Es ist ja nicht so, dass Peter Grant, Police Constable und Zauberlehrling, nichts für das Pauken von Zaubersprüchen und Lateinvokabeln übrighätte – keineswegs! Aber es ist doch immer wieder schön, wenn zur Abwechslung auch mal handfeste Polizeiarbeit gefragt ist. Ein Unbekannter wird im U-Bahn-Tunnel nahe der Station Baker Street tot aufgefunden – erstochen, und es deutet alles auf die Anwesenheit von Magie hin. Ein Fall für Peter! Der unbekannte Tote stellt sich als amerikanischer Kunststudent und Sohn eines US-Senators heraus, und ehe man ≫internationale Verwicklungen≪ sagen kann, hat Peter bereits die FBI-Agentin Kimberley Reynolds mitsamt ihren felsenfesten religiösen Überzeugungen am Hals. Dabei gestalten sich seine Ermittlungen auch so schon gruselig genug, denn in vergessenen Tunneln und viktorianischen Abwasserkanälen hört er ein Wispern von alten Künsten und gequälten Geistern …

Ben Aaronovitch

Ein Wispern
unter Baker Street

Roman

Deutsch von Christine Blum

Logo

In Gedenken an Blake Snyder (1957-2009), der nicht nur die Katze, sondern auch den Schriftsteller, die Hypothek und die Karriere rettete.

Und ich spräche zu ihnen, die bebten vor Furcht:
»Was ist euer kläglich Geschmier,
Was der kunstfert’ge Meißel des Phidias,
Der dem Marmor verlieh seine Zier,
Gegen dies unser Monster, das Zeiten lang schlief
In den Tiefen von Erde und Stein,
Bis wir hoben es frei mit Hurra und Juchhei
Und hämmerten Atem ihm ein?«

Alexander Anderson, The Engine

Sonntag

1
Tufnell Park

Im Sommer hatte ich den Fehler begangen, meiner Mum zu erzählen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente. Nicht das mit der Polizei – das wusste sie natürlich, sie war ja bei meiner Abschlussfeier in Hendon dabei gewesen. Nein, ich meine, dass ich für die Abteilung der Metropolitan Police arbeitete, die fürs Übernatürliche zuständig ist. Meine Mum hatte sich das als »Hexenjäger« übersetzt – was Vorteile hatte, weil meine Mum, wie die meisten Westafrikaner, Hexenjäger für einen viel anständigeren Beruf hält als Polizist. In einem unvermuteten Anfall von mütterlichem Stolz ließ sie es sich nicht nehmen, sofort all ihren Freunden und Verwandten mein neues Arbeitsgebiet zu schildern – einem Personenkreis, der nach meiner Schätzung mindestens zwanzig Prozent der gegenwärtig in England lebenden Sierra Leoner Auslandsgemeinde umfasst. Darunter fielen auch Adam Kamara, der im selben Sozialwohnblock wohnte wie meine Mum, und seine dreizehnjährige Tochter Abigail. Welche am letzten Sonntag vor Weihnachten beschloss, dass ich mir mal dieses Gespenst anschauen sollte, das sie entdeckt hatte. Den Kontakt zu mir stellte sie her, indem sie meiner Mum so lange auf die Nerven fiel, bis diese nachgab und mich auf dem Handy anrief.

Ich war nicht gerade begeistert, denn der Sonntag ist einer der wenigen Tage, an denen ich morgens nicht am Schießstand trainieren muss, und meine Pläne hatten eigentlich daraus bestanden, gründlich auszuschlafen und mir später im Pub das Fußballspiel anzuschauen.

»Also, wo ist das Gespenst?«, fragte ich, als Abigail die Wohnungstür öffnete.

»Wieso seid ihr zu zweit?«, fragte Abigail. Sie war ein kleines dürres Mädchen gemischter Herkunft, deren helle Haut jetzt im Winter ziemlich fahl war.

»Das ist meine Kollegin Lesley May«, sagte ich.

Abigail starrte Lesley misstrauisch an. »Warum haben Sie ’ne Maske auf?«

»Weil mein Gesicht auseinandergefallen ist«, sagte Lesley.

Abigail überdachte das kurz und nickte dann. »Aha.«

»Also, wo ist es?«, wiederholte ich.

»Es ist ein Er«, sagte Abigail. »In der Schule.«

»Okay, gehen wir.«

»Was, jetzt? Es ist eiskalt!«

»Das haben wir schon gemerkt.« Es war ein trüber grauer Wintertag mit dieser Art fiesem kaltem Wind, der sich durch jede Ritze in der Kleidung bohrt. »Kommst du jetzt oder nicht?«

Sie zog die klassische Dreizehnjährigen-Protestschnute, aber ich war klar im Vorteil, da ich weder ihre Mutter noch ihr Lehrer war. Ich wollte nichts von ihr – ich wollte heim und Fußball schauen.

»Dann halt nicht«, sagte ich und drehte mich um.

»Hey, wartet«, rief sie. »Ich komme ja schon.«

Ich drehte mich wieder zu ihr um und bekam prompt die Tür vor der Nase zugeknallt.

»Sie hat uns nicht hereingebeten«, sagte Lesley.

»Nicht hereingebeten werden« ist eines der Kästchen auf dem »Verdächtiges Verhalten«-Bingozettel, den jeder Polizist im Kopf mit sich herumträgt, zusammen mit »Abnorm riesiger Hund« oder »Hat viel zu schnell ein Alibi zur Hand«. Wer am Ende in allen Kästchen ein Kreuz vorweisen kann, hat gute Aussichten auf einen Besuch in der nächsten Polizeistation – Unkosten werden übernommen.

»Es ist Sonntagmorgen«, sagte ich. »Wahrscheinlich liegt ihr Dad noch im Bett.«

Wir beschlossen, im Auto auf sie zu warten, und vertrieben uns die Zeit damit, die Provianttüten der Überwachungen des letzten Jahres zu sichten. Wir fanden eine unangebrochene Rolle Fruchtgummis, und Lesley hatte mir gerade befohlen, wegzuschauen, damit sie die Maske anheben und sich eines in den Mund stecken konnte, da tippte Abigail ans Fenster.

Wie ich hatte Abigail ihre Haare vom »falschen« Elternteil geerbt, aber während man sie mir, als ich ein Junge war, einfach superkurz abrasierte, wurde Abigail von ihrem Vater reihum zu allen verfügbaren Friseursalons, weiblichen Verwandten und eifrigen Nachbarinnen geschleppt, um das Problem unter Kontrolle zu bekommen. Von Anfang an hatte Abigail sich das Haar nur unter Heulen und Zähneklappern flechten, chemisch glätten oder mit Heizwicklern bearbeiten lassen, aber ihr Dad blieb bei seinem festen Vorsatz, dass sie ihn in der Öffentlichkeit nicht blamieren sollte. Die Sache nahm erst ein Ende, als Abigail mit elf erklärte, sie habe die Nummer des Kinder-Sorgentelefons im Handy gespeichert, und der Nächste, der ihr mit Haarverlängerungen, Glattmachern oder, Gott behüte, einem Bügeleisen zu nahe käme, werde sich vor dem Jugendamt verantworten müssen. Seither trug sie ihren wachsenden Afro in einer Art Kugel auf dem Hinterkopf. Da die nicht in die Kapuze ihrer pinkfarbenen Winterjacke passte, trug sie eine gigantische Rasta-Mütze, mit der sie aussah wie ein rassistisches Klischee aus den Siebzigern. Meine Mum hält Abigails Haare für ein öffentliches Ärgernis, aber immerhin schützte die Kopfbedeckung ihr Gesicht einwandfrei vor dem Nieselregen.

»Was ist mit dem Jaguar passiert?«, fragte Abigail, als ich ihr die hintere Tür aufmachte.

Mein Boss besitzt einen originalen Jaguar Mark 2 mit 3,8-Liter-Hubraum, der, weil ich ihn ein paarmal im Innenhof geparkt hatte, bereits Eingang ins Reich der örtlichen Sagen und Mythen gefunden hatte. Einen Oldtimer dieser Klasse findet selbst die Jugend des digitalen Zeitalters noch cool – der knallorange Ford Focus ST, in dem wir gekommen waren, galt hingegen nur als schlappe Assi-Karre, in einschlägigen Kreisen auch als Asbo bekannt.

»Der ist tabu«, sagte Lesley. »Bis Peter den Polizei-Fahrlehrgang gemacht hat.«

»Weil du neulich den Rettungswagen in der Themse versenkt hast?«, fragte Abigail.

»Ich hab ihn nicht in der Themse versenkt.« Ich lenkte den Asbo auf die Leighton Road und brachte die Rede schnell wieder auf das Gespenst. »Wo in der Schule spukt es denn?«

»Nicht in der Schule. Darunter. Wo die Bahnschienen sind.«

Die Schule, von der sie sprach, war die Gesamtschule Acland Burghley, in der schon zahllose Generationen von Bewohnern des Peckwater Estate geschmachtet hatten, einschließlich meiner Wenigkeit. Wobei »zahllos« nicht ganz stimmt, weil die Schule erst Ende der sechziger Jahre erbaut wurde – also sagen wir mal, vier. Maximal.

Die Schule lag ein Stück den Dartmouth Park Hill hinauf. Entworfen hatte sie offensichtlich ein glühender Bewunderer von Albert Speer – insbesondere von dessen festungstechnischen Monumentalwerken am Atlantikwall. Mit ihren drei Türmen und den dicken Betonwänden war die Schule bestens geeignet als Befestigungsanlage für die strategisch wichtige fünfstrahlige Kreuzung am Tufnell Park, denn von hier aus hätte man jede anstürmende Schwadron der Islingtoner leichten Infanterie mühelos von der Hauptstraße fegen können.

Ich parkte in der Ingestre Road, hinter dem Schulgelände, und wir gingen knirschend den Schotterweg entlang, der zur Fußgängerbrücke über die Eisenbahnlinie führt. Die Linie besteht aus zwei Doppelgleisen, von denen das hangabwärts gelegene Paar mindestens zwei Meter tiefer verläuft als das andere, so dass wir auf der alten Brücke erst mal zwei rutschige Treppenabschnitte überwinden mussten.

Vor uns lag die Betonplattform, die man über die Bahntrasse gebaut hatte, um darauf die Sportanlagen und den Spielplatz der Schule unterzubringen. Die beiden so entstandenen Unterführungen wirkten von der Fußgängerbrücke aus (ganz im Einklang mit der übrigen Architektur) wie die Eingänge zu zwei U-Boot-Bunkern.

Abigail deutete auf den linken Tunnel. »Da unten.«

»Du bist zu den Gleisen runtergeklettert?«, fragte Lesley streng.

»Ich war vorsichtig.«

Das beruhigte weder mich noch Lesley. Bahngleise sind tödlich. Jedes Jahr kommen etwa sechzig Leute zu Tode, weil sie leichtsinnig irgendwelche Bahngleise überqueren. Der einzige Lichtblick dabei ist, dass dafür die BTP – die British Transport Police – zuständig ist und nicht ich.

Ein anständig ausgebildeter Polizist muss, bevor er etwas so Idiotisches tut wie ein Eisenbahngleis zu betreten, geschwind eine Risikoanalyse durchführen. Das korrekte Vorgehen wäre gewesen, qualifizierte Unterstützung von der BTP anzufordern, die sodann – eventuell – das Gleis sperren würde, damit ich und Abigail, Verzeihung: Abigail und ich, in Ruhe auf Gespensterjagd gehen konnten.

Die BTP nicht anzufordern hatte den Nachteil, dass, falls Abigail etwas passierte, meine Karriere zu Ende wäre und, da ihr Vater zum alten Schlag westafrikanischer Patriarchen gehörte, mein Leben wahrscheinlich auch. Sie anzufordern hatte hingegen den Nachteil, dass ich ihnen würde erklären müssen, wonach wir suchten, und mich so zum Objekt allgemeiner Belustigung machen würde. Wie jeder junge Mann seit Anbeginn der Zeit zog ich die tödliche Gefahr der sicheren Blamage vor.

Lesley meinte, wir sollten wenigstens zuerst den Fahrplan konsultieren.

»Es ist Sonntag«, sagte Abigail. »Die machen heute den ganzen Tag Gleisarbeiten.«

»Woher weißt du das?«, wollte Lesley wissen.

»Ich hab nachgeschaut. Warum ist Ihr Gesicht auseinandergefallen?«

»Weil ich den Mund zu weit aufgerissen hab.«

»Wie kommen wir da runter?«, unterbrach ich schnell.

Auf dem billigen Baugrund beidseits der Bahnlinie standen Sozialwohnblocks. Hinter dem Fünfziger-Jahre-Hochhaus auf der Nordseite gab es ein kleines regendurchweichtes Rasenstück mit einem Saum aus Gebüsch. Es grenzte an den Maschendrahtzaun, hinter dem die Schienen lagen. Durch das Gebüsch führte ein Tunnel in Kindergröße zu einem Loch im Zaun. Gebückt folgten wir Abigail hindurch. Lesley kicherte, als mich ein paar klatschnasse Zweige mitten ins Gesicht trafen. Sie blieb kurz hocken und untersuchte das Loch genauer. »Eine Drahtschere war da nicht am Werk. Ich würde sagen, natürlicher Verschleiß, vielleicht Füchse.«

Den Zaun entlang zog sich ein lockerer Bodenbelag aus leeren Chipspackungen und Getränkedosen. Lesley stocherte mit dem Fuß darin herum. »Die Junkies waren noch nicht hier – ich seh keine Nadeln.« Sie blickte Abigail an. »Woher weißt du von dem Loch?«

»Man sieht’s von der Brücke aus.«

Mit möglichst viel Abstand zu den Gleisen gingen wir unter der Fußgängerbrücke hindurch in den Betonschlund unter dem Sportplatz. Die Wände waren bis in Kopfhöhe mit Graffiti überzogen: sorgfältig gemalte Ballonbuchstaben in ausgebleichten Primärfarben, darüber jede Menge schlampig hingekritzelte Tags, ausgeführt mit allem Möglichen, von Sprühdosen bis zu dicken Filzschreibern. Es gab auch ein paar Hakenkreuze, trotzdem glaubte ich nicht, dass es Admiral Dönitz hier gefallen hätte.

Immerhin bot der Tunnel Schutz vor dem Nieselregen. Wegen der flachen Decke und der enormen Größe wirkte er wie eine leer stehende Lagerhalle. Es roch nach Urin, aber zu stechend für Menschen – Füchse wahrscheinlich, dachte ich.

»Wo hast du es gesehen?«, fragte ich.

»Ihn. In der Mitte, wo’s dunkel ist.«

Wo sonst, dachte ich.

Lesley wollte von Abigail wissen, was sie sich dabei gedacht hatte, überhaupt hier reinzugehen.

»Ich hab den Hogwarts-Express gesucht.«

Nicht den echten, wie sie sofort einräumte. Weil, den gab’s ja nur in den Büchern, stimmt’s? Aber ihre Freundin Kara, von deren Wohnung aus man die Gleise sehen konnte, hatte erzählt, dass sie dort ab und zu eine Dampflok sah, von der sie glaubte, es könne die sein, die man verwendet hatte.

»Also, im Film«, sagte Abigail.

»Und warum konntest du sie dir nicht einfach von der Brücke aus anschauen?«, fragte Lesley.

»Sie fährt zu schnell. Ich muss die Räder zählen. Die im Film ist nämlich eine GWR 4900 Klasse 5972 mit 4-6-0-Konfiguration.«

»Ich wusste gar nicht, dass du eine Trainspotterin bist«, sagte ich.

Abigail knuffte mich in den Arm. »Bin ich nicht. Die sammeln doch nur Zahlen. Ich wollte eine Theorie überprüfen.«

»Und, hast du die Lok gesehen?«, fragte Lesley.

»Nein. Nur den Geist. Und deshalb wollte ich, dass Peter mit herkommt.«

Ich fragte, wo sie das Gespenst gesehen habe, und sie zeigte uns die Markierung, die sie gemacht hatte.

»Du bist sicher, dass es genau hier aufgetaucht ist?«

»Er«, sagte Abigail. »Ich hab schon tausendmal gesagt, dass es ein Er ist.«

»Momentan ist er jedenfalls nicht da«, bemerkte ich.

»Natürlich nicht«, sagte sie. »Wenn er die ganze Zeit da wäre, hätte ihn sicher schon mal jemand erwähnt.«

Das war ein gutes Argument, und ich nahm mir vor, die Berichte im Folly durchzugehen, sobald ich zurück war. Neben der Allgemeinen Bibliothek hatte ich dort ein Magazin mit Aktenschränken voller Papiere aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. Darunter waren Notizbücher mit handschriftlichen Aufzeichnungen über Geistererscheinungen – es sah fast so aus, als wäre Ghostspotting ein Lieblingshobby der heranwachsenden Zauberschüler von anno dazumal gewesen.

»Hast du ein Foto gemacht?«, fragte Lesley.

»Ich hatte mein Handy ja schon in der Hand, wegen dem Zug«, sagte Abigail. »Aber als mir einfiel, dass ich ein Foto machen könnte, war er schon wieder weg.«

»Spürst du was?«, fragte Lesley mich.

Als ich die Stelle betrat, wo das Gespenst gestanden hatte, wehte mich ein kalter Luftzug an, und durch den Mix aus Fuchsurin und nassem Beton drangen ein Hauch von Propan oder Butan, ein fieses Kichern und das tiefe Wummern eines sehr großen Dieselmotors.

Wo Magie gewirkt wurde, hinterlässt sie Spuren. Unser Fachausdruck dafür ist Vestigia. In Stein wird sie am besten gespeichert, in Lebewesen am schlechtesten. Beton ist fast so gut wie Stein, trotzdem sind die Spuren häufig schwach und kaum von den Produkten der eigenen Fantasie zu unterscheiden. Das eine vom anderen zu trennen ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man sich aneignen muss, wenn man zaubern lernen will. Die Kälte kam vermutlich vom Wetter, das fiese Kichern – eingebildet oder real – von Abigail. Der Propangeruch und das Motorgedröhn deuteten auf die übliche Tragödie hin.

»Und?«, fragte Lesley. Was Vestigia angeht, bin ich besser als sie, und nicht nur deshalb, weil ich schon länger in Ausbildung bin.

»Hier ist was«, sagte ich. »Willst du ein Licht machen?«

Lesley entfernte den Akku aus ihrem Handy und wies Abigail an, das Gleiche zu tun. Als diese zögerte, sagte ich: »Mikrochips, auf denen Saft ist, werden durch Magie zerstört. Wenn du nicht willst, musst du nicht. Es ist dein Handy.«

Abigail zog das letztjährige Ericsson-Modell hervor, ließ es mit geübter Leichtigkeit aufschnappen und nahm den Akku heraus. Ich nickte Lesley zu – mein Handy besitzt eine manuelle Sicherung, die ich mit Hilfe eines meiner Cousins angebracht habe, der schon mit zwölf Handys auseinandergenommen hat.

Lesley streckte die Hand aus, sprach das Zauberwort, und über ihrer offenen Handfläche erschien eine etwa golfballgroße Lichtkugel. Das Zauberwort lautete in diesem Fall Lux, und die gebräuchliche Bezeichnung für den Zauber ist Werlicht – es ist der erste Zauber, der einem beigebracht wird. Lesleys Werlicht leuchtete perlweiß und warf weiche Schatten an die Betonwände des Tunnels.

»Krass!«, rief Abigail. »Ihr könnt echt zaubern.«

»Da ist er«, sagte Lesley.

An der Wand erschien ein junger Mann. Er war weiß, um die zwanzig und hatte eine hochgegelte, unnatürlich blonde Stachelmähne. Seine Kleidung bestand aus billigen weißen Turnschuhen, Jeans und einer Donkeyjacke. Er hielt eine Spraydose in der Hand, die er in einem sorgfältigen Bogen über den Beton führte. Das Zischen war kaum hörbar, und keine frische Farbe traf die Wand. Als er unterbrach, um die Dose zu schütteln, hörte man das Klappern nur ganz gedämpft.

Lesleys Werlicht wurde schwächer und rötlich.

»Dreh’s ein bisschen auf«, bat ich sie.

Sie konzentrierte sich, und das Werlicht flammte auf, ebbte aber sofort wieder ab. Das Zischen wurde lauter, und jetzt konnte ich sehen, was er sprayte. Er hatte sich ganz schön was vorgenommen – einen Satz, der ganz am Anfang des Tunnels begann.

»Bunt ist das Da …«, las Abigail. »Was soll denn das heißen?«

Ich legte den Finger an die Lippen und wechselte einen Blick mit Lesley, die mir mit einer Geste bedeutete, dass sie den Zauber, falls nötig, den ganzen Tag würde aufrechterhalten können. Nicht dass ich ihr das je erlaubt hätte. Ich zog mein Standard-Polizeinotizbuch aus der Tasche und zückte meinen Kuli.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich in meinem besten Polizistenton. »Darf ich Sie kurz etwas fragen?« Den Polizistenton bringen sie einem tatsächlich in Hendon bei. Das Ziel ist, einen Tonfall zu entwickeln, der unfehlbar durch jeglichen Dunst aus Alkohol, blinder Wut oder unbestimmt schlechtem Gewissen dringt, in dem der angesprochene Bürger sich gerade befinden mag.

Der junge Mann ignorierte mich. Er zog eine zweite Spraydose aus der Jackentasche und begann die Konturen eines großen S zu sprühen. Ich versuchte es noch ein paarmal, aber er schien fest entschlossen, zuerst das Wort DASEIN fertigzustellen.

»Heda, Freundchen«, rief Lesley. »Aufhören! Dreh dich um und antworte!«

Das Zischen hörte auf, die Spraydosen verschwanden in den Taschen, und der junge Mann drehte sich um. Er hatte ein scharf geschnittenes bleiches Gesicht, und seine Augen waren hinter einer getönten Ozzy-Osbourne-Brille verborgen.

»Ich bin beschäftigt«, sagte er.

»Das sehen wir«, gab ich zurück und zeigte ihm meinen Dienstausweis. »Wie ist Ihr Name?«

»Macky.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Ich bin beschäftigt.«

»Womit denn?«, fragte Lesley.

»Ich mach die Welt besser.«

»Ein Gespenst!«, sagte Abigail ungläubig.

»Du hast uns doch hergeschleppt«, versetzte ich.

»Ja, aber beim ersten Mal war er dünner«, sagte sie. »Viel dünner.«

Ich erklärte, dass er aus der Magie, die Lesley erzeugte, Kraft zog. Das führte zu der unvermeidlichen Frage.

»Und was ist Magie?«

»Wissen wir nicht. Es ist keine Form elektromagnetischer Strahlung. Das weiß ich.«

»Vielleicht Hirnströme«, schlug Abigail vor.

»Unwahrscheinlich. Die sind elektrochemischen Ursprungs, und sie müssten sich außerhalb des Kopfes auf irgendeine physikalische Art fortpflanzen.« Ich sollte einfach behaupten, Magie entstünde durch Feenstaub oder Quantenverschränkung (was im Prinzip das Gleiche ist wie Feenstaub, nur mit dem Wort »Quanten« drin).

»Reden wir jetzt mit diesem Typen oder nicht?«, fragte Lesley. »Sonst mache ich das hier jetzt nämlich aus.« Sie ließ das Werlicht auf ihrer Handfläche herumhüpfen.

»He, Macky«, rief ich. »Eine Sekunde Ihrer kostbaren Zeit, ja?«

Macky war wieder an seine Arbeit gegangen. Er konturierte soeben das D von UND.

»Ich bin beschäftigt«, sagte er. »Ich mach die Welt besser.«

»Und auf welche Art wollen Sie das tun?«, fragte ich.

Macky beendete das D zu seiner Zufriedenheit und trat zurück, um sein Werk in Augenschein zu nehmen. Wir alle hatten die ganze Zeit darauf geachtet, so weit wie möglich von den Gleisen wegzubleiben, aber entweder ging Macky gern mal ein Risiko ein, oder (wahrscheinlicher) er dachte schlicht und einfach nicht mehr daran. Ich sah, wie Abigail mit den Lippen die Worte Oh Scheiße formte, als sie erkannte, was passieren würde.

»Ich«, sagte Macky, und dann erwischte ihn der Geisterzug.

Unsichtbar und stumm raste er an uns vorbei, bemerkbar nur durch eine heiße Dieselwolke. Macky wurde von den Gleisen geschleudert und landete verkrümmt genau unter dem S von DASEIN. Man hörte ein Röcheln, sein Bein zuckte noch ein paar Sekunden, dann lag er ganz still. Und begann zu verblassen und mit ihm sein Graffiti.

»Kann ich aufhören?«, fragte Lesley. Das Werlicht war noch immer schwach – die Magie wurde weiter abgezweigt.

»Augenblick noch«, bat ich.

Ein leises Klappern erklang. Als ich zum Tunneleingang blickte, sah ich, wie dort eine verschwommene, durchsichtige Gestalt den Umriss eines B an die Wand sprühte.

Zyklisch wiederkehrend, notierte ich in mein Büchlein, möglicherweise ohne eigenständiges Denken?

Dann sagte ich Lesley, sie könne das Werlicht ausschalten. Macky verschwand. Vorsichtig gegen die Tunnelwand gepresst sah Abigail zu, wie Lesley und ich rasch den Schotterstreifen neben dem Gleis in Augenschein nahmen. Auf halbem Wege zum Eingang zog ich die gesprungenen, schmutzbedeckten Überreste von Mackys Brille aus dem Schotter. Ich behielt sie in der Hand und schloss die Augen. Was Vestigia angeht, sind sowohl Glas als auch Metall unberechenbar, aber ich fing ein paar ganz schwache Takte eines Rock-Gitarrensolos auf.

In mein Büchlein notierte ich eine kurze Beschreibung der Brille – als physischen Beleg für die Existenz des Gespensts – und fragte mich, ob ich sie ins Folly mitnehmen sollte. Würde es eine Auswirkung auf den Geist haben, wenn man etwas, was so eng mit ihm verbunden war, vom Tatort entfernte? Und falls der Geist dadurch zu Schaden käme oder vernichtet würde – spielte das eine Rolle? War ein Geist eine Person?

Ich kenne noch nicht einmal zehn Prozent der Bücher über Geister, die in unserer Bibliothek stehen. Eigentlich habe ich vor allem die Lehrbücher, die Nightingale mir empfohlen hat, gelesen, plus Sachen wie Wolfe und Polidori, über die ich während verschiedener Ermittlungen gestolpert bin. Aus dem, was ich gelesen habe, geht hervor, dass sich die offizielle Einstellung von Magiern zu Geistern über die Jahrhunderte stark verändert hat.

Sir Isaac Newton, der Begründer der modernen Magie, schien sie als ärgerlichen Schönheitsfehler in seinem wohlgeordneten Universum zu betrachten. Im 18. Jahrhundert kam eine wahnwitzige Manie auf, Geister zu klassifizieren wie Pflanzen oder Tiere, und während der Aufklärung entbrannte an ihnen eine bitterernste Diskussion über den freien Willen. Die Viktorianer waren strikt in zwei Lager gespalten. Das eine hielt sie für dringend zu rettende Seelen und das andere für eine Art Verschmutzung der spirituellen Sphäre, die exorziert gehörte. In den 1930er Jahren, als Relativitätstheorie und Quantenphysik die dicken Lederpolster in der Bibliothek des Folly erschütterten, schlug die Spekulation ein wenig über die Stränge, und die armen alten Geister wurden als leicht verfügbare Versuchskaninchen für alle möglichen magischen Experimente eingesetzt – es herrschte die Übereinkunft, sie seien kaum mehr als Grammophonaufnahmen vergangener Leben und besäßen daher etwa den gleichen ethischen Status wie Fruchtfliegen in einem Genlabor.

Da Nightingale dabei gewesen war, hatte ich von ihm mehr darüber wissen wollen, aber er erklärte, er habe sich damals kaum im Folly aufgehalten. Er sei im gesamten britischen Empire unterwegs gewesen, manchmal auch darüber hinaus. Ich hatte ihn gefragt, was er denn gemacht habe.

»Ich erinnere mich, dass ich eine Menge Berichte geschrieben habe. Aber ich war mir nie ganz sicher, zu welchem Zweck.«

Ich persönlich glaubte nicht, dass Geister »Seelen« waren, aber solange ich es nicht sicher wusste, war ich entschlossen, mich innerhalb der Grenzen der ethischen Korrektheit zu bewegen. Ich scharrte eine kleine Vertiefung in den Sand, genau dort, wo Abigail ihre Markierung gemacht hatte, und begrub die Brille darin. Dann notierte ich mir Uhrzeit und Ort, um es in der Akte im Folly zu vermerken. Lesley notierte sich die genaue Lage des Lochs im Zaun, aber ich war derjenige, der die BTP verständigen musste, weil sie offiziell noch krankgeschrieben war.

Wir kauften Abigail ein Twix und eine Dose Cola und nahmen ihr das Versprechen ab, den Gleisen in Zukunft fernzubleiben, Hogwarts-Express hin oder her. Ich hoffte, dass Mackys gespenstisches Dahinscheiden ein Übriges tun würde, um sie davon abzuhalten. Dann brachten wir sie wieder nach Hause und fuhren zurück zum Russell Square.

»Diese Jacke ist ihr zu klein«, sagte Lesley. »Und welches dreizehnjährige Mädchen geht Dampfloks anschauen?«

»Du glaubst, dass sie zu Hause Probleme hat?«

Lesley schob den Zeigefinger unter den Rand ihrer Maske und kratzte sich vorsichtig. »Von wegen hypoallergen, das blöde Ding.«

»Nimm sie doch ab«, schlug ich vor. »Wir sind gleich da.«

»Ich finde, du solltest eine vorsorgliche Meldung beim Jugendamt machen.«

»Hast du deine Zeit schon eingetragen?«, fragte ich.

»Nur weil du ihre Familie kennst, tust du ihr noch lange keinen Gefallen, wenn du das Problem ignorierst.«

»Ich werd mit meiner Mum reden«, versprach ich. »Wie viele Minuten waren es?«

»Fünf.«

»Eher zehn.«

Lesley sollte pro Tag nur eine begrenzte Menge Magie wirken. Das war eine der Bedingungen, unter denen Dr. Walid sie für ausbildungstauglich erklärt hatte. Außerdem musste sie alle Magie, die sie wirkte, notieren und einmal pro Woche in die Klinik tigern und den Kopf ins MRT stecken, damit Dr. Walid ihr Gehirn auf eventuelle Läsionen überprüfen konnte, die auf ein frühes Stadium hyperthaumaturgischer Zersetzung hinwiesen. Der Einsatz von zu viel Magie endet, wenn man Glück hat, in einem massiven Schlaganfall, und wenn man Pech hat, in einem tödlichen Aneurysma. Die Tatsache, dass vor der Erfindung der Magnetresonanztomografie das erste Warnzeichen für zu intensive magische Betätigung darin bestand, dass man tot umfiel, ist einer der Gründe, weshalb Magie nie zum Massenhobby wurde.

»Fünf Minuten«, sagte sie.

Wir einigten uns schließlich auf sechs.

Detective Chief Inspector Thomas Nightingale ist mein Vorgesetzter sowie mein Meister – nur im Sinne unseres Lehrverhältnisses, versteht sich. Sonntagabends treffen wir uns üblicherweise zu einem frühen Dinner im sogenannten Privaten Speisezimmer. Er ist ein winziges bisschen kleiner als ich, schlank, hat braune Haare und graue Augen und sieht aus wie vierzig, ist aber bedeutend älter. Obwohl er sich zum Dinner nicht umzukleiden pflegt, habe ich immer den starken Eindruck, dass er das nur aus Rücksicht auf mich unterlässt.

Es gab chinesisches Schweinefleisch in Pflaumensoße, allerdings schien Molly aus irgendeinem Grund der Meinung zu sein, die optimalen Beilagen dazu seien Yorkshirepudding und gedämpfter, karamellisierter Kohl. Wie üblich zog Lesley es vor, in ihrem Zimmer zu essen. Ich konnte das gut verstehen – es ist nicht leicht, Yorkshirepudding mit Anstand zu essen.

»Für morgen habe ich eine kleine Spritztour aufs Land für Sie geplant«, sagte Nightingale.

»Ach ja?«, fragte ich. »Wohin diesmal?«

»Henley-on-Thames.«

»Was gibt’s denn in Henley?«

»Möglicherweise einen der Little Crocodiles«, sagte Nightingale. »Professor Postmartin hat ein wenig für uns recherchiert und weitere Mitglieder aufgetrieben.«

»Der kann’s also auch nicht lassen, Detektiv zu spielen.«

Wobei Postmartin als Archivar und alter Oxford-Kenner bestens dafür geeignet war, jene Studenten aufzuspüren, von denen wir vermuteten, dass sie illegalerweise in Magie unterrichtet worden waren, die Mitglieder des »Little Crocodiles«-Club. Mindestens zwei von ihnen waren zu ausgewachsenen Magier-Scheißkerlen der schlimmsten Sorte herangereift: Der eine hatte seine aktive Zeit in den sechziger Jahren gehabt, der andere war quicklebendig und auf der Höhe seiner Kunst und hatte im Sommer versucht, mich von einem Dach zu pusten. Da das Haus fünfstöckig gewesen war, hatte ich das persönlich genommen.

»Ich glaube, Postmartin hat sich immer darin gefallen, den Amateurdetektiv zu geben«, sagte Nightingale. »Zumal wenn es hauptsächlich darum geht, sich mit Universitätsklatsch zu befassen. Außer dem Kandidaten in Henley glaubt er, einen weiteren hier in unserer schönen Stadt gefunden zu haben – und zwar im Barbican. Ich möchte, dass Sie sich morgen in Henley umschauen, nach Anzeichen suchen, dass der Mann ein Praktizierender ist, Sie wissen schon. Lesley und ich werden uns den anderen vornehmen.«

Ich wischte den Rest der Pflaumensoße mit meinem letzten Stück Yorkshirepudding auf. »Henley ist aber ganz schön weitab vom Schuss.«

»Umso mehr Grund für Sie, Ihren Horizont zu erweitern. Ich dachte mir, vielleicht würden Sie das gern mit einem seelsorgerischen Besuch bei Beverley Brook verbinden. Soweit ich weiß, lebt sie derzeit an diesem Abschnitt der Themse.«

An oder in der Themse?, fragte ich mich flüchtig. »Hört sich gut an.«

»Das dachte ich mir«, sagte Nightingale.

Erstaunlicherweise besitzt die Metropolitan Police kein Standardformular für Geistererscheinungen, also musste ich mir in Excel selber eines basteln. In alten Zeiten gab es auf jeder Polizeistation einen Katalogisierer – einen Beamten, dessen Aufgabe es war, eine Kartei mit Informationen über die örtlichen Ganoven, alten Fälle, Gerüchte und alles andere zu führen, was die blau uniformierten Streiter für Recht und Ordnung in die Lage versetzen mochte, im entscheidenden Moment die richtige Tür einzutreten. Oder wenigstens eine Tür im richtigen Viertel. In Hendon hat man einen solchen Katalogisierungsraum original belassen – ein staubiges Kämmerchen, dessen vier Wände bis unter die Decke mit Karteikästen ausgekleidet sind. Dieses Kämmerchen zeigt man den Auszubildenden und erzählt ihnen in gedämpftem Ton von den fernen Tagen im letzten Jahrhundert, als man Informationen noch auf Blätter aus Papier niederschrieb. In der heutigen Zeit loggt man sich – so man Zugangsberechtigung hat – in sein AWARE-Terminal ein und ruft CRIS auf, wo Straftaten registriert sind, Crimint + für Verbrechensanalysen, NCALT für Trainingsprogramme oder MERLIN, wo Straftaten an Kindern vermerkt werden, und bekommt innerhalb weniger Sekunden seine Informationen.

Das Folly als offizielle Lagerstätte aller Dinge, über die der rechtschaffene Polizeibeamte nicht gern redet und die er schon gleich gar nicht im elektronischen Datensystem herumschwirren haben will, wo Hinz, Kunz und jeder aufgeweckte Daily-Mail-Reporter sie in die Finger bekommen könnte, erhält seine Informationen auf die altmodische Art – mündlich. Empfänger ist in der Regel Nightingale, der die Meldung (ausnehmend leserlich, sollte ich hinzufügen) auf Papier festhält, welches ich abhefte, nachdem ich die wichtigsten Stichworte auf eine Karteikarte übertragen habe, die in die entsprechende Abteilung des Karteikataloges der Allgemeinen Bibliothek wandert.

Ich meinerseits tippe meine Berichte auf dem Laptop in mein Standardformular ein, drucke sie aus und hefte sie dann in der Bibliothek ab. Nach meiner Schätzung beherbergt die Allgemeine Bibliothek über dreitausend Akten, nicht eingerechnet die unkatalogisiert gebliebenen Ghostspotting-Kladden aus den dreißiger Jahren. Irgendwann würde ich sie alle in eine Datenbank eingeben – vielleicht, indem ich Molly das Tippen beibrachte.

Nachdem der Papierkram erledigt war, widmete ich mich eine halbe Stunde lang (mehr war wirklich nicht zu ertragen) Plinius dem Älteren, dessen Ruhm darauf gründet, dass er die erste Enzyklopädie der Welt schrieb und später etwas zu nahe am Vesuv vorbeischipperte, als der gerade seinen großen Tag hatte. Dann machte ich mit Toby eine Runde um den Russell Square, schaute noch auf ein Pint ins Marquis rein und verzog mich wieder ins Folly und ins Bett.

In einer Einheit, die aus einem Chief Inspector und einem Constable besteht, ist es nicht der Chief Inspector, der nachts Bereitschaftsdienst hat. Nachdem drei meiner Handys aus Versehen magisch durchgeschmort worden waren, schaltete ich mein viertes rigoros aus, wenn ich mich im Folly aufhielt. Das bedeutete aber, dass es im Falle eines Falles Molly war, die unten das Telefon abnahm und mich sodann informierte, indem sie so lange stumm in meinem Türrahmen herumstand, bis ich aus schierem kaltem Grauen aufwachte. Ein Schild »Bitte anklopfen« zeigte ebenso wenig Wirkung wie die Taktik, meine Tür fest abzuschließen und einen Stuhl unter die Klinke zu klemmen. Und ich schwärme für Mollys Kochkunst, aber einmal hätte sie beinahe mich aufgefressen. Deshalb war der Gedanke, dass sie ungeladen in mein Zimmer diffundieren könnte, während ich selig schlummerte, sehr kontraproduktiv für ebendiesen Schlummer. Aus diesem Grund verlegte ich mit Hilfe eines Kurators vom Technikmuseum in einigen Tagen Schufterei ein Koaxialkabel bis hinauf in mein Zimmer.

Wenn die allgewaltige Metropolitan Police meiner speziellen Dienste bedarf, schickt sie nun also ein Signal durch eine verdrillte Kupferleitung an ein Bakelittelephon mit einer elektrischen Glocke, das fünf Jahre vor meinem Dad das Licht der Welt erblickte. Es ist ein bisschen so, als würde man von einem ungewöhnlich musikalischen Presslufthammer geweckt, aber immer noch besser als die Alternative. Lesley nennt es das Batphone.

Es weckte mich kurz nach drei Uhr morgens.

»Aufstehen, Peter«, sagte Detective Inspector Stephanopoulos. »Wird Zeit, dass Sie mal wieder ein bisschen ordentliche Polizeiarbeit leisten.«

Montag

2
Baker Street

Was ich wirklich vermisse, sind Kollegen. Verstehen Sie mich nicht falsch, durch meine Stelle im Folly habe ich mindestens zwei Jahre Vorsprung in meiner Ausbildung zum Detective Constable gewonnen, aber da meine Einheit derzeit aus mir, Detective Chief Inspector Nightingale und vielleicht demnächst PC Lesley May besteht, kann ich nicht gerade behaupten, in der Masse unterzugehen. Das sind so Dinge, die man erst dann vermisst, wenn man sie nicht mehr hat – den Geruch der nassen Regenumhänge in der Umkleide, den Ansturm auf die Computer im Internetraum der Constables, wenn freitagmorgens die neuen Jobs ins System gestellt werden, die blöden Witze und das kollektive Gähnen bei der Einsatzbesprechung um sechs Uhr morgens. Dieses Gefühl, dass es viele um dich herum gibt, deren Dasein sich um ungefähr dieselben Dinge dreht wie dein eigenes.

Deshalb war es ein bisschen wie nach Hause zu kommen, als ich das Meer von Blaulichtern vor der U-Bahn-Station Baker Street erblickte. Hinter ihnen ragte als gestrenger Wächter die drei Meter hohe Statue von Sherlock Holmes empor, voll ausgerüstet mit Deerstalker-Kappe und Haschpfeife, der ein Auge darauf haben würde, dass unsere Arbeit auch den höchsten fiktionalen Ansprüchen genüge. Das Metallgitter vor dem U-Bahn-Eingang stand offen, und dahinter hatten sich ein paar PCs von der British Transport Police verschanzt, als hätten sie hier Zuflucht vor Holmes’ unerbittlichem Blick gesucht, aber wahrscheinlich war es eher die Kälte. Nach einem flüchtigen Blick auf meinen Dienstausweis winkten sie mich durch, in der berechtigten Annahme, dass nur ein Polizist so blöd sein konnte, sich in dieser Herrgottsfrühe draußen herumzutreiben.

Ich stieg die Treppe ins Zwischengeschoss mit den Fahrkartenschaltern hinunter. Die automatischen Barrieren standen alle feuerschutzgemäß offen. Ein paar Typen in Signalwesten und schweren Stiefeln standen herum, tranken Kaffee, unterhielten sich und daddelten auf ihren Handys herum. Die routinemäßigen Reparaturarbeiten fanden heute Nacht definitiv nicht statt – wir bitten die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.

Die Station Baker Street war 1863 eröffnet worden, aber ausgestattet ist sie mit cremefarbenen Kacheln, Holzverkleidungen und schmiedeeisernen Verzierungen aus den zwanziger Jahren, überwuchert von neuerem Unkraut aus Leitungen, Kabelkästen, Lautsprechern und Überwachungskameras.

Bei einem Kapitalverbrechen ist es selbst an einem so unübersichtlichen Tatort wie einer U-Bahn-Station nicht schwer, die Opfer zu finden. Man hält einfach Ausschau nach der größten Konzentration von Plastik-Schutzoveralls und begibt sich direkt dorthin. Hier war es das ferne Ende von Plattform 3, das aussah, als fände dort eine Milzbrandepidemie statt. Also definitiv Fremdverschulden – so viel Zuwendung bekommt kein Selbstmörder und auch nicht die fünf bis zehn Leute, die es jährlich fertigbringen, sich aus Versehen von einer U-Bahn überfahren zu lassen.

Plattform 3 war nach dem alten Cut-and-Cover-Verfahren gebaut worden, bei dem man ein paar Tausend Navvies – Eisenbahnbauer – einen verdammt tiefen Graben ausheben ließ, am Grund ein paar Gleise verlegte und oben wieder ein Dach drüberbaute. Da man damals noch Dampfloks einsetzte, war die Hälfte der Station nach oben offen, um den Dampf raus- und das Wetter reinzulassen.

Einen Tatort betritt man ganz ähnlich wie einen Club – wer nicht auf der Liste steht, hat beim Türsteher schon verloren. Die Liste war in diesem Fall Teil des Tatortprotokolls, die Rolle des Türstehers hatte ein streng dreinblickender BTP-Constable inne. Ich nannte ihm meinen Namen und Rang, und er schielte den Bahnsteig hinunter, wo eine kleine stämmige Frau mit unvorteilhaftem Bürstenhaarschnitt stand und uns finster anblickte. Das war Miriam Stephanopoulos, ihres Zeichens seit kurzem Detective Inspector, und ich begriff, dass das hier ihr erster Fall in ihrem neuen Rang war. Wir hatten schon einige Male zusammengearbeitet – das war vermutlich der Grund dafür, warum sie zögerte, bevor sie dem Constable zunickte. So bekommt man nämlich auch Zugang zu einem Tatort. Wenn man das Management kennt.

Ich schrieb mich ins Logbuch ein und nahm mir einen der Plastikoveralls, die über der Lehne eines Klappstuhls hingen. Dem Anlass entsprechend gekleidet trat ich dann zu Stephanopoulos hinüber, die Aufsicht über den Beweissicherungsbeamten führte, welcher seinerseits die Spurensicherer beaufsichtigte, die über das äußere Ende des Bahnsteigs wuselten.

»Morgen, Boss. Sie haben angerufen?«

»Peter«, sagte sie. In der Met geht das Gerücht, in einem Einmachglas neben ihrem Bett bewahre sie eine Sammlung menschlicher Testikel auf – Andenken an all die Männer, die so unklug waren, sich auf erheiternde Weise zu Stephanopoulos’ sexueller Orientierung zu äußern. Zudem gibt es Gerüchte, sie besitze jenseits der North Circular Road ein großes Eigenheim, in dem sie mit ihrer Partnerin Hühner züchtet, aber bisher habe ich noch nicht den Mut aufgebracht, sie danach zu fragen.

Der Bursche, der tot am Ende von Plattform 3 lag, hatte wohl einmal ganz gut ausgesehen, aber damit war es vorbei. Er lag auf der Seite, den Kopf auf den ausgestreckten Arm gebettet, mit gekrümmtem Rücken und angezogenen Beinen. Nicht ganz das, was die Pathologen als Embryostellung bezeichnen. Es wirkte eher wie die stabile Seitenlage.

»Wurde er bewegt?«, fragte ich.

»Der Stationsleiter hat ihn so gefunden«, sagte Stephanopoulos.

Seine Kleidung bestand aus modisch gebleichten Jeans und einem marineblauen Jackett über einem schwarzen Kaschmir-Rollkragenpulli. Das Jackett war aus teurem Stoff und saß perfekt – maßgeschneidert. Seltsamerweise trug er dazu ein Paar Doc Martens vom klassischen 1460er-Typ, also Stiefel, keine Schuhe. Sie waren von den Sohlen bis zum dritten Schnürloch schlammverkrustet. Das Leder über der Schmutzgrenze war mattiert, weich, ohne Risse – praktisch brandneu.

Er war weiß, bleiches Gesicht, gerade Nase, kräftiges Kinn. Wie gesagt, wahrscheinlich recht gut aussehend. Sein helles Haar war zu Emofransen geschnitten, die ihm strähnig in die Stirn hingen. Die Augen waren geschlossen.

All diese Details hatten sich Stephanopoulos und ihr Team sicherlich schon notiert. Während ich neben der Leiche in die Hocke ging, wartete ein halbes Dutzend Spurensicherer um mich herum darauf, von allem, was nicht niet- und nagelfest war, eine Probe einzusacken, während ein zweiter Trupp mit Schneidwerkzeugen hinter ihnen systematisch alles, was niet- und nagelfest war, abmontieren würde. Meine Aufgabe war anders geartet.

Vestigia