Bankreihen zuzugehen. Ein paar Leute sitzen schon auf ihren Plätzen und richten ihre Blicke auf Eva, doch sie weicht ihren Augen aus. Sie kennt sie nicht mal. Die Pfarrerin hat etwas von Kollegen gesagt, mit denen Mama noch zusammengearbeitet hat, kurz bevor sie in Pension ging.

Eva geht an den Bankreihen vorbei und wird von den Anwesenden beobachtet, als würde sie auf eine Bühne treten. Sie umklammert ein kleines Sträußchen Maiglöckchen, das ihr die Pfarrerin aus irgendeinem Grund in die Hand gedrückt hat. Hatte sie der Frau gesagt, dass Mama Maiglöckchen mochte? Sie kann sich nicht entsinnen. Sie erinnert sich nur noch daran, wie im Frühjahr plötzlich immer die ganze Wiese voll damit war, der ganze Hügel hinauf bis zum Gästehäuschen.

Sie geht an der Seitenwand der Kapelle entlang, geradeaus und ohne sich umzusehen. Dann ist sie am Ziel: Die Stühle in der vordersten Reihe, direkt vorm Sarg. Sie lässt sich auf einen gepolsterten Stuhl sinken und versucht ganz ruhig zu atmen. Steif sitzt sie da. Schließlich wagt sie, den Blick geradeaus zu richten.

Da ist der weiße Sarg. Auf dem Boden liegen Kränze und Sträuße, umwunden mit Seidenbändern. Sie kann schwülstige Abschiedsgrüße in Goldlettern erkennen. Freunde und Kollegen. Die Namen ihrer Verwandten. Ihren eigenen und Elias’. Die Namen von Anders, Katrin und den Kindern. Majas und Tomas’. Wer auch immer dieser Tomas sein mag.

Auf dem Sarg liegt ein Blumengesteck. Protzig und vulgär, weit entfernt von Mamas schlichtem Stil. Aber die Pfarrerin und das Bestattungsinstitut haben ihre Arbeit gemacht. Alles sieht so aus, wie es auf einer Beerdigung aussehen soll. Sie liest das Wort Bildungsministerium auf einer Schleife. Auf einer anderen steht Berufsinformationszentrum. Was hat Mama eigentlich genau gemacht? Sie hat eine Studie geleitet, aber was genau bedeutete das eigentlich? Eva weiß es nicht so genau. Im Grunde hat sie es nie so genau gewusst. Sie weiß nur, dass Bildungsministerium eines der ersten Wörter war, die sie gelernt hat. Das hat ihr irgendjemand mal vor langer Zeit erzählt.

Bewegung im Mittelgang. Ihr kleiner Bruder Anders, seine Frau Katrin und ihre drei Kinder kommen nach vorne und setzen sich in die Reihe hinter sie. Sie dreht sich um – die Höflichkeit gebietet es –, nickt ihnen leicht zu und bekommt ein leichtes Nicken zurück.

Anders und Katrin haben sich vor langer Zeit kennengelernt, sie sind schon zehn, zwölf Jahre zusammen. Anders ist jetzt 35. Eva weiß eigentlich gar nichts über ihr Leben, sie hat keine Ahnung, ob die beiden glücklich sind oder nicht. Anders hat sich die Haare kürzer schneiden lassen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen haben. Sie hat den Eindruck, dass sein Haar auch ein wenig dünner geworden ist, und vielleicht ist da sogar ein erster Bauchansatz. Schwarze Jeans, schwarzes Hemd und schwarze Jacke. Staubige Schuhe.

Katrin hat sich die Haare hochgesteckt und sieht gepflegter aus als sonst. Sie trägt ein langes schwarzes Gewand, eine Art Mittelding aus Tunika und Kleid. Die Kinder sind gewachsen, alle drei sind wesentlich größer, als Eva sie in Erinnerung hat. Wie lange ist es eigentlich her, dass sie sie das letzte Mal gesehen hat?

Anders und Katrin sind ausnahmsweise genauso ernst wie sie selbst. Sonst lachen und kichern sie ständig. Zu viel, zu laut, im falschen Moment. Wenn Eva mit ihnen zusammen ist, wirkt sie immer wie die ernste große Schwester oder Schwägerin. Sie kann sich geradezu selbst sehen: schweigsam, verschlossen, grau. Während Anders und Katrin schillernd und extrovertiert sind. Einnehmende Persönlichkeiten. Beide gleich oberflächlich und gleich leer.

Ihre drei Kinder wirken gelangweilt. Was werden sie von ihrer Großmutter im Gedächtnis behalten haben? Mama interessierte sich so gut wie gar nicht für ihre Enkel, worüber Anders sich gewaltig ärgerte, als er zum ersten Mal Vater wurde. Aber irgendwann gab er es auf, genau wie Eva ein paar Jahre vor ihm. Er sah wohl selbst ein, dass er nichts ausrichten konnte und sich auf die Dauer kein einigermaßen regelmäßiger Kontakt halten ließ.

»Wo ist Elias?«, flüstert Katrin.

Eva weiß nicht, was sie antworten soll. Sie hofft, dass er nicht zu spät kommt. Sie findet es wichtig, allen Anwesenden zu beweisen, dass ihr Sohn sich zu benehmen weiß. Aber da sieht sie Elias auch schon die Kapelle betreten. Er trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und blitzblank geputzte schwarze Schuhe. Das ist so seine Art, die Dinge ernst zu nehmen, sich Mühe zu geben. Er sucht sie mit den Augen und entdeckt sie, geht nach vorn und setzt sich auf den Stuhl neben sie. Jetzt ist er bei ihr, zumindest eine Weile. Sie bilden ihre eigene kleine Familie.

Maja kommt in Gesellschaft eines fremden Mannes, der ihr neuer Freund sein muss. Und der offenbar Tomas heißt. Maja sieht aus wie immer, mit der dicken Mähne, die ihr auf den Rücken fällt. Sie trägt ein hübsches schwarzes Kleid. Diskret, aber nicht langweilig. Maja hat Stil. Sie ist 33.

Tomas ist ein unauffälliger Typ. Mittelgroß, schwarze Jacke, ausdrucksloses Gesicht. Unbegreiflich, dass Maja seinen Namen mit auf die Kranzschleife hat setzen lassen. Er hatte Mama nie kennengelernt.

Die beiden setzen sich neben Anders.

Eva wirft einen Seitenblick auf Maja. Wenn man sie so im Profil sieht, mit diesem Teint, sieht sie Mama so ähnlich. Auch die Haarfarbe, genau dasselbe Dunkelbraun, das Mama hatte. Und die braunen Augen, die genauso geschnitten sind wie Mamas. Und der Mund? Ja, der auch. Maja hat denselben Schwung in der Oberlippe, eine hübsche Rundung. Es fällt Eva zum ersten Mal auf.

Die Beerdigungszeremonie beginnt. Musik wird abgespielt, Reden werden gehalten. Die Pfarrerin hält sich an das, worauf sie sich mit Eva geeinigt hat: so wenig wie möglich über Gott und den Herrn, absolut minimal. Eva selbst sagt nichts. Das Angebot der Pfarrerin, ein paar Worte zu sagen, hat sie abgelehnt. Anscheinend haben Maja und Anders sich auch nicht berufen gefühlt. Die Pfarrerin da vorne redet und redet und singt am Ende sogar ein bisschen.

Dann ist der Moment gekommen, an den Sarg zu treten und die Blumen abzulegen. Eva macht es genau so, wie es sich gehört. Sie legt den Strauß aufs Kopfende des Sarges, nickt kurz und bleibt ein paar Sekunden so stehen.

Unter den Blumen, unter dem weißen Holz: Mamas Gesicht. Nur wenige Dezimeter entfernt. Das Gesicht, in dem sie jede Linie, jede Pore kennt, jeden Zahn, der beim Lächeln entblößt wird. Die Augen, die sie auf dieser Welt als erste angesehen haben. Als allererste.

Anders und Maja müssen auch gefragt worden sein, ob sie Mama noch einmal sehen wollen. Eva hat Nein gesagt, auch wenn sie immer noch nicht weiß, ob das die richtige Entscheidung war. Vielleicht hätte sie Auf Wiedersehen sagen wollen, das Gesicht noch ein letztes Mal sehen. Das Gesicht, das sie ihr Leben lang kennt. Aber wie sollte so ein Auf Wiedersehen aussehen? Vielleicht war es doch das Beste, sich so zu trennen. Mitten im Nichts.

Jetzt ist nur noch ihr eigenes Leben übrig. Sie wird versuchen weiterzumachen, ganz vorsichtig. Damit es nicht wieder kaputtgeht.

Sie verlässt die Kapelle als Letzte, Arm in Arm mit Elias. Ein paar Schritte weiter sieht sie Anders und Katrin mit Maja und ihrem Freund zusammenstehen und reden. Sie haben sicher stundenlang diskutiert, wie sie in dieser heiklen Situation mit ihr umgehen sollen. Sie wissen, dass sie »unflexibel« sein kann, wie Anders vor ein paar Jahren einmal gesagt hat, als er vorschlug, dass sie alle zusammen Weihnachten feiern sollten. Daraus wurde nie etwas. Wie immer feierten Eva und Elias weiterhin den Heiligabend mit Mama, während die Geschwister am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag dran waren. Sie hatten schließlich alle einen Partner, also war das nur mehr als gerecht. Doch Maja beschwerte sich natürlich.

Und dann schlief auch diese Tradition langsam ein.

Sie lässt Elias allein stehen und geht zu ihren Geschwistern, wobei sie versucht, ruhig und gesammelt zu erscheinen. Die anderen Gäste sollen keinen Grund zum Klatschen haben. Es muss keiner sehen, dass das Gespräch der drei Erben so trocken und abgeklärt verläuft wie eine Aufsichtsratssitzung. Jetzt müssen sie wirken wie Geschwister, und ihre Lebensgefährten stehen neben ihnen und geben ihnen die nötige Unterstützung. Man unterhält sich leise, tauscht Gefühle und Gedanken aus. Warme Worte, wie man jetzt in die Zukunft blicken und zusammenhalten wird.

»Ein weißer Sarg«, sagt Maja.

Eva nickt und sucht nach einer Antwort. Irgendetwas Nettes, Verbindliches, Ungefährliches.

»Ich hätte eher an was Dunkles gedacht«, lächelt Maja. »Wie bist du auf Weiß gekommen? Helles Holz wäre ja noch gegangen, aber Weiß …«

Sie sieht Anders an. Ihr Bruder wirkt verlegen.

»Gegen einen hellen Sarg ist doch eigentlich nichts zu sagen«, meint er. »Beziehungsweise einen weißen.«

»Ich hab mich ja bloß gewundert«, fährt Maja fort. »Ein dunkler hätte vielleicht ein bisschen natürlicher ausgesehen. Finde ich jedenfalls.«

Wieder sieht sie Anders an.

»Was meinst du?«

»Ja. Ja. Oder vielleicht irgendwas dazwischen«, erwidert er. »Vielleicht. Aber im Grunde ist es doch egal.«

Eva steht kerzengerade daneben. Der Sarg, die Blumen, die Schleifen – bald wird alles verbrennen. Dunkel oder hell oder weiß, ist doch alles scheißegal.

»Ich finde Weiß schön«, sagt sie nur.

Hinterher gibt es Kaffee und Kuchen im Gemeinschaftsraum direkt neben der Kapelle. Elias hat ihre Erlaubnis bekommen, sich diskret zu entfernen. Er will sich mit seiner Freundin treffen und vor seinem Umzug noch mal zu IKEA fahren.

Die schwarz gekleideten Gäste haben sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden und unterhalten sich gedämpft. Ab und zu wirft einer einen heimlichen Blick auf Eva, die in einer Ecke steht. Sie zittert, denn sie friert, obwohl es eigentlich gar nicht kalt ist. Lange bleibt sie so stehen, ganz dicht vor der Wand. Mit einer Hand umklammert sie die Untertasse, mit der anderen hebt sie in regelmäßigen Abständen die Tasse zum Mund, um einen winzigkleinen Schluck zu nehmen. Diese Tasse muss für die ganze Zeit reichen, damit sie nicht noch einmal zum Tisch gehen muss, um sich nachzuschenken. Dort würde sie bloß Gefahr laufen, sich mit einem der Gäste unterhalten zu müssen.

Anders kommt auf sie zu, mit Katrin und den Kindern im Schlepptau. Sie steuern direkt auf sie zu, Eva hat gar keine Chance, ihnen auszuweichen. Maja folgt ihnen, und Tomas kommt hinter ihr hergetrottet. Er sagt nicht viel, die meiste Zeit scheint er in Gedanken versunken oder ganz abwesend. Eva hat von Mama gehört, dass Maja eine Kompaktausbildung zu einer Art Unternehmensberaterin gemacht hat, mit Psychologie und Gruppendynamik und allem Pipapo. Das passt sicher großartig zu ihr, denn da kann sie reden, so viel sie will. Aber heute ist Maja gedämpfter als sonst. Sie seufzt und sieht sich um.

»Ja, der Leichenschmaus. Den hätte man eigentlich auch gut im Restaurant abhalten können.«

Sie mustert die Wände und Möbel, die Deckenlampen und das Geschirr.

»Dieses Lokal ist ja eher eine triste Angelegenheit.«

Maja schenkt Eva ein schiefes Lächeln. Bekommt aber keine Reaktion.

»Und einfach bloß Kaffee wirkt auch ein bisschen asketisch. Ein Abendessen wäre schon passender gewesen. Im Restaurant.«

»Da sind wir wohl unterschiedlicher Auffassung«, gibt Eva zurück.

Schweigen. Katrin sieht Anders an. Der wendet sich wieder zu Eva.

»Wir sollten uns mal treffen.«

»Ach ja?«

Sie bleibt kurz angebunden. Nach den gereizten Blicken von Maja scheint ihr das die bessere Lösung. Sie will ihnen nicht noch mehr Stoff liefern, damit sie hinterher wieder ihren Charakter und ihr Auftreten sezieren können.

»Na ja, wir müssen uns sowieso mit dem Nachlassverwalter treffen und die Erbschaft zusammen durchgehen«, sagt Anders. »Damit wir einen Überblick bekommen, was alles da ist und so.«

Er tauscht einen Blick mit Maja.

»Wäre doch schön, die Sache gleich aus der Welt zu schaffen«, wirft Katrin ein.

Als hätte sie auch nur das Geringste hiermit zu tun.

»Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir gleich einen Termin mit dem Anwalt machen?«, schlägt Anders vor. »Also, um den Nachlass zu sichten, meine ich.«

Daraufhin zücken sie alle ihre supermodernen Handys mit Kalenderfunktion, und dann wird über Termine diskutiert. Ihre Geschwister sind beide schwer beschäftigt. Eva hat nichts mit außer einem Paket Taschentücher, die sie sich in die Jackentasche gesteckt hat, bevor sie losging. Und in der Handtasche hat sie bloß die Streifenkarte für die U-Bahn und ihre Brieftasche. Sie braucht keinen Kalender. Wenn sie nicht arbeitet, hat sie massenweise Freizeit.

Ihre Begegnung verläuft kurz und effektiv. Nachdem sie sich Datum und Uhrzeit notiert und vereinbart haben, dass Anders versuchen soll, den Anwalt zu dem Termin dazuzuholen, geht jeder wieder seines Weges. Der eine auf die Toilette, die andere ihre Kaffeetasse nachfüllen. Die Vorwände sind unterschiedlich und völlig überflüssig. Eva bleibt allein zurück mit ihrem erkaltenden Tee. Sie tritt an den Tisch und nimmt sich noch ein Zuckerstück, rührt langsam und konzentriert um, einfach, um etwas zu tun zu haben. Damit die Minuten vergehen.

Nicht jetzt nicht jetzt nicht jetzt. Doch sie kann die Gedankenflut nicht stoppen, die über sie hereinbricht und sie überwältigt. Druck im Brustkorb. Eine Halskrause aus Schmerz.

Die Pfarrerin geht vorbei. Sie hat sich umgezogen und trägt statt ihres feierlichen Gewandes einen Rock, eine Bluse und eine kurze Jacke, alles in Schwarz.

»Na, Eva, wie geht’s?«

Forschend sieht sie Eva an, und die versucht zu lächeln, aber es misslingt. Sie hofft, dass ihre Grimasse trotzdem noch als das schwache Lächeln einer trauernden Tochter durchgeht.

»66«, sagt die Pfarrerin. »Das war viel zu früh.«

Ihre Augen blicken durch ihre bemerkenswert hässliche Brille. Sie gibt sich wirklich Mühe, mit ihrem Blick Verständnis zu zeigen. Die Pfarrerin fühlt tatsächlich mit ihr mit. Nicht nur, weil es zu ihrem Beruf als Pfarrerin gehört. Sie braucht eigentlich nicht mehr zu tun, als den Angehörigen in ihrer Trauer eine Stütze zu sein. Fragen bräuchte sie nicht zu stellen, aber trotzdem tut sie es.

»Vielleicht wollen Sie ja mal bei mir vorbeikommen, damit wir uns ein bisschen unterhalten können«, schlägt sie vor. »Wegen der Umstände, unter denen Ihre Mutter gestorben ist.«

In Evas Bauch steigt ein kühles Gefühl auf, wie kalter Stahl fühlt es sich an.

»Es sind ja viele Gefühle im Spiel, wenn es auf diese Weise geschieht«, fährt die Pfarrerin fort.

Ihre Augen werden von den Brillengläsern stark vergrößert. Die Frau sieht aus wie ein Fisch.

»Schuldgefühle und Wut. Unter anderem.«

Eva wendet sich schon halb zum Ausgang.

»Entschuldigen Sie, aber ich glaube, ich muss jetzt wirklich gehen.«

»Aber Sie haben ja noch Ihren Bruder und Ihre Schwester. Sie können sich gegenseitig eine Stütze sein.«

Die Pfarrerin lächelt sie aufmunternd an.

»Geschwister sind wie Freunde, die man niemals loswird«, fügt sie hinzu. »Das ist schon toll. Egal, was man macht, die bleiben einem immer.«

Eva bleibt stumm. Sie braucht ja nicht zu erzählen, dass sie Anders und Maja zum letzten Mal kurz bei Mama in der Küche getroffen hat, als sie ihren 65. Geburtstag feierte.

Sie hält der Pfarrerin die Hand hin.

»Danke für Ihre Hilfe mit der Beerdigung. Schicken Sie mir die Rechnung. Oder bitten Sie das Bestattungsinstitut, mir die Rechnung zu schicken. Oder wie auch immer das läuft.«

Die Pfarrerin ergreift Evas Hand und drückt sie fest.

»Ich bin für Sie da. Sie haben meine Nummer. Sie müssen bloß anrufen.«

Sie legt den Kopf schräg und mustert Eva mitleidig. Das Ganze ist völlig unerträglich, und Eva flüchtet zur Garderobe, reißt ihre Jacke vom Haken und eilt hinaus. Frische Luft strömt in ihre Lungen, sie kann endlich wieder richtig atmen und legt den ganzen Weg bis zur U-Bahn im Laufschritt zurück.

Die Erleichterung darüber, dass der gestrige Tag überstanden ist, stimmt sie ruhig, beinahe fröhlich. Die erste Etappe ist geschafft. Sie hat sich gerade gemütlich auf dem Sofa ausgestreckt, als sie die Haustür ins Schloss fallen hört. Bei diesem Geräusch lässt sie das Buch auf die Brust sinken und horcht. Sie muss über sich selbst lächeln.

»Mama?«

Er ist immer noch ihr Kind. Noch heute ruft er sofort nach ihr, sobald er nach Hause kommt. Bevor er sich auch nur die Schuhe ausgezogen hat. Sie reißt sich zusammen und setzt eine ernste Miene auf. Schließt die Augen, atmet tief und gleichmäßig. Sie hört, wie er ins Zimmer tritt.

»Hallo? Mama?«

Elias stockt. Jetzt hat er sie auf dem Sofa entdeckt. Leise geht er weiter in die Küche, um sie nicht zu wecken.

Eva steht auf und folgt ihm lautlos. Im Flur holt sie ihn ein, packt ihn von hinten bei den Schultern, drückt ihm ein Bein in die Kniekehle und zieht ihn mit einem schnellen, routinierten Griff nach hinten. Er kommt ins Schwanken, beinahe schafft sie es, ihn zu Boden zu kriegen, aber er steigt auf ihr Spiel ein, windet sich aus ihrem Griff, dreht sich um und leistet Widerstand. Er ist stärker als sie und ein ganzes Stück größer, und ihr Versuch, ihn niederzuwerfen, mündet in ein zähes Kräftemessen, das sie nur verlieren kann. Er lacht, und sie sagt: »Ach, verdammt!« und beschließt, dass sie ihn jetzt zu Boden zwingen wird, trotz seiner stahlharten Muskeln, und sie wendet alle Kräfte auf, aber er lacht nur noch mehr und hält ihre dünnen Unterarme fest.

Elias hat sie schon fast umgeworfen, als es ihr gelingt, sich aus seinem Griff zu winden und ihn zu übermannen, indem sie ihm die Arme um die Taille legt, ein Bein hinter seine Wade hakt, ihn aus dem Gleichgewicht bringt und auf den Boden wirft. Er ist überhaupt nicht darauf vorbereitet und fällt mit einem dumpfen Rums zu Boden. Er bleibt auf dem Rücken liegen, und eine schreckliche Sekunde lang macht sie sich fast Sorgen, dass er sich wehgetan haben könnte. Aber er bleibt liegen und lacht nur noch mehr. Sie setzt ihm den bestrumpften Fuß auf den Brustkorb. Spürt seine Körperwärme. Sie hat gewonnen.

»Was liegst du da rum?«, fragt sie und schafft es, tatsächlich richtig sauer und genervt zu klingen. »Immer liegst du nur rum und faulenzt!«

Er ist schon viel zu groß für solchen kindischen Blödsinn, schon lange. Das weiß sie auch, aber es ist ihr egal. Was sie hier spielen, ist ein Upgrade der Variante, die sie jahrelang spielten, als er klein war: Sie kitzelte ihn, bis er vor lauter Lachen quietschte, während sie mit immer gereizterer Stimme schimpfte: »Jetzt HÖR aber auf. Lachen ist hier streng verboten!« oder »Hast du nicht gehört? Hier WIRD nicht gelacht!« oder »Jetzt reiß dich mal zusammen, sonst werd ich sauer. Ich mein es ERNST!« Und jedes Mal musste er immer noch mehr lachen, bis sie sich selbst nicht mehr halten konnte und ihn stattdessen in den Arm nahm und an sich drückte, so dass sie seinen kleinen Körper spürte, und dann flüsterte sie ihm ins Ohr, dass er nie, niemals vergessen dürfe, wie lieb sie ihn habe. Und er antwortete wie immer: »Was? Ich hab dich nicht verstanden«, oder mit einem fingierten Hustenanfall oder indem er die Musik so aufdrehte, so dass Eva übertönt wurde, oder mit einer anderen abwehrenden Geste.

Mittlerweile ist Elias fast 1,90 Meter groß. Er braucht nur eine Sekunde, um sie abzuschütteln und aufzustehen, woraufhin er sie mühelos und geschmeidig auf den Boden wirft, sie aber federleicht landen lässt. Sie gehen gleich rücksichtsvoll und gleich grob miteinander um, und sie wissen genau, wann was angesagt ist. Und jetzt ist sie damit dran, auf dem Boden zu liegen und zu ihm aufzublicken. Allem Anschein nach endgültig besiegt. Aber sie hat noch einen Trumpf im Ärmel.

»Okay«, sagt sie. »Selbst schuld. Ich habe versucht, dich zu warnen, aber anscheinend hast du mir nicht zugehört. Deswegen greife ich jetzt zum allerallerletzten Mittel. Dem gefährlichsten.«

»Nein, nein …«

Er sieht auf sie herab und kann sein Amüsement nicht verbergen.

»Das nicht. Bloß das nicht.«

»Das hättest du dir eher überlegen müssen. Jetzt ist es zu spät.«

Sie streckt beide Zeigefinger in seine Richtung und lässt sie immer schneller und schneller in der Luft kreisen, als wollte sie ihn damit hypnotisieren.

»Oh nein!«

Er fasst sich an die Augen, offensichtlich völlig verwirrt. Der Zauber hat wieder einmal gewirkt, und er stolpert davon. Sie ist frei und rappelt sich hoch.

»Versuch’s doch gar nicht erst, du weißt doch, dass es zwecklos ist«, sagt sie.

Er lächelt und geht weiter in die Küche. Das Spiel ist vorbei.

»Haben wir was zu essen da?«

Wir. Immer noch wir. Er macht den Kühlschrank auf und schaut hinein.

»Ich hab Lasagne gemacht«, antwortet sie und schaltet den Ofen ein. »Müssen wir bloß aufwärmen.«

»Kannst du mir nicht ein bisschen was vorspielen?«

Sie sieht ihn verwundert an.

»Jetzt?«

»Ja.«

»Das willst du doch sonst nie.«

»Stimmt. Aber jetzt schon.«

Sie zögert, aber nur ganz kurz. Dann geht sie ins Arbeitszimmer, wo das Klavier steht, und setzt sich auf den Hocker. Atmet ruhig und sammelt sich.

Elias stellt sich an die Tür.

Sie spielt die alten Lieder, die sie treu durch all die Jahre begleitet haben. Die Mondscheinsonate. Alla turca. Kleine Abschnitte aus ihren Lieblingsstücken von Fauré, Chopin, Schubert und Satie. Sogar das alte, heillos abgedroschene Für Elise findet seinen Platz am Schluss, in erster Linie aus nostalgischen Gründen. Das war das erste Stück, das sie sich im Alter von sieben Jahren selbst beigebracht hat.

Nachdem der letzte Ton verklungen ist, steht sie auf, um die schicksalsschwere Stimmung zu durchbrechen. Außerdem ist der Ofen schon seit einer guten Weile heiß.

Es ist der 25. Mai, Elias’ 21. Geburtstag. Völlig unwirklich. Aber sie hat sich vorgenommen, ihn nicht mit Anekdoten darüber zu langweilen, wie er damals zur Welt kam. Keine nervigen Sentimentalitäten.

Sie hat Kerzen angesteckt und den Tisch mit Servietten und Leinensets gedeckt. Die Zubereitung der Lasagne am Nachmittag hat ganz schön lange gedauert, aber sie ist wirklich gelungen, absolut perfekt. Statt geriebenem Käse hat Eva Mozzarella genommen, den mag Elias so gern. Er hat sein Geschenk ausgepackt und sich über den Pulli gefreut, eine dieser Marken, die er mag und die ein bisschen zu teuer ist, als dass er sich selbst etwas davon kaufen könnte.

Jetzt sitzt er ihr gegenüber und isst. Wie irgendein erwachsener Gast. Seit dem letzten Jahr ist er plötzlich so aufgeschlossen, seine ganze teenagerhafte Verschlossenheit ist einer neuen Männlichkeit gewichen. Seine Ausdrucksweise wird immer gewählter und präziser. Er überrascht sie immer wieder mit neuen Kenntnissen und intelligenten Gedanken und tiefen Einsichten, die sie selbst nie so hätte formulieren können.

Seit dem Winter jobbt Elias als Kellner in einem Restaurant, und wenn es ihm in den Sinn kommt, erzählt er ihr gerne ein paar Anekdoten von seinem Arbeitsplatz. Sie hört ihm zu und lacht und schaut ihn an. Er erzählt, wie ein Gast, dem er Sushi serviert hat, den ganzen Klecks Wasabi nahm, ihn in den Mund steckte und kaute, um sich dann mit einer krampfartigen Grimasse zu Elias zu wenden und festzustellen, dass »die Guacamole doch ein bisschen intensiv geraten« sei. Sie bricht in Gelächter aus, denn er sieht so komisch aus, wie er diesen Gast imitiert, doch in ihren Stolz mischt sich auch eine beinahe lähmende Wehmut, und sie schluckt energisch, um keine feuchten Augen zu bekommen.

»Wie war das Kaffeetrinken nach der Beerdigung?«, erkundigt er sich dann.

Sie zuckt mit den Schultern.

»Na ja. Ich hab’s überlebt.«

Er sagt nichts und sieht auf einmal nachdenklich aus.

»Meinst du nicht, dass du mal irgendjemand kennenlernen solltest?«, fragt er.

Jetzt ist sie einen Augenblick sprachlos.

»Kennenlernen? Einen Mann meinst du?«

»Ja. Das wäre doch ganz normal. Dann wärst du nicht so allein.«

»Es geht mir prima.«

»Ja, weiß ich doch. Aber trotzdem.«

Sie antwortet nicht. Es ist ja nett, dass er fragt, dass er sich Gedanken um sie macht. Er möchte eben, dass sie auch ein schönes Leben hat.

»Wie geht’s dir so, kannst du nachts schlafen?«

»Ja ja.«

Die Nächte sind schon okay, schlafen kann sie immer problemlos. Man hat sie mehrfach gefragt, ob sie nicht Tabletten braucht, sowohl der Chefarzt in der Klinik als auch die Pfarrerin. Die verstehen das nicht. Denn gerade in den Nächten ist sie doch erst frei. Da kann sie sich auf das kühle Kissen legen und das Böse Tier fortschicken. In der Leere ruhen und sich einfach selbst ausschalten. In ihrem ganzen Leben hat sie noch nicht so fest geschlafen wie momentan. Träumen tut sie nicht, dafür hat sie keine Zeit. Sie muss sich voll und ganz auf ihren Schlaf konzentrieren.

Dieser Tage ist es so, dass die Albträume erst einsetzen, wenn sie aufwacht. Wenn der Morgen kommt und sie wieder ins schmerzlich helle Tageslicht hinausmuss.

»Meinst du, ich soll das Boot behalten?«, fragt sie, um das Thema zu wechseln.

Er starrt sie verblüfft an.

»Natürlich. Warum fragst du?«

»Ich weiß nicht. Ich dachte bloß so. Es muss ja manchmal doch gewartet werden. Und ab und zu gefahren. Und jetzt, wo Oma nicht mehr …«

Sie verstummt. Er legt seine Hand auf ihre. Soweit sie sich erinnern kann, hat er das noch nie gemacht.

»Es gehört dir doch genauso«, meint er. »Du kämst doch nie zurecht ohne das Boot.«

»Nein, da hast du wohl recht. Ich werd’s behalten.«

Elias hat aufgegessen und den Teller leer gekratzt. Jetzt ist er satt, was ihr wie immer ein Gefühl besonderer Befriedigung verschafft. Sie will gerade verraten, was es zum Nachtisch gibt, Baiser mit Erdbeeren, sein Lieblingsdessert, da klingelt sein Handy und er schießt vom Tisch hoch und verschwindet aus der Küche. Sie hört undeutliches Gemurmel aus dem Wohnzimmer, er redet und redet, aber sie kann nicht heraushören, worum es geht. Sie hört nur, dass er fröhlich klingt und mehrmals lacht.

Sie steht auf und beginnt abzuräumen. Die Lasagne kann sie in Portionen aufschneiden und einfrieren. Vielleicht mag Elias sich ja ein paar Stücke in sein eigenes Gefrierfach legen in seiner neuen Wohnung. Das Geschenkpapier knüllt sie mit dem Geschenkband zusammen. Den Pulli kann er ja später mitnehmen.

Es klingelt stürmisch mehrmals hintereinander. Und da kommen sie.

Sie hört, wie Elias in den Flur geht, um aufzumachen. Seine Freunde stürmen herein. Auch seine Freundin, die kleine Blonde. Alle sind gekommen, um ihm beim Umzug zu helfen. Heute wird es passieren. Der Tag ist da, und es fühlt sich an, als würde man ihr einen Arm abreißen.

Die Frühsommersonne über den hellgrünen Kronen der Bäume. Die Leute in leichter Sommerkleidung, mit bloßen Armen und Beinen. Überall sitzen lachende und schwatzende Menschen, mit lauter Plänen für den Sommer.

Durchs Fenster der Lehrerkantine sieht Eva einen Kastanienbaum, dessen Zweige unter dem Gewicht der Blütenkerzen leicht schwanken. Im Herbst verwandelten sie sich immer in hellgrüne Kugeln mit spitzen Stacheln, die wehtaten, wenn man damit beworfen wurde. Sie weiß noch, wie sie als Kinder immer draufgetreten sind, kräftig, aber gleichzeitig auch vorsichtig, so dass die Hülle aufplatzte, der Inhalt aber heil blieb. Wenn es gelang, konnte man die Kastanien herausholen, dunkelbraun und glatt, wie aus einem edlen Holz geschnitzt. Aber man konnte sie nie lange aufbewahren, sie waren vergänglich. Auch sie.

Hätte sie sich krankschreiben lassen sollen, als sie die Nachricht erhielt? Vielleicht. Aber so kurz vor Schuljahresende will sie weder den Schülern noch der Schulleitung Probleme bereiten.

Sie muss wieder an den Polizeibericht denken. Die Worte klingen immer noch unfassbar in ihren Ohren. Manchmal holt sie das Blatt hervor und liest es noch einmal durch, wenn sie sich mit der Katastrophe konfrontieren, dem Allerschlimmsten ins Auge blicken will. Es aushalten. Manchmal ist das besser als der dumpfe Schmerz, den man spürt, wenn man den Blick von der Realität abzuwenden versucht.

Ansonsten vermeidet sie es tunlichst, zu viel nachzudenken. Sie hat sich eine Technik zugelegt, mit der sie quasi durch ihren Alltag gleitet. Die Tage strömen ihr entgegen, fließen an ihr vorbei, gehen in die nächsten Tage über und immer so weiter. Als würde man im Meer stehen und versuchen, Welle um Welle elegant auszuweichen. Inzwischen kann sie das ganz gut.

Während des Mittagessens sitzt sie die meiste Zeit alleine in ihrer Ecke. Sie isst ihre Frikadellen mit Petersilie, Kartoffelpüree und Preiselbeeren. So muss sie keinen Smalltalk treiben und kann ganz ungestört für sich bleiben. Aber als sie fast fertig ist, sieht sie zu ihrem großen Unwillen, wie ihre etwas ältere Kollegin Ylva, die Mathematiklehrerin, mit ihrem Tablett durch die Tischreihen geht und nach einem freien Platz Ausschau hält. Einen freien Platz gibt es nur noch an Evas Tisch. Ylva steuert auf sie zu und strahlt übers ganze Gesicht.

»Darf ich?«

Bevor Eva antworten kann, hat sich Ylva gegenüber von ihr hingesetzt, mit ihrer ganzen fülligen Erscheinung. Heute hat sie eine geblümte Bluse an, die an den Knöpfen ein wenig spannt. Ylva beginnt sofort zu essen. Sie hat den Fisch mit Salzkartoffeln und Sahnesauce genommen. Ein Teil davon landet in ihren Mundwinkeln, während sie sich über die neuen Informationsblätter der Schulleitung und ihre Folgen auslässt.

Und jetzt sieht Eva, wie auch noch Stina mit ihrem Tablett durch den Saal steuert. Stina ist Englischlehrerin und genauso alt wie Eva, eine der wenigen Kolleginnen, die sie wirklich respektiert. Und die nach mehreren Jahren als Kollegin auch eine ihrer engsten Freundinnen geworden ist. Obwohl Eva nicht so sicher ist, ob Stina sie auch als eine ihrer engsten Freundinnen betrachtet.

Sie hat so einen natürlichen Ton, wenn sie mit den Schülern spricht. Ein wenig Humor und Gelächter, freundliches Gekabbel – als würde sie sie alle so richtig gern haben. Eva versucht es ihr nachzutun, und vielleicht gelingt es ihr auch manchmal, jedenfalls rein äußerlich. Innerlich allerdings nie.

Stina fängt Evas Blick auf, bevor sie sich hinsetzt.

»Wie war’s?«

»Na ja. Ganz okay.«

Kein Wort über die Beerdigung, solange Ylva dabei ist. Und Stina versteht das natürlich. Sie versteht alles.

»Na, jetzt ists ja nicht mehr lang bis zum Schuljahresende«, stellt Ylva fest und seufzt angesichts der zahllosen Dinge, die bis dahin noch erledigt sein wollen.

Und schon sind Ylva und Stina mitten in einem Gespräch über Zeugnisnoten und Stress und die viele Arbeit, die man abends mit nach Hause nimmt, und dass es bald vorbei ist, das ganze Ackern, und wie wunderschön die Sommerferien werden.

Eva macht mit, so gut sie kann, aber glücklicherweise braucht sie gar nicht so viel zu sagen, die anderen beiden geraten sehr bald in eine intensive Diskussion. Bis es plötzlich still wird am Tisch. Eva hat eine Weile nicht zugehört, und jetzt merkt sie, dass ihre beiden Kolleginnen offenbar eine Antwort von ihr erwarten.

»Oder bist du etwa die ganze Zeit mit deiner Familie zusammen?«, erkundigt sich Ylva.

Eva nimmt einen Bissen, um sich Bedenkzeit zu verschaffen. Ylva und Stina haben bestimmt gerade über ihre Urlaubspläne gesprochen. Ylva hat einen Vortrag gehalten, wie lustig es wird, nach Gotland zu fahren, wo ihre ganze Verwandtschaft den Sommer über bleibt und ihre Eltern sich um alle Kinder und Enkel kümmern. Und wie traurig es doch ist, dass man sich nicht mehr öfter sehen kann, seit die Eltern ganz nach Gotland übergesiedelt sind. Aber die Geschwister treffen sich natürlich trotzdem, und das ist immer sooo toll.

Was soll sie da sagen?

Stina schaltet sich ein und rettet sie, indem sie das Gespräch stattdessen auf die Kinder lenkt. Über Kinder kann man immer reden. Vorausgesetzt, man weiß, dass alle am Tisch Nachwuchs haben.

Ylva steigt sofort darauf ein. Sie hat zwei Kinder über zwanzig, die schon zu Hause ausgezogen ist, weswegen sie jetzt alles Mögliche unternimmt. Eva spitzt die Ohren. Zum Beispiel? Ylva lacht. Man muss schließlich aktiv bleiben. Sie hat sich einen Hund angeschafft und ein Boot gekauft, und einen kleinen Flirt hat sie auch. Das Leben ist herrlich.

»Wunderbar«, strahlt sie und es sieht wirklich so aus, als würde sie geradezu bersten vor lauter Energie. »Und wie ist es bei dir? Zieht dein Sohn nicht auch gerade aus?«

»Doch.«

Eva lächelt Ylva an, um anzudeuten, dass sie auch alles Mögliche unternimmt. Dieses und jenes.

»Dann hast du ja wieder mehr Zeit für deine Eltern«, sagt Ylva. »Siehst du sie oft?«

»Nein …«

Sie zögert. Sie ist nicht sicher, wie viel sie sagen kann, ohne dass es zu intim wird. Aber irgendeine Antwort muss sie ja geben.

»Meine Mutter lebt nicht mehr.«

Ylva schaut genau so traurig und teilnahmsvoll drein, wie Eva befürchtet hat. Stina nickt nur schweigend und isst weiter. Doch Ylva legt das Besteck beiseite und hört einen Moment auf zu essen, um sich richtig auf das Gespräch konzentrieren zu können.

»Ach, das ist ja traurig. Krebs oder …?«

Eva verstummt und spürt, wie sich alles in ihr zusammenschnürt. Es fängt immer in der Brust an.

Mama und der Tod. Zwei unvereinbare Gegenpole. Zwei gleichpolige Magnetenden, die einander abstoßen. Sie kann diese beiden Begriffe immer noch nicht zusammenbringen, nur mit Gewalt. Und danach stoßen sie einander gleich wieder ab.

Doch sie kommt gerade noch so davon. Denn jetzt fängt Ylva an, von ihrer Schwiegermutter zu erzählen, die vor sieben Jahren an Krebs gestorben ist, und dann von ihren Verwandten und ihrer Familie und ihren zwei kleinen Brüdern und ihrer geliebten großen Schwester. Die alle gesund und munter sind. Woraufhin Stina wieder irgendetwas über ihre Familie beisteuert, auch etwas einigermaßen Erfreuliches.

Eva guckt wieder aus dem Fenster. Zum Kastanienbaum, dessen Blüten nach dem Sommer zu stacheligen Kugeln werden. Dann steht sie auf, verabschiedet sich von der kleinen Mittagsrunde und geht ihr Tablett wegräumen.

Das Treffen mit ihren Geschwistern beim Anwalt. Morgen ist es so weit. Nachlassinventarisierung, Erbe. Bei jedem Schritt, mit dem sie sich vom Lehrerspeisesaal entfernt, trommeln diese Worte wie ein aggressiver Rhythmus in ihrem Kopf. Nachlassinventarisierung, Erbe. Scharfe Worte, die sandigen Boden und modriges Sediment aufwirbeln. Wäre sie doch nur das einzige Kind. Würden die anderen beiden doch einfach nicht existieren.

Die Anwältin ist jung. Sie sieht aus, als hätte sie eben gerade erst ihr Studium abgeschlossen. Eva hatte sich einen Herrn um die Fünfzig vorgestellt, mit Anzug und Krawatte, hinter einem breiten Mahagonischreibtisch. Ganz bestimmt nicht diese kleine, zierlich gebaute Kindfrau mit den strubbeligen Haaren und dem kleinen runden Gesicht.

Sie begrüßen sich. Die Hand der Rechtsanwältin fühlt sich knochig und kalt an.

»Ingela Bratt. Willkommen.«

Der Stress von der Arbeit steckt Eva immer noch in den Knochen, und sie ist leicht verschwitzt, nachdem sie eine Weile in den Nebenstraßen von Östermalm herumgelaufen ist und nach der Adresse gesucht hat. Sie war schon sicher, dass sie zu spät kommen würde, und je später es wurde, umso größer wurde ihre Angst. Und nun, wo sie die Kanzlei endlich gefunden hat, ist sie doch die Erste.

Eva hängt ihren Mantel auf und zieht sich die Bluse zurecht, die ihr hinten aus dem Hosenbund gerutscht ist. Sie versucht ruhig zu bleiben und sich einzureden, dass diese Besprechung weder kompliziert noch langwierig werden wird, sondern nur eine Bestätigung, dass sich die drei Erben einig sind. Und dann noch ein paar Worte zu den Details der Nachlassinventarisierung.

Im verglasten Besprechungsraum steht schon eine Thermoskanne mit Kaffee und vier Tassen. Ingela Bratt trägt einen hellblauen Pullover mit Fransen, und jetzt setzt sie sich hin und friemelt derartig an einem dieser Fransen herum, dass Eva ganz anders wird. Sie hätte sich wirklich eine etwas stabilere und ruhigere Person als Nachlassverwalter gewünscht. Jemand, dem man vertrauensvoll seine Angelegenheiten in die erfahrenen Hände legen kann …

Ingela Bratt ergreift das Wort, übertrieben ruhig und mit einem pädagogischen Unterton. Ihre Stimme hat sie wahrscheinlich so lange eingeübt, bis sie so klang, wie sie sie haben wollte.

»Um das kurz zu klären – Sie sind alle drei Vollgeschwister, oder?«

»Ja.«

Ingela Bratts Finger zwirbeln die Franse noch ein bisschen fester, bevor sie zur nächsten Franse am Pulloversaum weitergehen.

»Und Ihre Eltern waren geschieden?«

»Ja. Seit Jahren.«

Draußen hört man die Tür gehen. Endlich lässt Ingela Bratt ihre Pullifransen los, steht auf und geht zum Eingang.

»Willkommen.«

Man hört, wie Anders und Maja sie begrüßen und sich vorstellen.

Sie sind also zusammen gekommen. Eva greift zur Thermoskanne, um sich Kaffee einzuschenken. Sie möchte es so aussehen lassen, als müsste sie schon ewig hier warten, nur damit die beiden sich vorher treffen und absprechen konnten. Aber sie findet auf die Schnelle nicht heraus, wie der Verschluss funktioniert, und es kommt kein Kaffee.

Dann betritt Anders mit schlenkernden Bewegungen den Raum. Er wirft einen Blick auf seine überdimensionierte Armbanduhr, anscheinend hat er es eilig. Immer auf dem Sprung, auf dem Weg zur nächsten Besprechung, zum nächsten Projekt, dem nächsten Sprung in die Zukunft. Er setzt sich an den Tisch. Sein Kleidungsstil ist ganz wie gehabt: zerrissene Jeans, Turnschuhe, ein bedrucktes T-Shirt, das nach Teenager aussieht, eine Jacke, die lässig um ihn herumschlottert, aber hundertprozentig sauteuer war. Abgesehen von seinem nach so vielen Partynächten etwas verbrauchten Gesicht könnte er tatsächlich als Teenie durchgehen.

Hinter ihm kommt Maja herein, in einer gut geschnittenen Jacke mit einem kleinen Top darunter. Sie setzt sich auf die vorderste Kante eines Stuhls und fühlt sich sichtlich unwohl. Eva ahnt warum. Die Situation ist weder angenehm noch unterhaltsam, und Maja hat schon immer die leichten Seiten des Lebens bevorzugt. Kompliziertem, Negativem ist sie immer ausgewichen.

Ingela Bratt sortiert einen Stapel Papiere, Mappen und Ordner. Schöne, gerade Stapel.

»Bei der Verteilung der Habe Ihrer Mutter gibt es kaum Probleme«, erklärt sie. »Die Wohnung war ja nur gemietet und ist bereits wieder an den Vermieter übergeben. Wenn ich das richtig verstanden habe, gab es bei der Aufteilung der beweglichen Habe auch keine Probleme, oder?«