Christina Berndt

RESILIENZ

Das Geheimnis der
psychischen
Widerstandskraft

Was uns stark macht gegen Stress,
Depressionen und Burn-out

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Linn und Tessa,

zwei starke Mädchen

Einleitung

Das Leben ist hart geworden im 21. Jahrhundert. Trotz großen Wohlstands, geringer körperlicher Belastungen und allerlei technischer Errungenschaften, die das Leben eigentlich leichter machen sollten, fühlen sich die Menschen ständig unter Druck. Hoch sind die Ansprüche an Schnelligkeit, Professionalität und Akkuratesse im Berufsalltag. Wer früher eine Woche lang Zeit hatte, einen gut durchdachten Geschäftsbrief zu formulieren, muss sich heute schon entschuldigen, wenn er erst am folgenden Tag auf eine E-Mail-Anfrage antwortet. Gnadenlos ist oft die Kritik von Vorgesetzten oder Kunden, die in schnell dahingeschriebenen Computerbotschaften eintrudelt. »Wir pflegen einen offenen Kommunikationsstil«, heißt so etwas in modernen Unternehmen. Zugleich wächst der Umfang der Arbeit mehr und mehr und die Angst sie zu verlieren auch – schon allein, weil die Zahl der Kollegen aufgrund des stetig steigenden Kostendrucks in den meisten Branchen tatsächlich immer weiter sinkt. Wer nicht Schritt halten kann, muss um seinen Job fürchten. Und die seit Jahren immer wieder auftretenden Währungskrisen und Rezessionen machen die ständige Bedrohung für das wirtschaftliche und seelische Lebensgefüge nicht kleiner.

Doch nicht nur im Arbeitsalltag lauert das Monster der Leistungsspirale. Eine Beziehung – und bitte schön, nicht irgendeine, sondern eine glückliche – gehört ganz selbstverständlich zum Repertoire, das ein Mensch von heute vorzuweisen hat, um den gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Und ganz nebenbei sollen die perfekten Partner und Arbeitnehmer auch noch besonders gute Mütter und herausragend engagierte Väter sein, die ihre Kinder nicht nur liebevoll, sondern auch freiheitlich und pädagogisch durchdacht erziehen, dabei aber keine Chance verpassen, sie durch Förderung vor allem im sprachlichen, künstlerischen und sportlichen Bereich so gut wie möglich auf das globalisierte Berufsleben vorzubereiten. Dass es traditionelle Großfamilienstrukturen – und mit ihnen die helfenden Hände der Tanten, Onkel und Großeltern – kaum mehr gibt, macht die Ansprüche umso weniger erfüllbar.

Misserfolge, Kritik und ständige Selbstkritik sind bei diesem Alltagsprogramm schlicht mitprogrammiert. Das hat nicht selten gravierende Folgen. Die Krankmeldungen aufgrund psychischer Leiden haben einen nie dagewesenen Höchststand erreicht. Zunehmend werden auch Fälle von Burn-out und Depressionen von Popgrößen und Fußballprofis bekannt – Menschen also, die vor ihrem seelischen Zusammenbruch im Beruf extrem erfolgreich waren.

Nun kann man den Anforderungen der modernen Welt nicht so einfach entfliehen. Als soziale Wesen lassen wir uns unweigerlich beeinflussen von den Wertvorstellungen und Ansprüchen der Menschen um uns herum und machen sie uns allzu leicht auch selbst zu eigen. Ohnehin drohen letztlich sogar demjenigen Schicksalsschläge und Frustrationen, der sich für den Rückzug auf eine Alm oder für eine Auszeit in einem Zen-Kloster entscheidet. Die Abgeschiedenheit kann wohl beruflichen Druck nehmen, aber sie verhindert keine persönlichen Niederlagen, schweren Krankheiten oder den Verlust des geliebten Partners. Probleme, mitunter schwerwiegende, kommen unweigerlich auf jeden Menschen zu, immer wieder und ständig neu – und oft dann, wenn man gar nicht mit ihnen rechnet.

Wie gut wäre es also, so etwas wie Hornhaut auf der Seele zu haben! Ein Rüstzeug, das schützt vor den ständigen Spitzen im fordernden Berufsleben und den oft kaum zu bewältigenden Ansprüchen des Alltags. Eine Lebenseinstellung, die den Blick freudig nach vorn lenkt statt in Trauer zurück. Eine Selbstsicherheit, die den Großteil der Kritik abprallen lässt und gezielt nur das verwertet, was konstruktiv ist.

Es gibt Menschen, die all diese Eigenschaften haben. Wie Felsen in der Brandung sind sie kaum zu erschüttern. Resilienz nennen Psychologen ihre geheimnisvolle Kraft, Widerstand zu leisten gegen die Zumutungen der Umwelt oder aus einer deprimierenden Situation wieder ins volle Leben zurückzukehren.

Eines der anrührendsten Beispiele unserer Zeit ist wohl die Geschichte von Natascha Kampusch, jener jungen Österreicherin, die als Zehnjährige auf dem Weg von der Schule nach Hause entführt und acht Jahre lang in einem Verlies festgehalten wurde (siehe Seite 59 ff.). Als sie nur zwei Wochen nach ihrer Flucht im Fernsehen auftrat, machte sie die Zuschauer sprachlos. Ein hilfloses Opfer hatten die Menschen erwartet, stattdessen präsentierte sich eine selbstbewusste, sich selbst reflektierende junge Frau. Nun mag es sein, dass es Natascha Kampusch nur gut gelang, die Wunden in ihrem Innersten zu verbergen. Doch bedurfte selbst das in ihrer Situation einer psychischen Stärke, die Bewunderung verdient. Der Frage nach der Kraft der Resilienz verschaffte ihr Auftritt im Fernsehen jedenfalls eine ganz neue Dimension.

Wie kann es sein, dass ein junges Mädchen ein solches Martyrium übersteht, während andere Menschen schon nach viel kleineren Schicksalsschlägen den Lebensmut verlieren? Weshalb sprudelt ein Unternehmer nach dem Bankrott seiner Firma gleich wieder vor neuen Ideen, während sich ein anderer aufgibt? Warum nagt ein falscher Satz eines Kollegen an der einen drei Tage lang, während eine andere ihn kaum hört? Weshalb landet ein Mann am Ende einer großen Liebe im Suff, während ein anderer bald neuen Sinn im Leben findet?

Die Frage, was manche Menschen so stark macht, ist eines der großen Rätsel, auf das Psychologen, Pädagogen und Neurowissenschaftler zunehmend Antworten finden. Viel zu lange haben sie sich nur mit den Abgründen der Seele befasst. Haben erkundet, welche Faktoren im späteren Leben Wahnvorstellungen, Depressionen und Panikattacken begünstigen, bis sich Ende der 1990er-Jahre einzelne Abtrünnige der Positiven Psychologie zuwandten. Sie erkunden nun, wie sich die Lebenstüchtigen durch Krisen manövrieren, und sie haben sich auf die Suche nach den Strategien und Ressourcen gemacht, die die Starken dafür nutzen und bereithalten.

Dieses Buch will an Beispielen erzählen, welch hilfreiches Rüstzeug manchen Menschen mitgegeben ist; es erkundet anhand neuester Forschungen, wie es zu dieser Widerstandskraft gekommen ist; und es soll all jenen, die diese Stärke mitunter vermissen, Wege aufzeigen, wie sie nach dem Vorbild der Lebenstüchtigen künftig die großen und kleinen Krisen des Lebens besser bewältigen können. Denn wenngleich die Fundamente der psychischen Widerstandskraft schon in frühester Kindheit gelegt werden, so lassen sie sich doch auch später noch gießen. Man muss nur wissen, wie.

Hier ist Stärke gefragt

Einfach mal faul sein ist völlig out geworden, Langeweile das Schreckgespenst der Leistungsgesellschaft. »Ich bin ja so im Stress«, ist ein so häufig gehörter Satz, dass ihn schon Kleinkinder begeistert nachplappern. Sie spüren, dass all jene, die dies sagen, irgendwie wichtig und anerkannt sind. Dass aber Faulsein und Langeweile erst neue Kraft und Kreativität zutage bringen, wird gemeinhin ignoriert. Hohes Ansehen erlangt dagegen, wer parallel in Beruf, Partnerschaft und aufsehenerregenden Hobbys Erfolge vorweisen kann.

Dabei schadet ein bisschen Stress gewiss nicht. Er fördert die Leistungsfähigkeit und verschafft letztlich jenes wohlige Gefühl, etwas unter Hochdruck geschafft zu haben. Doch die ständigen überhöhten Anforderungen, wie sie heute in vielen Bereichen des Lebens herrschen, führen auf Dauer zu einem durch und durch negativen Gefühl, das irgendwann gar nicht mehr weichen will. Erfolg kann nicht eintreten, wenn die Ansprüche so hoch sind, dass sie sich kaum erfüllen lassen. Wer psychisch stark genug ist, erlebt den Stress nicht als negativ oder lässt sich davon nicht unterkriegen. Doch wer weniger stabil ist, für den stellen die ständigen Stresserlebnisse schließlich ein Gesundheitsrisiko dar.

Oft schlägt sich das Leiden der Seele zunächst noch mit eher unauffälligen Symptomen auf den Körper und seine Organe nieder: Das Kreuz schmerzt, der Bauch grimmt. Bei anhaltender Ignoranz folgt dann aber oft der psychische Zusammenbruch. Mehr seelische Widerstandskraft brauchen längst nicht mehr nur Manager in besonders hart umkämpften Branchen, die sich täglich gegen Konkurrenten behaupten müssen, oder Menschen, die besonders schwere Schicksalsschläge erleiden. Hohe Anforderungen herrschen überall – am einfachen Arbeitsplatz der Sachbearbeiterin, in der Kleinfamilie, in der Partnerschaft und natürlich auch angesichts von persönlichen Krisen wie Liebeskummer, Arbeitslosigkeit, Geldsorgen, Krankheit, Trauer und Verlust.

Oft reicht die Energie nicht mehr aus, sich neben beruflichen Problemen gleichzeitig auch privaten konstruktiv zu stellen. Depressionen und Burn-out werden längst als Volkskrankheiten angesehen. Gerade an diesen Leiden zeigt sich, dass der Grat zwischen Stärke und Schwäche schmal geworden ist. Viele Menschen suchen ihr Heil in Drogen. Nur mit der abendlichen Flasche Rotwein schaffen sie es noch, sich endlich einmal wohlig und frei zu fühlen.

Man braucht schon ein gesundes Selbstbewusstsein, ein Selbstwertgefühl, das nach Art einer Sprungfeder konstruiert ist, oder wenigstens hilfreiche Techniken, um die ständigen Angriffe auf die eigene psychische Gesundheit abwehren zu können. Das Kapitel verdeutlicht, wie sich unterschiedliche Bedrohungen auf die seelische Gesundheit auswirken, und zeigt Menschen, die es trotzdem geschafft haben, aus den so entstandenen Tiefs wieder herauszukommen.

Der tagtägliche Stress

»Ich bin ja so im Stress.« Heute spricht ihn jeder mindestens einmal pro Woche aus, diesen Satz, den vor 75 Jahren noch niemand kannte. Erst 1936 erfand der in Wien geborene Arzt Hans Selye den Begriff Stress, der uns heute so vertraut ist. »Ich habe allen Sprachen ein neues Wort geschenkt«, sagte Selye am Ende seines Lebens. 1700 Fachartikel und 39 Bücher hatte er da bereits über jenes Phänomen verfasst, das zuvor wissenschaftlich nicht beschrieben worden war. Gleichwohl ist Stress seit der Steinzeit bekannt. Schließlich gab es für Menschen immer schwierige und anstrengende Situationen, und nicht wenige davon waren gewiss schwerer zu ertragen als die Belastungen von heute. Die Verzweiflung bei der erfolglosen Suche nach etwas Essbarem dürfte auf der Skala negativer Gefühle jedenfalls weiter oben liegen als die Sorge, bei einem Vortrag vor großem Publikum zu versagen. Und vor einem angreifenden Säbelzahntiger davonzulaufen schlägt allgemeinem Konsens zufolge den Stresspegel bei der Hetze zur morgendlichen Besprechung.

Genau dafür ist Stress nämlich eigentlich da: dass wir in einer schwierigen Situation schnell handeln, statt uns einfach fressen zu lassen. Dazu steigen Blutdruck und Puls, die Atmung wird schneller. Das Hormon Adrenalin schwärmt aus und sorgt dafür, dass Gehirn und Muskeln gut mit Energie versorgt werden. Der Körper ist bereit zu kämpfen – oder auch zu fliehen. »Stress sorgt dafür, dass wir in den unterschiedlichsten Umgebungen zu Höchstleistungen fähig sind«, fasst es der Biopsychologe Clemens Kirschbaum zusammen. Nur sollten all diese körperlichen Reaktionen möglichst bald auch wieder abebben, wenn die Gefahr vorüber ist.

Heute aber ist Stress Teil des Alltags. »Es gehört fast schon zum guten Ton zu wiederholen, dass man nicht unterbeschäftigt, sondern wichtig sei und viel zu tun habe«, sagt die Psychologin Monika Bullinger. »So wird nicht mehr unterschieden zwischen dem anregenden Gefühl, hin und wieder etwas aus der Puste zu sein, und dem permanent negativen Gefühl, das entsteht, wenn keine Erfolgserlebnisse am Ende der Stressreaktion stehen. Es wird unterschätzt, dass dieser nicht zu bewältigende Stress ein Gesundheitsrisiko darstellt.«

Wenn der Körper andauernd in Alarmbereitschaft versetzt wird, sind die Folgen zunächst oft mental zu spüren: Die Gestressten fühlen sich unwohl, sind ängstlich oder auch traurig. Andere reagieren gereizt und launisch, werden schnell ungerecht. Wer unter chronischem Stress leidet, kann meist nicht mehr zur Ruhe kommen. Phasen ohne Druck findet er fast schon unerträglich. Er hat schlicht verlernt, sich zu erholen. Auf Dauer kommen zu den ersten mentalen Alarmzeichen auch körperliche Probleme hinzu. Welche das sind, kann von Person zu Person extrem unterschiedlich sein. »Jeder hat da seine ganz persönliche Achillesferse«, sagt der Präventionsspezialist Christoph Bamberger. Zum Schluss ist die Last auf der Seele nicht mehr zu leugnen. Dann treten psychische Störungen wie Depressionen oder das in letzter Zeit oft gehörte Burn-out auf, bei dem es sich meist um nichts anderes als eine milde Form der Depression handelt.

Wie stressig aber ist ein voller, fordernder, hektischer Tag? Das erlebt jeder Mensch höchst individuell. Dem Ersten mag es schon zu viel sein, zwei Termine zu koordinieren, der Zweite gerät erst in Bedrängnis, wenn es offenkundig Ärger gibt. Und dem Dritten ist selbst das egal.

Wie viel Stress und Druck ein Mensch empfindet, hängt in erheblichem Maße von seiner psychischen Widerstandskraft ab, die er von Kindesbeinen an entwickelt. Persönliche Eigenschaften tragen ebenso dazu bei wie das soziale Umfeld und die Erziehung. Es gibt aber auch hilfreiche Strategien, die den Umgang mit dem tagtäglichen Stress erleichtern und so die persönliche Widerstandskraft gegen die Unbill des Lebens auch später noch stärken. Zunehmend kommen Persönlichkeitspsychologen nämlich zu dem Schluss, dass unser Wesen weniger in Stein gemeißelt ist, als gemeinhin angenommen wird: Menschen können sich sehr wohl ändern! (Siehe Seite 183 ff.)

Professionelle Anti-Stress-Trainer versuchen ihren Klienten etwas zu vermitteln, was sie »Stresskompetenz« nennen. Die Kursteilnehmer sollen lernen, die verschiedenen Typen von Stress zu erkennen, die ihnen tagtäglich begegnen – den negativen, zerstörerischen Stress ebenso wie den konstruktiven, der einem hilft, schwierige Situationen besser zu bestehen. Denn nur wer den einen vom anderen zu unterscheiden weiß, kann den krank machenden Stress gezielt bewältigen (siehe Seite 214 ff.).

Bei akutem, destruktivem Stress sind Techniken unverzichtbar, die sofort und gleich Entspannung ermöglichen. Viele Trainer setzen auf Entspannungsverfahren wie das Autogene Training oder die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Andere nutzen fernöstliche Methoden wie Yoga, verschiedene Meditationstechniken, zu denen auch das Achtsamkeitstraining gehört, oder Entspannungsübungen in Bewegung wie beim Qigong und Taijiquan. Und manche Menschen finden auch ihre eigenen, ganz persönlichen Wege – ausgedehnte Spaziergänge etwa oder eine erzwungene Auszeit täglich um 12 Uhr. Welche Methode am effektivsten ist, hängt nicht nur von den aktuellen Problemen ab, sondern auch von den Vorlieben derjenigen, die Hilfe gegen den Stress suchen.

In jedem Fall geht es um Folgendes: Blutdruck, Herzschlag und Hirnströme runter, Gelassenheit, Zufriedenheit und Wohlbefinden rauf! In welcher Reihenfolge dies geschehen soll, davon haben die Erfinder der verschiedenen Entspannungsverfahren ganz unterschiedliche Vorstellungen entwickelt. So setzen die eher körperlich orientierten Verfahren wie die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson darauf, dass sich die psychischen Stressvorgänge ändern, wenn man an den körperlichen Funktionen arbeitet. Wer sich so entspannen will, der übt, einzelne Muskelgruppen gezielt anzuspannen und wieder loszulassen. Die Konzentration darauf bringt den Geist zur Ruhe; es ist weder Raum noch Zeit, an die belastenden Aufgaben von morgen zu denken; unweigerlich beschäftigt man sich nur noch mit sich selbst.

Beim Autogenen Training wird versucht, die seelischen Vorgänge zu verändern und dadurch Einfluss auf die Körperfunktionen zu nehmen statt umgekehrt. So betreibt der Gestresste Autosuggestion, indem er sich auf die immer gleichen Vorstellungen konzentriert, die er in Gedanken langsam wiederholt. »Die Arme und Beine sind schwer«, versichert er sich, oder »die Atmung geht ruhig und gleichmäßig«. Wer das mit viel Hingabe immer wieder übt, der kann das eines Tages auch wahr werden lassen. Und wie soll man nebenher noch an das denken, was einen stresst?

Die Gefahr allerdings ist: Sobald man wieder an die noch unerledigten Aufgaben denkt, ist der Stress auch schon zurück. Da können Techniken wie das Achtsamkeitstraining helfen (siehe Seite 221 ff.). Sie können für einen neuen Blick auf den Alltag sorgen, bislang Störendes wird neu gewichtet und bestenfalls nicht länger als unerwünscht empfunden. Auch fördern sie die Wahrnehmung, an welchen unangenehmen Ereignissen sich etwas ändern lässt und welche nun einmal unvermeidlich sind.

Zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, das ist eine der Schlüsselbotschaften, die Fachleute in Sachen Stressbewältigung ihren Klienten vermitteln. Dazu gehört es auch, sich ein Stück weit wieder jene klare Trennung von Beruf und Freizeit zurückzuerobern, die früher so selbstverständlich war. In einer Arbeitswelt zwischen Smartphones und Tablet-Computern mit ständiger Erreichbarkeit per Telefon und E-Mail ist es ein unglaublich entspannender Schritt, sich abends einfach mal von den elektronischen Sklaventreibern abzukoppeln. »Ich bin dann mal offline« – das ist wie ein kleiner Urlaub für die Seele. Ohnehin sind Ruhephasen wichtig. Viele Dauer-Gestresste haben das vergessen. Sie sollten neu lernen, wie gut es tut, einfach einmal abzuschalten (siehe Seite 225 ff.).

Bei all dem Anti-Stress-Training muss man ja nicht gleich in die Ehrgeizlosigkeit verfallen: Ein gewisses Maß an Stress ist sogar gut. Stress bedeutet schließlich – wie auch schon beim Anblick des Säbelzahntigers – Ansporn, Kreativität und Energie. Stress wird nur dann zum Feind des Menschen, wenn er zu lange anhält und nicht mehr ausreichend durch Müßiggang, Bewegung und Entspannung abgelöst wird.

Mit irgendeiner Form von Stress muss ohnehin jeder zurechtkommen. Denn es gibt genügend Strapazen und Belastungen, denen man schlicht nicht entgehen kann. Beziehungen können enden, Kinder können einem den letzten Nerv rauben, der Arbeitgeber lagert seine Produktion plötzlich ins Ausland aus.

Arbeitslos zu werden gehört zu den schlimmsten Negativereignissen im Leben eines Menschen. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, frisst so stark am Selbstwertgefühl wie kaum eine andere Lebenskrise. Die Psychologen Michael Eid und Maike Luhmann haben das näher untersucht. Die Arbeitslosigkeit erleben die meisten Menschen auch dann nicht als weniger schlimm, wenn sie zum zweiten oder zum dritten Mal eintritt. Jahrzehntelang hatten Wissenschaftler geglaubt, dass sich Menschen mit allem arrangieren, auch wenn es ihr Leben noch so sehr verändern mag. Kurze Zeit nach einem Lottogewinn oder einem Unfall, der sie querschnittsgelähmt machte, werteten Befragte einer berühmten Studie ihr eigenes Lebensglück wieder in ähnlicher Weise wie zuvor. »Aber es gibt sie doch nicht immer, diese Gewöhnung«, betonen Eid und Luhmann. »Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden.«

Bei der Arbeitslosigkeit scheint es sogar so etwas wie einen Sensibilisierungseffekt zu geben. »Das ist wie eine Spirale, die immer weiter nach unten zieht«, sagt der Entwicklungspsychologe Denis Gerstorf. Fachleute wie die drei wissen längst: Der Verlust der Arbeit geht nicht nur mit einem Verlust des Selbstwertgefühls einher, sondern auch mit dem Verlust sozialer Kontakte. Oft werden auch die Konflikte mit Freunden und Angehörigen schärfer, wenn das Geld fehlt. Die Teilhabe an vielen Aktivitäten ist nicht mehr möglich. »Deshalb braucht unsere Gesellschaft dringend Programme, die die Folgen mehrmaliger Arbeitslosigkeit abfedern«, so Eid und Luhmann. Schließlich kommt es gar nicht mehr so selten vor, dass Menschen wiederholt ihren Job verlieren.

Doch Stress lauert auch dort, wo er zunächst gar nicht so einfach zu erkennen ist. Allein das Leben in der Großstadt ist schon eine Gefahr für die seelische Gesundheit: Großstadtmenschen sind weitaus häufiger psychisch krank als Menschen, die in ländlicher Abgeschiedenheit leben – und das, obwohl die medizinische Versorgung in der Stadt in der Regel besser ist als auf dem Land. Für die negativen Auswirkungen des Stadtlebens spielt vermutlich die ständige Reizüberflutung eine Rolle und dass man den lieben langen Tag zahllosen Menschen begegnet, die man eigentlich nie treffen wollte. Menschliche Gesichter sind für das Gehirn interessant, es versucht möglichst viele von ihnen wahrzunehmen; wer mit Hunderttausenden auf relativ engem Raum lebt, will sie paradoxerweise aber zugleich auch meiden. Deshalb scheinen jene Hirnregionen bei Großstädtern, die für die Stressverarbeitung und die Kontrolle der Emotionen verantwortlich sind, dauernd unter Höchstleistung zu arbeiten. Die Folge: Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, ist bei ihnen um 39 Prozent erhöht, das Risiko, eine Angststörung zu entwickeln, um 21 Prozent. Und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine Schizophrenie entwickelt, ist umso höher, je größer die Stadt ist, in der ein Mensch lebt, wie Florian Lederbogen und Andreas Meyer-Lindenberg herausgefunden haben.

Die beiden Psychiater konnten sogar belegen, dass die Großstädter per se gestresster sind. Sie steckten psychisch gesunde Menschen in die Röhre eines funktionellen Kernspintomographen und beobachteten, was in ihren Gehirnen passierte, wenn sie übel beschimpft wurden und zugleich schwierige Rechenaufgaben lösen sollten. Das bedeutete für alle Versuchsteilnehmer Stress: Ihr Herz schlug schneller, der Blutdruck stieg, das Stresshormon Cortisol schwamm vermehrt in ihrem Blut. Doch die Nervenzellen im Angstzentrum des Gehirns – einer mandelförmigen Struktur namens Amygdala – feuerten umso aktiver, je größer die Stadt war, aus der die Person kam. Es gilt inzwischen als sicher, dass die Amygdala an verschiedenen psychischen Störungen beteiligt ist. Immerhin: Ein Umzug aufs Land kann helfen – aber es dauert einige Jahre, bis die erhöhte Hirnaktivität sich langsam wieder beruhigt.

Was also ist zu tun? Soll man sich zur Stressreduktion ins beschauliche Kloster, in ein abgelegenes Dorf oder auf eine einsame Insel zurückziehen? Sich aus Angst vor dem Rausschmiss lieber gleich selbstständig machen? Den Partner immer bestens behandeln, damit er einen ja nicht verlässt? Gerade das macht schon wieder Stress. Die unendlichen Wahlmöglichkeiten, welche das Leben von heute den Menschen bietet, torpedieren das Wohlbefinden. Sich auf das zu besinnen, was einem selbst wichtig ist, und mit dem Erreichten zufrieden zu sein, gehört zu den großen Herausforderungen in einer Welt voller vermeintlicher Chancen. »Seine persönlichen Prioritäten zu erkennen, nach ihnen zu leben und sich nicht von anderen verrückt machen zu lassen, sollte die Devise sein«, sagt der Erlanger Entwicklungspsychologe und Präventionsforscher Friedrich Lösel.

Früher hatten die meisten Menschen ein Elternhaus oder eine elterliche Wohnung, in der sie aufwuchsen, ohne jemals umzuziehen; wenn sie dann doch zum ersten Mal die Bleibe wechselten, zogen sie oft in die unmittelbare Nähe; ihre Lehre absolvierten sie in einem der zahlenmäßig überschaubaren örtlichen Betriebe, die diese Art Ausbildung anboten; oder sie kehrten nach dem Studium in der nächstgelegenen Großstadt in die alte Heimat zurück; ganz selbstverständlich schickten sie ihre Kinder auf dieselbe Schule, auf die sie einmal selbst gingen.

Heute ist dieser beschauliche Lebensentwurf selten geworden. Die Wahlfreiheit ist inzwischen so groß, dass sie schon zum Zwang wird: Ständig muss sich der moderne Mensch fragen, ob er nicht doch eine der vielen Optionen nutzen sollte, die sich ihm bieten: Ist es richtig, jetzt schon seit zehn Jahren bei derselben Firma zu arbeiten? Gibt es nicht woanders einen besseren Job, der auch noch besser bezahlt wird? Was macht man mit dem Geld, das man anspart? Sollte man das Kind nicht lieber auf die Privatschule schicken? Was wird man am Ende seines Lebens denken, wenn man nicht wenigstens eine Zeitlang im Ausland gelebt hat? Ist die Ehe noch so erfüllend, wie man sich das immer erträumt hat? Ist der Sex häufig und gut genug? In einem Leben mit so vielen Freiheitsgraden kehrt Ruhe nur selten ein.

Doch Flucht ist zwecklos. Besser, wir machen unsere Seele stark.

Wenn der Seele das Rüstzeug fehlt

Für diese Frau waren alle voller Bewunderung. Drei kleine Kinder hatte die erfolgreiche Architektin, die bei einem großen Unternehmen im Münchner Norden arbeitete. Sechs, drei und ein Jahr alt waren die Kleinen, und die Mutter war jeweils nach einer kurzen Babypause für 30 Stunden in der Woche an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Im Büro fiel sie durch immer gute Laune, den sicheren Blick fürs Effiziente und eine stets gepflegte Erscheinung auf. Sie erzählte gerne, mit welchem Organisationstalent sie ihren Haushalt, ihre Ehe und ihren aufreibenden Job auf die Reihe bekam. Für diese Frau waren wirklich alle voller Bewunderung. Waren es. Bis die Enddreißigerin von einem Tag auf den anderen nicht mehr im Büro erschien. Sie war zusammengeklappt. Krankgeschrieben für ein halbes Jahr und eingewiesen in eine Kurklinik. Am Wochenende, empfahl ihr der Arzt eindringlich, solle sie bloß nicht nach Hause fahren, um ihre Familie zu besuchen. Am besten kämen Mann und Kinder die nächste Zeit auch nicht zu Besuch. Sie brauche unbedingt Abstand von allem. So schlecht waren ihre Laborwerte gewesen.

Was ganz normale Menschen heute von sich verlangen, ist oft nicht zu schaffen. Sie wollen den kritischen Blicken von Nachbarn und Kollegen standhalten und zugleich die Anforderungen ihres Arbeitgebers, ihrer Partner, Kinder und womöglich auch noch ihrer alten Eltern erfüllen. Und das nicht irgendwie, sondern so perfekt wie im Hollywoodfilm. Der Leistungsdruck hat zugenommen – und viele, wie die Münchner Architektin, merken davon nicht einmal etwas, bevor der Körper den Dienst verweigert und so in letzter Sekunde die Notbremse zieht.

Auf die berufliche Höchstleistung folgt oft der Burn-out, das völlige Ausgebranntsein. Erfunden hat den Begriff, der seit geraumer Zeit in aller Munde ist, der New Yorker Psychotherapeut Herbert Freudenberger schon in den 1970er-Jahren. Freudenberger hatte seine Beobachtungen vor allem bei Menschen gemacht, die einer sozialen Tätigkeit nachgingen. Diese Leute, die ihren Beruf meist mit großem Engagement und Idealismus ergriffen hatten, fühlten sich nach einigen Jahren oft müde und überfordert, waren lustlos und auch körperlich krank. Viele entwickelten ein stark distanziertes, zynisches Verhältnis zu ihrer einst so geliebten Arbeit.

Heute ist das Burn-out-Syndrom längst nicht mehr auf soziale Arbeit beschränkt, sondern in allen Berufen eine potenzielle Gefahr, wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde schreibt. Besonders bedroht sieht sie alleinerziehende Mütter und Väter sowie Menschen, die zu Hause ihre Angehörigen pflegen.

Fakt ist: Die Diagnose wird inzwischen so häufig gestellt, dass es beängstigend ist. Zwar gibt es keine verlässlichen Zahlen für Deutschland, aber in Finnland ergab eine bevölkerungsweite Befragung, dass jeder vierte Erwachsene an milden Burn-out-Beschwerden leidet und drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung sogar an ernsthaften. Ratgeber, Sachbücher und Zeitschriften zum Thema verkaufen sich wie warmes Brot. Die Menschen fühlen sich davon offenbar in hohem Maße angesprochen, weil sie einen Teil der beschriebenen Symptome auch bei sich erleben.

Das liegt eben auch daran, dass der Beruf den Menschen heutzutage meist viel abverlangt – oft zu viel. »Die Arbeitswelt muss sich wieder den Menschen anpassen, statt vorrangig Renditeerwartungen zu erfüllen«, forderten deshalb die auf dem Deutschen Ärztetag 2012 versammelten Mediziner einhellig. Sie sehen tagtäglich an ihren Patienten, dass diese immer häufiger Krankheiten entwickeln, die entweder rein psychischer Natur sind, wie Depressionen und Angststörungen, oder aus der Seele kommen, sich dann aber als körperliche Symptome bemerkbar machen. Zu diesen psychosomatischen Krankheiten gehören nicht nur, wie häufig gelesen, Ohrgeräusche (Tinnitus) und Rückenschmerzen. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben oft eine seelische Ursache.

Jeder zweite Arbeitnehmer klagt inzwischen über starke Belastung im Beruf. 52 Prozent empfinden einen starken Termin- und Leistungsdruck, heißt es im ›Stressreport 2012‹ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. 44 Prozent der 18 000 Erwerbstätigen, die für die Studie befragt wurden, erleben während ihrer Arbeit zudem häufig Störungen durch Anrufe und E-Mails. Jeder Dritte gab an, Pausen wegen eines zu großen Arbeitsaufkommens ausfallen zu lassen.

Die rettende Flucht ermöglicht oft ein kleiner gelber Zettel. Wenn der Druck wieder einmal zu groß geworden ist, verschaffen sich die Deutschen meist über ihren Hausarzt Erleichterung. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sorgt wenigstens für ein paar Tage Ruhe; kraft Unterschrift und Stempel sind alle Pflichten in weite Ferne gerückt: Stunden gähnender Leere, plötzlicher Freiheit, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung liegen vor einem. Auch wenn kein Fieber festgestellt wird, nichts gebrochen ist und das Herz im Takt schlägt – Ärzte füllen meist ohne Murren die Zettel für den Arbeitgeber aus, denn sie wissen: Ein paar Tage Freiraum können wie ein Ventil für Arbeitnehmer unter Überdruck wirken. Sie können einen Menschen wieder ins Gefüge bringen, können die Seele Kraft schöpfen lassen für die folgende Zeit im täglichen Wahnsinn. Psychische Prävention nennen viele Ärzte das – vorbeugen, statt zu warten, bis bei ihren nach Hilfe suchenden Patienten endgültig der Zusammenbruch droht.

Allerdings helfen die ärztlich legitimierten Auszeiten nicht wirklich, wenn der Stress dauerhaft ist und sich an den Arbeitsbedingungen nichts ändert. Dann können sie das Abgleiten in den Burn-out allenfalls aufschieben.

Manche Unternehmen haben immerhin erkannt, dass sie etwas ändern müssen. So beurteilt der britisch-niederländische Nahrungs- und Waschmittelriese Unilever seine Führungskräfte inzwischen auch danach, wie groß die Fehlzeiten ihrer Mitarbeiter sind. »Natürlich spricht ein hoher Krankenstand nicht unbedingt für eine schlechte Führung«, sagt der Werksarzt Olaf Tscharnezki. Schließlich komme es auf Alter, Geschlecht und Krankengeschichte der Mitarbeiter an. Allerdings habe man herausgefunden, dass nicht wenige Führungskräfte bei einer Versetzung den alten Krankenstand gewissermaßen mit ins neue Team nähmen. Wenn der dauerhaft zu hoch sei, bitte die Geschäftsführung den Teamchef zum Gespräch.

Über Fehlzeiten führt auch das Bundesarbeitsministerium penibel Statistik. Dabei zeigt sich, dass die aus der Seele geborenen Krankheiten einen erheblichen Einfluss auf die Produktivität der Menschen haben. Denn die Betroffenen werden, wie die Münchner Architektin, oft monatelang krankgeschrieben, benötigen intensive Behandlungen oder Kuraufenthalte und können danach nur langsam wieder in den Arbeitsalltag eingegliedert werden. Die Kosten, die psychische Krankheiten verursachen, liegen Schätzungen zufolge in Europa jedes Jahr bei 300 Milliarden Euro. Und es werden mehr.

Im Jahr 2001 gab es dem Arbeitsministerium zufolge 33,6 Millionen Fehltage wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen. 2011 waren es schon 59,2 Millionen. Da sind die psychosomatischen Erkrankungen noch nicht einmal mitgezählt. An der Gesamtheit aller Fehltage machten die psychischen Krankheiten im Jahr 2001 6,6 Prozent aus. Im Jahr 2010 betrug ihr Anteil dann 13,1 Prozent – er hatte sich also verdoppelt. Mittlerweile sind psychische Leiden der häufigste Grund für krankheitsbedingte Frühverrentungen.

Nicht umsonst hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den beruflichen Stress zu »einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts« erklärt. Viele EU-Staaten haben inzwischen gesetzliche Regelungen zum Schutz vor gesundheitsgefährdender psychischer Belastung am Arbeitsplatz eingeführt und mit anderen Berufsrisiken gleichgestellt. Ständiger Stress am Arbeitsplatz sei der Gesundheit genauso abträglich wie Lärm, grelles Licht oder Gift. Deutschland gehört nicht zu diesen EU-Staaten.

»Erst ein notwendiges gesellschaftliches Umdenken mit sozialpolitischen Folgen, politischen Korrekturen und entsprechenden Gesetzen wird wieder humane und gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen schaffen«, heißt es in der Erklärung des Deutschen Ärztetages. Doch statt entsprechende Initiativen zu ergreifen, werde der Zusammenhang zwischen der krankmachenden Arbeitssituation und dem Auftreten psychischer Erkrankungen von der Politik oft nicht erkannt oder geleugnet.

Das Tückische am Burn-out ist: Das Ausbrennen ist ein schleichender Prozess, der auf vielfältige Weise vonstattengehen kann. Wer unter Rückenschmerzen, Konzentrationsstörungen, Verdauungsproblemen, Herzrasen, Vergesslichkeit, Kopfschmerzen, Unruhe oder Schlafstörungen leidet, dessen Körper rebelliert womöglich schon gegen die ständige Überforderung, gegen die immer wiederkehrende Frustration, die Desillusionierung oder die fehlende Anerkennung.

Das Vertrackte ist nur: All diese Symptome können zugleich auch ganz andere Ursachen haben. Vielen Betroffenen fällt es daher schwer zu erkennen, dass sie sich zu viel abverlangen. So bekämpfen sie ihre innere Leere, das aufkommende Gefühl der Sinnlosigkeit und die ständige Zerrissenheit mit noch mehr Engagement im Job, zusätzlichen Verabredungen, weniger und kürzeren Pausen, morgens mit Aufputsch- und abends mit Schlafmitteln. Manchmal kommen auch härtere Drogen ins Spiel. Wenn niemand eingreift, dreht sich die Spirale immer weiter – bis gar nichts mehr geht.

Auch Fachleute erkennen oft nicht, was mit ihren Patienten los ist. Das liegt auch daran, dass Psychiater und Psychologen bis heute keine einheitliche und verbindliche Definition für das Ausgebranntsein gefunden haben. Burn-out, dieser Zustand der totalen Erschöpfung, gilt nicht einmal als eigenständige Diagnose. Vielmehr wird es im internationalen Klassifikationskatalog aller Krankheiten, ICD-10, als ein potenziell krankheitsauslösendes »Problem der Lebensbewältigung« geführt. Dem muss aus heutiger Sicht nicht einmal mehr ein ausgeprägter Enthusiasmus vorausgegangen sein. Auch Menschen, deren Begeisterung für ihren Job nie loderte, können ausbrennen.

Ärzte können den Begriff Burn-out somit nur zusätzlich zu einer Diagnose verwenden. Und in der Tat steckt häufig noch etwas anderes dahinter – in den meisten Fällen eine leichte Depression. Das aber sagen Ärzte ihren Patienten oft nicht. Denn Burn-out klingt irgendwie moderner und besser. Der Betroffene gilt als aktiv und engagiert, als jemand, der einmal wirklich für seine Sache in Leidenschaft brannte, bevor er zusammenklappte, und nicht wie das antriebslose, klägliche Opfer, das viele Menschen mit Depressionen verbinden. Wohl deshalb nennen Ärzte ihren Patienten gerne die Modediagnose Burn-out: Die Kranken akzeptieren sie leichter.

Man müsse aber aufpassen, mit dem Begriff nicht die Depression zu verharmlosen, warnt der Psychiater und Vorsitzende des Deutschen Bündnisses gegen Depression Ulrich Hegerl. Denn ein falsches Verständnis der Situation könne zu falschen Bewältigungsstrategien führen – etwa mittels der kleinen gelben Zettel zur kurzfristigen Flucht aus dem Arbeitsalltag, der für das seelische Leid oft verantwortlich gemacht wird.

Doch wenn hinter dem Erschöpfungsgefühl eben nicht die akute Überforderung oder Selbstüberforderung am Arbeitsplatz steht, sondern eine milde Depression, dann kann gerade das die falsche Strategie sein. »Lange zu schlafen oder grübelnd im Bett zu liegen, verstärkt die Depressionen eher«, warnt Hegerl. Viele Kliniken bieten sogar eine Wachtherapie gegen Depressionen an, bei der die Patienten die zweite Hälfte der Nacht nicht im Bett verbringen, sondern aufstehen sollen. Auch in Urlaub fahren sei nicht ratsam. »Die Depression reist mit«, sagt Hegerl. Sie müsse behandelt werden, dann mache das, was vorher Stress war, auch wieder Freude.

Während gesundes Essen, Sport, Entspannungstraining und ein neues Zeitmanagement Menschen helfen, die nur überlastet sind, ist es damit bei Depressionen nicht mehr getan, warnt auch der Direktor des Universitätsklinikums Bonn Wolfgang Maier. Hier sei therapeutische oder ärztliche Hilfe nötig, um auch langfristig erfolgreich zu sein.

Eigentlich sollte man meinen, dass den Betroffenen heutzutage schnell Hilfe angeboten wird – oder dass sie sich bald selbst Hilfe holen. Psychische Erkrankungen sind doch ständig ein Thema in Medien und Öffentlichkeit. Sollten sie da nicht längst ihr gesellschaftliches Stigma verloren haben? Doch trotz der vielen Ärzte, die sich dafür engagieren, trotz der mutigen Patienten, die wie der an Depressionen erkrankte Fußballspieler Sebastian Deisler, die vom Burn-out geplagte Kommunikationswissenschaftlerin und Anne-Will-Partnerin Miriam Meckel oder der ebenfalls ausgebrannte Sänger Peter Plate von der Band Rosenstolz ihre Geschichte in die Öffentlichkeit tragen, haben viele Menschen nach wie vor das Gefühl, diese Krankheiten anders als etwa die angebliche Managerkrankheit Herzinfarkt geheim halten zu müssen. Selbst die Bundesregierung nimmt die psychischen Störungen noch zu wenig ernst.

Seit 2009 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Reihe von »Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung« ins Leben gerufen. Sie sollen »Fortschritte bei wichtigen Volkskrankheiten« erreichen, sagte die damalige Forschungsministerin Annette Schavan bei der Vorstellung des Programms. Doch die sechs Zentren, die seitdem gekürt wurden, widmen sich ausschließlich den körperlichen Leiden. Als Erstes wurden ein Deutsches Zentrum für Diabetesforschung eingerichtet sowie eines für neurodegenerative Erkrankungen, zu denen die Alzheimerkrankheit zählt. Dann folgte eines für Herz-Kreislauf-Forschung, eines für Infektionsforschung, eines für Lungenforschung und natürlich auch eines für Krebsforschung. Gemütskrankheiten wurden mit keinem Wort erwähnt. Dabei hat erst vor Kurzem eine umfassende Studie, die Daten aus 30 verschiedenen europäischen Staaten auswertete, ergeben, dass mehr als jeder dritte Europäer einmal im Jahr psychische Probleme hat. Krankheiten der Seele sind also ein wahres Volksleiden, ohne dass dies politische Auswirkungen hätte.

Psychische Krankheiten senken die Lebenserwartung stärker als alle anderen Leiden, ergab kürzlich eine Studie, die ein internationales Forscherteam unter der Leitung des Psychiaters Hans-Ulrich Wittchen und des Psychologen Frank Jacobi durchgeführt hat. Auch wird die Zahl der Jahre, die ein Mensch ohne größere gesundheitliche Einschränkungen verleben kann, durch psychische Störungen mit am stärksten reduziert.

Besonders häufig sind die Angststörungen, die 14 Prozent der Bevölkerung treffen; danach folgen Schlaflosigkeit (7 Prozent), Depressionen (7 Prozent), psychosomatische Erkrankungen (6 Prozent) und schließlich Alkohol- und Drogenabhängigkeit (4 Prozent). Während Frauen deutlich häufiger an Depressionen, Panikattacken und Migräne leiden, sind Männer bei Alkoholerkrankungen die Vorreiter.

Trotz der frappierend großen Verbreitung: Es ist nicht so, dass psychische Erkrankungen generell immer häufiger werden, wie oftmals berichtet wird. Lediglich die Depressionen nehmen zu, wobei zum Erschrecken der Forscher mehr und mehr Minderjährige betroffen sind. »Wir sehen bei jungen Leuten unter 18 Jahren ungefähr fünfmal so häufig eine voll ausgeprägte Depression wie früher«, sagt Hans-Ulrich Wittchen. Ansonsten konnten die Forscher jedoch keine dramatischen Entwicklungen feststellen. Vielmehr sei die Zahl der psychischen Erkrankungen nur in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg leicht angestiegen und dann wieder abgesunken.

Die Krankschreibungen aufgrund psychischer Leiden werden aber wohl weiter zunehmen. Denn Wittchen und Jacobi schätzen, dass derzeit nicht einmal jeder dritte Betroffene behandelt wird. Bis zur Therapie dauert es oft Jahre. Dies sei die eigentliche Schwierigkeit im Ringen um die psychische Gesundheit der Bevölkerung, so Wittchen: das niedrige Problembewusstsein.

Nach und nach aber werden Gemütserkrankungen häufiger diagnostiziert. Vor 20 Jahren hätten Hausärzte höchstens bei jedem Zweiten ihrer Patienten mit Depressionen die Krankheit auch erkannt, meint Jacobi. Mittlerweile identifizieren sie immerhin zwei Drittel dieser Patienten.

Vermutlich fallen Menschen mit seelischen Problemen im heutigen Berufsalltag auch einfach eher auf. Denn die Bewältigung der oft anspruchsvollen Aufgaben in den modernen Berufen ist mit einer psychischen Erkrankung oft nicht mehr möglich. Die Heuernte ist mit einer milden Depression wahrscheinlich leichter zu bewältigen als ein Marketinggespräch mit einem schwierigen Kunden; auch gibt ein stark strukturierter Job wie etwa am Fließband oft mehr Halt als ein Beruf im Dienstleistungssektor oder im künstlerischen Bereich, wo viel eigene Motivation, Kreativität und Flexibilität gefordert sind. So fällt den Betroffenen heute womöglich auch selbst schneller auf, wenn ihre Kraft nicht mehr reicht, um ihren Beruf auszufüllen.

Wie häufig sich dabei hinter einer körperlichen Krankheit eine seelische Überlastung versteckt, finden Psychosomatiker zunehmend heraus. Ihr Fachgebiet, das die Entstehung körperlicher Leiden aus der Seele heraus betrachtet, gibt es so erst seit 20 Jahren. Inzwischen zweifelt niemand mehr daran, dass eine leidende Seele drastische körperliche Auswirkungen haben kann. Zum Teil sind diese auch überraschend: Es wurde sogar schon beobachtet, dass Depressionen das Risiko für Knochenschwund erhöhen.

Vor allem aber wird das Herz in Mitleidenschaft gezogen. Das haben zahlreiche Studien inzwischen bestätigt. So ist für Personen, die unter beruflichem Stress leiden, das Herzinfarktrisiko doppelt so hoch wie für Beschäftigte ohne Belastung. Und eine Depression kann das Risiko für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall sogar verdoppeln. Dabei wirkt sich der Zustand der Seele in erheblichem Maße auch auf die Heilungschancen aus. Wer depressiv ist und einen Schlaganfall erleidet, der hat ein dreimal so hohes Risiko, daran zu sterben wie ein Schlaganfallpatient ohne Gemütskrankheit, berichteten Wissenschaftler von der University of Southern California vor Kurzem.

Wie die Krankheiten von Seele, Herz und Hirn zusammenhängen, ist bis heute nicht vollständig erforscht. Es gibt aber zahlreiche Erklärungsmöglichkeiten. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich das psychische Leid unmittelbar biochemisch auf den Körper auswirkt: Depressionen beeinflussen die Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn und lassen auch die Werte verschiedener Entzündungsfaktoren im Blut steigen, die etwa C-reaktives Protein (CRP) heißen, Interleukin-1 oder Interleukin-6. Diese bringen nachweislich ein höheres Schlaganfallrisiko mit sich.

Doch es sind auch indirekte Mechanismen möglich. Denn Menschen mit Depressionen oder anderen psychischen Störungen kümmern sich häufig nicht so gut um ihre Gesundheit. Ihnen fehlt der Antrieb, Sport zu machen, sich gut zu ernähren oder mit dem Rauchen aufzuhören. All dies kann wiederum zu Bluthochdruck und Zuckerkrankheit führen, den bekannten Risikofaktoren für einen Infarkt von Herz oder Hirn.

»Es ist aber nicht nur wichtig, negative Zustände zu verhindern, man sollte auch angenehme fördern«, betont Julia Boehm von der Harvard-Universität. Die Epidemiologin hat vor Kurzem eine erstaunliche Studie an knapp 8000 Londoner Beamten vorgestellt. Ihre Arbeit ist Teil der berühmten Whitehall-Studien, die seit 1967 zum Zusammenhang zwischen körperlicher Gesundheit und sozialem Umfeld durchgeführt werden. Den Herzen glücklicher Arbeitnehmer geht es besser als denen von unglücklichen, lautet Boehms Fazit. So war das Risiko der zufriedenen Menschen, einen Herzinfarkt zu erleiden, um 13 Prozent niedriger als das der unzufriedenen. Die Herzen waren sogar umso gesünder, je größer die Zufriedenheit war. »Dabei spielte aber nicht nur die Zufriedenheit mit der Arbeit eine Rolle, sondern auch die in der Liebe, mit den Hobbys und mit dem Lebensstandard«, erläutert Boehm. Ärzte und Patienten sollten also nicht immer nur an Bluthochdruck, Übergewicht und Nikotinsucht denken, wenn sie mit ihren Patienten über Herzinfarktrisiken sprechen, sondern auch an das seelische Wohlbefinden, empfiehlt die Wissenschaftlerin.

Es kommt aber, wie gesagt, in erheblichem Maße auch auf die Art des Stresses an: US-Präsident zu sein, sollte man meinen, muss einen mörderischen Stress bedeuten. Konnte man bei Bill Clinton und Barack Obama nicht quasi zusehen, wie ihre Haare im Amt mit einem Mal ergrauten? Doch schwerkrank werden US-Präsidenten im Allgemeinen nicht. Sie leben genauso lang wie andere Menschen. Der Demograph Stuart Jay Olshansky verglich das durchschnittliche Sterbealter aller bislang verstorbenen US-Präsidenten seit George Washington mit der für ihre Geburtsjahrgänge üblichen Lebenserwartung von Männern. (Jene vier Präsidenten, die ermordet worden waren, bezog er natürlich nicht mit ein.) So zeigte sich, dass die Präsidenten im Durchschnitt 73,0 Jahre alt wurden, während die Normalsterblichen 73,3 Jahre erreichten.

Dabei könnten die Beispiele von Prominenten, die an Burn-out und Depressionen erkranken, zu dem Schluss führen, Menschen in Spitzenpositionen seien besonders anfällig für psychische Störungen. Burn-out ist aber gar keine Managerkrankheit, betont der Leipziger Psychiatrieprofessor Ulrich Hegerl. Den größten Stress bedeuten nämlich nicht die selbstauferlegten Termine, sondern das Gefühl, nur noch der Getriebene zu sein. So leidet der am meisten, der am wenigsten zu sagen hat. Derjenige, der sich von seinem Chef gegängelt und kontrolliert fühlt, der seine eigenen Vorstellungen nicht umsetzen kann, der ohnmächtig vor materiellem Verlust steht. Die folgenreichsten Stressauslöser sind Situationen, auf die wir – tatsächlich oder vermeintlich – keinen Einfluss haben.

Eines aber ist trotz aller erschreckenden Zahlen gewiss: Es entwickelt eben nicht jeder, der Stress, Druck und schwere Krisen durchlebt, körperliche oder seelische Symptome. Viele Menschen gehen auch gesund daraus hervor (siehe Seite 84 ff.). Und von diesen Widerständigen können wir lernen.

Selbsttest: Wie gestresst bin ich?

Irgendwie gestresst fühlt sich jeder. Aber wie schlimm ist es eigentlich? Der österreichische Psychologe Werner Stangl, der Assistenzprofessor am Institut für Psychologie und Pädagogik der Universität Linz ist, wollte das auch gerne wissen. Er hat einen Test entwickelt, der eine aussagekräftige Antwort auf diese wichtige Frage liefert. Auf seiner Homepage (http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/) präsentiert er übrigens auch noch weitere Tests zu Selbstachtsamkeit, Persönlichkeit, Wünschen, Interessen, Kontrolle und Lerntypen.

Aber jetzt zum Stresstest: Beantworten Sie bitte alle 40 Fragen – und lassen Sie keine aus! Sonst können Sie kein korrektes Testergebnis berechnen. Es geht bei der Beantwortung der Fragen immer um Ihre aktuelle persönliche Situation.