image

Ingrid Bauer/Robert Hoffmann/Christina Kubek

Abgestempelt und ausgeliefert

Ingrid Bauer/Robert Hoffmann/Christina Kubek

Abgestempelt
und ausgeliefert

Fürsorgeerziehung und Fremdunterbringung
in Salzburg nach 1945

Mit einem Ausblick auf die Wende hin zur

Sozialen Kinder- und Jugendarbeit von heute

images

© 2013 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: order@studienverlag.at

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5716-0

Satz: Studienverlag/Georg Toll, www.tollmedia.at

Umschlag: Studienverlag/Kurt Höretzeder, Büro für Grafische Gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlagabbildung: Knabenheim Parsch in der Stadt Salzburg, Waschraum, Dezember 1962, Quelle und Copyright: Stadtarchiv Salzburg, aufgenommen durch die Fotostelle des Magistrats

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhalt

I.      Öffentliche Debatte, Forschungsauftrag, historische Studie – Eine Einleitung

1.  Auch in Österreich: Ehemalige Heim- und Pflegekinder klagen an

2.  Wille zur Aufarbeitung: Anlaufstellen, Opferkommissionen, Forschungsaufträge

3.  Die Salzburger Studie: Herangehensweise, Datenbasis, Aufbau

II.     „Jetzt soll die Öffentlichkeit wissen, was damals passiert ist!“ Erfahrungswelten und Lebensgeschichten von Betroffenen in Heimen, auf Pflegestellen – und danach

1.  Einleitende Überlegungen

2.  Über die Vergangenheit schweigen. Von der Vergangenheit sprechen

3.  Die Anfänge: „Verwahrlosung“ als Anlass für die „Fremdunterbringung“

3.1.  Familie und soziales Umfeld

3.2.  „Erziehungsschwierigkeiten“ und andere Motive für die „Kindesabnahme“

3.3.  Die Trennung von der Familie und die Rolle der Fürsorgerinnen

4.  Heime als Orte der Fremdunterbringung

4.1.  Stigmata und Vorbelastungen: Die Akte als unentrinnbare Begleiterin

4.2.  Was bedeutet „Geschlossene Erziehung“?

4.3.  Erste Facette der Geschlossenheit: (Räumliche) Isolation von der Außenwelt

4.4.  Zweite Facette der Geschlossenheit: Erziehung als systematische Isolation unter permanenter Kontrolle – Vereinzelung, interne Rivalitäten, streng geregelter Alltag, Zwang zur Arbeit

4.5.  Dritte Facette der Geschlossenheit: Disziplinierung, Zwang, Gewalt und Missbrauch als Auswüchse des Erziehungssystems

4.6.  Reaktionen und Überlebensstrategien der Kinder und Jugendlichen – Aggression, Flucht, Suizidversuche, Widerstand, Anpassung

5.  Erfahrungen auf Pflegeplätzen: Prügel, Verleumdungen, Arbeitszwang und sexueller Missbrauch

6.  Lebensentwürfe nach der „Fremdunterbringung“

6.1.  Das Ende der Erziehungsmaßnahme

6.2.  Leben nach und mit der Erfahrung als „Heim-“ und „Pflegekind“

III.   Gewalt, emotionale Kälte, Ausbeutung von Arbeitskraft – Zur Situation von Pflegekindern

1.  Die Pflegestelle als zeitweilig dominierende Form der Fremdunterbringung – und dennoch: kontinuierlicher Mangel an Plätzen

2.  Missstände, systemisches Versagen und fehlende Aufsicht

3.  Besondere Nöte der unehelichen Kinder sowie der Pflegekinder auf Salzburger Bauernhöfen

4.  Pflegekindheiten. Zwei Lebensgeschichten

4.1.  Peter Krug: „Ich habe mein Leben lang gelitten, dass ich mit niemandem reden habe können“

4.2.  Frau B.: „… das fünfte Wagenrad und (…) das achte Kind und halt nur zum Arbeiten da“

IV.   Endstation Erziehungsheim

1.  Heimerziehung in der Salzburger Jugendwohlfahrt

2.  Heime für männliche Fürsorgeerziehungszöglinge

2.1.  Zellhof bei Mattsee (Salzburg)

2.2.  Knabenheim Parsch/später Schülerheim Parsch (Stadt Salzburg)

2.3.  Caritas-Kinderdorf St. Anton in Bruck an der Glocknerstraße (Salzburg)

2.4.  Caritas-Erziehungsanstalt Steyr-Gleink (Oberösterreich)

2.5.  Landeserziehungsanstalt Jagdberg (Vorarlberg)

2.6.  Erziehungsheim Birkeneck (Bayern)

2.7.  Landeserziehungsheim Kleinvolderberg (Tirol)

2.8.  Die „Bubenburg“ in Fügen (Tirol)

2.9.  Bundeserziehungsanstalt Kaiserebersdorf (Wien)

2.10. „Lindenhof“ – Heim der Stadt Wien für Kinder und Jugendliche in Eggenburg (Niederösterreich)

2.11. Landes-Jugendheim Korneuburg (Niederösterreich)

2.12. Fürsorgeheim Linz-Wegscheid (Oberösterreich)

3.  Heime für weibliche Fürsorgeerziehungszöglinge

3.1.  Erziehungsheim vom Guten Hirten „St. Josef“ (Stadt Salzburg)

3.2.  Mädchenwohnheim „Haus Commonwealth“ (Stadt Salzburg)

3.3.  Landes-Erziehungsheim für Mädchen St. Martin/Schwaz (Tirol)

3.4.  Landeserziehungsheim Kramsach-Mariathal (Tirol)

3.5.  Benediktinerinnen-Erziehungsanstalt „Zum göttlichen Kinderfreund“, Scharnitz (Tirol)

V.     Die Heilpädagogische Ambulanz und Beobachtungsstation unter der Leitung von Dr. Ingeborg Judtmann

1.  Eine Schaltstelle der Salzburger Jugendwohlfahrt

2.  Zur Person von Dr. Ingeborg Judtmann

3.  Dr. Judtmanns Funktion in der Salzburger Jugendwohlfahrtspflege

4.  Gutachtenstätigkeit

5.  Exemplarische Ausschnitte aus Gutachten 1954–1980

6.  Berichte über körperliche und seelische Gewalt im „System Judtmann“

VI.    „Zwischenstation“ Arrestzelle Der lange Weg von der „Jugendauffangstation“ zur Krisenstelle 1971–1982 oder: ein 10-jähriger Streit um Zuständigkeiten auf Kosten von Kindern und Jugendlichen

VII.  Jugendwohlfahrt/Soziale Kinder- und Jugendarbeit im Längsschnitt: 1900–2000 Gesellschaftlicher Kontext, fachliche Diskurse, Institutionen und deren AkteurInnen

1.  Jugendfürsorge von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus

1.1.  Vorsozialstaatliche Jugendfürsorge bis 1918 – Armenhäuser, Besserungsanstalten, Zufluchtshäuser

1.2.  „Dringende Notwendigkeit zur Errichtung solcher Stellen“ – Von der Gründung des Landesjugendamts bis zum Anschluss

1.3.  „Volkswohl“ und „Minderwertigenfürsorge“ – Jugendwohlfahrt im Nationalsozialismus

2.  Jugendwohlfahrt in Zeiten von „Not und Elend“: 1945–1949

2.1.  Systemwechsel – Neuorganisation – „Allheilmittel“ Heimerziehung

2.2.  Problemlagen der Nachkriegsgesellschaft

2.3.  Die Erziehungsberatungsstelle des Instituts für vergleichende Erziehungswissenschaft 1946 bis 1955

3.  Die Neustrukturierung der Jugendwohlfahrt in der ersten Hälfte der „Ära Weißkind“: 1949–1960

3.1.  „Völlig unzulängliche Verhältnisse“ – Bestandsaufnahme bei Amtsantritt und Aufbau von Jugendwohlfahrtsinstitutionen

3.2.  Die Errichtung der Heilpädagogischen Ambulanz und Station

3.3.  Diagnose „Verwahrlosung“ als Handlungsmaxime

3.4.  Jugendwohlfahrt und bürgerliche Ordnungsvorstellungen in einer Zeit der beginnenden gesellschaftlichen Normalisierung

4.  Neue Richtlinien und alte Probleme

4.1.  Der lange Weg zum Jugendwohlfahrtsgesetz 1954 und zum Salzburger Ausführungsgesetz 1956

4.2.  Zuständigkeiten, Kostenkalküle und die Folgen

4.3.  Das Problem mit den sogenannten „Unerziehbaren“

5.  Die Sicht von Angehörigen der behördlichen Jugendwohlfahrt auf die Jahre 1945–1960

5.1.  „Bei Juristen galt das Jugendamt als ‚Strafposten‘“ – Geringes Prestige der Jugendwohlfahrt und auf sich gestellte Fürsorgerinnen

5.2.  „Maßnahmenvollzug“ – „Kindesabnahme“ – „Kilometertherapie“: (Selbst)kritische Rückblicke

5.3.  Klare Grenzziehungen zwischen Norm und Abweichung – Folgen dieses gesellschaftlichen Grundverständnisses der 1950er und frühen 1960er Jahre: ein Beispiel

6.  Neue fachliche Diskurse und Modelle, frühe AkteurInnen der Innovation, aber: Strukturen und Praxis in der Salzburger Jugendwohlfahrt stagnieren – die 1960er Jahre

6.1.  Herausforderungen der bodenständigen Fürsorge durch das anglosächsische Konzept professionalisierter Sozialarbeit

6.2.  „Bewährungshilfe“ für „Schützlinge“ – eine neue Denk- und Arbeitsweise

6.3.  Katastrophaler Personalmangel, ungenügende Ausübung der Aufsichtspflichten, institutionelle Lähmung – alte Realitäten der Salzburger Jugendwohlfahrt

6.4.  Rehabilitationszentrum Schloß Oberrain für Jugendliche mit Behinderungen: Modellprojekt einer wohlfahrtlichen Kooperation zwischen dem Amt der Salzburger Landesregierung und privaten Vereinen – Übergriffe eines nicht motivierten Personals

6.5.  „Die Türen wurden geöffnet“ – impulsgebender „Salzburger Weg der Psychiatrie“, Verbindungen hin zur Jugendwohlfahrt und: ein Ende von „als Kinder rein und nie wieder raus“

6.6.  Internationale und österreichische Heimkampagnen – gegenkultureller Druck auf die reformresistente Institution Erziehungsheim, Verlegungen Salzburger Kinder

7.  Vom Reformstau zu neuen Modellen und Arbeitskreisen für Strukturreform – Salzburger Jugendwohlfahrt in einer Zeit zunehmender Reformorientierung und steigenden sozialen Gewissens: 1970 bis 1985

7.1.  Modernisierungs- und Reformstau: Ausgangssituation

7.2.  Ein Pionierprojekt im beginnenden Reformklima – erste Salzburger sozialpädagogische Wohngemeinschaft für „gefährdete Jugendliche“

7.3.  „Auf jeden Fall auf der Seite der Benachteiligten“ – studentisches Engagement, das neue Interesse für Randgruppen, Psychologie als Leitwissenschaft und die Rolle des Salzburger Instituts für Psychologie

7.4.  Kein Großheim in Salzburg – Ende eines nie realisierten Vorhabens, Erweiterungen des Modells „Wohngemeinschaft“, und: „Unerziehbare“ Kinder gibt es nicht

7.5.  Statt „Politik von oben“ das „Prinzip der Kooperation“ – Einberufung von offenen Reformarbeitskreisen, Anerkennung freier Träger und Konkurrenz um die „Rosinen der Sozialarbeit“

7.6.  „Gründerzeit“: Erweiterung und Ausdifferenzierung der Angebote der Jugendwohlfahrt – stationär, ambulant, präventiv; vorerst nur im städtischen Raum

7.7.  Institutionelle versus sozialpädagogische Ansprüche – am Beispiel der Wohngemeinschaften des „Vereins Salzburger Jugendhilfe“

7.8.  Der kritische sozialwissenschaftliche Blick von außen – ergänzt um einen kritischen jugendamtsinternen Blick: Unterversorgung – Stadt-Land-Gefälle – Strukturdefizite der behördlichen Jugendwohlfahrt

8.  „Ein sehr gutes Gesetz“ – der partizipatorische Weg zur Salzburger Kinder- und Jugendwohlfahrtsordnung 1992

8.1.  „Leben in diese Gesetzwerdungsphase bringen“ – Partizipation mit Anlaufschwierigkeiten

8.2.  Vom „Gesetz von Beamten für Beamte“ zur damals „besten Kinder- und Jugendwohlfahrtsordnung Österreichs“, und: Qualität kostet Geld

8.3.  „Es ist aus heutiger Sicht absurd, dass früher diese Notwendigkeit nicht gesehen wurde“ – Fachaufsicht des Landes, Wohnformen-Verordnung 2000, Qualitätskontrolle, kija-Pilotprojekt „Externe Vertrauenspersonen fürs Großwerden außerhalb der Familie“

9.  Von der „Brauchbarmachung von Kindern und Jugendlichen“ zur Orientierung an ihrem Wohl und an ihren Rechten: Resümee aus dem Salzburger Längsschnitt 1945 bis 1992/2000 – aktuelle Diskussion um optimale Rahmenbedingungen in Österreich

9.1.  „Es hat sich viel verändert“ – Biografische Reflexionen über den Weg vom „Amtsmündel“ zur Sozialarbeiterin

9.2.  Beziehungsorientierte Arbeit und Orientierung an der Partizipation von Kindern und Jugendlichen – das braucht Vertrauen, Zeit und Geld; Ambivalenzen und Herausforderungen aktueller Jugendwohlfahrt: hellhörig bleiben für mögliche „dunkle Kapitel“ von heute und morgen

VIII. Statistische Befunde zur Jugendwohlfahrt im Land Salzburg 1946–2010

1.  Auswertungszeitraum: 1946 bis 1988

1.1.  Vorbemerkungen

1.2.  Gesetzliche Amtsvormundschaften

1.3.  Formen der Jugendwohlfahrtspflege

1.4.  Anteil der Heimunterbringung

1.5.  Unehelichenquote und Herkunft aus geschiedenen Familien

1.6.  „Ursachen“ der Fürsorgeerziehung

1.7.  Verteilung der Geschlechter

1.8.  Kostenaufwand

1.9.  „Erfolgsrate“ in der Fürsorgeerziehung

1.10.  Neue Grundlagen der statistischen Erhebung aufgrund des JWP-Gesetzes 1989

2.  Auswertungszeitraum: 1993 bis 2010

2.1.  Vorbemerkungen

2.2.  Formen der „Hilfen zur Erziehung“

Tabellenanhang (zum Auswertungszeitraum 1946 bis 1988)

FunktionsträgerInnen der Jugendwohlfahrt 1945–2011

IX. „Warum konnte das geschehen?“ – Ein Resümee

Quellen- und Literaturverzeichnis

I.    Öffentliche Debatte, Forschungsauftrag, historische Studie – Eine Einleitung

1.     Auch in Österreich: Ehemalige Heim- und Pflegekinder klagen an

Physischer, seelischer und/oder sexueller Missbrauch im Bereich der Fürsorge für die Jugend fand, wie die schockierenden Vorwürfe, Berichte, Enthüllungen der letzten Jahre in immer neuen Wellen auch in Österreich gezeigt haben, „in allen geschlossenen Institutionen statt, wo zu große Nähe, zu große Verfügungsgewalt, aber mangelnde Kontrolle herrsch(t)en“1.

Das gilt zum einen für die außerfamiliäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in staatlichen, privaten und kirchlichen Heimen, die bis in die 1970er Jahre hinein, manche länger, als Systeme struktureller Gewalt funktionierten. Gleichzeitig müsste für diesen Zeitraum aber auch die Problematik der Fremdunterbringung in Pflegefamilien viel stärker in die kritische Aufarbeitung einbezogen werden, weil dort – wie uns die Gespräche mit Betroffenen lehren – die oben skizzierten verhängnisvollen Rahmenbedingungen von zu großer Nähe, zu großer Verfügungsgewalt und mangelnder Kontrolle ebenso und in spezifischer Weise galten. Wie wir heute wissen, griffen die Behörden der Jugendwohlfahrt2 zu diesen beiden Formen des „Instruments“ der Fremdunterbringung nicht nur im Fall von Vernachlässigung und Gefährdung, sondern ebenso als Maßnahme einer Ersatzerziehung „im Namen der Ordnung“3.

Kinder und Jugendliche, die „unter einer Fürsorgemaßnahme standen“, wurden von der Gesellschaft lange „als ‚Täter‘“ gesehen, weil sie – so die Argumentation – „schlecht in der Schule waren, weil sie aus schlechten sozialen Verhältnissen kamen, weil sie schlimm waren oder etwas angestellt haben.“4 Diese Einschätzung, die sich erst spät änderte, verkannte die vielfältigen Wege und gleichzeitig die Mechanismen der sozialen Exklusion5, die zu Fürsorgeerziehung und Fremdunterbringung führten. Nicht zuletzt agierten die Behörden aus dem lange wenig reflektierten Selbstverständnis heraus, mit dem Herausnehmen von Kindern und Jugendlichen aus ihren eigenen Familien auf jeden Fall eine bessere Lösung bei der Hand zu haben als mit deren Verbleib im Herkunftssystem. Auf die heutigen, rechtlich verankerten Leitprinzipien „Wohl des Kindes“, Einsatz des „gelindesten Mittels“ und möglichst lange Hilfe durch innerfamiliäre Stützungsangebote ist Jugendwohlfahrt nachhaltig erst seit den 1980er Jahren ausgerichtet.

Wenn heute in der österreichischen Öffentlichkeit eine breite, empörte, kritisch reflektierende Debatte über die Mechanismen der Fürsorge- und Heimerziehung in der „langen“ Nachkriegszeit stattfindet, dann hat dies mit dem mutigen Schritt von Betroffenen zu tun, nach Jahrzehnten des Schweigens mit ihren traumatischen Erfahrungen nunmehr nachdrücklich in die Öffentlichkeit zu gehen und dabei ein zweifaches Hindernis zu durchbrechen: das einstige Stigma des „Heimkindes“ und „Fürsorgezöglings“ sowie jenes „Es wird dir niemand glauben“, das ihnen früher im Heim oder auf dem Pflegeplatz immer wieder eingeprägt worden war.

„Das brauchst du gar nicht erzählen, es wird dir niemand glauben …“ Die AutorInnen der vorliegenden Studie hörten dieses erinnerte Interdikt in vielen Interviews, die sie mit Betroffenen führten, und waren so wie andere, die unmittelbar in den Prozess der unterstützenden und kritischen Aufarbeitung eingebunden sind – in Anlaufstellen und Opferkommissionen Tätige, TherapeutInnen, WissenschafterInnen, JournalistInnen, Kinder- und JugendanwältInnen –, beeindruckt von der nun frei werdenden Entschlossenheit, sich zu artikulieren, und von der Zahl der Menschen, die das tun. Das liegt nicht zuletzt daran, dass, wie auch Barbara Helige, die Vorsitzende der „Wilhelminenberg-Kommission“ anmerkte, „vielen erstmals Glauben geschenkt worden ist“6. Der neue Mut zu sprechen und anzuklagen wurde also bestärkt durch eine neue Bereitschaft des Hinhörens und der öffentlichen Aufmerksamkeit für die verstörenden Zeugnisse von persönlichem Leid und zerstörtem Leben durch menschenverachtende Erziehungs- und Disziplinierungspraktiken, aber auch für die Anstrengungen der Betroffenen, trotz widrigster Umstände des Aufwachsens das spätere Leben zu meistern und „etwas anderes aus dem zu machen, was aus ihnen gemacht worden ist“.7

Für viele, und das kann nicht oft genug betont werden, ist das Erinnern und Erzählen aufwühlend, schmerzlich und mühevoll; und die Stimmen nicht weniger Betroffener fehlen gänzlich, weil sie mit den „Übergriffen gegen Leib und Seele“8, mit denen sie in Kindheit und Jugend konfrontiert waren, und deren gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen nicht zu Rande kamen und einen frühen Tod fanden. Andere konnten Widerstandsressourcen mobilisieren und zeugen von der – als Resilienz diskutierten – Fähigkeit mancher Menschen, in schwierigsten Situationen Überlebenskräfte zu entwickeln.

Um den Weg heraus aus der Exklusion und der Beschämung, die ihnen mit dem Status „Heimkind“ und „Fürsorgezögling“ zugemutet wurden, zu erleichtern, bedarf es jedoch insbesondere der lange verweigerten gesellschaftlichen Anerkennung, Würdigung und Entschädigung. Basis dafür ist der – noch keineswegs abgeschlossene – Verantwortung übernehmende Schritt, sich überhaupt erst einmal die Gesamtdimension von Unrecht bewusst zu machen, dem Kinder und Jugendliche als Folge von Maßnahmen der öffentlichen Jugendwohlfahrt ausgesetzt waren; das Ausmaß der gewaltförmigen Begleiterscheinungen damals gängiger Formen von Fremdunterbringung breit zu dokumentieren, in einer deutlichen und präzisen Sprache zu benennen und nicht mehr länger das zu tun, was dazu geführt hatte, dass Schutzbefohlenen in Heimen und Pflegefamilien so lange Gewalt angetan wurde – nämlich einen großen Teil der Wirklichkeit zu verharmlosen oder auszublenden.9

Im laufenden Gesamtprozess einer umfassenden Aufarbeitung der Fürsorge- und Heimerziehung ist daher – parallel zum ausführlichen und differenzierten Hören, Ernstnehmen und Dokumentieren der Stimmen der Betroffenen – die Frage nach den Ursachen und Erscheinungsformen von Heimerziehung als strukturellem System der Gewalt zur unbedingten Herausforderung geworden, vor allem jene nach der Verantwortungskette dahinter. Hier zeichnet sich ein vielfältiges Ineinandergreifen jener Kräfte ab, deren Zusammenwirken kürzlich in einer Tiroler Vorstudie pointiert als „Fürsorgeregime“10 charakterisiert wurde und dessen Mechanismen noch detailliert zu erforschen sind. Dabei geht es nicht nur um die Heime und Pflegeplätze selbst, sondern auch um die Einbeziehung der Behörden der Jugendwohlfahrt, um die heilpädagogischen und jugendpsychiatrischen Stationen, die Medizin, die Gerichte, die Politik.

Aus eigener Erfahrung in einem Internat, und damit eigentlich in einem „Heim für Gute“, in das Eltern ihre Kinder freiwillig schickten, verwies etwa der Schriftsteller Michael Amon – wie andere auch – auf zudem „viele Zuschauer“, die wussten, „was in den Heimen läuft. (…) Die Drohung ‚Wenn Du nicht parierst, landest in Eggenburg!‘ war Erziehungsstandard der 1960er-Jahre. Die Verheißung des Paradieses war damit wohl nicht gemeint.“11 Lange und breit verteidigte kollektive Denk- und Verhaltensmuster wie „Gehorsamsanspruch und Strafe“12 waren und sind demnach als gesellschaftliche Rahmungen gleichfalls in den Blick zu nehmen. Konnten sich die einweisenden, beurteilenden und erziehenden „Gewalten“13 mit „großen Teilen der Bevölkerung einig fühlen“14, und, das ist gleichfalls zu fragen, gab es – auf Alternativen verweisende – Gegendiskurse?

Als das Land Salzburg im Sommer 2010 den Entschluss zur historischen Aufarbeitung des Themenkomplexes Heim- und Fürsorgeerziehung für das eigene Bundesland fasste, existierten hierzulande im Gegensatz zu anderen Bundesländern wie zum Beispiel Oberösterreich15 und Tirol16 noch keinerlei wissenschaftliche Vorarbeiten und die öffentliche Diskussion vor Ort war erst im Anfangsstadium. Parallel zu den Forschungen der vorliegenden Studie sind – wie allgemein bekannt – der wissenschaftliche wie der öffentliche Diskussionsprozess österreichweit deutlich vorangeschritten.

An Dynamik gewann die Auseinandersetzung mit der Gesamtthematik seit dem Bekanntwerden krasser Misshandlungs- und Missbrauchsvorwürfe im Fall des Wiener Erziehungsheims Wilhelminenberg, über welche in den Medien erstmals im Oktober 201117 – und in der Folge nicht mehr abreißend – ausführlich berichtet wurde. „Solche Schlagzeilen über den Heimskandal wie jetzt im Kurier18 hätten wir uns damals gewünscht“, konstatierte Michael Genner, der 1968 als Vorstandsmitglied der Jugendorganisation Spartakus die österreichische „Heimkampagne“ mit in Bewegung gebracht hatte. „Unsere Aktionen stellten Öffentlichkeit her; wir schützten untergetauchte Heiminsassen und erreichten in manchen Fällen ihre Legalisierung. Aber der große Aufschrei der Medien blieb aus.“ Warum, lässt sich mit Genner fragen, hat „die bürgerliche Presse“ den Heimskandal erst vierzig Jahre später „entdeckt“?19

Ein die Missstände aufgreifender Diskurs hatte zu dieser Zeit zwar vorwiegend im Rahmen einer Gegenöffentlichkeit stattgefunden, erreichte über junge kritische SozialarbeiterInnen, BewährungshelferInnen, FamilienrichterInnen, PsychologInnen oder PädagogInnen sehr wohl auch „das System“ und bereitete – wie sich am Fallbeispiel Salzburg zeigen lassen wird – jenen Paradigmenwechsel und jene konkreten Reformschritte vor, die in Abgrenzung zum damaligen Status Quo ab den 1970er Jahren langsam einsetzten. So brachte etwa eine frühe engagierte Salzburger Heimdiskussion 1976 die Errichtung eines fertig geplanten und bereits budgetierten öffentlichen Fürsorgeerziehungsheimes zu Fall. Der Wandel weg vom Primat einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung, von Leitbildern des Überwachens, Disziplinierens und des erzieherischen Zwangs und heraus „aus der totalen Institution der geschlossenen Anstalten zu offenen Einrichtungen und zur lebensweltlich und alltagsorientierten Sozialpädagogik“20 des auslaufenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sollte, wie wir meinen, in einer umfassenden Analyse des Systems Heim- und Fürsorgeerziehung insgesamt seinen Platz haben: Zum einen als indirekter Beleg dafür, dass die Missstände sehr wohl zumindest in Ansätzen bewusst waren – begann man doch mit Neugestaltungen, etwa im Bereich der sozialpädagogischen Wohnformen, darauf zu reagieren –, aber auch als jene Folie, vor der wir heute mit geschärftem Bewusstsein die Vergangenheit kritisch in den Blick nehmen.

Symptomatisch für die aktuelle Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, die individuelles und institutionelles Fehlverhalten, Systemstrukturen, legitimierende Diskurse sowie die Erfahrungen der davon betroffenen Kinder und Jugendlichen erstmals wirklich zusammendenkt, ist, dass sich der Erkenntnisprozess nur in Schritten vollzieht. So tauchte in der ersten Hälfte des Februar 2012 in Zusammenhang mit dem Bekanntwerden fragwürdiger Medizinexperimente an Kindern – „Malaria-Kuren“, Behandlung mit Röntgenstrahlen oder Tier-Medikamenten bei „Jähzorn, Bettnässen oder sexuellem Antrieb“21 – eine noch über die bisherige Missbrauchs- und Misshandlungsdebatte hinausgehende Dimension auf, nämlich die einer, so die Vorsitzende der Wilhelminenberg-Kommission Barbara Helige, „leichten Verfügbarkeit“ von Heimkindern, weil bei diesen „möglicherweise die Kontrollfunktion der Familie, der Erziehungsberechtigten [hier müsste man auch die Jugendämter hinzufügen, Anm.] weniger stark ausgeprägt war“. Helige ergänzte ihre Einschätzung um folgende Befürchtung: „Die schreckliche Vorstellung drängt sich auf, dass man bei Heimkindern sichtlich wenig Bedenken hatte – sei es bei Versuchen oder anderen medizinischen Behandlungen. Es scheint fast so, dass man den Eindruck hatte, dass es da nicht so schlimm ist. Das ist das Entsetzliche, was ich daraus schöpfe.“22

Im Sommer 2012 rückte in Folge der Ergebnisse historischer Studien – auch der vorliegenden – sowie Anklagen von Betroffenen die Diskussion über Arbeitszwang in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit: Die Hinweise und wissenschaftlichen Bestätigungen verdichteten sich, dass erzwungene Arbeit nicht nur ein vorrangiges Erziehungsmittel war, sondern dass in Heimen mit der Arbeitskraft der Kinder und Jugendlichen „gewirtschaftet“ wurde, intern wie durch Arbeitseinsätze außerhalb. Mit der Definition als pädagogische Maßnahme umgingen Heimleitungen wie Firmen, Institutionen und Private zudem die Sozialversicherungspflicht.23 Zur selben Zeit gelangten, ebenfalls in Folge wissenschaftlicher Hinweise und Berichte von Betroffenen24, auch Meldungen über psychische, physische und sexuelle Misshandlung sowie schwerste körperliche Arbeit von Pflegekindern an die Öffentlichkeit, wobei es vorerst vor allem Betroffene aus Wien waren, die Entschädigung für die auf weit entfernten ländlichen Pflegeplätzen erlittene Gewalt und Ausbeutung einforderten.25 Die Problematik stellt sich, wie nicht nur im Verlauf der vorliegenden Studie deutlich wurde, jedoch massiv auch für Geschädigte aus anderen Bundesländern.

Eine breite – wenn auch zwischen den Erregungskurven spektakulärer Schlagzeilen und kritisch-journalistischer Recherche schwankende – mediale Berichterstattung hat die Dynamik der Aufarbeitung nicht nur begleitet, sondern zweifelsohne auch intensiviert und etwa die Einrichtung von Anlaufstellen, Opferkommissionen sowie die Vergabe von Forschungssaufträgen seitens der politisch Verantwortlichen beschleunigt. Ein koordiniertes Verknüpfen der unterschiedlichen Stränge der Aufarbeitung – siehe dazu auch den folgenden Abschnitt – steht jedoch noch ebenso aus wie eine überzeugende und transparente Praxis der Entschädigung, die nicht ein die Opfer verwirrendes „entschädigungstechnisches Stückwerk“26 bleibt.

An dieser Stelle ist auch auf die mit 3. Oktober 2012 eingebrachte „Parlamentarische Bürgerinitiative betreffend die Wiedergutmachung des Unrechts in der Fürsorge- und Heimerziehung“27 zu verweisen. Ihre EinbringerInnen – koordiniert durch den Verein „Victims Mission“ – sehen Staat und Gesellschaft in einer umfassenden Verpflichtung zur Entschädigung der Einzelschicksale und gehen in mehrfacher Hinsicht vom Vorliegen einer Bundeskompetenz aus: „Da die Unrechtshandlungen, um die es in der vorliegenden Initiative geht, vielfach in Form von strafbaren Körperverletzungen oder Gesundheitsschädigungen erfolgten, betrifft deren Wiedergutmachung die Rechtsmaterie des Verbrechensopfergesetzes.“28 Durch das VOG geregelte Ansprüche auf Entschädigung scheitern für ehemalige Insassen von Fürsorge- und Erziehungseinrichtungen jedoch fast immer an den Verjährungsfristen, deren Neuregelung nunmehr angestrebt wird, mit folgender Argumentation:

„Nach der Entlassung aus der Fürsorge- und Heimerziehung sind die Opfer vielfach nicht in der Lage, ihre rechtlichen Möglichkeiten nach dem VOG wahrzunehmen. Abgesehen davon, dass sie mangels öffentlicher Hinweise auf die darin enthaltenen Entschädigungsmöglichkeiten keine Ahnung davon haben, sind sie meist auch nicht in der Lage über das ihnen widerfahrene Unrecht zu sprechen, insbesondere wenn es um sexuelle Gewalt geht. Traumabedingte Verdrängungen, Scham und Schuldgefühle und die Erfahrung, dass man ihnen nicht glaubt, verschließen ihnen den Mund. Wenn sie dann nach Jahren mit Hilfe psychotherapeutischer Behandlung oder anwaltlicher Beratung den Entschluss fassen, den Schaden geltend zu machen, den sie durch ihre Misshandlung in der Fürsorge- und Heimerziehung erlitten haben, müssen sie erleben, dass sie für die Jahre, in denen sie als Traumatisierte und Invaliden dahinvegetierten, nichts mehr bekommen, weil die Fristen abgelaufen sind. Um dies zu vermeiden soll in § 10 Abs. 1 VOG nach dem 2. Satz eingefügt werden, dass die Fristen solange nicht laufen, solange die ehemaligen Heiminsassen nicht auf die Möglichkeit von Entschädigungsansprüchen nach dem VOG hingewiesen wurden.“29

Zudem wird empfohlen, auch „die finanzielle Wiedergutmachung für unbezahlte Zwangsarbeit in das Opferentschädigungsverfahren nach VOG zu integrieren“ und dabei festzulegen, dass sich die Entschädigungsleistung auf alle Arbeiten bezieht, die Insassen von Fürsorge- und Erziehungsheimen durchführen mussten: Zum einen auf jene „für das eigene Haus (…), die normalerweise gewerbsmäßig ausgeübt werden, z. B. Reinigungsarbeiten, Arbeiten in der Waschküche, Arbeiten in der Landwirtschaft. Außerdem arbeiteten die Kinder (…) z. T. außer Haus für Dritte, ohne dass sie den dafür bezahlten Lohn erhielten.“ Bei sozialversicherungspflichtigen Arbeiten seien „auch Ausfallzeiten der Sozialversicherung auszugleichen“.30

Die Bürgerinitiative „Wiedergutmachung des Unrechts in der Fürsorge- und Heimerziehung“, in deren Rahmen man auch Unterstützungserklärungen für die Anliegen sammelte, wurde am 27. November 2012 im Petitionsausschuss des Parlaments behandelt, der die Einholung von Stellungnahmen des Justiz-, des Finanz- und des Sozialministeriums beschloss.31

Die Schilderungen ehemaliger Fürsorge- und Heimkinder über erlittene Demütigungen, Misshandlungen und Missbrauch, die Flut gravierender Vorwürfe – in beinahe allen westeuropäischen Ländern, einschließlich Österreich – erschütterten, so der Kinder- und Jugendanwalt des Bundes Edward Filler, „wie ein Paukenschlag“32. Derart viele Betroffene durchbrachen das Schweigen – allein in Österreich waren es bislang an die 3500 Menschen33 –, dass EntscheidungsträgerInnen sie nicht länger ignorieren konnten. Am 18. Dezember 2012 gingen in Wien ehemalige Betroffene der kirchlichen und staatlichen Befürsorgung gemeinsam an die Öffentlichkeit, um noch deutlicher auf die Problematik aufmerksam zu machen: Ihre Initiative „Heimkinder-Aktiv-Community“ organisierte eine Demonstration und Kundgebung vor dem Parlament.34

2.   Wille zur Aufarbeitung: Anlaufstellen, Opferkommissionen, Forschungsaufträge

Ein Überblick über den Prozess der aufarbeitenden Auseinandersetzung mit dem, was im öffentlichen Diskurs häufig als „dunkles Kapitel der Fürsorge- und Heimerziehung“ firmiert, fällt für Österreich derzeit schwer. Die Aktivitäten der Erforschung wie Entschädigung verlaufen wenig koordiniert. Von „Wildwuchs“35 ist insbesondere hinsichtlich der kirchlichen und öffentlichen Entschädigungskommissionen und -strategien zu sprechen. Es schien daher sinnvoll, nicht zuletzt zur Einordnung der vorliegenden Studie, den aktuellen Stand des Willens zur forschenden und entschädigenden Aufarbeitung zu recherchieren und im Überblick zu dokumentieren. Da die von uns bei allen österreichischen Opferkommissionen und Anlaufstellen angefragten Informationen zum Teil nur lückenhaft oder gar nicht eintrafen, griffen wir für den folgenden Überblick auch auf die Informationen offizieller Homepages und auf Presseinformationen politischer VerantwortungsträgerInnen zurück.

Zunächst wird jedoch kurz und vergleichend auf Deutschland Bezug genommen, von wo aus die kritische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Fürsorge- und Heimerziehung mit Verspätung auf die österreichische Tagesordnung kam. Dort hatten das Buch des Spiegel-Journalisten Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herrn“36 (2006) – und zuvor schon die deutsche Fassung des in Cannes ausgezeichneten irischen Films „Die unbarmherzigen Schwestern“ (2003) – das Schicksal von Heimkindern verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Ehemalige Heimkinder berichteten seitdem in den Medien über Misshandlungen, sexuelle Gewalt, erzwungene Arbeit. Früher als in Österreich setzte in Deutschland eine breite öffentliche Debatte über Gewalt und Missbrauch in kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen ein. „Mit dem Rückenwind der öffentlichen Empörung“ (Manfred Kappeler) erreichten die Netzwerke ehemaliger Heimkinder eine Befassung des Petitionsausschusses des deutschen Bundestages, dessen Bericht schließlich im Dezember 2008 einen Beschluss des Plenums des Bundestages zur Einrichtung eines Runden Tisches, „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ (RTH), nach sich zog, der unter der Leitung der Grünenpolitikerin Antje Vollmer „Licht in dieses dunkle Kapitel der Bundesrepublik“ (Bundestagspräsident Norbert Lammert) bringen sollte.37 In seinem dem Bundestag vorgelegten Abschlussbericht (2010) gelangte der RTH unter der Überschrift „Leid und Unrecht“ zu dem – rückblickend gesehen sehr vorsichtig wirkenden, auch angesichts der in der Zwischenzeit vorliegenden Forschungsergebnisse – Resümee,

„dass insbesondere in den 50er und 60er Jahren auch unter Anerkennung und Berücksichtigung der damals herrschenden Erziehungs- und Wertevorstellungen in den Einrichtungen der kommunalen Erziehungshilfe, der Fürsorgeerziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe jungen Menschen Leid und Unrecht widerfahren ist. Nach den vorliegenden Erkenntnissen hat er Zweifel daran, dass diese Missstände ausschließlich in individueller Verantwortung Einzelner mit der pädagogischen Arbeit beauftragter Personen zurückzuführen ist. Vielmehr erhärtet sich der Eindruck, dass das ‚System Heimerziehung‘ große Mängel sowohl in fachlicher wie auch in aufsichtlicher Hinsicht aufwies.“38

Der öffentlichen Anerkennung des von damaligen Heimkindern erlittenen Leids und Unrechts folgte allerdings, wie von ExpertInnen und Betroffenen gleichermaßen vehement kritisiert wurde, keine adäquate Entschädigung der Opfer, vor allem aber keine Berücksichtigung sogenannter „Folgeschäden“ durch zerstörte „Lebenschancen“ wie „unzureichende(r) Schul- und Berufsbildung, dadurch geringes Einkommen und niedrige Altersrente und in sehr vielen Fällen frühe Erwerbsunfähigkeit“.39 Nachteilig für die Durchsetzung der Interessen früherer Heimkinder erwies es sich auch, dass ihre Anliegen ganz im Schatten der zu Beginn des Jahres 2010 an katholischen Internatsschulen sowie an der reformpädagogischen Odenwaldschule aufgedeckten sexuellen Gewalt standen, der mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde, weil diese Opfer, so die Kritik, im Gegensatz zur sozialen Herkunft von Heimkindern vor allem aus bürgerlichen Familien kamen. „Es klingt fast zynisch“, so Manfred Kappeler, „aber tatsächlich hatte das Leiden der Opfer von sexueller Gewalt in Internatsschulen dem den Heimkindern zugefügten Unrecht und Leid ‚den Rang abgelaufen‘.“40 Immerhin setzten einige deutsche Bundesländer wie etwa Niedersachsen, Nordrheinwestfalen und Berlin im Windschatten des RTH Initiativen zur Aufarbeitung der eigenen Verantwortung im Bereich der Heimerziehung.41 Die aktuelle Debatte veranlasste nicht zuletzt auch kirchliche Trägerinstitutionen der Jugendwohlfahrt, sich der Geschichte der konfessionellen Heimerziehung zu widmen.42

Auch in Österreich, wo sich die Diskussion über Gewalt und Missbrauch in der Heimerziehung mit einiger Verzögerung zunächst über schriftliche Erlebnisberichte ehemaliger Heimzöglinge konkretisierte,43 waren es schließlich vor allem Enthüllungen sexueller Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche, welche den Stein ins Rollen brachten.

Die Etablierung der „Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft und -kommission“ („Klasnic-Kommission“) durch die Katholische Kirche Österreichs Anfang 2010, die sich mit massiven Anschuldigungen zahlreicher Opfer von Missbrauch und Gewalt in kirchlichen Institutionen konfrontiert sah, gilt als ein Wendepunkt im öffentlichen Umgang mit institutioneller Gewalt und Missbrauch im Bereich von Heimerziehung in Österreich.44 Die von der vormaligen Landeshauptfrau der Steiermark, Waltraud Klasnic, geleitete Kommission nahm ihre Tätigkeit in engem Verbund mit den gleichzeitig in allen Diözesen etablierten kirchlichen Ombudsstellen im April 2010 auf. Insgesamt wurden innerhalb der ersten beiden Jahre ihrer Tätigkeit (bis Anfang April 2012) 1244 Meldungen (915 männlich, 329 weiblich) an die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft herangetragen, wovon 1129 Gewalt und Missbrauch in Einrichtungen der katholischen Kirche in Österreich zuzuordnen waren. Bis April 2012 gelangten 632 Beschwerdefälle zu einer Entscheidung, wobei lediglich in 19 Fällen keine finanzielle Entschädigung oder Therapieleistung zugesprochen wurde. In Summe wurden acht Millionen Euro an finanziellen Hilfen und ca. 23.500 Stunden an Therapieleistungen bewilligt. Die meisten Betroffenen-Meldungen langten – so die Homepage der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft und -kommission45 – aus Oberösterreich (239), Tirol (237) und Wien (186) ein, aus Salzburg dagegen nur 70. Nach eigenen Angaben der Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der Kirche im Bundesland Salzburg gingen hingegen bis November 2012 insgesamt 116 Meldungen ein.46