Ulrike Sammer

Entspannung erfolgreich vermitteln

Progressive Muskelentspannung und andere Verfahren

Klett-Cotta

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 1999 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jutta Herden, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von istockphoto/© Olgaorly

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89207-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10372-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20298-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Über die Entspannung

1.1 Einleitung

1.2 Die therapeutische Beziehung

1.3 Das Verständnis von Krankheits- und Gesundungsprozessen

1.4 Der Wirkmechanismus der Entspannung

1.5 Entspannungsverfahren – Die Geschichte ihrer wissenschaftlichen Entwicklung

1.6 Kleiner Überblick über verschiedene Entspannungsmethoden

1.6.1 Die Progressive Muskelentspannung und die Systematische Desensibilisierung

1.6.2 Das Autogene Training

1.6.3 Hypnose

1.6.4 Meditation

1.6.5 Yoga, Tai Chi

1.6.6 Imaginative Verfahren

1.6.7 Biofeedback

1.6.8 Funktionelle Entspannung und Atemtherapien

1.6.9 Weitere Methoden

2. Als Beispiel für eine gelungene Entspannungstechnik: Die Progressive Muskelentspannung

2.1 Was ist die Progressive Muskelentspannung?

2.2 Die Grundidee

2.3 Das System

2.4 Die Abweichungen

2.5 Innere Sätze

2.6 Überblick über die Anwendungsmöglichkeiten

2.7 Kontraindikationen und Grenzen

3. Die Voraussetzungen für ein optimales Entspannungstraining

3.1 Die Erwartungen der Klienten

3.1.1 Gedankenverbindungen zum Namen der Entspannungsmethode

3.1.2 Der Text der Ankündigung

3.1.3 Mündliche Empfehlungen

3.1.4 Fantasien

3.2 Die Entscheidung für das passende Setting

3.2.1 Einzelsitzungen

3.2.2 Kleingruppen

3.2.3 Großgruppen

3.3 Äußere Bedingungen

3.3.1 Der Rahmen für die Einzeltherapie

3.3.2 Der Rahmen für die Gruppentherapie

3.3.3 Der Umgang mit Geräuschen

3.4 Der richtige Therapeutenplatz

3.4.1 Der Einfluss der Lichtverhältnisse

3.4.2 Die Platzierung im Raum

3.4.3 Die Sitzhöhe

3.4.4 Eine variable Distanz

3.4.5 Die Energieströme

3.5 Die Persönlichkeit des Therapeuten

3.5.1 Ruhe

3.5.2 Kompetenz

3.5.3 Achtsamkeit, Konzentration und Aufmerksamkeit

3.5.4 Respekt

3.5.5 Toleranz

3.5.6 Diskretion

3.5.7 Klarheit

3.5.8 Verständnis für das Problem

3.5.9 Unterstützende und ermutigende Haltung

3.5.10 Beziehungsfähigkeit

3.5.11 Umgehen mit Angst, Schmerz und Hilflosigkeit

3.5.12 Stimme und Sprache

3.5.13 Ein Wort zum Berühren eines entspannten Klienten

4. Die Vermittlung der Entspannung oder »wie bring’ ich’s rüber?«

4.1 Vorangehende Empfehlungen für den Klienten

4.1.1 Sitzhaltung

4.1.2 Der Blick

4.1.3 Kleidung

4.1.4 Schweigepflicht im Kurs

4.2 Aufbau einer Einzel- oder Gruppensitzung

4.2.1 Einstimmung und Vorgespräch

4.2.2 Theorieteil

4.2.3 Entspannung

4.2.4 Nachgespräch

4.3 Die fruchtbaren Aspekte des begleitenden Gesprächs

4.3.1 Das Beseitigen von Missverständnissen

4.3.2 Das Ansprechen besonderer körperlicher Krisengebiete

4.3.3 Von der erlebten Achtsamkeit zum gegenseitigen Respekt

4.3.4 Ein Muster für die Beobachtung

4.3.5 Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit

4.3.6 Ein Zugang zur eigenen Körpersprache

4.3.7 Der Spiegel in den anderen Teilnehmern

4.3.8 Das Entwickeln eines Vokabulars für körperliche Empfindungen

4.3.9 Freies Assoziieren

4.3.10 Die Überleitung in psychotherapeutische Einzelarbeit

4.4 Die verschiedenen Kursabschnitte und ihre Besonderheiten

4.4.1 Der Anfang

4.4.2 Die Mitte

4.4.3 Die Endphase

4.5 Weiteres Beachtenswertes während und nach der Entspannungstherapie

4.5.1 Arbeitsunterlagen

4.5.2 Das Honorar

4.5.3 Bestätigungen

4.5.4 Follow up

4.5.5 Die Freiheit, den eigenen Stil zu finden

5. Probleme und ihre Lösungen

5.1 Körperliche Erschwernisse für die Entspannung

5.1.1 Während der Entspannung auftretende Beschwerden (Herzklopfen etc.)

5.1.2 Körperliche Hindernisse in manchen Regionen

5.1.3 Was tun, wenn bei einem Klienten sexuelle Erregung auftritt?

5.1.4 Empfindungen, die als ungewöhnlich erlebt werden

5.1.5 Muskelzuckungen und Muskelkrämpfe

5.1.6 Häufige Bewegungen

5.1.7 »Hörbare« Verkühlungen und Raucherhusten

5.1.8 Gehörschäden

5.1.9 Ungewollter Schlaf

5.2 Psychische Probleme der Klienten

5.2.1 Falsche Erwartungen

5.2.2 Mangelnde Kooperation durch zu wenig Motivation

5.2.3 Erfolgserwartungen und Ungeduld

5.2.4 Konzentrationsschwierigkeiten

5.2.5 Übungshindernisse während der Woche

5.2.6 Plötzlich auftauchende belastende Inhalte und Ängste

5.2.7 Wie gehe ich mit drohendem oder befürchtetem Kontrollverlust um?

5.2.8 Das Unvermögen, bestimmte Muskelgruppen (aus psychischen Gründen) zu entspannen

5.2.9 Der unbewusste Krankheitsgewinn

5.3 Probleme in der Interaktion zwischen Therapeuten und Klienten

5.3.1 Wenn Klienten lachen oder miteinander sprechen

5.3.2 Zu vermeidende Wörter und Formulierungen

5.3.3 Wie vermeide ich Kursabbrüche?

5.3.4 Die passende emotionale Distanz

5.3.5 Übertragungsprobleme zwischen Klient und Therapeut

5.4 Verschiedene Problemklienten

5.4.1 Die Skeptischen

5.4.2 Die Kritischen

5.4.3 Die »Männer- oder Frauenfresser«

5.4.4 Die Endlosredner

5.4.5 Die (allzu) Leistungsorientierten

5.4.6 Die beharrlich »Unaufmerksamen«

5.4.7 Die Trotzigen

5.4.8 Die »Lieben«

5.4.9 Die Unsicheren

5.4.10 Die »armen« Hypochonder und Körperphobiker

6. Vom Prinzip »Halten und Loslassen«

6.1 Das Gleichgewicht zwischen Halten und Loslassen

6.2 Wie kann Entspannung die Balance wiederherstellen?

6.3 Der individuelle Ausgleich – oder doch ein bisschen mehr?

Literatur

Vorwort

Es freut mich, dass Sie sich in den Dienst der Verbesserung der Lebensqualität anderer Menschen stellen wollen. Um Ihren Einstieg zu erleichtern, wurden die folgenden Kapitel geschrieben. Sie sollen helfen, unnötige Anfangsschwierigkeiten zu vermeiden.

Ich vermute, dass auf Sie zwei Tatsachen zutreffen:

Vielleicht haben Sie auch mein Entspannungsbuch »Halten und Loslassen« gelesen und Ihre eigenen Kurserfahrungen damit erweitert. Nun greifen Sie möglicherweise zu diesem Buch für zukünftige Kursleiter und wollen sich Zusatzinformationen und Tips für Ihre praktische Arbeit holen. Ich lade Sie dazu ein!

Es wäre gut, wenn Sie schon einige Erfahrungen mit Klienten hätten, weil sich dann für Sie die Zeilen mit mehr Leben füllen (es ist aber nicht unbedingt erforderlich).

Begleiten Sie mich durch die Problemfelder, vergleichen Sie das Gelesene mit dem Selbsterlebten und holen Sie sich Impulse für Ihre Arbeit! Da ich mich seit über zwanzig Jahren mit Entspannung intensiv befasse und mehrere Methoden erlernt habe, möchte ich meine Erfahrungen mit Ihnen teilen. Ich meine, dass nicht jeder Einzelne »das Rad neu erfinden« müsse.

Ich beziehe mich in meinen Ausführungen manchmal auf die Progressive Muskelentspannung. Ich bin aber überzeugt, dass auch Anhänger anderer Entspannungsverfahren viele nützliche Hinweise bekommen können. Meine Beschäftigung mit verschiedenen Methoden zeigte mir, dass es gerade bei den Voraussetzungen und Settingfragen Grundsätzliches zu beachten gilt. Die daraus resultierenden Empfehlungen sind daher von breiterer Gültigkeit.

Ich habe mich bemüht, ein griffiges und einfach verständliches Buch zu verfassen. Mit Absicht sollte der Wissenschaft nur ein minimaler Raum »zugeteilt« werden. Für Interessenten ausführlicherer Grundlagenforschung und Statistiken spezieller Gebiete gibt es Hinweise im Literaturverzeichnis. Das vorliegende Buch soll dazu anregen, bei Schwierigkeiten und praktischen Fragen während der Therapie nachzulesen und sich Hilfestellungen zu holen.

Ich möchte nicht versäumen, noch ein Wort über die jeweilige Anrede zu sagen: Häufig ist im Text die männliche Form gewählt, wo ich durchaus beide Geschlechter meine: der Therapeut, der Klient, der Patient und nicht die neue Form: die TherapeutIn, die KlientIn, die PatientIn. Es ist mir bewusst, dass ich (auch von meinem eigenen emanzipatorischen Standpunkt aus) unbefriedigend formulierte. Nun bin ich der Meinung, dass die neue Form eindeutig weiblich assoziiert ist. Vor allem beim lauten Lesen und Anhören des Wortes »die KlientIn« denkt man automatisch und sehr schnell an eine Frau, die krank, bedürftig, verletzlich und verletzt ist. Da Frauen in unserer Kultur von vorneherein sehr schnell zur »Kranken« und »Defekten« abgestempelt werden, möchte ich diese Tatsache nicht noch verstärken. Ich habe daher die Schwierigkeit, dass es zur Zeit keine wirklich befriedigende Lösung dieses Sprachproblems gibt.

Da ich selbst keine bessere Formulierung weiß, griff ich (mit schlechtem Gefühl und aus Verlegenheit) zur althergebrachten Variante. Alle Frauen mögen mir verzeihen – vielleicht fällt uns gemeinsam eine ideale Form ein.

Nun sei noch auf eine letzte Tatsache hingewiesen: Es gibt Bücher zum Erlernen der jeweiligen Methoden, die man den Klienten in die Hand geben kann. Und dann gibt es »gemischte« Klienten-Therapeuten-Bücher. Dieses Buch aber sollte speziell nur von Ihnen gelesen werden. Auch ein Therapeut hat ein Recht auf »Karten«, in die er sich nicht von jedem schauen lassen muss.

Nun wünsche ich nur noch: Gutes Gelingen!

Wien, Januar 1999

1. Über die Entspannung

1.1 Einleitung

Als ich vor etwa 23 Jahren erste konkrete Kontakte mit Entspannungstherapien hatte, standen diese unter keinem besonders guten Stern. In einer sehr großen Gruppe wurden »Kochrezepte« vermittelt. Es gab weder ausreichende Erklärungen über die Methode, noch war der persönliche Austausch zwischen den Teilnehmern und mit dem Kursleiter gefragt. Was sich wirklich in den Gehirnen und Körpern der Gruppenmitglieder abspielte, wusste niemand. Meine Zufriedenheit über das Gelernte hielt sich dementsprechend in Grenzen.

Nun wurden damals noch nicht so viele Alternativen angeboten wie heutzutage. Ich blieb daher (vorderhand) bei dieser Methode, weil ich grundsätzlich von der Sinnhaftigkeit von Entspannung tief überzeugt war. Da ich mich jedoch nicht mit »Kochrezepten« zufrieden geben wollte, war ich immer noch weiter auf der Suche: teils spielerisch im Ausprobieren etlicher Methoden, teils systematisch durch die (in den 70er Jahren nicht gerade üppige) einschlägige Literatur.

Dann begann meine psychotherapeutische Arbeit am Tiefenpsychologischen Institut und später an der Verhaltenstherapeutischen Station der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien. Es gab viele Probleme, die von den Patienten »serviert« wurden, und einige wenige Ansätze zur Hilfe. In diesen sehr fruchtbaren Jahren huldigte man zum Teil dem sehr pragmatischen und auch kreativen Standpunkt: Man kann (fast) alles machen, sofern man weiß, was und warum man es tut!

Dieser Satz wurde eines meiner Lebensprinzipien. Aber – wie ärmlich nahm sich gar mancher Entspannungskurs unter dieser »Lupe« aus. Ich hatte nicht den Eindruck, dass viele Kursleiter wussten, welche Wirkung die verschiedenen Schritte »ihrer« Methode zeigten. Aber noch viel weniger waren ihnen die Auswirkungen der Begleitumstände bewusst.

Wie wir heute aus unserer Berufserfahrung wissen, bestimmt keineswegs nur die Diagnose die Indikation zu einem bestimmten Heilungsweg. Auch persönliche Faktoren auf beiden Seiten sind dafür ausschlaggebend, ob sich ein Klient von einer bestimmten Form der Psychotherapie, vermittelt durch einen bestimmten Therapeuten, angesprochen fühlt. Es lohnt sich daher, sich diesen individuellen »Kleinigkeiten«, die im therapeutischen Prozess kaum jemals thematisiert werden, zuzuwenden.

Alle psychotherapeutischen Richtungen bemühen (und bemühten) sich um eine Definition ihrer Arbeit. Gemeinsam ist den verschiedenen Aussagen, dass im Rahmen von Psychotherapie eine zwischenmenschliche Beziehung systematisch zur Veränderung des Klienten eingesetzt wird.

Wie gestaltet sich nun diese Beziehung in der Entspannungstherapie? Welche Eigenschaften sollte ein Therapeut dazu einbringen? Was finden wir von Seiten des Klienten vor? Welche Erwartungen, Ängste, Persönlichkeitseigenheiten kommen auf uns Therapeuten zu? Mit welchen Problemen müssen wir uns herumschlagen und wie können wir sie lösen?

Die Fragen, die hier aufgeworfen werden, dienen alle dazu, sich auf mögliche Schwierigkeiten und Überlegungen schon im Voraus so einzustellen, dass optimale Bedingungen für eine Entspannungstherapie geschaffen werden.

Zunächst aber einige grundsätzliche Überlegungen über Entspannung.

1.2 Die therapeutische Beziehung

Jede Therapieform hat sich nicht nur Gedanken über die spezifische Form ihrer Wirkmechanismen, sondern auch der »heilenden« Beziehung gemacht. Über die Basisvoraussetzungen eines »guten« Therapeuten (die wir in 3.5 betrachten) hinausgehend, unterscheiden sich die Interaktionen in den verschiedenen therapeutischen Richtungen. So wird in der tiefenpsychologischen Arbeit besonderes Augenmerk auf Übertragung und Gegenübertragung sowie auf die Widerstandsphänomene gelegt. In den humanistisch orientierten Therapien ist dafür die unmittelbare Begegnung und die Modellfunktion des Therapeuten zentral.

Ich gewann den Eindruck, dass man in der Entspannungstherapie zwar Grundhaltungen (wie etwa die Empathie nach Carl Rogers) empfiehlt, dass darüber hinaus aber jeder Therapeut die Beziehungsstruktur einbringt, die er zufällig in anderen Therapierichtungen erlernt hat oder die er für richtig hält. Schlimmstenfalls werden gar keine Gedanken darüber angestellt.

Ich selbst finde den verhaltenstherapeutischen Ansatz über die Beziehungsstruktur in einem Entspannungskurs am zweckmäßigsten. (Wohlgemerkt: nur im Entspannungskurs! Ist aber jemand motiviert, auf der Entspannung aufbauend psychotherapeutisch weiterzuarbeiten, treten andere »Gesetze« in Kraft! In der Oberstufe des Autogenen Trainings oder in meinem System »Halten und Loslassen«, das ich in Kapitel 6 kurz beschreibe, wird z. B. tiefenpsychologisch vorgegangen.)

Die Verhaltenstherapie sieht sich primär als Hilfe für einen Problemlösungs- und Veränderungsprozess. Das Ziel sind die Bewältigung der Probleme des Klienten, derentwegen er zur Therapie kam, und die erwünschte Veränderung im Erleben und Verhalten. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Entspannungskurs etwa sechs Wochen dauert, so kann eine biographische Anamnese und deren Aufarbeitung nur sehr am Rande (bis gar nicht) geschehen. Die Lösungsorientierung muss sich auf das Hier und Jetzt bzw. auf die Zukunft beziehen. Die Vergangenheit spielt nur insofern eine Rolle, als sie zum gegenwärtigen Problem führte. Lernmechanismen (im Falle der Entspannungstherapie: körperliche und psychische) sind vor allem für die Veränderung zuständig. Sie kommen in einem zeitlich begrenzten, strukturierten Konzept (siehe verschiedene Kursabschnitte) zur Geltung. Der Therapeut ist dabei ein professioneller Verbündeter des Klienten bei der Problemlösung und gibt Hilfe zur Selbsthilfe.

1.3 Das Verständnis von Krankheits- und Gesundungsprozessen

Die Erkenntnisse der Bewusstseinsforschung und der Psychoneuroimmunologie zeigen, dass Verhalten, Erleben und Bewusstsein ein Ergebnis von willkürlicher oder unwillkürlicher Aufmerksamkeit ist. Das heißt, dass Menschen durch die vergangenen Erfahrungen und ihr Leid so beeinflusst sind, dass sie nur sehr einseitig wahrnehmen. Die Fokussierung auf den problematischen Teil ihres Lebens verstellt oft ihren Blick auf hilfreiche neue Muster. Das trägt wieder dazu bei, dass die Krankheitsprozesse stabilisiert werden. Die damit verknüpften Reaktionen und Interaktionen mit der umgebenden Umwelt tragen ungewollt noch zur Verstärkung bei.

Daraus folgt, dass in einer Therapie, die aus psychosomatischen Krankheiten, psychischen Störungen und diversen Abhängigkeiten herausführen soll, die einseitig fixierten Aufmerksamkeitsmuster verändert werden müssen. Nur so kann eine Gesundung in Gang kommen.

Die leib-seelische Verbesserung entwickelt sich daher durch zwei spezielle Bestandteile einer Veränderung:

– die Ressourcenaktivierung und

– die aktive Hilfe zur Problembewältigung.

Eine Fülle von Forschungsergebnissen weist darauf hin, dass man Klienten besonders gut helfen kann, wenn man an ihre positiven Möglichkeiten und Fähigkeiten (also an ihre Ressourcen) anknüpft, statt ausschließlich den Blick auf die Defizite zu richten. Als besonders wesentlich ist dabei die ganz bewusst gestaltete therapeutische Beziehung (wie sie an mehreren Stellen dieses Buches beschrieben ist). Sie ist auch in der gebotenen Kürze eines Entspannungskurses »der« Wirkmechanismus. Die Bedeutung der Aktivierung dieser Ressource ist klar: Wenn ein in seinem Selbstwert angeschlagener Klient nicht auf seine Probleme reduziert wird, sondern sich auch in seinen positiven Seiten und Fähigkeiten erkannt und unterstützt fühlt, dann ist er bereits in einer erhöhten Aufnahmebereitschaft für mögliche Veränderungen und therapeutische Interventionen.

Unter aktiver Hilfe zur Problembewältigung wird verstanden, dass der Therapeut den Klienten mit geeigneten Maßnahmen (wie der Entspannung) darin unterstützt, mit einem bestimmten Problem besser fertig zu werden. Durch diese Hilfe soll und kann der Betroffene erfahren, dass er nun besser gewappnet ist und sich nicht mehr so ausgeliefert fühlen muss wie früher. Er bekommt unmittelbar Zutrauen, sich aktiv dem Problem Schritt für Schritt zu nähern, und wird dabei vom Therapeuten stützend begleitet. Im Übrigen hat (erfreulicherweise) jedes Entspannungsverfahren einen ganzheitlichen Ansatz ihres Krankheits- und Gesundheitsverständnisses.

Die traditionelle Medizin früherer Zeiten hatte intuitiv und selbstverständlich medizinische und psychologische Verfahrensweisen miteinander kombiniert. Erst die biologistische und apparative Medizin schuf eine Polarisierung. Ab diesem Zeitpunkt wurde bei allen Krankheiten und Missbehagen gefragt, ob das Leiden körperlich oder seelisch sei. Wie wir jetzt wissen, liegt das Problem im »oder«. Wer körperlich krank ist, dessen Psyche ist auch in Mitleidenschaft gezogen, und wer seelisch leidet, hat meist auch keinen gesunden Körper. Wenn wir uns nun wieder auf eine ganzheitliche Sicht rückbesinnen, so bietet sich die Entspannung, die gleichermaßen Körper und Seele »bedient«, an. Sie fügt die willkürlich getrennten Teile der menschlichen Natur wieder zu einer Einheit zusammen.

1.4 Der Wirkmechanismus der Entspannung

Die folgenden Bemerkungen über die Grundlagen der Entspannungsreaktion seien ein kleiner Überblick über die auftretenden Phänomene. Durch die Verkürzung der Darstellung entsteht eine starke Vergröberung, haben wir es doch mit überaus komplexen Vorgängen auf allen Ebenen der Muskeln, Nerven, Ausschüttungen von Wirkstoffen, hirnelektrischen Veränderungen und etlichen Regulationsvorgängen zu tun. In der Regel reicht der Überblick aus, um die gängigsten Klientenfragen zu beantworten und sich die wichtigsten Zusammenhänge einzuprägen. Es wäre allerdings empfehlenswert, die eigenen Kenntnisse zu vertiefen. Die meisten Hinweise bei Spezialfragen bieten sich in Literatur Nr. 42. Je nach Art und Herkunft einer Entspannungsmethode gibt es hauptsächlich körperliche oder psychische Veränderungen als ausgewiesene Zielvorstellung. Die Unterschiede der Hauptverfahren wollen wir uns im übernächsten Kapitel ansehen. Hier sei aber das Verbindende betont, nämlich die Entspannungsreaktion, die bei allen Verfahren gleichermaßen auftritt. Jede körperlich orientierte Methode (Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Biofeedback) hat auch eine psychische Wirkung und jede psychisch orientierte Methode (alle Meditationsarten) hat auch eine körperliche Wirkung. Da jeder Mensch eine untrennbare Einheit von Körper und Seele ist, kann er auch nur ganzheitlich reagieren. Das Reaktionsmuster der Entspannung gehört zum Verhaltensrepertoire, das in der Natur jedes Menschen verankert ist. Es ist also kein seltener Ausnahmezustand, muss aber in der Regel erst geweckt werden, da es in unserer westlichen Kultur nicht selbstverständlich schon kleinen Kindern vermittelt wird. Entspannung lässt sich aber von jedem Hilfesuchenden erlernen und durch Üben immer leichter und verlässlicher hervorrufen. So soll sich schließlich auf eigenen »Befehl« (d. h. durch Selbstinstruktion) ein durch klassische Konditionierung geschaffenes Muster in Gang setzen, das aus charakteristischen Veränderungen neurovegetativer und zentralnervöser Prozesse besteht.

Viele uninformierte Klienten verwechseln Entspannung mit Schlaf. Sie sind der Meinung, dass sie optimal entspannt sind, wenn sie binnen kurzer Zeit einschlafen. Wir wissen allerdings aus der hirnelektrischen Forschung (durch zahlreiche EEG-Ableitungen), dass sich die Schlafmuster eindeutig von den Entspannungsmustern unterscheiden. Es ist daher wichtig, auch den Klienten klarzumachen, dass sie dabei sind, etwas wesentlich Neues zu erlernen. Sie erweitern damit ihre Erlebnis- und Erfahrungsbereiche um eine andere Dimension.

Die Entspannungsreaktion ist an psychologischen und physiologischen Kennzeichen zu erkennen.

Folgende psychische Faktoren finden sich bei allen Entspannungsverfahren (darüber hinaus gibt es noch spezifische jeder einzelnen Methode):

Diese Wirkungen wurden durch Aussagen Übender eruiert.

Die nachfolgenden körperlichen Veränderungen konnten aber direkt durch verschiedene Apparate gemessen werden. Allen Methoden gemeinsam waren Auswirkungen auf folgenden Gebieten:

Zugrunde liegt eine durch die jeweilige Entspannungsmethode erlernte Umschaltung im neurovegetativen Nervensystem. Dieses besteht aus zwei Gegenspielern, die sich je nach Situation genial ergänzen: Der »Sympathikus« innerviert die glatte Muskulatur aller Organe, die Herzmuskulatur und manche Drüsen. Er wirkt in Richtung auf erhöhte Leistungsfähigkeit des Organismus, mobilisiert bei hohen Energieanforderungen und programmiert auf »Kampf«. Er steigert Puls- und Atemfrequenz, erhöht den Blutdruck, vermehrt die Schweißabsonderung und bremst Magen- und Darmtätigkeit. Diese bei großer Anstrengung durchaus sinnvolle körperliche Erscheinungsformen kennen wir aber auch als Begleiterscheinungen von Angst. Daher unterstützt die Entspannung zum Ausgleich die Tätigkeit des Gegenspielers, des »Parasympathikus«, der für die Erholungsphasen zuständig ist. Er innerviert unter anderem die Muskulatur und Drüsen des Magen-Darm-Traktes, der Sexualorgane, der Lunge sowie der Tränen- und Speicheldrüsen. Das bedeutet, dass nur in entspannten, parasympathikotonem Zustand z. B. die Verdauung oder ein befriedigendes Sexualleben gut funktioniert.

Die Umschaltung vom »Antreiber« Sympathikus zum »Beruhiger« Parasympathikus bzw. alle oben genannten Auswirkungen sehen wir bei sämtlichen Entspannungsarten. Von den Ähnlichkeiten gehen wir nun zu den Unterscheidungsmerkmalen: Zunächst in ihrer Entstehung und dann in einer kleinen Charakteristik.

1.5 Entspannungsverfahren – Die Geschichte ihrer wissenschaftlichen Entwicklung

Wie schon im Vorwort betont, versteht sich dieses Buch als pragmatischer Helfer bei den kleinen alltäglichen Nöten der Entspannungstherapeuten. Es erhebt keinen Anspruch, als wissenschaftliche Abhandlung zu gelten. Daher möge man mir verzeihen, dass ich mich nur auf wenige Absätze beschränke. Wer sich genauer informieren möchte, dem sei Lit. 42 und 10 empfohlen.

Die Geschichte der Entspannungsverfahren in unserer Kultur begann vermutlich mit Franz Anton Mesmer (1734–1815), einem Zeitgenossen und Freund der Familie Mozart, der in Wien und später in Paris eine florierende Praxis für »Magnetismus« betrieb. Er war überzeugt, dass das Universum (und daher auch die Menschen) von einem subtilen »Fluidum« erfüllt seien. Eine ungleiche Verteilung dieses Fluidums im Körper führe zu Krankheiten und dessen Ausgleich zur Heilung. Wenn auch Mesmers Theorien von der zeitgenössischen Medizin abgelehnt wurden (möglicherweise weil die zahlreichen Patientinnen Mesmers von Lustgefühlen berichteten und dieser Ausdruck der weiblichen Sexualität dazumal nicht akzeptiert wurde), war die Weiterentwicklung nicht mehr aufzuhalten.

James Braids (1795–1860) setzte einen wichtigen Impuls mit seiner Suggestionstheorie: Er führte den »magnetischen Schlaf«, wie er sich aus dem Magnetismus entwickelt hatte, nicht auf den Einfluss des Behandlers, sondern auf die innere Stimme des Patienten zurück. So wurde der Begriff der Selbstbeeinflussung oder Autosuggestion eingeführt.

Um die Jahrhundertwende erlebte der »Hypnotismus« (wie er nun genannt wurde) eine Blütezeit. Charcot, Freud und Ferenczi (um nur einige zu nennen) trugen an der Verbreitung und Erforschung wesentlich bei. Aus ihr entstand einerseits die heute verwendete Form der »Hypnose«, andererseits entwickelte J. H. Schultz (1884–1970) in den 20er Jahren daraus sein Konzept des Autogenen Trainings (als Selbsthypnose).

Parallel dazu forschte Edmund Jacobson (1885–1976) an einer Selbstentspannungstechnik auf der Grundlage psychophysiologischer Muskelaktivität und schuf die Progressive Muskelentspannung.

Seit den 60er Jahren sind Entspannungsverfahren intensiv beforscht worden. Sowohl ihre wissenschaftlichen Grundlagen als auch ihr klinischer Nutzen waren Inhalt zahlreicher Untersuchungen, deren Forschungsmethodik laufend verbessert wurde. Es gibt inzwischen so viele Studien, dass die Hauptvertreter der Entspannungsmethoden (allen voran das Autogene Training und die Progressive Muskelentspannung) sehr gut miteinander verglichen werden können.

In der Folge dieser Hinwendung zur Entspannung entwickelten sich neue Methoden wie z. B. die Funktionelle Entspannung, Feldenkrais-Arbeit, Bioenergetik und, im Zuge der Verbesserung der Technik, das Biofeedback.

Zusätzlich kamen aus anderen Kulturen Einflüsse: verschiedene fernöstliche Meditationstechniken, Yoga, Tai Chi (um nur einige zu nennen), die allesamt ihre Anhänger fanden und deren Erfahrungen auch in unser heutiges Wissen mit einfließt.

1.6 Kleiner Überblick über verschiedene Entspannungsmethoden

Wenn man mehrere Entspannungsmethoden miteinander vergleicht, fällt die Verschiedenartigkeit der Ansätze auf. In der Tat ging die Entwicklung der meisten Methoden (wie wir sahen) relativ unabhängig voneinander in diesem Jahrhundert vor sich. Sie wurden aus verschiedenen Quellen gespeist und hatten auch unterschiedliche Zielsetzungen. Da die Gründer der jeweiligen Schulen einerseits oft wenig voneinander wussten und andererseits in einer Zeit lebten, in der jeder »sein eigenes Süppchen kochte«, stellten sie ihre Methoden häufig als einzigartig dar. Die neuere Forschung und die Denkströmungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts suchen nun eher die Ähnlichkeiten als die Unterschiede der Verfahren. Und es zeigte sich, dass die Phänomene in den verschiedenen Entspannungsarten keineswegs spektakuläre Einzelerscheinungen sind, sondern zu den (normalen) Möglichkeiten gehören, die jedem Menschen innewohnen. Da diese ausgleichenden Alternativreaktionen aber in den meisten unausgebildet und ungeschult sind, braucht es Techniken, um an diese Reserven heranzukommen.

Die Unterschiede dieser Entspannungstechniken wollen wir in der Folge etwas beleuchten.

Zum klinischen Standardrepertoire gehören die sechs zur Zeit am besten beforschten Methoden:

Daneben gibt es noch einige andere Methoden, die durchaus sinnvoll fallweise eingesetzt werden (wie die Funktionelle Entspannung, Eutonie etc.).

Nachdem es offenbar häufig (bei Klienten, aber manchmal auch bei Therapeuten) Begriffsverwirrungen gibt, sind ein paar klärende Bemerkungen sicher angebracht.

1.6.1 Die Progressive Muskelentspannung und die Systematische Desensibilisierung

Edmund Jacobson war der Meinung, dass neurotische Störungen von übermäßigen Muskelspannungen begleitet sind. Er suchte nach einer Trainingsmethode, die es den Klienten ermöglichte, ihre Tätigkeiten unter besseren, entspannteren Bedingungen zu verrichten. In dem Wechsel zwischen Spannung und Entspannung verschiedener Muskeln wirkt der parasympathische Effekt der Entspannung der sympathikoton bedingten Angstreaktion entgegen und versucht sie aufzulösen (d. h. der eine Teil des vegetativen Nervensystems, der Parasympathikus, neutralisiert die stresserzeugende Wirkung des »Gegenspielers« Sympathikus).

Joseph Wolpe baute auf dieser Grundlage sein bei Phobien sehr häufig verwendetes Prinzip der Systematischen Desensibilisierung auf. Wolpe suchte 1958 nach einer Methode, wie man gelernte Ängste wieder verlernen könne. Er stieß auf die Progressive Muskelentspannung und fand in ihr den idealen Gegensatz zur ängstlichen Verspannung. Er reduzierte das Programm von Jacobson auf ein praktikables Maß und baute es in ein komplexes System ein: Zuerst muss jeder Klient (meist mit Hilfe des Therapeuten) eine Liste seiner persönlichen Angstauslöser erstellen. Nun werden die verschiedenen Situationen von »leicht« bis »besonders schwierig« geordnet und in eine Rangreihe (eine sogenannte »Angsthierarchie«) gebracht. Dann beginnt man bei der leichtesten Situation und koppelt den (noch erträglichen) Angstauslöser so lange mit je einer Entspannung vorher und nachher, bis sich die Angst auflöst. Diese erste Aufgabe könnte z. B. bei Klaustrophobikern das kurze Betreten eines Geschäftes sein. Im Folgenden werden dann langsam die nächsten Items angegangen, bis z. B. Liftfahren oder die Benützung der Bahn kein Problem mehr darstellt.

(Mehr über die Progressive Muskelentspannung in Kapitel 2)